16 3 2 13 5 10 11 8 9 6 7 12 4 15 14 1 Wenn's nach mir ginge, dürften sich die ersten Seiten einer Zeitung mit vermischten Meldungen füllen. Orientierungslose Pinguine neben einem Kinder-schänderring, ein vom Sturm abgedecktes Haus flankiert von Schwertfunden aus der Karolingerzeit, das ist die Sorte Nachrichten, die ich schätze. Die große Schwingtür offen für Lebensschnipsel aller Art, einerlei wer, einerlei was. Bitte herein, sagt der Redakteur und regelt den Betrieb. Einem dieser Redakteure ist zu danken für die schier unglaubliche Ausrede eines Mörders, die neulich in den vermischten Meldungen auftauchte. Durch Indizien überführt, die ihn mit Tatort und Leiche in Verbindung brachten, stritt er alles ab: rein zufällig habe er sich in der Nähe aufgehalten, um sich gepflegt zu übergeben. Im Moment fesseln mich weder Tatorte noch Mörder, sondern ein Photo, das Richard Avedon vor kurzem geschossen hat. Es zeigt einen jungen Scheich mit seiner Lieblingsgazelle. Die Gazelle steht auf die Hinterläufe erhoben als zierliche mannshohe Silhouette neben ihm. Einen ihrer Vorderhufe hat sie auf seine Schulter gelegt, der andere ist angewinkelt und verbleibt in der Möglichkeit, ihm damit zärtlich über die Brust zu streichen. Keinerlei Zwang, nur freie Neigung scheint das schöne Tier an den Menschen zu binden. Eine Lieblingswirtschaft von größter Zartheit ist um die zwei. Letzter Gruß aus Arabia felix, bevor es uns in die Luft sprengt. Natürlich wird mit den beiden das Paradies beglaubigt, doch Asche auf mein Haupt, mit so reiner Glücksbotschaft ist aus dem Reich, daher ich komme, nicht zu dienen. Oder doch? Ja, ich habe sie wiedergesehen, habe sie aufgeblüht überrascht, umrätscht von unruhigen Grillen, meine gefährliche Geliebte, eine jede ihrer leuchtenden Eigenschaften fand ich ins Paradies hineingezählt. In ungekannter Schärfe zeigte sich auch: mein Objekt, das böse, naive, mein Närrchen, das unglückliche. Uns war nicht zu helfen, im Totenreich nicht und in der Wirklichkeit erst recht nicht. Betrübt mußte ich feststellen, daß meine Liebe nicht mehr war als ein aufflatternder Totenvogel, die Bosheit meines Objekts hingegen bitter und verderbt wie alles, was sich vom schwarzen Kern der deutschen Geschichte nicht hat lösen können. Schon wieder lästere ich. Dabei kenne ich sie doch gut. Ich brauche mich bloß auf ihre Arme zu besinnen, zart und glatt und weiß, man möchte immerzu hineinsterben in solche Arme. Kann ein Mensch mit so schönen Armen wirklich böse sein? Langes Herumsitzen bei zeitweiligem Umschlagen 22 23 Wenn nicht, wird die ideale Grablage eines Unversehrten imitiert. Sterben wir noch einmal? Aber nein. Wir suchen die Nähe der Null. Das kann zwei Wimpernschläge lang dauern, aber auch Stunden. Momente, in denen sich unsere inneren Gehöre bewähren. Singen und Zirpen und Lispeln darin, Stimmen in verschiedenen Sprachen, die uns die mißliche Lage versüßen. Eine kleine Wunschmusik. Jedem die eine: seine. Ist die Trübnis gewichen, werden die früheren Positionen wieder eingenommen als wäre nichts geschehen. 16 3 2 13 5 10 11 8' 9 6 7 12 4 15 14 1 Andere kämpfen um ihr Leben, mir sind innerliche Kämpfe auferlegt, Kämpflein um wenig oder gar nichts. In den Zwischenpausen höre ich mehrere abgelebte Generationen über mich spotten, sie kommen mir kräftiger, wärmer, wettergegerbter vor, als ich es bin, größer auch in ihren Sünden. Daß ich weniger grausam bin, ist vielleicht der einzige Vorzug, mit dem ich sie in Schach halten kann. Hier bin ich! Weich geboren, Gottes kreuz und quer rennendes Schlußgeschöpf! brülle ich lautlos in den Raum, und es wird verschlungen. Hier bin ich, ein Talent in der Stille, flüstere ich nach innen, rufe damit aber niemand auf den Plan, nicht einmal das Totengesindel, das selbst beim Schall der Posaunen von Jericho kaum mehr erbebt. 1 Mit den Toten ist Innerliches kein angemessener Gesprächsstoff. Viele von ihnen sind überzeugt, gar nicht tot zu sein, deshalb öden sie einen damit an, was sie alles sehen und hören können - wenn auch mit entsetzlichen Ohren aus Wachs, wie Zbigniew Herbert es ausdrückte. Zimmermann ist der typische Krückendenker, hat immer Text um sich geschart, 49 hangelt sich von Merksatz zu Merksatz. Sobald er sich in unsere Richtung bewegt, braucht unser Held einen Gewährsmann, der ihn einen Gedanken weit begleitet. Einen Wodka bitte. Hätte er mit uns Kameradschaft geschlossen, liefe alles wie geschmiert. Unsere Gedanken kämen seinen Wünschen entgegen, und er dürfte sich frei bei uns bedienen. Aber kalt! Zwar hatte er den Mut, uns aufzusuchen, aber alles weitere hat sein Ego verhindert. Vor allem: keine Geduld. Etwas mehr Bereitschaft, sich in uns zu versenken, und er hätte erfahren, was mit jedem von uns los ist, was sich lunter dem Pfeifen im Wald verbirgt. Wir hätten ihm unser Leid in die Seele geblasen, und er wäre mit unermeßlichen Schätzen heimgekehrt. Statt dessen maß er uns an den Worten seiner Dichter und Denker. Darüber ist ihm das Herz geschrumpft. Hängt nun im Leben wie ein ausgewrungener Lappen, untauglich als Bote zwischen den Reichen. Durst habe ich und schütte den Kaffee in mich hinein. Aus einer langen Reihe deutscher und deutschester Menschen hervorgekrochen, nun denn, wohlan ich! oder vielmehr: was sich da zusammen-krampft unter meinem Namen. Auf solcher Ichheit liegt kein rechter Segen, sie hockt bedrückt und kann nicht raus aus ihrer Arrestantenecke. Wie recht Jean Paul hatte mit seiner Bemerkung: Das geistige Universum wird durch die Hand des Atheismus zersprengt in zahllose quecksilberne Punkte von Ichs, welche blinken, rinnen, irren. ( ! Daß man immerzu und auch noch ungeniert ich sagen darf, sagen muß, ich und mich und mir und das Ganze wieder von vorn, daß davon geschmiert ein Rechtfertigungsmaschinchen anspringt, sobald wir sprechen können, und nimmer enden will bis zum letzten Atemzug, welch eine Katastrophe. Offenbar stört es niemanden, offenbar spricht man allseits unter demselben Zwang. Versuche mir jetzt fest in die Augen- zu sehen und mir zu glauben, wie gern ich, Ralph, mich, Ralphi, vermeiden würde, wenn nur gewußt würde, wie weiterkommen im Bericht, ohne fortgesetzt den Federbusch meines Ichs aufzustecken. Tyrannisch drängt er in bald jedem Satz wieder an die Höhe. Wenn ich zum Beispiel Aisi-kaier wäre, jener chinesische Artist, der gerade sechsundzwanzig Tage auf dem Drahtseil verbracht hat, wäre es ja selbstverständlich, daß man meinen Aufführungen aus purer Neugier folgen müßte. Sechsundzwanzig Tage, das sind fünfundzwanzig Nächte in einer kleinen selbstgebastelten Hütte auf einem Seil über einem Damm in der chinesischen Provinz Sichuan, voll mit chinesischen Träumen vom Schlummern auf chinesischer Erde. Schlaf ein, schlaf ein, mein Blondengelein, süßer Morphinschlager aus den Zwanzigern, der aus einem Gedächtniswinkel heranschwirrt und doch eigentlich für Leute geschrieben wurde, die mit glitzerndem Stirnband durch die Nacht flattern. Meine Eltern liebten Reite, kleiner Reiter von Rudi Schuricke. Beehre mich, jeden, den es interessiert, wissen zu las- 5° 51 sen, daß mein Schlaf zerstückelt ist oder aber, daß ich schlafe, wie mit dem Sandsack geschlagen. Seit ich von dort zurück bin, ist mir der Schlaf erzeugende Dämmerzustand verwehrt. Ich schlafe, wache, schlafe, wache, und nichts dazwischen. Es könnte geschehen, daß mich mitten im Frühstück, während ich die Eierschale mit den Fingern zerkrümele, der Schlaf erwischt. Jeder hat einen Christus, der in ihm wacht. Hat jedenfalls Henri Michaux behauptet. Michaux ist nicht zu trauen. Er behauptete so allerlei, gefiel sich darin, nach den entgegengesetzten Ecken zu boxen, setzte die Evangelisten in die Winkel eines Quadrats und ließ sie von dort gegeneinander antreten. Mein Christus wohnt in meiner Stirn, er schläft mit mir und wacht mit mir, schlägt mich mit Kopfweh, wenn ich ihm zuwider handle. Es ist hoffentlich klar, daß ich nicht zu den Typen gehöre, die locker durchs Leben gehen, locker ihre Hände in den Taschen behalten, locker die Füße auf den Schreibtisch legen, locker zu einer Frau sagen, wenn sie sie ein bißchen beleidigen wollen: All the women come and go, tal-king of Michelangelo, \ Eheanbahnungsinstitute sind der reine Schwindel, man sollte Schlafanbahnungsinstitute gründen. Zur Probe wird ein fremder Schoß ausprobiert, ob man darin einschlafen kann. Wenn ja, gut. Joey hat mich in allen möglichen Stellungen zum Einschlafen benutzt, als Kissen, Stütze, Lehne. Sie mochte es gern, wenn meine Hand leicht wie Flaum auf ihr ruhte. Weil ich stillhalten konnte und jede Unbequemlichkeit auf mich nahm, war ich der Schutzgott ihres Schlafs. Umgekehrt hat es nicht funktioniert. Sie hätte mich als Schläfer keine Sekunde geduldet. Ich höre sie murmeln, sie schiebt ihre langen Beine zurecht, der Schlaf kommt geglitten, und schon ist sie weg. Er kann es kaum erwarten, wieder ins Bett zu kommen. Der Mann sollte sich nicht beklagen. Joey ist eine treue Schlafbegleiterin, und das gesamte Rudel ist zur Stelle, wenn Joey als Wachposten nicht reicht. Wir reißen natürlich unsere Witze, wenn sein Mund schlaff wird und Speichel auf sein Kopfkissen rinnt. Als Schläfer ist er in Ordnung. Die meisten Männer sehen schlimmer aus, wenn ihr Bewußtsein erlischt. Eine weitere Eigentümlichkeit ist mir geblieben, seit ich von dort zurück bin: fasse ich meine Wange oder mein Kinn, spüre ich deutlich das Gebein. Mein Totenschädel ist mir vertraut; was an Fleisch und Haut noch übrig ist, liegt wie feiner Knitter darüber. Seither gehe ich mit meinem Gesicht zart um, es soll sich nicht noch stärker abnutzen. Meinen Fingern merkt man die Abnutzung inzwischen an. Sie sind unstet, gehorchen nicht richtig, die Kuppen von Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand braun verfärbt vom Rauchen. Damals, einundachtzig, war ich natürlich in Form. ' Was sagt mein französischer Boxchamp dazu? Auf dem Gipfel seiner selbst, dem Höhepunkt seiner Form, sucht der Mensch Uber den Haufen geworfen zu wer-• den. Ich war auf dem Höhepunkt meiner Form, als 52 53 Hand in seiner durchsichtigen Hand, die Gehirne wie ruhige Teiche. Beweg dich nicht. Atme. |Denk an die Liebe zwischen Vater und Sohn, wie sie hinweht und wieder herweht. Sie ist ja nichts anderes als der Heilige Geist, ein Fluidum, ein Luftzug. In winzigen Partikeln fliegt die vom Heiligen Geist entzückte Luftmenge durch die Atmosphäre und kann von Wesen, die ein Verlangen danach haben und ihre Nasenflügel dafür öffnen, eingeatmet werden, selbst an einem so frischluftfernen Ort wie dem Rösler. Erwin winkt aus der Ferne: Vati ist bei dir. Der Stimme fehlt es an Kraft. Auf die andere Seite dringt sie nur selten durch. | Wieder besser, viel besser. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten, daß ich mein großes Landschaftserlebnis erst dort hatte. Stuttgart war für mich ein landschaftsloses Gebiet. Winzige Vor gärten mit Weißdorn und Rotdorn, diesen unverwüstlichen Ratten unter den Pflanzen. Selbstgenügsame Blicke zwischen den Siedlungshäusern. Dann kam die Schule, ein Acker mit Filderkraut, eine Gärtnerei, Friedhof, Autotrasse, der Damm für die Gleise der Straßenbahn. Mein Freilandradius als Kind umfaßte fünfzehn Minuten Gehzeit. Selten habe ich ihn ausgeschöpft, da ich es vorzog, in der Wohnung zu bleiben. Die Sonne wirkte kaum auf mich ein. Bin das Kind einer Stehlampe mit Bommeln. Der Frieden ist schwer zu bewahren, schwer zu erreichen. Mich umgab tiefster Frieden. Mein Kampfgeräusch war ein gedämpftes Plopp, platzende Schneebeeren unter der Sohle. Wobei es auch dafür Gefühl braucht und natürlich Ledersohlen. A propos Bommeln. An eine Extravaganz meiner Mutter erinnere ich mich. Aus Verehrung für Marika Rökk, die im Goldenen Blatt mit weit ausschwingendem Mantel abgebildet, war, kaufte sie sich einen Glockenmantel, an dessen Saum lauter puschelige Bällchen hingen. Als sie damit vor der Schule auf mich wartete (sie holte mich immer ab, obwohl der Weg nur zwei Minuten zählte und es keine gefährliche Straße zu überqueren gab), war ein neuer Spitzname fällig: Böppelralphi. Man darf daraus nicht den Schluß ziehen, daß mich meine Schulkameraden gehaßt hätten. Ich hatte gute Noten, war hilfsbereit und ließ jeden, der es wünschte, abschreiben. Kein Grund, mich zu verprügeln. Außerdem beschützte mich mein Sibirischer Tiger. Ein mächtiges Tier, um einiges größer als ich. Er begleitete mich in die Schule und lag zu meinen Füßen, meistens im Mittelgang, der die Mädchen und Buben voneinander trennte. Wenn es unangenehm wurde, klopfte der Tiger mit seiner Schwanzquaste den Boden, wandte den Kopf her und zeigte ein enormes Gebiß, das er mir gern zur Verfügung stellen wollte, sollte es zum Äußersten kommen. In seiner unnachahmlich lässigen Art wanderte er mit nach vorn, wenn mir der Lehrer befahl, mich ans Pult zu setzen und solange auf die Klasse aufzupassen, bis er wieder da wäre. 42 43 gedacht, seinem Ralph die Schuld zu geben, warum auch. Von dieser verflixten Reise habe ich sogar abgeraten. Wollt ihr euch bitte an meine Rede erinnern? Aber ja doch, Ralphi, laß gut sein! Agnes hat die Wiederholung satt und verschwindet Richtung Schwingtür zur Küche, wo die Kellnerinnen hektisch ein- und ausgehen. Kein gemütliches Plätzchen für unsereins, da wir vom Luitzug hin- und herge-zerrt werden. Warum geht ihr nicht an den Wolfgangsee oder nach Garmisch, wo es euch doch gut gefällt, wo ihr alles kennt, Land und Leute kennt. Brötchen, Schnitzel, Gulasch, Berge, Kellner, Saaltöchter, die blitzsauberen Unterkünfte, alles liebe Bekannte. Förmlich aufgedrängt habe ich euch Garmisch und den Wolfgangsee. Wie leid es mir tut, daß ich versäumt habe, eure eh vorhandene Angst vor Afrika zu schüren. Afrika ist nicht Grzimek, ihr nehmt Afrika zu leicht, hätte ich sagen sollen. Mit Swinging Africa von Bert Kaempfert hat Afrika nichts zu tun. Da gibt es Verbrecher, Leute, die ihr nachts nicht seht. Die hüpfen nicht in solchen wuscheligen Aufzügen durch die Gegend wie im ZDF. Den Afrikanern haut's ständig die Schrauben aus ihren Maschinen, da gibt's keine asphaltierten Pisten, die begnügen sich mit Schotter. Fluglotse, ein unbekannter Beruf. Zu essen bekommt ihr Sachen, die ihr nicht vertragt. Schlafen müßt ihr in Unterkünften, wo ihr nicht wißt, was unter euren Betten durchwuselt. Statt dessen habe ich den Wolfgangsee und seine Schönheit gepriesen. Den Wolfgangsee haben wir schon oft gehabt, der läuft uns nicht weg, hast du gesagt, Mama. Es ist Zeit, daß deine Eltern mal bißchen was von der Welt sehen. Das warst du, Vater, und hast dabei gegrinst, als wärst du plötzlich ein anderer und ich nicht der Sohn, der dich seit dreißig Jahren kennt. Erwin kann nicht Nein sagen, längst ist er Agnes gefolgt und mit ihr hinter der Säule verschwunden. Die frohe Botschaft lautet: Es gibt Ihn. So gewiß ich am Flughafen Frankfurt sein konnte, daß das Gezisch in meinem Rücken von einer Espressomaschine stammte und die Durchsagen von einer Frau, die in einem Büro vor einem Mikrophon saß, so sicher wußte ich bei meinen ersten wackligen Schritten im Totenreich: Es gibt Ihn. Geahnt, gewünscht hatte ich es immer, daran gezweifelt auch immer. Er ist die große schwarze Null. Seine Majestät sind enthalten in jeder wohlgefaßten Rechnung. Er wird spürbar in der Stille einer großen Bibliothek. Zusammenfall Seines Reiches mit dem Universum und einer Winzigkeit darüber hinaus. Durchs Leben streicht Er als Hinwelle, das Totenreich durcheilt Er als Rückwelle. Er ist nicht der klassische Repräsentant eines vollkommenen Menschen, Er ist der Verweigerer, der uns Seine Nähe vorenthält. Er ist diskret. Zwischen An- und Abwesenheit schaltet Er schneller hin und her, als wir es in Lichtgeschwindigkeit messen könnten. Er ist die maximale Eleganz. Wenn Er blinzelt, hagelt es einen Scherz, der von uns Menschen schlecht verkraftet wird. So schnell brennt unser Fleisch. So leicht brechen unsere Kno- 94 95 chen. Hört sich das an wie Erwins Sohn? Gibt sich mit keiner Erklärung zufrieden, will mit seinem winzigen Hirn die Ewigkeit überblicken, führt sich auf wie ein Staatsanwalt, der sich in den Kopf gesetzt hat, zugleich Gottes Verteidiger zu sein. Er kam nicht auf mich zu und hat mich nicht begrüßt, auch zeigte sich kein Stellvertreter. Er saß auf keinem Thron, zu dem ich hätte geleitet werden können. Die Gewißheit teilte sich schlagartig mit, unumstößlich, wie ein Mensch für gewöhnlich weiß: das ist eine Ameise, das ein Hund, das ein Tisch, das ein Kind, das ein Wrackteil. Alle Menschen, denen ich je begegnet war, besonders Vater und Mutter, erschienen mit einem Mal als Seine Abgesandten, und ein jeder hatte mir etwas von Ihm mitzuteilen, war aus Seiner teilhaftigen Substanz gemacht, dazu da, mir augenzwinkernd verstehen zu geben: Es gibt Mich. Er blinzelte und machte einen kleinen dreckigen Witz. Mein Leben lang hatte ich den Himmel abgesucht, ob Er nicht endlich ein Zeichen sende, und nun führte Er mir Seine ungeheure Verwandlungskraft vor, zeigte mir Seinen allerliebsten Materiescherz aus Blech, Fleisch, Knochen, Plastik, Kerosin, Feuer und natürlich der Schwerkraft. Ich bin kein Zaddik, kein heiliger Narr, der Gott herausfordert, Ihm etwas abhandelt oder wenigstens eine Antwort von Ihm erzwingt, nur eine flaue Christenseele, die alles schluckt und gegen alle Erfahrung hofft und hofft und hofft. Eine kindische Lieblingsidee: Wie die Puscheln an Marika Rökks Umhang sehe ich mich und alle Menschen, die ich liebe, als flauschige Küken da-hocken und die Schlünde aufsperren im Verlangen nach Ihm. Mit jeder Bewegung des Umhangs werden wir mal dahin, mal dorthin geschleudert, klammern uns fest, halten aber unverdrossen die kleinen Schlünde offen und schreien und zwitschern und füllen die Luft mit unserem Verlangen. Die Kellnerin kommt. Inzwischen arbeitet sie leise wie ein Geist. Eine Erfahrung, die ich öfter mache: Ist Zeit da und die Gelegenheit, sich an mich zu gewöhnen, kommen mir selbst wildfremde Menschen entgegen und handeln nach meinen Wünschen. Vielleicht besitzt das Solitüdenmodell, nach dem ich lebe, doch einige Anziehungskraft. Dreißig Jahre war ich in die blonde sanfte Liebe meiner Eltern gewickelt durchs Leben geschoben worden, dann hieß es plötzlich: Zieh allein weiter. Wie sehr mir meine Eltern fehlten, als sie nicht mehr da waren. Mit welch fürsorglicher Genauigkeit ich Ereignisse heraufbeschwor, die mich mit ihnen in Verbindung brachten. Agnes und Erwin vernehmen es gern. Sie fliegen zu ihrem Sohn, mehr ein Hinspringen als Fliegen, es geschieht in einem Wusch. Geht's dir gut, junger Mann? Immer noch junger Mann, obwohl Ralph die Fünfundfünfzig überschritten hat. Unverrückbar steckt er als Minderjähriger in ihrem Gedächtnis. Hängen in großer Zahl von der Decke, friedlich und still. Inzwischen hat sich das Rösler gefüllt. Um 96 97 16 3 2 13 5 10 11 8 9 6 7 12 4 15 14 1 Ein Kind geht vorüber und führt einen extra weichen Gummisalamander, dessen Kopf und Schwanz aus seiner kleinen Faust hängen, knapp über meinem Tischtuch spazieren. Ich mag es, wenn Kinder auf beiläufige Art Kontakt zu mir aufnehmen und dieser durch ein Tier vermittelt wird - ein Blick, eine Bewegung aus der Zukunft, nichts Ernstes, weniger als ein Hallo. Ich bekomme Lust auf einen Kuchen. Fräulein, bitte bringen Sie mir einen Apfelstrudel, und ein Kännchen Kaffee könnte ich auch noch vertragen. Und bitte ein Mineralwasser dazu. Durch die Erinnerung an das Haschgebäck, das ich mit Joey verputzt habe, kommen meine Gedanken in eine süße Rotation, ganz gegen die Gewohnheit, denn ich esse sonst kaum Süßes. In das Gebäck war eher ich vernarrt, Joey machte sich nicht allzuviel daraus. Welten liegen zwischen einem Haschnovizen, der lustig wird und federnden Schritts geht, und einer Heroinsüchtigen, die gerade vier Monate auf ihren Stoff verzichtet hat. Ein Haschkeks ist zunächst nichts Besonderes, die auf der Insel schmeckten nicht einmal gut, sie waren rauh, grobkörnig, trocken und waren von der Frau aus Kaiserslautern gebacken worden. HZu den Besonderheiten des Jenseits zählt, daß dort nicht gekocht wird. Zwar gilt die Verheißung, am Ende aller Tage werde Gott den Leviathan erlegen und ihn Seinen Auserwählten auftischen. Von Kochen ist aber nicht die Rede. Wie es zugehen soll, daß aus dem riesigen Kadaver eine Speise für die Frommen wird, ist nicht -bekannt. Gottes Name brennt, aber er wärmt kein Essen. Es werde pneumatisch gegessen, behauptete De Selby, der große Theopneu-matiker und Theodät, dem es gelang, die Zeit zu negativieren. Na, ich halte das für ebenso überspannt wie seine Theorie von den eingesogenen Gesichtern. Sehen wir auch so. | Wie gesagt, sie schmeckten nicht besonders. Eine Handvoll Kekse, und viele Minuten lang tat sich überhaupt nichts. Aber dann kam der Ausbruch, inbrünstig inniglich. Unerhört, es wird stärker und stärker. Schon fangen die Geistreicheleien an - Knie, Sohlen, Handflächen sind zu ungeahnter Könnerschaft erweckt. Oha, ich muß mich fragen: Bin ich schon reif? Oha, meine Atemgeräusche so odemhaft! Und ihr Knie, wo wollt ihr hin? Gepriesen sei die Hingabe, gepriesen auch das Wallen mit sanft über Luftbuckel gleitenden Händen. Widerstände sinken ins Grab wie Gespenster, die niemand mehr braucht. Es regiert das große Ja. Paradiesaufschluß ist gewährt durch sich fortzeugende Hingabe an das, was sich aus der Welt heranschlängelt. Die Triebe ent- 126 127