The Project Gutenberg Etext of Papa Hamlet by Arno Holz and Johannes Schlaf Title: Papa Hamlet Author: Arno Holz and Johannes Schlaf Release Date: November, 2003 [Etext #4601] Language: German Character set encoding: ASCII The Project Gutenberg Etext of Papa Hamlet by Arno Holz and Johannes Schlaf ******This file should be named 7papa10.txt or 7papa10.zip****** Corrected EDITIONS of our etexts get a new NUMBER, 7papa11.txt VERSIONS based on separate sources get new LETTER, 7papa10a.txt Project Gutenberg eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US unless a copyright notice is included. Thus, we usually do not keep eBooks in compliance with any particular paper edition. The "legal small print" and other information about this book may now be found at the end of this file. Please read this important information, as it gives you specific rights and tells you about restrictions in how the file may be used. *** etext created by Norman Werner and proofed by William Fishburne PAPA HAMLET *ohne Umlaute von Arno Holz/Johannes Schlaf 1889 I Was? Das war Niels Thienwiebel? Niels Thienwiebel, der grosse, unübertroffene Hamlet aus Trondhjem? Ich esse Luft und werde mit Versprechungen gestopft? Man kann Kapaunen nicht besser masten?... "He! Horatio!" "Gleich! Gleich, Nielchen! Wo brennt's denn? Soll ich auch die Skatkarten mitbringen?" "N...nein! Das heisst..." --"Donnerwetter noch mal! Das, das ist ja eine, eine--Badewanne!" Der arme kleine Ole Nissen ware in einem Haar über sie gestolpert. Er hatte eben die Küche passiert und suchte jetzt auf allen vieren nach seinem blauen Pincenez herum, das ihm wieder in der Eile von der Nase gefallen war. "Ha? Was? Was sagste nu?!" "Was denn, Nielchen? Was denn? "Schafskopp!" "Aber Thiiienwiebel!" "Amalie?! Ich..." "Ai! Kieke da! Also doss!" "Ha?! Was?! Famoser Schlingel! Mein Schlingel! Mein Schlingel, Amalie! Ha! Was?" Amalie lächelte. Etwas abgespannt. "Ein Prachtkerl!" "Ein Teufelsbraten! Mein Teufelsbraten! Mein Teufelsbraten! Ha! Was, Amalie? Mein Teufelsbraten!" Amalie nickte. Etwas müde. "Ja doch, Herr Thienwiebel! Ja doch!" Aber Frau Wachtel mühte sich vergeblich ab. Herr Thienwiebel, der grosse, unübertroffene Hamlet aus Trondhjem, wollte seinen Teufelsbraten nicht wieder loslassen. "Ha, oller junge? Ha?" "In der Tat, Nielchen! In der Tat, ein... ein... Prachtinstitut! Ein Prachtinstitut!" "Hoo, hoo, hoo, hopp!! Hoo, hoo, hoo, hopp Bumm!!!" Der grosse Thienwiebel schwelgte vor Wonne. Er hatte sich jetzt sogar auf ein Bein gestellt. Hinten aus seinem karierten Schlafrock klunkerten die Wattenstücken. "Aber Thiiienwiebel!"-- II "Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage: Ob's edler im Gemüt, die Pfeil' und Schleudern Des wütenden Geschicks erdulden, oder...oder?... Scheusslich! Der grosse Thienwiebel hielt wieder inne. "Nicht zum Aushalten das! Nicht zum Aushalten!!" Die fünf kleinen gelben Lappen hinter dem Ofen die dort an einer Waschleine zum Trocknen aufgehängt waren, hatten ihn wieder total aus dem Konzept gebracht, "Ekelhaft!" Er hatte sich jetzt, die Hände in seinen Schlafrocktaschen vergraben, erbittert vor das Fenster aufgepflanzt. Der Himmel drüben über den Dächern war tiefblau; in den nassen Dachrinnen, von denen noch gerade der letzte Schnee tropfte, zankten sich bereits die Spatzen; es war ein prachtvolles Wetter zum Ausgehn. "Armer Yorick!" Noch um eine Nuance verdüsterter hatte sich jetzt der grosse Thienwiebel wieder rücklings über das kleine, niedrige, mit blauem Kattun überspannte Sofa geworfen und starrte nun über die Spitzen seiner grünen, ausgetretenen Pantoffeln weg melancholisch zu Amalien hinüber. Ihre dünnen lehmfarbenen Haare waren noch nicht gemacht, ihre Nachtjacke schien heute schmutziger als sonst und stand vorn natürlich wieder offen; der kleine rote Spiessbürger, den sie, auf ihr Fussbänkchen gekauert, nachlassig aus einem Gummischlauch saugte, sah auf einmal hässlich aus wie ein kleiner Frosch. "Armer Yorick!" Herr Thienwiebel hatte sich seufzend erhoben und setzte jetzt seine Wanderung von vorhin wieder fort. "...oder? oder... Sich waffnend gegen eine See von Plagen, Durch Widerstand sie enden. --Sterben--schlafen--Nichts weiter!--" Vor dem Fenster konnte er sich jetzt wieder nicht versagen, eine kleine Pause zu machen. Die Sonne draussen ging gerade unter. Die Dacher sahen fuchsrot aus. Aber ein Blick auf seinen alten, abgenutzten Schlafrock unten liess ihn sich wieder zusammennehmen und seinen Monolog von neuem beginnen. "Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage: Ob's edler im Gemüt Ae, Quatsch!!" Mit einem Ruck war jetzt der Shakespeare, den er sich eben aus seiner Schlafrocktasche gerissen, auf den Tisch geflogen, wo er die Gesellschaft einer Spirituskochmaschine, eines braunirdenen Milchtopfs ohne Henkel, eines alten, berussten Handtuchs, einer Glaslampe und einer Photographie des grossen Thienwiebel in Morarahrnen vorfand. "He! Horatio! Horatio!!... Nicht zu Hause! Nicht zu Hause..." Total vernichtet hatte er sich jetzt wieder auf das Sofa zurückgeschleudert und vertiefte sich nun in den tragischen Anblick eines schmutzigen Kinderhemdchens, das neben einer geplatzten Schachtel schwedischer Zündholzchen vor ihm unten auf dem Fussboden lag. "Verwünscht! Wenn man wenigstens mal ausgehn könnte, Amalie! Aber ich fürchte...ich fürchte...die Welt ist nicht vorurteilsfrei genug, um einen Niels Thienwiebel im Schlafrock und Zylinder unbehelligt seines Weges dahingehn zu lassen!" Aber Amalie antwortete nicht einmal. Der kleine Krebsrote nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Sein Lutschen zog jetzt den ganzen Schlauch zusammen. "Ja! Es ist so! Es ist so, Amalie! Aber sie schreiben mir noch immer nicht! Sie haben da Leute, Leute--Leute? Pah! Stümp'rr! Schmach, die Unwert schweigendem Verdienst erweist!" jetzt hatte Amalie, die dies Thema bereits kannte, etwas aufgesehn. "Ja...es wäre am Ende doch gut, wenn du einmal ..." Ihre Stimme klang heiser, belegt. "Ja, so wird es kommen! Vielleicht...bei meiner Schwachheit und Melancholie..." Der kleine Krebsrote schmatzte! Seine Flasche war jetzt so gut wie leer. "Ich werde selbst hingehn müssen und fürliebnehmen mit dem, was man mir anzubieten wagt! Das Leben ist brutal, Amalie! Verflucht! Wenn man wenigstens einen Rock zum Ausgehen hätte!" Sein Tenor war jetzt übergeschnappt, er hatte sich wieder lang über das Sofa zurückgelegt. Grosse Pause... Die Dächer draussen hatten sich allmählich braun gefärbt. Die Sonne an dem grossen runden Schornstein drüben war verblichen. Frau Thienwiebel fing jetzt hinten in ihrer Ecke zu husten an. "Herr Gott, Niels! Ich muss ja inhalieren! Da, nimm doch mal das Kind!" "Natürlich! Auch noch Kinderfrau! Oh, Ich reisse Possen wie kein andrer! Was kann ein Mensch auch andres tun als lustig sein? Still, Krabbe!! " Der kleine Krebsrote schwieg wieder. Er war noch nie so verblüfft gewesen. "Da! Nimm's! Kau's! Friss! Verschluck's!" Der grosse Thienwiebel hatte es jetzt sogar über sich gewonnen, seinem ungeratnen Sprössling auch den Schnuller in den Mund zu stopfen. Mehr war unmöglich zu verlangen! Amalie hatte unterdessen die Ofenrohre aufgemacht und entnahm ihr jetzt einen kleinen, grünglasierten Kochtopf. Ein nach Salbei duftender Brodem entstieg ihm. Nachdem sie dann noch das kleine Geschirr neben den Ofen auf einen Stuhl und sich selbst auf die Fussbank davor gesetzt hatte, machte sie jetzt ihren Mund auf und atmete das heisse Zeug langsam ein. Der grosse Thienwiebel, der sich unterdes mit seinem impertinenten kleinen Krebsroten auf die Tischkante placiert hatte, sah ihr nachdenklich zu. "Hm! Weisst du, Amalie? "Hm??" "Weisst du? Wir haben eigentlich eine ganz falsche Methode, das Kind zu nähren, Amalie!" "Ach was!" "Ich sage, eine Methode! Eine verkehrte Methode, Amalie!" "Aber..." "Verlass dich drauf! Eine unnatürliche, Amalie!" "Ja, du lieber Gott..." "Eine unnatürliche...Wir sollten das Kind nicht mit der Flasche tränken!" "Nich? Na, womit denn sonst?" "Du selbst solltest es eben tränken!" "Ich?" "Gewiss, Amalie!" "Ach lieber Gott! Ich! Selbst!". "Nun! Warum nicht?" "Ich?? Bei meiner schwachen, kranken Brust jetzt?" "Ach was! Das bildest du dir ja nur ein, Amalie! Ich sage dir, du bist völlig gesund. Du bist völlig gesund, sag ich!...Übrigens: Ein Kind kann ein für allemal nur dann gedeihen, wenn es die Mutter selbst säugt!" Herr Thienwiebel war jetzt ganz eifrig geworden. Seine Langeweile von vorhin schien er völlig vergessen zu haben. Er schien es sogar nicht bemerkt zu haben, dass dem kleinen zappelnden Wurm auf seinen Knien der Schnuller wieder heruntergekullert war. "Verlass dich drauf, Amalie! Ich sage, die natürlichste Methode ist immer die beste! Denk doch mal: was sollten denn sonst die Negerweiber anfangen! Sie haben keine Flaschen! Sie nähren ihre Kinder selbst, siehst du... und, und – nun ja! Und sie gedeihen dabei! Gedeihen! Na?" "Ja, Niels, aber ich bin doch kein Negerweib!" Der grosse Thienwiebel lächelte überlegen. "Ja nun, du musst...hehe! Du musst mich eben verstehn, Amalie! He!" Amalie hatte sich wieder tief über ihren Salbeitopf gebückt. "Ich wollte dir damit eben nur durch ein...ein...nun sagen wir durch ein Beispiel, andeuten, dass das Natürlichste immer das Vernünftigste ist. Ich sehe eben durchaus nicht ein, warum die Negerweiber etwas vor uns voraushaben sollten!" "Aber sie sind gesund!" "Ach was! Das bildest du dir ja nur ein, Amalie, dass du krank bist!" "Ich?" "Allerdings, Amalie! Ich behaupte..." Amalie war jetzt ein wenig ungeduldig geworden. "Ach was! Lass lieber das Kind nicht so schrein!" "Auch das ist wieder nur so ein Vorurteil von dir, Amalie! Was schadet das! Ich habe gelesen, es ist nichts gesunder! Die Lungen weiten sich dabei! Aber – e...wie gesagt! Du solltest das Kind selbst tränken! Die heutige Kultur freilich, die Kultur der europäischen Welt..." Die Kultur überging Amalie. Sie hielt sich nur an die Ermahnungen, die sie nun schon so oft zu hören bekommen hatte. "So! So! Jawoll doch! Gewiss! Bei unserm Leben! Den ganzen Tag lebt man von Kaffee und Butterbrot! Ich möchte wissen, wie das arme Wurm dabei gedeihen sollte!" "Ha! Zu leben im Schweiss und Brodem eines eklen Betts, gebrüht in Fäulnis, buhlend und sich paarend über dem garst'gen Nest! Nicht wahr? Du willst damit sagen, dass ich an unsrer Lage schuld bin, Amalie!" "Na! Etwa ich?" "Weib!!" "Moi'n!" Die Tür, an der es schon eine ganze Weile vergeblich geklopft hatte, wurde in diesem Augenblick weit aufgestossen, und herein, in seinem ewigen Havelock, der vor Zeiten wahrscheinlich einmal hechtgrau gewesen war, den ungeheuren schwarzen Schlapphut tief in das kleine fidele, blasse Gesichtchen gedrückt, tanzelte jetzt der kleine Ole Nissen. "Moi'n! Also lasst euch nicht stören, Kinder! Bitte, bitte! Keine Umstände, Nielchen! Keine Umstände! Weiss schon! Probiert 'ne neue Szene ein! Also, wie gesagt ... Donnerwetter! Ist das Biest hart!" Er hatte sich eben mitten auf das kleine Kattun'ne plumpsen lassen und dabei wieder in einem Haar seine Ägypter verloren, die er schief zwischen die Zähne geklemmt hielt. "Also, wie gesagt! Laufe da eben ganz trübselig den Hafendamm runter. Ha? Und wer begegnet mir da? Der Kanalinspektor! Na, wer denn sonst? Der Kanalinspektor natürlich! Nobel verheiratet, Villa in Bratsberg, no! etc. pp. Könnt euch ja denken! Schleift mich also natürlich sofort zu Hiddersen und lasst vorfahren... Na, oller Junge? Wie geht's?... Faul! sag ich also natürlich. Faul!...Hm! Weisste was? Könntest eigentlich meine Alte portratieren!...Hm! Mit Jenuss, Kind! Mit Jenuss! Aber--e...Farben, siehst du--he, Leinwand, Rahmen also...Ha! Was? Nobles Putthuhn!!" Ole Nissen liess jetzt die schönen, noblen Kronen in seinen Taschen nur so klimpern. "Frau Wach-tel! Frau Wachtell!! Frau Wach-tellll!!!" Das Haus Thienwiebel schwamm wieder in Wonne. Sein Krach war wieder auf eine Weile verschoben. "Ha! Und dies? Ist das Butter? Und dies? Ha? Ist das Schinken? Ha? Und dies? Ha? Platz für das Silberzeug! Silentium!!" Der kleine Ole war heute wieder ganz aus dem Häuschen... Nachdem das "Silberzeug" dann endlich abgeräumt und die Punschbowle zu zwei Dritteln bereits geleert war, musste Frau Wachtel sogar noch die Skatkarten "ranschleifen". Es war einfach herrlich! Der grosse Thienwiebel hatte seinen türkischen Fez auf, Ole Nissen bot seine Ägypter sogar galant der alten Madame Wachtel an, die sich aber empört von ihnen wieder in ihre Küche zurückflüchtete, Amalie rauchte tapfer mit. Ihre alten Opheliajahre waren wieder lebendig in ihr geworden. "Ach, Thienwiebel! Niels!! Geliebter!!!" Der grosse Thienwiebel stand da und weinte. "Bin ich 'ne Memm'?--Ha! Rauft mir den Bart und werft ihn mir ins Antlitz! Nein, reizende Ophelia! Nein! Weine nicht! Mein Schicksal ruft und macht die kleinste Ader meines Leibes so fest als Sehnen des Nemeerlöwen!... Was, alter Jephta?...Nein, glaube nicht, dassich dir schmeichle! Was für Befördrung hoff ich wohl von dir, der keine Rent' als seinen muntren Geist, um sich zu nähren und zu kleiden hat!" Seine Stimme brach ab, die Hand, die er ihm auf die Schulter gelegt hatte, zitterte.-- Zuletzt, als die alte Glaslampe nur noch wie eine kleine Ölfunzel brannte und die prachtvollen Ägypter um ihre grüne Glocke einen schonen, silbergrauen, fingerdicken Nebelring gelegt hatten, wurde auch der kleine Ole Nissen gerührt. Er hatte sich nach und nach zu der reizenden Ophelia auf das kleine, blaue Kattunüberzogene gedrängt und titulierte sie nur noch "Miezchen". Jetzt hatte er endlich auch ihre Hände zu fassen bekommen und bedeckte sie nun mit seinen Küssen. Der grosse Thienwiebel erhob keine Einsprüche. Er hatte segnend seine Hände über sie gebreitet und konnte sein Herz nur noch stammelnd ausschütten. "Der Kreis hier weiss, ihr hortet's auch gewiss, wie ich mit schwerem Trübsinn bin geplagt!" Der kleine Krebsrote hinten in seiner Ecke hatte unterdessen seine Not mit sich gehabt. Schon verschiedene Male hatte er sich in den Schlaf geweint. Jetzt aber war er wieder aufgewacht und konnte absolut nicht mehr seinen Gummipfropfen finden. Die reizende Ophelia hörte ihn nicht. Sie war langst in ihrer Sofaecke eingeschlafen. Er schrie jetzt, als ob er am Spiesse stak. Der grosse Thienwiebel hatte natürlich erst recht keine Zeit für den Schurken. Er hatte den kleinen Ole Nissen, der jetzt kaum noch seine kleinen, wasserblauen Augen aufhalten konnte, vorn an seinem Rockkragen zu packen bekommen und deklamierte nur wieder: "Er ist eine Elster, Horatio! Eine Elster! Aber, wie ich dir sagte, mit weitlaufigen Besitzungen von--Kot gesegnet!" III Es war nicht anders! Aber er hegte Taubenmut, der grosse Thienwiebel, ihm fehlte es an Galle... Er hatte seit kurzem--er wusste nicht wodurch?--all seine Munterkeit eingebüsst, seine gewohnten Übungen aufgegeben, und es stand in der Tat so übel um seine Gemütslage, dass die Erde, dieser treffliche Bau, ihm nur ein kahles Vorgebirge schien. Dieser herrliche Baldachin, die Luft, dieses majestätische Dach mit goldnem Feuer ausgelegt: kam es ihm doch nicht anders vor als ein fauler, verpesteter Haufe von Dunsten. Welch ein Meisterwerk war der Mensch! Wie edel durch Vernunft! Wie unbegrenzt an Fähigkeiten! In Gestalt und Bewegung wie bedeutend und wunderwürdig im Handeln, wie ähnlich einem Engel; im Begreifen, wie ähnlich einem Gotte; die Zierde der Welt! Das Vorbild der Lebendigen! Und doch: was war ihm diese Quintessenz vom Staube? Er hatte keine Lust am Manne--und am Weibe auch nicht. Die Zeit war aus den Fugen! War es zu glauben? Aber-e-man hatte ihm noch immer nicht geschrieben. Man war undankbar in Christiania. Armer Yorick! Sterben, schlafen...vielleicht auch träumen? Einstweilen jedoch hatte es allen Anschein, als ob gewisse Rücksichten das Elend des armen Yorick noch zu hohen Jahren kommen lassen wollten. Jedenfalls wenigstens durften jetzt die naseweisen Aktschüler unten in der Akademie den grossen unübertrefflichen Hamlet aus Trondhjem schon seit vollen vierzehn Tagen in den schönen, langen Vormittagsstunden als sterbenden Krieger kopieren. Das war freilich eine Entwürdigung, aber sie brachte Geld ein. Nur genügte es leider noch nicht. Wenn der "arme Yorick" jetzt mittags nach Hause kam und sich mit einem Appetit, als hätte er eben vierundzwanzig Stunden lang ohne aufzusehn Eichenkloben zerkleinert, über die grosse Schüssel herstürzte, die ihm die reizende Ophelia schon vorsorglich verdeckt, der Photographie des grossen Thienwiebel grade gegenüber, auf den Tisch gestellt hatte, fand sich meist nur eine etwas grün angelaufene, dünne Kartoffelsuppe drin vor, in der höchstens hie und da noch ein paar kleine, kohlschwarze Speckstückchen schwammen. Armer Yorick!... Amalie schien schon seit undenklichen Zeiten ihre Nachtjacke nicht mehr in die Waschwanne gesteckt zu haben. Wozu auch grosse Toilette machen? Man war ja zu Hause. "Nicht wahr, Thienwiebel?" Der grosse Thienwiebel hielt es für unter seiner Würde zu antworten. Er hatte sich eben wieder in seinen alten, bequemen Schlafrock geworfen, aus dem die Watte freilich, ihrer nur noch geringen Quantität halber, nicht mehr recht klunkern konnte. Seinen William aufgeklappt, hatte er sich jetzt wieder tiefsinnig rücklings über das kleine Blaukattunene geworfen. "Oh, schmolze doch dies allzu feste Fleisch, Zerging' und lost' in einen Tau sich auf! Oder hatte nicht der Ew'ge sein Gebot Gerichtet gegen Selbstmord! O Gott! o Gott! Wie ekel, schal und flach und unerspriesslich scheint mir das ganze Treiben dieser Welt! Pfui! Pfui darüber!" Amalie, die sich wieder auf ihre kleine, mollige Fussbank neben den Ofen gesetzt und eben ihre Schmalzstulle in den Kaffee gestippt hatte, sah jetzt etwas verwundert in die Höhe. Als aber der "arme Yorick" dann nicht mehr weiterlas und, seinen William zugeklappt, sich jetzt sogar, ganz wider seine sonstige Gewohnheit, mit dem Kopfe gegen die Wand gedreht hatte, wurde ihr denn doch ein wenig unbehaglich zumut. Eine Weile noch überlegte sie; dann aber, endlich, hatte sie sich entschieden. Ihre Stimme klang noch kläglicher als sonst. "Ich will nähen gehn, Niels." "Nein, Amalie! Niemals! Niemals! Das werde ich nie dulden! Das wäre eine unverzeihliche Vernachlässigung deiner heiligsten Mutterpflichten!" Er war wieder empört aufgesprungen. "Nein, Amalie! Nie! Niemals!...Solang Gedächtnis haust in dem...zerstörten Ball hier!" Er hatte sich melodramatisch vor die Stirn gestossen. Amalie fühlte sich wieder beruhigt und biss jetzt herzhaft in ihre Schmalzstulle... "Herein?" Es war Frau Wachtel. Sie brachte wieder die Milch für den Kleinen. Der grosse Thienwiebel hatte es sich nicht versagen können, ihn auf den Namen Fortinbras taufen zu lassen. "Na, Dickerchen? Langweilste dich? Oh, mein Mäuseken! Oh!" Sie fand nämlich, dass Amalie ihren heiligsten Mutterpflichten etwas nachlässig oblag, und gestattete sich öfters eine kleine Kontrolle. Frau Rosine Wachtel war nämlich im Besitze eines guten Herzens. Und das musste wahr sein, denn sie sagte es selbst und vergoss jedesmal Tränen dabei. Indessen war ihr dieser Besitz noch nicht allzu gefährlich geworden. Denn es war ihr noch niemand durchgebrannt, und sie war noch immer zu ihrem Geld gekommen; und das war oft ein Stäck Arbeit gewesen. Frau Rosine Wachtel konnte das jeden versichern... "Ach, du Wärmeken! Ach, mein Puttekent Hab'n se dir so in'n Korb jestochen!" Die gute Frau Wachtel war ganz gerührt. Aber plötzlich, aus irgendeinem Grunde, wahrscheinlich weil draussen auf dem Flur eben jemand die Treppe heraufzukommen schien, hielt sie es jetzt doch für besser, sich schnell noch mal nach ihrer Küche umzusehn... Der grosse Thienwiebel, der etwas ungeduldig gewartet hatte, bis ihr runder, trivialer Rücken endlich hinter der Tür verschwunden war, weil er wieder etwas wie einen Monolog in sich verspürte, war jetzt tragisch auf das kleine runde Spiegelchen über der Kommode zugetreten, aus dem ihm nun sein schöner, edelgeformter Apollokopf melancholisch zunickte. "Armer Freund! Wie ist dein Gesicht betroddelt, seit ich dich zuletzt sah!" Amalie bekümmerte sich nicht mehr um ihn. Sie kannte ihren grossen Gatten. "Armer Freund!" War das sein Haar? Sein schönes, berühmtes, blauschwarzes Haar? Eine grausame Natur der Dinge hatte ihm nun schon seit Wochen verwehrt, es sich brennen zu lassen. In die Stirn, in diese erhabene Wölbung majestätischer Gedanken, fiel es ihm nun in Strähnen, dick und feist, wie sie selber, diese schale, engbrüstige Zeit. "Armer Freund!" Nachdem er sich so zu der erhabenen Mission, die ihm vorschwebte, genügend präpariert zu haben glaubte, drehte er sich jetzt gemessen nach dem kleinen, gelben Korb um, der dicht neben dem Bett quer über zwei Stühle gestellt war. "Armes kleines Menschenkind! Welch böser Stern verdammte dich in dieses Elend!" Das arme kleine Menschenkind zappelte ihn an und lachte. "Aber still! Still! Ich will alles einsetzen! Ich will meine ganze Kraft einsetzen! Ich werde arbeiten, Freund! Ich werde arbeiten! Ich werde dem Schicksal die Stirn bieten; ich werde ihm abtrotzen, dass du in dieser herben Welt dereinst jene Stellung einnimmst, die deinen Talenten gebührt...ja! So macht Gewissen Feige aus uns allen. Der angebornen Farbe der Entschliessung wird des Gedankens Blässe angekränkelt; und Unternehmungen voll Mark und Nachdruck, durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt, verlieren so der Handlung Namen!" Seine Stimme bebte, seine Schlafrocktroddeln hinter ihm, die er sich zuzubinden vergessen hatte, zitterten. Amalie hatte jetzt ihr Schmalzbrot wieder beiseite gelegt. "Niels, ich will doch lieber nähen gehn!" "Nie! Nie! Sprich nicht davon, Amalia! Bei meinem Zorn! Sprich nicht davon!" Amalie war wieder beruhigter denn je. Ihr schönes Schmalzbrot war, Gottseidank, noch nicht ganz alle. Der grosse Thienwiebel, der einigermassen aus seinem Konzept gekommen war, hatte jetzt einige Mühe, wieder hineinzukommen. Den Shakespeare, den er wieder von der Erde aufgelesen hatte, hinten in seinen Wattenklunkern, die Finger krampfhaft um seinen roten Saffianrücken, nickte er jetzt wieder schmerzlich auf das kleine, verwunderte Bündelchen hinab. Es hatte die ganze Zeit über kaum zu mucksen gewagt. "Ich weiss... ich werde sterben, Freund! Ich werde sterben!--Das starke Gift bewältigt meinen Geist! Ich kann von England nicht die Zeitung hören; doch prophezei ich, die Erwählung fällt auf Fortinbras... Du lebst; erkläre mich und meine Sache den Unbefriedigten!" Der kleine Fortinbras war jetzt ganz ernsthaft geworden. Er hatte seinen großen Papa noch nie so menschlich mit ihm reden hören. "Den Unbefriedigten" Der Regen draussen, der die braunen Dächer drüben schon seit frühmorgens wie mit Glanzlack überzogen hatte, plätscherte, aus dem Fensterblech, unter das die reizende Ophelia natürlich wieder den Wasserkasten zu hängen vergessen hatte, war er jetzt allmählich sogar die graue Tapete hinab bis mitten unter das kleine Blaukattunene gekrochen. Auf seinem kleinen Teich drunter konnten die beiden angebrannten Schwefelhölzchen bereits in aller Gemächlichkeit rundherum Gondel fahren. Plötzlich schien den grossen Thienwiebel wieder mal irgend etwas unversehens gestochen zu haben. "Amalie! Amalie!" "Was denn schon wieder, Thienwiebel!" Sie hatte sich nicht einmal umgesehn. "Amalie, es ist nicht zu leugnen: das Kind hat ganz aussergewöhnliche Fähigkeiten! Es hat mich soeben angelacht. Es unterhält sich ordentlich mit mir!" Amalie grunzte nur verdriesslich. "Ich wette, man kann ihm schon die Anfangsgründe des Sprechens beibringen, Amalie!" "Hm? du! Sag mal: a! Na?! a-a-a..." Der kleine, gute Fortinbras wusste sich jetzt vor lauter Verdutztheit gar nicht mehr zu fassen. Er hatte seine beiden dicken Händchen rechts und links in den Korbrand gekrallt und lachte nun, seinen Kopf nach hinten zurückgelegt, seinen großen Papa ganz vergnügt an. "Nicht a, mein Junge! Sag a! A sollst du sagen! Also? Na? Aaaa!... " "Ach, lass doch! Das kann er ja noch nich!" Amalie hatte es endlich doch für angezeigt gehalten, sich ins Mittel zu legen. "Was?! Das kann er nicht?! Sage das nicht, Amalie! Sage das nicht! Dafür ist er mein Junge! Ha? Bist du mein Junge? Ha?" "Aber er ist ja erst kaum ein Vierteljahr alt!" "So? So? Nun, hm...Ich will nicht mit dir rechten, Amalie! Allein du wirst doch vorhin bemerkt haben, dass er durchaus verstand, was ich meinte!" Amalie gähnte. Sie gab es auf. Es hatte ja keinen Zweck! Es war ja alles egal! So oder so! Der grosse Thienwiebel aber war damit noch nicht zufrieden. Er konnte seine Idee noch nicht so leicht wieder fallenlassen. Nein, gewiss, Amalie! Der Junge berechtigt zu den besten Hoffnungen!" Ach... "Nun! Was ist denn da so Ungewöhnliches dabei, Amalie? Du weisst: es gibt mehr Ding' im Himmel und auf Erden, als unsere Schulweisheit sich träumt, Amalie!" Amalie gähnte nur wieder. "...und nun, ihr Lieben, Wofern ihr Freunde seid, Mitschüler, Krieger, Gewährt ein Kleines mir!" Sie gewährten es ihm. Es war wirklich zu schön von dem grossen Thienwiebel! Aber er hatte sich jetzt tief über seinen kleinen, süssen Fortinbras, der zu so grossen Hoffnungen berechtigte, gebeugt und wollte ihn nun--oh, zum ersten Mal, zum ersten Mal, seit langer, langer Zeit, Horatio! wieder auf die kleine bleiche Stirn küssen. Aber es sollte nicht dazu kommen. Er war bereits wieder zurückgetaumelt, noch ehe er seine schöne Tat zum Austrag gebracht hatte. "Ha!" Seine Augen rollten, seine Fäuste hatten sich geballt, die beiden roten Troddeln hinten an seinem Schlafrock schlotterten vor Entrüstung. "Ha!" Das Rätsel von der alten, lieben, guten, geschäftigen Frau Wachtel von vorhin hatte sich glänzend gelöst. Sei's Farbe der Natur, sei's Fleck des Zufalls, kurz und gut, aber der kleine Prinz von Norwegen lag wieder seelenvergnügt mitten in seinen weitläufigen Besitzungen da. IV Seit die schöne Frau Kanalinspektor, sorgsam in Sackleinwand genäht, endlich abgegangen war und weitere Promenaden am Hafendamm sich nicht wieder ergiebig erwiesen hatten, war jetzt auch nebenan bei dem kleinen Ole Nissen nichts mehr zu holen. Erneute Bohrversuche bei dem famosen, noblen Putthuhn hatten auch nichts gefruchtet. Seine "Alte" schien ihm nicht sonderlich imponiert zu haben. Wenigstens hatte ihr kleiner "Tintoretto" sie bei seiner letzten offiziellen Visite draussen vergeblich an den neuen, schöntapezierten Wänden gesucht. Übrigens waren die Herrschaften gerade ausgegangen. Man schien eben nicht bloss in Christiania allein undankbar zu sein. Keine Hummern bei Hiddersen mehr, keine Ägypter mehr, keine "Mieze" mehr! Das letzte schmerzte den armen, kleinen Ole natürlich am meisten. Aber man konnte es der Kleinen wirklich unmöglich verdenken. Von aufgeweichten Brotkrusten liess sich nicht satt werden. Der alten, lieben, guten Frau Wachtel aber war damit ein sehr grosser Stein vom Herzen gefallen. Sie hatte nämlich die niedliche kleine Mieze einmal dabei ertappt, als sie dem abscheulichen Ole grade Modell stand, und da sie hierfür wirklich auch nicht das mindeste Verständnis besass, ein gewisses, kleines Vorurteil gegen sie gefasst. Ihr gutes Herz zu betätigen hatte sie in letzter Zeit leider nur zu wenig Gelegenheit gehabt. Am unzufriedensten aber war sie jedenfalls mit den dummen Thienwiebels. Was bei der alten Schlamperei dort schliesslich rauskommen musste, konnte man sich ja an den Fingern abzahlen. Der alte, alberne Kerl flözte sich den ganzen Tag auf dem Sofa rum und trieb Faxen, das faule, schwindsütige Frauenzimmer hatte nicht einmal Zeit, seinem Schreisack das bisschen blaue Milch zu geben, zu fressen hatten sie alle drei nichts, und die Miete – ach, du lieber Gott! Wenn man nicht wenigstens noch die paar Sparkreeten gehabt hätte... --Ja! Es war Wermut! Sein Verstand war krank! Es fehlte ihm an Beförderung! Im Schoss des Glückes? Oh, sehr war! Sie ist eine Metze! Was gibt es Neues? Als Roscius noch ein Schauspieler in Rom war...Geharnischt, sagt Ihr? Sehr glaublich!--Ein Mann, der Stoss' und Gaben mit gleichem Dank genommen, der zur Pfeife nicht Fortunen diente, den Ton zu spielen, den ihr Finger griff, den Bettler, wie er...Nichts mehr davon!! Sprich weiter, komm auf Hekuba! In der Tat, es liess sich nicht mehr leugnen: er war jetzt wirklich zu bedauern, der grosse Thienwiebel! Oh, welch ein Schurk' und niedrer Sklav' er war!! War's nicht erstaunlich? War's zu glauben? War's möglich? War's nur durch Angewohnheit, die den Schein gefäll'ger Sitten überrostet, war's Übermass in seines Blutes Mischung: kurz und gut, aber er kam jetzt immer wieder auf sie zurück: auf nichts, auf Hekuba! Wozu sollten Gesellen wie er zwischen Himmel und Erde herumkriechen? Dem Staub gepaart, dem er verwandt, so rings umstrickt mit Bubereien...nicht doch, mein Fürst!! Die Mäusefalle? Und wie das? Metaphorisch! Ich bitte, spotte meiner nicht, mein Schulfreund; Du kamst gewiss zu meiner Mutter Hochzeit! Armer Yorick! Denn wenn die Sonne Maden aus einem toten Hunde ausbrütet, eine Gottheit, die Aas küsst...Armer Yorick! Sein Wahnsinn war des armen Hamlet Feind.-- Amalie, die endlich ihre Drohung wahrgemacht und in der Tat seit einiger Zeit etwas zu tun angefangen hatte, was sie Trikottaillen nähen nannte, liess alles getrost über sich ergehen. Es hatte ja keinen Zweck! Es war ja alles egal! So oder so. Der gute, kleine Ole Nissen war unendlich zarter besaitet. Da Frau Wachtel so freundlich gewesen war und ihm nach so vielen andern geliebten Gegenständen kürzlich auch noch seine schönen leberwurstfarbenen Pantalons ins Leihhaus getragen hatte, war er jetzt dazu verdammt, die ganzen Tage über in seinem Bett zu liegen und durch die dünnen Bretterwande durch die ganze Wirtschaft mit anzuhören. "Ha! Buberei! Auf, lasst die Türen schliessen! Verrat! Sucht, wo er steckt! Du betest schlecht! Ich bitt dich! Lass die Hand von meiner Gurgel! Kennst du diese Mücke?!" Armer, kleiner Ole! War es Angst oder nur Langeweile? Aber der Schweiss brach ihm oft tropfenweis durch die Stirn. Der grosse Thienwiebel schien es ordentlich auf ihn abgesehn zu haben! Alle Nachmittag Punkt fünf Uhr versäumte er es jetzt nie, sogar seine "Bude" zu inspizieren. Diese war freilich noch erbärmlicher als seine eigene, aber sie besass dafür den Vorzug, dass man aus ihrem Fenster bequem unten auf das breite, platte, geteerte Nachbardach klettern konnte, von dem man dann eine erfreuliche Aussicht auf die verschwiegenen Brandmauern mehrerer Hinterhäuser genoss. Ein kleines anspruchsloses Pflaumenbäumchen, dessen verkrüppelte Ästchen von Raupen und Spatzen nur so wimmelten, vervollständigte das Idyll. Der arme kleine Ole spürte die verhängnisvolle Zeit schon immer eine ganze Weile vorher in seinen Knochen. Der grosse Thienwiebel beliebte es dann nämlich immer, gewisse Unterhaltungen mit ihm anzuknüpfen, die so geistvoll, ideentief und farbenreich waren, dass dem kleinen Ole, den seine ewigen Brotkrusten schon ohnehin arg mitgenommen hatten, nur so der Kopf danach brummte. "Ich will hier im Saale auf und ab gehn, wenn es Seiner Majestät gefällt; es wird jetzt bei mir die Stunde, frische Luft zu schöpfen. Lasst die Rapiere bringen." Die "Rapiere" waren zwei Leiterstücke, die man zusammenlegen und von draussen her in das Fensterkreuz einhaken konnte. Wenn sie "gebracht" worden waren, endete die Geschichte natürlich stets damit, dass man sie auch richtig einhakte und an ihnen hinabkletterte. "Hic et ubique! Ändern wir die Stelle!" Dann war man in "Helsingör" und promenierte auf der "Terrasse". Der grosse Thienwiebel in Fez und Schlafrock, der kleine Ole in Havelock und Unterpantalons. Ich will die Lieb' Euch lohnen, lebt denn wohl, Horatio! Auf der Terrasse zwischen elf und zwolf besuch ich Euch ... Nicht wahr? Ihre...seid ein – Fischhändler?!" Scham, wo war dein Erröten! Der arme, kleine Ole wusste zuletzt selbst nicht mehr: war eigentlich er verrückt, oder Nielchen. Aber er hatte sich nicht so zu härmen brauchen. Der grosse Thienwiebel wusste nur zu gut, was er tat. Er war nur "toll aus Methode". Er war nur toll bei Nordnordwest; wenn der Wind südlich war, konnte er sehr wohl einen Kirchturm von einem Leuchtenpfahl unterscheiden. Die ewige Aktsteherei unten in der alten, dummen Akademie war ihm eben nachgerade langweilig geworden, und da er der alten, lieben, guten Frau Wachtel doch unmöglich zutrauen durfte, dass sie ihn noch langer gratis beherbergte, wenn er sich jetzt die "Quelle köstlicher Dukaten" so sans facon wieder zustopfte, war er eben eines schönen Tages auf die grossartige Idee verfallen, sich hier in dieser herben Welt voll Müh' nach und nach für wirklich übergeschnappt auszugeben. "Ha! Heisa Junge! Komm, Vögelchen! Komm! Ich muss nach England; wisst Ihr's? Himmel und Erde! Es ist nur eine Torheit, aber es ist eine Art von schlimmer Vorbedeutung, die vielleicht ein Weib ängstigen würde. Was? Eine Ratte? Die Spitze auch vergiftet! Nein! Nein, schöne Dame! Nicht nur mein düstrer Mantel, gute Mutter, noch die gewohnte Tracht von ernstem Schwarz, noch stürmisches Geseufz beklemmten Odems: nein: auch die Schmeichelsalb'! Ich hab's geschworen! Weglöschen von der Tafel der Erinnerung will ich all jene törichten Geschichten! Nie beuge sich dieses Knies gelenke Angel, wo Kriecherei Gewinnn bringt! Ich trotze allen Vorbedeutungen: es waltet eine besondere Vorsehung über dem Fall des Sperlings. In Bereitschaft sein ist alles. Wetter! Dankt ihr, dass ich leichter zu spielen bin als ein Flöte? Nennt mich, was für ein Instrument ihr wollt! Ihr könnt mich zwar verstimmen, aber nicht auf mir spielen..." Ha! Was? Ein königliches Bubenstück! Dem kleinen Fortinbras schien dieses königliche Bubenstück am wenigsten zu imponieren. Ja, aus gewissen Anzeichen glaubte sein grosser Papa manchmal sogar schliessen zu dürfen, dass er noch nicht einmal recht Notiz von ihm genommen hatte. Am auffälligsten zeigte sich dies aber regelmässig dann, wenn es sich um die "ersten Elemente der Gesangskunst" handelte. Denn der "arme Yorick" war durchaus nicht gewillt, seinem schrecklichem Wahnsinn zuliebe auch die seltnen Talente seines zu so grossen Hoffnungen berechtigenden Söhnchens verkümmern zu lassen. Es war ausgemacht! Es war ausgemacht, o reizende Ophelia! Ja! Sagen wir Ophelia! Teufel! Warum sollten wir nicht Ophelia sagen? Kurz und gut: es war ausgemacht. Es sollte ihn und seine Sache den Unbefriedigten erklären...Den Unbefriedigten!... Sobald er daher nur irgendwie merkte, dass der kleine Ole nebenan wieder einmal eingeschlafen und die gute Frau Wachtel wieder mal ausgegangen war und so "die beiden, denen er wie Nattern traute," eine Zeitlang wieder "unschädlich" gemacht waren, ging der Tanz los. Seines Kummers "Kleid und Zier" war dann plötzlich wie abgefallen von dem grossen Thienwiebel. Seine "Einbildungen, schwarz wie Schmiedezeug Vulkans", hatten den armen Yorick verlassen, er war wieder "zahmer Herr!" "Hohrt doch! Ich bin wieder zahm, Herr! Sprecht! Ich bin wieder zahm!" Aber der kleine, verstockte Fortinbras wollte nicht. Er hatte sich wieder nur in Ermangelung eines Gummipfropfens, dem ihm die reizende Ophelia verbummelt hatte, seinen grossen Zeh in den Mund gestopft und sog nun, dass es ihm aus dem kleinen, mattrosa Mundwinkelchen nur so tropfte. Die ersten Elemente der Gesangskunst liessen ihn heute augenscheinlich noch kälter als sonst. Empört hatte sich jetzt der grosse Thienwiebel wieder in die Höhe gerückt. Die beiden roten Troddeln hinten an seinem Schlafrock zuzubinden hatte er natürlich wieder vegesssen. "Amalie! Ich bemerke soeben zu meinem grössten Erstaunen, Fortinbras ist störrisch!" Amalie, die jetzt ihre kleine, mollige Fussbank der Trikottaillien wegen zu ihrem grossen Leidwesen vom Ofen ans Fenster hatte verlegen mussen, war gerade dabei, sich ihre erste Nadel für heute einzufädeln. Sie hatte wieder so lange inhalieren müssen... "Störrisch?" "Wie ich dir sage, Amalie! Störrisch!" "Ach, nich doch!" "Amalie? Ich sage dir noch einmal- störrisch! Fortinbras ist störrisch. Stör-risch!!" "Ach, red doch nich! Wie soll er denn störrisch sein!" "Amalie?!" Amalie sah sich nicht einmal um. Sie zuckte kaum mit den Achseln. "So! So! Also glaubst du mir nicht mehr, wenn ich dir etwas sage! Du misstraust mir! In der Tat! In der Tat! Ich hatte mir das denken konnen! Sag's doch lieber gleich! Wozu die Umstände! Du bedauerst, dass ich mich nicht noch schneller aufreibe!" Amalie nieste. Sie wollte ihren Schnupfen gar nicht mehr loswerden. Mitten im Sommer. "Natürlich! Wie sollte man auch nicht! Man vertreibt sich die Zeit mit--Niesen! Man trinkt Kaffee und vertreibt sich die Zeit mit--Niesen! In der Tat! In der Tat! Andre Leute mögen unterdes zusehn, wie sie fertig werden!...Aber, ich werde es dir beweisen, Amalie! Hörst du? Ich werde es dir beweisen, dass Fortinbras störrisch ist!--Du! Sag a...a...Nun? Wird's bald?...Na?...A!...Du Schlingel! A!...A!!...Ha! Siehst du?! Wie ich dir sagte, wie ich dir sagte, Amalie! Der Lümmel brüllt, als wenn ihm der Kopf abgeschnitten wird! Er ist störrisch! Habe ich recht gehabt?!--Willst du still sein, du Zebra?! Gleich bist du still!" Jetzt endlich war Amalie an ihrem Fenster plötzlich etwas aufmerksamer geworden. "Du willst ihn doch nicht etwa--schlagen?" "Gewiss will ich das, Amalie! Ein Kind darf nicht eigenwillig sein! Ein Kind bedarf der Erziehung, Amalie! Eine leichte Züchtigung..." "Niels!?" "Ach was! Aus dem Weg! Aus dem Weg, sage ich! ... Da, du in-famer Schlingel! Da, du in...Amaaalie!" "Gewiss, du alter Esel! Du glaubst wohl, du kannst hier am Ende tun, was du Lust hast? Du gehörst ja in die Verrücktenanstalt! Wie kann man denn 'n Kind von 'nem halben Jahr so malträtieren?! Wie kann man es schlagen !" "Amaaalie!!" War's möglich?! War es zu glauben?! War das seine Backe?! "Amaaalie!!!..." V "Wirtschaft, Horatio! Wirtschaft! Das Gebackne vom Leichenschmaus gab kalte Hochzeitsschüsseln. E--doch, um auf der ebenen Heerstrasse der Freundschaft zu bleiben: was macht Ihr auf Helsingör?" Der grosse Thienwiebel hatte wieder gut auf der ebenen Heerstrasse der Freundschaft zu bleiben; was sollte der kleine Ole gross machen auf Helsingör? Was er nun schon seit Wochen machte: Firmenschilder pinseln! Das rentierte sich. nämlich famos, weisst du! Abel Grondal: Materialwarenhandlung, auch Heringe-Lars Brodersen: Canariensieen und Hanfsamen--Jacob Lorrensen: Alle Sorten Rauch-, Schnupf- und Kautabak-etc. pp. Ha? Was? Noble Putthühner!! Die schönen Leberwurstfarbenen waren wieder zu Ehren gekommen, die prachtvollen Ägypter wurden wieder nur so pfundweis verpafft, die verteufelte kleine Mieze liess die arme, liebe, alte, gute Frau Wachtel kaum mehr vom Schlüsselloch wegkommen. Es war aber auch wirklich schrecklich, was es jetzt alles dort drinnen zu sehn gab. Die vielen weissen Salbentöpfe, in die die Farben nur so wie Butter reingequetscht waren, die merkwürdig grossen Maurerpinsel, die der geschäftige' kleine Ole kaum zu dirigieren vermochte, die schönen, dicken, mannslangen Bretter, auf denen man jetzt die wunderbarsten Sachen zu lesen bekam, und vor allen Dingen auch jener grosse, geheimnisvolle, grüne Wandschirm dicht neben dem Ofen, hinter dem sich immer die schändliche, kleine Mieze versteckt hielt, das alles interessierte die alte, liebe, gute Frau Wachtel auf das lebhafteste. Noch nie hatte sie sich mit ihrer Stellung als Zimmervermieterin so zufrieden gefühlt. Die drückendsten alten Rückstande waren wieder ausgeglichen, für die dösigen Thienwiebels brauchte ihr jetzt auch nicht mehr so bange zu sein, ja, ja! Der liebe Herrgott! Die reizende Ophelia war wieder in ihren alten Stumpfsinn zurückverfallen. Sie bereute ihre Untat aufs tiefste. Das einzige, was ihr so schliesslich noch vom Leben übriggeblieben war, war ihr Salbeitopf. Ihr grosser Gatte verachtete sie nur noch...Geschrieben--e...hatte man ihm zwar unterdessen bereits, aber--e...wie kam's dass sie umherstreiften? Ein fester Aufenthalt war vorteilhafter für ihren Ruf als ihre Einnahme! Kurz und gut, es war eben nur eine umherziehende Truppe gewesen, und der grosse Thienwiebel hatte sich zu degradieren gefürchtet. Solange noch der kleine Ole da nebenan da war...kurz und gut: er tat, was Ihm Beruf und Neigung hiess! Denn...e...jeder Mensch hat Neigung und Beruf! Am schlimmsten erging es jedoch entschieden dem kleinen Fortinbras. Seine Zähnchen hatten ihm seinen schonen Gummipfropfen ganz verleidet. Er hatte an nichts mehr Freude; nicht einmal am Schreien mehr. Er war ein vollendeter Pessimist geworden. An seinem künftigen Beruf, seinen grossen Vater den Unbefriedigten zu erklären, schien ihm nur noch. wenig zu liegen. Sein kleines Züngchen war dick belegt, seine Händchen sahen weiss wie Kuchenteig aus, er schlief jetzt oft ganze Tage lang. Nur heute abend war er auffallend munter. Die beiden hellen Lampen auf dem Tische, die vielen Leute, der Skandal, der merkwürdig grosse Zuckerkringel, den man ihm so unerwartet in die Hand gesteckt hatte: er begriff das alles nicht. Nu bloss noch'n bisschen Streupulver! Die Damen hatten auf dem Sofa Platz genommen, die kleine Mieze, die sich zu den Mannsleuten rechnete, sass dem kleinen Ole vis-a-vis, der grosse Thienwiebel präsidierte. Die grossartige Gans mitten auf dem Tisch in deren knusprigen Prachtrücken er eben energisch seine blitzende Bratengabel gestossen hatte, roch durch das ganze kleine Zimmer. Die beiden Lampen rechts und links brannten durch ihren Dampf wie durch einen Nebel. Frau Wachtel, die sich in ihrer Sofaecke wie auf einem Präsentierteller vorkam, atmete schwer. Sie hatte heute ihr "Seidnes". an. "Willkommen, all ihr Herrn! Wir wollen frisch daran, wie französische Falkoniere, auf alles losfliegen, was uns vorkommt! Beim Himmel! Den mach ich zum Gespenst, der mich zurückhält!...Ha! Seid Ihr tugendhaft, schöne Dame?" "Thienwiebelchen?" Der kleine Ole , der sich eben über seinen pompösen Flügel hergemacht hatte, blinzelte vor Entzücken. Die kleine Mieze war heute mal wieder ordentlich zum Anknabbern! "Thienwiebelchen?!" Das reizende Grübchen in ihrem rosa Fingerchen kam jetzt so recht zur Geltung. "Thienwiebelchen? Es gibt was!" Aber der grosse Thienwiebel, der sich jetzt auch die Serviette unter sein blaues Doppelkinn gestopft hatte, fühlte sich wieder durchaus auf der Höhe der Situation. "Meint Ihr, ich hatte erbauliche Dinge im Sinn? Ein schöner Gedanke, zwischen den..." "Nielchen!!" Der kleine Ole hat es für die höchste Zeit gehalten. Er hatte sich jetzt auch seinen prachtvollen Porter eingeschenkt und schwenkte ihn nun fidel gegen die neue Lampe. "Putthuhn Nro. 25!" Sein schönes Jubiläum sollte nicht so ohne weiteres zu Wasser werden. "Putthuhn Nro. 25!" Die kleine Mieze war jetzt ganz rot vor Vergnügen. Die beiden kleinen, silbernen Ringe in ihren Ohrläppchen blitzten, ihr Stumpfnäschen sah wie aus Marzipan aus. "Bravo, Dickchen! Es soll leben! Putthuhn Nro. 25!" Sie hatte ausgelassen mit ihm angestossen. Frau Wachtel räusperte sich jetzt. Ihr Seidnes hatte sich eben etwas geklemmt. "Etwas--etwas Sosse gefällig, Frau Thienwiebel?" Amalie nickte. Ihr Teller schwamm zwar schon, aber: es war ja alles egal. So oder so. Ihr grosser Gatte drüben suchte eben wieder einzulenken. "Nun, nun, schöne Dame! Denn--e--wenn die Sonne Maden aus einem toten Hund ausbrütet, eine Gottheit, die ... Ha! Wilde Hölle! Wer ist, des Gram so voll Emphase tönt?!" Es war der kleine Fortinbras. Sein Zuckerkringel, war ihm eben über den Korbrand weg auf die Stuhlkante gefallen, dort entzweigeschlagen und lag nun in kleine Stücke zerbröckelt unten auf den schmutzigen Dielen. Ha, mördrischer, blutschändrischer, verruchter Däne! Trink diesen Trank aus! Ich will den Wanst ins nächste Zimmer schleppen!" Aber die besorgte kleine Mieze hatte ihre Gabel schon schnell wieder auf ihren Teller klappen lassen. "Ach! Nicht doch, Thienwiebelchen! Nicht doch!" Sie war aufgesprungen und bückte sich jetzt zierlich über den plumpen Korbrand. "O mein Zuckerpüppchen! Mein Schatz! So ein niedliches kleines Kerlchen! Nicht wahr, du willst auch was haben? Ach, mein Liebchen!!" Sie hatte sich jetzt den kleinen Fortinbras auf den Schoss gesetzt und küsste ihn nur so. "Auch was haben, Dickerchen?" Kuss!--"Auch was haben, Dickerchen?" Kuss! Kuss, Kuss, Kuss, Kuss!! Der kleine Fortinbras juchzte. Er hatte noch nie so etwas erlebt. Er zappelte jetzt, dass es nur so eine Art hatte. Er lachte aus vollem Halse! "Grrr...grrr...grrr...ah! Grrr...ah!" Der grosse Thienwiebel sass da. Die Weste unten aufgeknöpft, die Augenbrauen tragisch in die Höhe gezogen. "Wie keck der--e--Bursch ist!...Wahrhaftig, Horatio! Ich habe seit diesen drei Jahren darauf geachtet. Das Zeitalter wird so spitzfindig, dass der Bauer dem Hofmann auf die Fersen tritt!" Aber der kleine Ole beachtete ihn kaum. Die kleine Mieze war ihm jetzt weit interessanter. Sie sah jetzt ordentlich wie eine kleine Hausmutter aus. "Na, Dickerchen?" Auch Frau Wachtel machte jetzt grosse Augen. Amalie pappte. "Ja, mein Junge! Sie essen alle, und mein Dickerchen soll gar nichts haben! Wie?--Aber das lässt er sich nicht gefallen! Wie?--Ach, bitte, Frau Thienwiebel! Reichen Sie mir doch das bisschen Biskuit da von der Kommode her. Auch die Milch, bitte!" Frau Thienwiebel erhob sich schwerfällig und brachte das Verlangte. Die kleine Mieze hatte den Biskuit jetzt aufgeweicht und fing nun an, den kleinen Fortinbras damit zu füttern. Von ihrem Teller, auf dem neben den drei gebratenen Äpfeln nur noch ein paar kleine fetttriefende Hautstückchen lagen, naschte sie kaum. Der kleine Fortinbras stöhnte vor Behagen. "He? Willst du noch mehr, Dickerchen? Noch mehr?" Der kleine Ole hatte sich jetzt neugierig über den Tischrand gebogen. Sein Schnurrbärtchen duftete nach chinesischer Tusche. "Nein! Nein! Nu sieh doch bloss, Dickerchen! Wie es dem Balg schmeckt!--Was?! Noch mehr?!--No! No! Nur nicht gleich schreien!--So!" Frau Wachtel war jetzt ordentlich bis zu Tränen gerührt. Und wenn sie bis zu Tränen gerührt war, vergass sie es auch nie, von ihrer verstorbenen Pflegetochter zu erzählen. Und das kam ziemlich oft vor. "Ja, sehn Sie! Sie war ein Engel, Frau Thienwiebel! Ein Engel!" Frau Thienwiebel kaute. Frau Wachtel beschrieb jetzt ausführlich die Krankheit des Engels, und wie er dann gestorben war. Er hatte Malchen geheissen und war dabei so himmlisch geduldig gewesen. "Ja, sehn Sie, Herr Nissen! Sie war mein Einz'ges! Sie tröstete mich noch, als schon der Tod kam. Sie war ein Engel!" Sie hatte sich jetzt auch auf ihr Taschentuch besonnen und drückte es sich nun abwechselnd in die Augen. "Ach, wein doch nicht, Mütterchen! Wein doch nicht! Nun komm ich ja zum lieben Gott!" Sie weinte jetzt, dass ihr die Tränen nur so auf ihr Seidnes kullerten! Der kleine Ole war bereits eine ganze Zeit lang verlegen auf seinem Stuhl hin und her gerutscht. Er hatte es unten auf das kleine, niedliche Füsschen unterm Tisch abgesehn gehabt und war dabei eben auf die alten, phlegmatischen Filzpantoffeln der reizenden Ophelia gestossen. Er war ordentlich rot darüber geworden. "Ja! Sehn Sie! Sie war mein Einziges!" Der kleine Fortinbras plantschte vor Wonne. "Grrr...grrr...grrr..." Dieses freundliche, frische Gesicht mit den hellen Augen und den blonden Löckchen über ihm – er kam gar nicht mehr raus aus dem Lachen! Sogar sein Streupulver hatte er vergessen! "Grrr...grrr...grrr...Aeh!" Seine Händchen hatten jetzt in die Höhe gegrapscht, die kleine Mieze liess von ihm ihre Stirnlockchen zausen. "Nein, Dickchen! Nu sieh doch bloss! Nu sieh doch bloss!" Der kleine Ole schneuzte sich. Er war wie mit Blut übergossen. "Ja! Das glaub ich! Das hast du wohl noch nicht so gut gehabt, Dickerchen! Wie?" Jetzt hatte sich endlich auch Frau Wachtel über ihn gebückt. Ihr Taschentuch lag wieder sauber ausgefaltelt auf ihrem Schoss, sie kitzelte ihn wohlwollend unterm Kinn. "Ach, mein Pütteken! Ach, mein Mäuseken! Hab'n se dir so lange hungern lassen!" Ihre Stimme zitterte, sie sah noch ganz verweint aus. Amalie tunkte gerade ihre Sosse auf. Der grosse Thienwiebel aber hatte sich nunmehr rücklings in seinen Stuhl zurückgelehnt und starrte jetzt, die Hände in den Hosentaschen, erhaben oben in die beiden gelben Lichtkleckse, die die Lampen zitternd an die Decke malten. Denn, was ein armer Mann wie Hamlet ist... Nichts mehr davon! Der Rest war Schweigen ... Endlich war alles wieder abgeräumt. Frau Wachtel, die nicht Skat spielte, hatte sich mit ihrem Seidnen, ihrem Taschentuch und ihrer zweiten Lampe wieder hinten in ihre Küche zurückgerettet, Amalie kauerte wieder auf ihrem Fussbänkchen neben dem Ofen. Sie hatte sich noch nachträglich eine kleine Bratenschmalzstulle geschmiert. Es war ziemlich kalt im Zimmer. Das Feuer war ausgegangen, und man hatte nichts mehr nachzulegen. Der grosse Thienwiebel, dessen Schlafrock mit der Zeit aufgehärt hatte, skatfähig zu sein, hatte sich statt dessen in die rote Bettdecke eingewickelt. "Die Luft geht scharf; es ist entsetzlich kalt! Tourner, Horatio!" "Passez, Nielchen!" "Dito, Tienchen!" "Was denn, Schäfchen?" "Na, wird's bald?" "Ah so!--Da, Schäfchen!" "Na, endlich!" Sie hatte die Zigarette, die ihr der kleine, eifrige Ole gereicht hatte, mit spitzen Fingern angefasst und zog jetzt ein Gesicht, als ob ihr der Rauch lästig wäre. Sie wusste, dass ihr das liess! Es hatte auch sofort den Erfolg, dass ihr Dickchen einen Kuss mauste. "Nein doch! So eine Unverschämtheit!" Sie hatte ihn unterm Tisch mit dem Knie gestossen. "Pique As! Nicht wahr, Wiebelchen?" "Sehr wohl, schöne Dame! Sehr wohl! Vortrefflich, meiner Treu! Was wäre da zu fürchten? Ich--e selbst bin--e--hm!--leidlich tugendhaft." Der kleine Fortinbras war jetzt vollständig vergessen. "Voll Speis' und Trank in seiner Sünden Maienblüte" lag er jetzt wieder "sicher beigepackt" hinten in seiner dunklen Korbecke und starrte nun trübselig drüben in den Zigarrenqualm, der in dicken Schichten um die grüne Glocke wogte. Seit seiner Geburt war er nicht übermässig oft aus seinem Winkel hervorgeholt worden. Das unerwartete Glück heute hatte ihn ganz sehnsüchtig nach dem Lichte dort gemacht. Der Schoss, der Zuckerkringel, die Lockchen...er hatte wieder zu quaken angefangen. Amalie rührte sich nicht. Der Bengel wollte bloss immer genommen sein. Sie hatte schon an einmal genug. "Coeur Trumpf, Nielchen!" "Ihr sagtet?" "lch sagte: CoeurTrumpf, Nielchen! Coeur Trumpf!" "Ha, blut'ger kupplerischer Bube! Unmöglich, bei diesem verwünschten Geschrei ein Wort zu verstehn! Wenn du nicht gleich still bist, du infames Balg, dann schlag ich dich blitzblau wie eine Heidelbeere!" "Nicht doch! Das kneift ja, Ole! Au!" "Ach was, Schäfchen! Lass doch!" Das Sofa hatte in diesem Augenblick genug mit sich selbst zu tun. Amalie, die auf ihrer kleinen Fussbank schon wieder halb eingenickt war, blinzelte kaum. Der grosse Thienwiebel war vor einer zweiten Ohrfeige sicher. Er hatte sich jetzt in seiner roten Bettdecke ergrimmt vor den Korb gestellt und brüllte nun wütend auf das arme, kleine Bündelchen ein. "Willst du still sein, du--Lausbub!?" Aber der "Lausbub" war's nicht. Er wollte auch mal va banque spielen. Er schrie jetzt, als wenn er seine kleinen Lungen auseinandersprengen wollte. "Aber...Das ist doch wirklich unerhört!...Na, warte! Du...Du--Lindwurm, du! Warte!" Er prügelte ihn jetzt, dass es nur so klitschte. Als aber auch das nichts half, riss er das Kopfkissen unter ihm vor und presste es ihm auf das Gesicht. Der kleine Fortinbras war jetzt auf einen Augenblick vollständig verstummt. Sein Geschrei war wie abgeschnitten. Aber der grosse Thienwiebel hatte noch nicht genug. "Nichtsnutziger Patron!" Er hatte ihm jetzt das Kissen noch fester aufgedruckt. Der kleine Ole hatte die kleine Mieze, die noch ganz rot vor Ärger war, wieder losgelassen. Er war jetzt ordentlich ängstlich geworden. "Um Gottes willen, Nielchen! Er erstickt ja!" "Ach, Unsinn! So schnell geht das nicht!" Nein! So schnell ging das auch nicht! Denn als der grosse Thienwiebel nach einiger Zeit das Kissen fortnahm, schnappte zwar der kleine Fortinbras ein paar Augenblicke verzweifelt nach Luft, fing dann aber sofort wieder von neuem an. "Ole!" Empört war die kleine Mieze jetzt aufgesprungen. Das schreckliche Kopfkissen hatte den Kleinen von neuem zugedeckt. "Ole! Das leidst du?" "Ach was! Er weiss es ganz gut, der Lümmel! Er soll nicht schreien! Es ist die reine Bosheit, Man bekommt das wirklich satt!" "Pfui! Ole, komm! Lass den alten"--Pavian. "Pa...Pa...Pa..." Der kleine Ole hatte jetzt verlegen nach seiner Uhr gesehn. "... Pavian?!!!" Endlich war der grosse Thienwiebel wieder zu sich gekommen! "Hinaus, sag ich!! Hinaus!!" Aber sie waren es bereits. Einen Augenblick lang noch hörte er sie draussen durch die Küche tappen; dann, endlich, war nebenan bei ihnen die Tür zugefallen. Er stand da! Um seine Schultern die rote Bettdecke, in seiner Rechten das kleine blaugewürfelte Kopfkissen. Drüben, in der Ofenecke, die reizende Ophelia. "Da! Nymphe!!" Er hatte ihr das Kissen ins Gesicht geschleudert. VI Seit ihr zweiter, unliebenswürdiger Gatte ihr vor ungefähr fünf Jahren auf der "Dicken Selma" treulos nach Kanada ausgerückt war, hatte die liebe, gute, alte Frau Wachtel keinen solchen Ärger mehr auszustehn gehabt. Nicht bloss, dass seine Stiefelabsatze noch überall auf dem Sofa deutlich zu sehn waren, nicht bloss, dass das Fensterkreuz von den dämlichen Leiterstucken, die jetzt natürlich zerbrochen unten auf dem Pappdach lagen, total ruiniert war, bewahre: auch die ganze Tapete von oben bis unten mit Ölfarben bekleckst! Der vermaledeite knirpsige Schmierpeter schien sich die ganze Zeit dran seine schweinschen Pinsel ausgequetscht zu haben. Pfui Deibel ja! Aber, das war ihr ganz recht! Warum hatte sie das ganze Pack nicht schon längst an die Luft gesetzt! Wenn's wenigstens noch die verrückten Thienwiebels gewesen wären. Aber die holte ja der Satan nicht! Die hakten fest wie Kletten an ihr! Die alte, liebe, gute Frau Wachtel war ganz ausser sich. Aber sie hatte wirklich Pech mit ihren Mannsleuten. Der kleine Ole hatte sich in der Tat nicht entblödet, ihr mit Hinterlassung einiger alter "Schinken", deren Darstellungsobjekte es unmöglich zuliessen, dass man sie sich übers Sofa hing, auszukneifen. "Solch eine Tat, die alle Huld der Sittsamkeit entstellt, die Tugend Heuchler schilt, die Rosen wegnimmt von unschuldvoller Liebe schöner Stirn und Beulen hinsetzt ... Ha!" Aber der grosse Thienwiebel suchte sich jetzt vergeblich beliebt zu machen. Seine "Schmeichelsalb" zog nicht mehr. Frau Rosine Wachtel verlangte jetzt energisch ihre Miete. Heut war der Siebente: wenn ihr bis zum Vierzehnten nicht alles bezahlt war:--raus!! Ja!...Sterben--schlafen--nichts weiter! Und zu wissen, dass ein Schlaf das Herzweh und die tausend Stösse endet, die unsres Fleisches Erbteil--'s ist ein Ziel, aufs innigste zu wünschen'...Ja! dies war ehedem paradox! Paradox! ... Doch nun – bestätigte es die Zeit! Armer Yorick! ... Der grosse Thienwiebel fühlte, dass es jetzt zu Ende war mit seiner Kraft. Er wollte nun arbeiten, Freund! Arbeiten! Er wollte seine ganze Kraft aufbieten. Er--er...er wollte ihn "suchen" gehn! "Lasst mich! Er ist ermordet, Amalie! Er ist ermordet!" ... Er hatte sich jetzt wieder seinen alten, olivengrünen Leibrock zurechtgeflickt und trieb sich nun ganze Tage lang im Hafenviertel umher.--"Ha! Tot?! Für 'nen Dukaten, tot?!" ...Er hatte wieder eine prachtvolle Ausrede. Ein Bubenstück! Er brauchte jetzt kaum mehr die Nächte nach Hause zu kommen. Er schnurrte sich herum, so gut es ging. Da gab es noch--e: Kollegen! Leute! Leute? Pah, Stümp'rr! Aber--e...sie--e...Nun ja! Sie sorgten für die Bewirtung der Schauspieler! Wetter! Es lag darin etwas Übernatürliches! Wenn die Philosophie es nur hatte ausfindig machen können! ... Aber die Philosophie machte es nicht ausfindig. Der grosse Thienwiebel kam nie dahinter. Er hatte sich jetzt nach und nach bis unten in die Hafenspelunken verirrt. Mehrere Sackträger waren bereits seine Duzbruder geworden. Bevor nicht "der Hahn, der als Trompete dient dem Morgen", bereits mehrere Male nachdrücklich gekräht hatte, kam er jetzt selten mehr die Treppen in die Höhe gestolpert. Amalie nahte noch immer die Trikottaillen. Der Stumpfsinn hatte sie nach und nach zur reinen Maschine gemacht. Die reizende Ophelia in ihr war jetzt endgültig begraben. Für alle Zeiten!...Ihre Brust war noch schwächer geworden ... Dem kleinen Fortinbras ging es noch jämmerlicher. Sein ganzes Gesichtchen war jetzt dicht mit roten Pusteln betupft. Ein Schächtelchen Zinksalbe, zu dem sich die Familie im Anfang denn doch noch aufgeschwungen hatte, lag jetzt zusammengequetscht, verstaubt hinterm Ofen. Es war nicht mehr erneuert worden. Der grosse Thienwiebel hatte nicht so ganz unrecht: Die ganze Wirtschaft bei ihm zu Hause war der Spiegel und die abgekürzte Chronik des Zeitalters. VII Zwölf! ... Erschöpft hatte sie sich wieder auf ihrem Fussbänkchen zurücksinken lassen. Der Ofen hinter ihr war eiskalt. Durch ihre Nachtjacke durch fühlte sie deutlich seine Kacheln Sie fröstelte! Die letzten Töne draussen brummten und zitterten noch, das kleine Talglicht, das in eine leere, grüne Bierflasche gesteckt dicht vor ihr auf dem umgekippten Kistchen mitten zwischen dem Nahzeug stand, knitterte in der Kalte. Frau Wachtel nebenan schnarchte, der kleine Fortinbras hatte sich drüben in seinem Korb wieder unruhig auf die andere Seite gewalzt. Sein Atem ging rasselnd, stossweis, als ob etwas in ihm zerbrochen wär. Draussen auf das Fensterblech war eben wieder ein Eiszapfen geprasselt. Dicht davor, unterm Bett, jetzt deutlich das scharfe Nagen einer Maus. Zwölf! Sie hatte ihr Nahzeug wieder fallen lassen. Ihre Finger waren krumm zusammengezogen, sie konnte sie kaum noch aufkriegen. Um die Nägel herum waren sie blau angelaufen. Sie hauchte jetzt in sie hinein. Ihr Atem brodelte sich staubgrau um das kleine, zitternde Flämmchen. Eine verspätete Fliege, die dicht neben dem schwarzen Docht in den kleinen, runden Talgkessel drunter gefallen war, verkohlte langsam. Ab und zu knisterte es "Halt ihn! Halt ihn! Hilfe!! Hilfe!!" Erschreckt war sie zusammengefahren. Sie sah jetzt auf. Ihr schlaffes, weisses Gesicht war noch stupider geworden. "Hierher! Hierher! Hilfe!!" Der gelbe Lichtklecks vor ihr liess jetzt das Zimmer dahinter noch dunkler erscheinen. Nur vom Fenster her durch das eckige Loch in der Bettdecke, von draussen, das matte Schneelicht. "Hilfe! Hilfe!!" Sie war aufgesprungen und ans Fenster gestürzt. Das kleine Talglicht hinter ihr war erloschen. Es war umgekippt und lag jetzt unter dem Nahzeug. "Wächter!! Wächter!! Halt ihn!! Jonas! Jonas!!" An allen Gliedern bebend hatte sie jetzt die alte Bettdecke in die Höhe gerafft und suchte nun durch die wirbelnden Schneeflocken draussen unten auf die Strasse zu sehn. Ihre Zähne klapperten vor Frost, die Schere, die sie noch fest in der Hand hielt, klirrte im Takt gegen die Scheibe. Ein paar Dachgiebel hoben sich blaugrau drüben aus der Dunkelheit ab. Irgendwo in einem Fenster flimmerte noch ein Licht. "Hurra! Papa Svendsen! Moi'n, oller junge! Prost Neujahr!!" Sie atmete auf. Es hatte laut gelacht. Jetzt: eine barsche Stimme, ein Stock, der schnell noch eine Jalousie herunterrasselte, die ganze Gesellschaft war wieder um die Ecke. Eine kleine Weile noch horchte sie. Ab und zu von den Dächern, polternd, der Schnee, in der Ferne, leise, ein Schlittenglöckchen. Sie hatte die Decke wieder fallen lassen.-- Einen Augenblick lang stand sie da! Das ganze Zimmer war jetzt schwarz. Nur hinter ihr, matt durch die Decke, das Schneelicht. Sie tappte sich auf den Tisch zu. Gegen die Kante stiess sie. Ein Fläschchen war umgeklirrt, es roch nach Spiritus. Das Zündholzschächtelchen hatte jetzt geraschelt, es flackerte auf! Sie leuchtete über den Tisch hin. Der schmale Goldrand um die kleine Photographie glitzerte. Die Nachtlampe stand auf dem alten, aufgeklappten Buch mitten zwischen dem Geschirr. Jetzt ein leises Sprühn und Knistern, der Docht hatte gefangen. Über ihr, gross an der Decke, ihr Schatten. Frau Wachtel nebenan schnarchte, der kleine Fortinbras stöhnte. Sie hatte sich jetzt auf den Bettrand gesetzt. Die beiden Zipfel des Kopfkissens, das sie um ihre Schultern gepackt hatte, druckte sie vorn mit ihrem Kinn fest gegen ihre Brust zusammen. Ihre Arme hatten sich gegen ihren Leib gekrämpft, ihre hochgezogenen Knie waren eng aneinandergepresst. Sie zitterte über den ganzen Körper! Ihr Gesicht hatte sich verzerrt, stumpf stierte sie vor sich hin. Die Schere, die ihr vorhin vom Tisch runtergekippt war, lag unten vor ihr auf den grauen Dielen. Sie flinkerte. Das Lämpchen auf dem Tisch hatte jetzt leise zu zittern angefangen, die hellen, langgezogenen Kringel, die sein Wasser oben quer über die Decke und ein Stuck Tapete weg gelegt hatte, schaukelten. Das Geschirr um das Glas hob sich schwarz aus ihnen ab. Die Kaffeekanne reichte bis über die Decke. "Brrr...Ae!" Ihre Pantoffeln waren jetzt unter den Tisch geflogen, sie hatte sich hastig unter das Deckbett gekuschelt. Die weissen Lichtringe fluteten und fluteten, das Öl auf dem Tisch knatterte leise, ein kleines Fünkchen war eben von seinem Docht abgespritzt und schwamm nun schwarz in der dicken, goldgelben Masse. Unter dem Deckbett drüben lag es jetzt wie ein Klumpen. An einer Stelle sah noch ihr Unterrock vor ... "Still, Hund!...Ae!" Er hatte sich jetzt seinen alten Zylinder, auf dem noch der dicke Schnee lag, vom Kopf gerissen und feuerte ihn nun wütend drüben in die dunkle, schreiende Ecke, wo der Korb stand. Die Tür hinter ihm war dröhnend ins Schloss gekracht. "Niels!!" Das Deckbett, das jetzt quer auf den Dielen lag, hatte zur Hälfte den Stuhl mitgerissen. Sie kniete aufrecht mitten im Bett. Ihre Nachtjacke vorn hatte sich ihr bis oben unter die Arme verschoben, ihr Haar hing in Strähnen um ihr Gesicht. "Halt's Maul! Fang nicht auch noch an!" Er hatte sich jetzt auch seinen alten, abgeschabten Rock runtergezerrt. Das kleine Spiegelchen über der Kommode, gegen das er ihn geschleudert hatte, war runtergeschurrt und lag nun zersplittert auf dem blinkernden Wachstuch. "Na, wird's bald?!" Der kleine Fortinbras jappte nur noch. "Na?!...Dein Glück, Kanaille!..." Seine Stiefeln waren jetzt dumpf gegen die kleine Kiste neben dem Ofen gebullert. Der aufgeschlammte Schnee dran war nass gegen die Kacheln geplatscht. Er suchte jetzt nach den Pantoffeln. "Ach was! Halt dein Maul, sag ich!...Die Ohren vollplärren...Konnte mir noch grade passen!...Sind die Sachen gepackt?!" Das Schnarchen nebenan hatte aufgehört. Es schubberte jetzt deutlich gegen die Tür. "Ob du gepackt hast?!" "Nein, Niels...ich.." Sie stotterte! Man hat ja mal wieder zur Abwechslung die Schwindsuchtl...Bitte, genieren Sie sich nicht, Frau Wachtel! Treten Sie näher! Heute geht's ja wohl noch!" Sein Schatten, der bis dahin kreuz und quer über die weisse Decke geschossen war, war jetzt verschwunden. Er hatte sich unter den Tisch gebückt. Vom Bett her hatte es eben laut zu husten angefangen. "Ach, du mein lieber Gott'...Ach Gott! Ach Gott! Die arme Frau!" Sie hatte jetzt ihr Gesicht in das Kissen gepresst und weinte. "Nu ja! Nu ja! Nu heul doch noch'n bisschen! Das ist ja deine Force! Weiter kannste ja woll nischt!" Er war eben in die Pantoffeln gefahren und suchte nun auf dem Tisch herum. Ein Messer klapperte gegen die Kochmaschine, eine Tasse war umgekippt. "Natürlich! Keen Fippschen mehr! Für deine Schwind sucht hast du ja noch'n janz juten Appetit! ... Herrlich ! Das tut immer, als ob es Poten saugt, und frisst ein'm die Haare vom Kopp runter!" Er hatte sich seine Fäuste in die Hosentaschen gestopft und schnaubte nun im Zimmer auf und ab. "So'ne Zucht! So eine--Zucht!!" Er hatte mit dem Fuss in die kleine, hohle Kiste mit dem Nahzeug gestossen. Die Flasche war auf den Boden geschlagen, das Licht bis unters Bett gekullert. "Lächerlich!" Er hatte jetzt auch noch die Flasche druntergestossen. "Lächerlich!!...Wirst du still sein?!!" Der kleine Fortinbras hatte wieder laut zu schreien angefangen. "Bestie!" Mit einem Satz war er auf den Korb zu. "Bestie!!" Das Geschrei war wieder wie abgeschnitten. "Alberne Komödie!" Er hatte sich jetzt wieder nach dem Bett zugedreht. Seine Fäuste waren geballt. Unter den Kissen hervor hatte es deutlich geschluchzt. "Alte Heulsuse!" Die beiden dicken Falten um seine Nase waren jetzt noch tiefer geworden, zwischen seinen verzerrten Lippen blitzten seine breiten Zähne auf. "Ae!!" Über seinen Rücken war ein Frösteln gelaufen. "So'ne Kälte!" Er rückte sich jetzt geräuschvoll den Stuhl zurecht. "So'ne Kälte!! Nich mal'n paar lump'je Kohlen hat das! So'ne Wirtschaft!" Seine Socken hatte er jetzt runtergestreift, der eine war mitten auf den Tisch unter das Geschirr geflogen. "Na?! Willste so gut sein?!" Sie drückte sich noch weiter gegen die Wand. "Na! Endlich!" Er war jetzt zu ihr unter die Decke gekrochen, die Unterhosen hatte er anbehalten. "Nicht mal Platz genug zum Schlafen hat man!" Er reckte und dehnte sich. "So'n Hundeleben! Nicht mal schlafen kann man!" Er hatte sich wieder auf die andre Seite gewälzt. Die Decke von ihrer Schulter hatte er mit sich gedreht, sie lag jetzt fast bloss da. Das Nachtlämpchen auf dem Tisch hatte jetzt zu zittern aufgehört. Die beschlagene, blaue Karaffe davor war von unzähligen Lichtpünktchen wie übersät. Eine Seite aus dem Buch hatte sich schräg gegen das Glas aufgeblättert. Mitten auf dem vergilbten Papier hob sich deutlich die fette Schrift ab: "Ein Sommernachtstraum". Hinten auf der Wand, übers Sofa weg, warf die kleine, glitzernde Photographie ihren schwarzen, rechteckigen Schatten. Der kleine Fortinbras röchelte, nebenan hatte es wieder zu schnarchen angefangen. "So'n Leben! So'n Leben!" Er hatte sich wieder zu ihr gedreht. Seine Stimme klang jetzt weich, weinerlich. "Du sagst ja gar nichts!" "Sie schluchzte nur wieder. "Ach Gott, ja! So'n...Ae!! ..." Er hatte sich jetzt noch mehr auf die Kante zu gerückt. "Is ja noch Platz da! Was druckste dich denn so an die Wand! Hast du ja gar nicht nötig!" Sie schüttelte sich. Ein fader Schnapsgeruch hatte sich allmählich über das ganze Bett hin verbreitet. "So ein Leben! Man hat's wirklich weit gebracht! ... Nu sich noch von so'ner alten Hexe rausschmeissen lassen! Reizend!! Na, was macht man nu? Liegt man morgen auf der Strasse!...Nu sag doch?" Sie hatte sich jetzt noch fester gegen die Wand gedruckt. Ihr Schluchzen hatte aufgehört, sie drehte ihm den Rucken zu. "Ich weiss ja! Du bist ja am Ende auch nicht schuld dran! Nu sag doch!" Er war jetzt wieder auf die Kannte zugerückt. "Nu sag doch!...Man kann doch nicht so--verhungern?!" Er lag jetzt dicht hinter ihr. "Ich kann ja auch nicht dafür!...Ich bin ja gar nicht so! Is auch wahr! Man wird ganz zum Vieh bei solchem Leben! ... Du schläfst doch nicht schon?" Sie hustete. "Ach Gott, ja! Und nu bist du auch noch so krank! Und das Kind! Dies viele Nähen...Aber du schonst dich ja auch gar nicht...ich sag's ja!" Sie hatte wieder zu schluchzen angefangen. "Du--hattest--doch lieber,--Niels.." "Ja...ja! Ich seh's ja jetzt ein ! Ich hatt's annehmen sollen! Ich hätt' ja später immer noch...ich seh's ja ein! Es war unüberlegt! ich hatte zugreifen sollen! Aber--nu sag doch!!" "Hast du ihn--denn nicht...denn nicht--wenigstens zu--Haus getroffen?" "Ach Gott, ja, aber...aber, du weisst ja! Er hat ja auch nichts! Was macht man nu bloss? Man kann sich doch nicht das Leben nehmen?!" Er hatte jetzt ebenfalls zu weinen angefangen. "Ach Gott! Ach Gott!." Sein Gesicht lag jetzt mitten auf ihrer Brust. Sie zuckte! "Ach Gott! Ach Gott!!" Der dunkle Rand des Glases oben quer über der Decke hatte wieder unruhig zu zittern begonnen, die Schatten, die das Geschirr warf, schwankten, dazwischen glitzerten die Wasserstreifen. "Ach, nich doch Niels! Nich doch! Das Kind--ist ja schon wieder auf! Das--Kind schreit ja! Das--Kind, Niels!...Geh doch mal hin! Um Gottes willen!!" Ihre Ellbogen hinten hatte sie jetzt fest in die Kissen gestemmt, ihre Nachtjacke vorn stand weit auf. Durch das dumpfe Gegurgel drüben war es jetzt wie ein dünnes, heisres Gebell gebrochen. Aus den Lappen her wühlte es, der ganze Korb war in ein Knacken geraten. "Sieh doch mal nach!!" "Natürlich! Das hat auch grade noch gefehlt! Wenn das Balg doch der Deuwel holte! ..." Er war jetzt wieder in die Pantoffeln gefahren. "Nicht mal die Nacht mehr hat man Ruhe! Nicht mal die Nacht mehr!!" Das Geschirr auf dem Tisch hatte wieder zu klirren begonnen, die Schatten oben über die Wand hin schaukelten. "Na? Du!! Was gibt's denn nu schon wieder? Na?...Wo ist er denn?...Ae, Schweinerei!" Er hatte den Lutschpfropfen gefunden und wischte ihn sich nun an den Unterhosen ab. "So'ne Kalte! Na? Wird's nu bald? Na? Nimm's doch, Kamel! Nimm's doch! Na?!" Der kleine Fortinbras jappte! Sein Köpfchen hatte sich ihm hinten ins Genick gekrämpft, er bohrte es jetzt verzweifelt nach allen Seiten. "Na? Willst du nu, oder nich?!--- Bestie!!" "Aber--Niels! Um Gottes willen! Er hat ja wieder den--Anfall!" "Ach was! Anfall!--- Da! Friss!!" "Herrgott, Niels..." "Friss!!!" "Niels!" "Na? Bist du--nu still? Na?--Bist du--nu still? Na?! Na?! " "Ach Gott! Ach Gott, Niels, was, was--machst du denn bloss?! Er, er--schreit ja gar nicht mehr! Er...Niels!!" Sie war unwillkürlich zurückgeprallt. Seine ganze Gestalt war vornüber geduckt, seine knackenden Finger hatten sich krumm in den Korbrand gekrallt. Er stierte sie an. Sein Gesicht war aschfahl. "Die... L-ampe! Die...L-ampe! Die...L-ampe!" "Niels!!!" Sie war rücklings vor ihm gegen die Wand getaumelt. "Still! Still!! K--lopft da nicht wer?" Ihre beiden Hände hinten hatten sich platt über die Tapete gespreizt, ihre Knie schlotterten. "K--lopft da nicht wer?" Er hatte sich jetzt noch tiefer geduckt. Sein Schatten über ihm pendelte, seine Augen sahen jetzt plützlich weiss aus. Eine Diele knackte, das Öl knisterte, draussen auf die Dachrinne tropfte das Tauwetter. Tipp............................................... ...............Tipp ..................................... ... Tipp ............................................. ................. Tipp.................................. ............................................ Acht Tage später balancierte der kleine, buckelige Bäckerjunge Tille Topperholt seinen Semmelkorb pfeifend durch das dunkle, dichtverschneite Severingässchen nach dem Hafen runter. Die Witterung hatte wieder umgeschlagen, seine kleine Stupsnase sah zum Erbarmen blau aus. "Heil dir, Svea! Mutter für uns alle!" Es hatte gerade fünf geschlagen. Vor dem neuen, grossen Schnapsladen an der Ecke der Petrikirche stolperte er. Jesus! Seine Semmeln waren ihm in den Rinnstein geflogen, er war mitten in den Schnee geschlagen, Aber er nahm sich nicht einmal die Zeit, sie wieder aufzulesen. Er kam erst wieder zur Besinnung, als er sich bereits drüben am Jakobiplatz mit beiden Händen an die grosse, dick beeiste Glocke gehängt hatte, die denn auch sofort oben die ganze Polizeiwache alarmierte. Jesus! Jesus!! Als der dicke Sieversen dann endlich angestapft kam, konstatierte er, dass der Mann erfroren war. "Erfroren durch Suff!" Seinen zerbeulten Zylinder hatte ihm der kleine, buckelige Tille vorhin grade gegen die Laterne gequetscht. Aus seinen zerlumpten, apfelgrünen Frackschossen sah noch die Flasche. Wohlan, eine pathetische Rede! Es war der grosse Thienwiebel. Und seine Seele? Seine Seele, die ein unsterblich Ding war? Lirumn, Larum! Das Leben ist brutal, Amalie! Verlass dich drauf! Aber--es war ja alles egal! So oder so! The Project Gutenberg Etext of Papa Hamlet by Arno Holz and Johannes Schlaf ******This file should be named 7papa10.txt or 7papa10.zip****** Wortschatz: Pin|ce|nez [°Û³(Ù)'®¥:], das; - [...'ne:(s)], - [...'ne:s; frz. pince-nez, zu: pincer (pincé) u. nezÿ= Nase] (veraltet): Kneifer, Zwicker. © Duden - Deutsches Universalwörterbuch, 5. Aufl. Mannheim 2003 [CD-ROM].