»Dem Autor steht das längst erledigt geglaubte Genre der biblischen Legende wie neu zu Gebote, und er vermag dem Seelen-Thriller frische Suspense-Reize abzugewinnen. In der deutschsprachigen Literatur von heute hat Patrick Roth nicht seinesgleichen.« Sigrid Löffler [Patrick Roth [Johnny Shines oder Die Wiedererweckung der Toten Patrick Roth Johnny Shines oder Die Wiedererweckung der Toten Seelenrede Ein spiritueller Western, eine Nachtmeerfahrt im Death Valley, ein Verhör: Johnny Shines, ein vom Christusbefehl (»Weckt Tote auf!«) Besessener, zieht seit Jahren durch die dürren, unwirtlichen Gegenden Kaliforniens, Nevadas, Arizonas und folgt dabei einer -seltsamen, befremdlichen - Mission. Immer wieder mischt sich Johnny Shines bei Beerdigungen unter die Trauergesellschaft, bricht den Sarg auf und befiehlt dem Leichnam: »Steh auf!« Am 2i. Dezember 1992 aber, nachdem es bei einer Bestattung im Death Valley zu einem ähnlichen Zwischenfall und zu Johnnys Verhaftung gekommen war, bezichtigt sich der »Wiedererwecker« des Mordes an einer Frau - an Hallie Doniphan. Eine Frau ist es auch, die, noch in derselben Nacht, den bizarren Fall zu untersuchen beginnt, Ihr Verhör mit dem Mörder wird zur Reise ins Totenreich selbst. Patrick Roth, geboren 1953 in Freiburg, aufgewachsen in Karlsruhe, lebt seit 1975 in Los Angeles. Zuletzt erschienen von ihm die Erzählung Lichternacht. Weihnachtsgeschichte, Zur Stadt am Meer. Heidelberger Poetikvorlesungen und der Erzählungsband Starlite Terrace. Suhrkamp - I'm here for a funeral. - Funeral... Who's dead? Dialog aus John Ford's »The Man Who Shot Liberty Valance« Wer einen Pfad geht, wo Männliches und Weibliches sich nicht zusammenfinden, von dem sondert sich die Schechina. Sohar Du Narr: Was du säest, wird nicht lebendig, es sterbe denn. i. Korinther 15,36 Here they come to Snuff the rooster Yeah here come the rooster You know he ain't gonna die Alice in Chains I Talwärts, ins Bett eines mächtigen Rivers hatte Gott sie gelegt und die Mandelform der großen Insel zum Speer schleifen lassen, bis der Fluß sich vergoß, die unterschlürften Seiten der Insel keilförmig aufragen ließ, in Erinnerung an den Vergossenen. Auf ihrem breitgehämmerten, abgeschliffenen Plateau aber lag Blade, POP 912, ein Kaff, das sich darübergesiedelt hatte. Wie es ihm Hallie gesagt, war er angekündigt. Schon gestern mußten welche gehört haben, daß einer käme, Tote zu erwecken. Zureisende würden den Ort nicht verfehlt haben, denn sie hatten hier allnachts beleuchtet, das ganze Kaff unter Licht, schon seit gestern. Fackelhell glänzte Blade durch die Nacht über schlammbedeckte Furt und Gräben, die sich mit Regenwasser füllten. Er watete hinüber, langsam, beschwert, als trüg er an ihr: Dunkelheit saß ihm auf Rücken und Schultern. Kam an die Stelle der Furt, wo sie oft gespielt, aus dem Lehmschlamm formend Figuren gezogen hatten, dort, wo er nie zu sehen, nie zu hören gewesen war. Bis Sperlinge aufflogen und ich ihn fand. Er kroch die Böschung empor, um deren Fuß man drei kesselpaukengroße, im Regen dampfende Lampen für 9 r ihn an Gerüsten befestigt hatte. Aus dem .Gestrüpp, in das sich sein Hemd verhakte, riß er sich los, taumelte erschöpft in die Main Street. Die Straße lag menschenleer unter Licht. Am anderen Ende erst wartete, hinter einer Absperrung, die Menge. Man winkte ihm, als man ihn sah. Er hatte kaum mehr Kraft zu gehen. Man rief ihm zu, von einem Dach herab, als stünde er in einer Grube. - Beweg dich! Los! Geblendet, konnte er nicht sehen, wer die da oben waren. Dann glaubte er zu hören, wie die Menge schrie: Warum hast du uns warten lassen, die gottverdammte Nacht? Wir hatten Licht für dich gemacht! - Hey, rief da einer, sah ich dich nicht draußen bei den Zelten vor Maidstone? - Schaut nur, er bricht zusammen! - Hat er nicht Blut an Mund und Händen? - Aus dem Licht! - Schafft ihn weg! So hörte er sie brüllen, als er vor ihnen liegenblieb, wie jene Schunemiterin, im Schlamm, und still war und nicht wich, wie jene Schunemiterin im Lichtpark des Propheten. Die Menge johlte. Da stieg ein Mädchen aus einem silbernen Airstream, den man zum rechten Rand der Straße parallel geparkt, und spannte ihren Regenschirm im Regen auf. Er rief - und sie kam auf ihn zu. Er wollte es nicht glauben. Die Menge pfiff und grölte. Da stand das Mädchen bei ihm, vor ihm. Hielt ihren Schirm ganz über ihn. Weltüber. Er aber, noch am Boden, umfaßte ihre Füße. Schrie: Auferstanden! was auch jeder hörte. Denn es war still geworden, als er sie berührte. 10 ii 2 Nacht in einem verlassenen Predigerzelt des Panamint Valley auf unsagbare Weise getötet haben wollte. In einer mörderischen Dezembernacht, sieben Jahre vor der Jahrtausendwende, kam Johnny Shines bei starkem Regenfall über die Furt des ausgetrockneten Flusses nach Blade, seinen Geburtsort, ein auf ehemaliger Flußinsel gelegenes Wüstenkaff am Nordwestrand der Mojave, das er vor mehr als zwanzig Jahren verlassen hatte. Es ereignete sich damals ein Zwischenfall beim Betreten des Orts, als Shines nämlich, indem er schreiend und rufend wie unter einer Last zusammenbrach, sich zu weigern schien, Main Street zu verlassen, die von einer aus Los Angeles angereisten Produktionsgesellschaft für Dreharbeiten beansprucht und zu diesem Zweck abgesperrt worden war. Im Blade Sheriff's Sub-Station nahmen Sergeant und Deputy den am ganzen Körper fröstelnden, verstörten Mann auf, der den Polizisten zunächst nur unzusammenhängend erklären konnte, was er in Blade zu suchen habe. Seiner verfallenen Kennkarte nach war »John T. Shines« siebenunddreißig Jahre alt, obdachlos, und man vermutete, er spekuliere lediglich, für diese Nacht wenigstens, auf eine der zwei trockenen Gefängniszellen. Aber Shines, so wurde im weiteren Gespräch klar, hatte sich ihnen als den Gesetzeshütern gestellt, um den Mord an einer Frau zu gestehen, die er tags zuvor bei einer Beerdigung im i Tagesreise entfernt liegenden Shinbone kennengelernt und dieser Shines wurde über seine Rechte aufgeklärt. Allererst habe er das Recht zu schweigen. Nachdem er dennoch, auf ihre Fragen, den Namen und eine Beschreibung des Opfers gegeben hatte, schlief er in einer Zelle ein, und Sergeant und Deputy beratschlagten, wie weiter vorzugehen sei. Draußen regnete es schon seit einigen Stunden, und man hatte nur vage Vorstellungen, wo sich das verlassene Zelt, das Shines ihnen als Tatort genannt hatte, befinden könne. Die Wüstenstraßen wurden bei solchem Wetter stets überschwemmt und waren dann nur unter einiger Gefahr zu benutzen. Drei Stunden später, als der Regen etwas nachließ, setzte der Deputy neuen Kaffee auf und weckte den Sergeant, der sich in einer der Zellen ebenfalls schlafengelegt hatte. Durch das Wecken des Sergeants wurde aber auch Johnny Shines wieder wach, der nun ganz anders zu reden begann, viel gefaßter und wie aus einem Fieber erwacht schien. Seine Aussagen liefen jetzt dahin, daß ihn jene Frau in einer Art Wach-Traum begleitet und hierher, nach Blade, zurückgesandt habe, um ihn zu prüfen. Er wolle sie nun nicht wirklich umgebracht haben, sei vielmehr gekommen, um ihren Auftrag zu erfüllen und eine andere, in Blade verstorbene Frau wieder zum Leben zu erwecken. Der Sergeant war von dieser Version nicht weniger beeindruckt, ließ aber die Tür zur Zelle gut verschlossen 12 13 und beauftragte den Deputy, bei Morgengrauen in die Wüste zu fahren, das Predigerzelt zu suchen, das, nach Shines letzter Aussage, im Norden des Tals, zu Füßen einer sternenförmigen Düne läge. Beide Polizisten waren darauf gefaßt, dort auf die Überreste einer Frau zu stoßen, die, laut Shines, »wohl etwas jünger als ich«, sich ihm als Hallie Doniphan vorgestellt hatte. 3 In jener Nacht nahm auch ich mein Gespräch mit Johnny Shines wieder auf. Ich hatte ihn, schon seit einigen Jahren, immer wieder in Unterhaltungen zu führen versucht, Licht auf sein Geheimnis zu werfen. Er war mir aber stets ausgewichen oder tat so, als habe er mich vergessen, was der Wahrheit wohl nahe kam. Immer wieder war ich gezwungen, mich ihm wie eine Fremde zu nähern, die dann alsbald Vertrauen zeigen sollte. Denn so hielt ers mit mir und brach jede Unterhaltung ab, sofern sie sich nicht zu mischen wußte. Fremd-vertraut mußte ich reden und fragen; und es mir gefallen lassen, wenn er mich seinen Antworten zuvorkommen hieß oder mir selbst mit Fragen antwortete, die ich hatte stellen wollen, oder überhaupt mein Reden mit den Stimmen anderer Frauen, von denen er sprach, zu vertauschen-vermischen wußte, so daß sich unsere Positionen, die der Fragenden und die des Antwortenden, des Mannes und der Frau, nicht nur häufig vertauschten, sondern, kreisgeschlossen: ineinsfielen - was der Wahrheit ebenfalls nahe kam. Meine Erinnerung an das Gespräch jener Nacht gebe ich hier wieder - nicht das Gespräch selbst. Denn ich kann nur erinnern, das ist: Tag machen. Da ich aber dem Mann zu nichts anderem verhelfen wollte, als sprechend sich mit mir erinnern zu lernen, wird es ge- 14 J5 nügen tagzumachen, und der Wahrheit schon nahe kommen. Als sich Shines von seiner letzten Aussage, Sergeant und Deputy gegenüber, wieder zu entfernen begann, sich erneut des Mordes beschuldigte und unter der Macht des Bildes der Tötung, schien mir, zusammenzubrechen drohte, kam ich auf ihn zu. Er lag auf dem Boden der Zelle, eine Decke, die man ihm gegeben hatte, an sich klammernd, und ich sprach etwa so: - Ich glaube an deine Unschuld, Johnny. - Was willst du? - Dich von deinen Zweifeln befreien. - Schuldig bin ich, sag ich dir. - Ich glaube, du ... - Du »glaubst«. Glaub, was du willst. Ich habe sie umgebracht, sag ich dir. - Ein Geständnis hast du abgelegt. Das ist alles. - Auseinandergenommen. Geschlachtet hab ich sie. Und einiges mehr. - Du kamst durch ein langes Stück Nacht, kamst aus der Wüste, Johnny. Du bist erschöpft und ausgehun- 16 gert, Du weißt nicht, was du redest, weißt nicht, was du getan hast. - Weil dus mit der Angst zu tun bekommst? Kriegst dus jetzt mit der Angst? Dann fühl sie mal, die Angst. Du »fühlst« doch so gerne. - Du weißt noch nicht, was dir geschehen ist. Wo hast du die blauen Flecke her an Händen und Gesicht? - Gleich fragst du mich, warum ich »so große Ohren, so große Hände« habe ... Kommst meinem Vater gleich, du. Nein, übertriffst ihn noch. Du wohnst geradezu im Märchen. i - Woher stammen die Flecke? - Da bin ich geschlagen worden. Hast du jetzt Mitleid? Du fühlst doch so gerne Mitleid. - Du bist abgemagert, siehst ziemlich heruntergekommen aus, Johnny. - Doch schon seit Jahren. In deinen Augen zumal. Aber das tu ich alles nur für dich, verstehst du? Für dich kam ich herunter, landete ganz unten, hörst du? Grubentief. Wie anders wärs dir auch vergönnt gewesen, Angst und Mitleid in so reichem Maß zu fühlen. Ich tu das alles nur für dich. - Was tust du denn? 17 r - Was soll die Frage? - Will wissen, was du tust, getan hast, bevor sie dich hier einsperrten. Erzähls mir. - »Es war einmal ein Wanderer, der Gott hören wollte und daher, in welche Stadt, in welches Dorf er auch kam, erst bei Beerdigungen sein Ziel kundgab, nämlich aus der Gruppe der Trauernden trat, hin zum Sarg schritt, den toten Menschen wieder ins Leben zu rufen.« Das ist es, weiß Gott. - Und der Rest? - Den Rest deines Märchens hol dir ein andermal ab. Jetzt laß mich weiterschlafen. - Dein Schlaf stört mich beim Fragen überhaupt nicht. - Du meinst, dein Fragen reicht bis in den Schlaf? - Bis über ihn hinaus. - Pahhhh ... Fragen kann man vergessen. - Ich kann dich immer wieder erinnern. - Ich immer wieder vergessen. - Gestern nacht zum Beispiel. 18 - Was denn? - Du erinnerst dich nicht? - Ich sag doch: ich habe vergessen. - Gestern nacht, in den Hügeln noch, hattest du einen merkwürdigen Traum, den du, richtig, als der Morgen kam, schon vergessen hattest. - Sag ich doch. Was war denn so merkwürdig dran? \ - Willst dus wissen? I - Ich frag ja nur. I - Dann willst du erinnern. I I - Also, was war so merkwürdig? j - Im Traum war Stille. { - Kein Wunder, erinner ich mich nicht. i i I - Da teilte sich die Stille und flüsterte dir in den Rük-I ken: das Wort, das die Stille geteilt hatte, zu. i j - Und das war? i I - Lebendig. i 1 *9 - Das Wort war lebendig ... War es »lebendig«, das Wort, oder das Wort lebendig? - Weißt du den Unterschied? Du hörst schon richtig. Wie auch gestern nacht. Denn hinab zu dir, in die Dunkelheit einer Grube, hattes geflüstert, das Wort, kaum hörbar wars, jenes Wort, so kaum hörbar, daß du unwillkürlich, als du doch mehr zu hören glaubtest, mehr als nur jenes »... lebendig!«, dir an die Ohren griffst, sie mit Wachs versiegelt fandst, das du brachst, auf daß jenes Flüstern als Schrei in dich brach und schrie: Mach sie mir wieder lebendig! Endlich und ganz, in dich, Träumer, wars eingebrochen, aber dann doch vergessen, mit dem Morgen eben vergraben geblieben. - Wie ich schon sagte. Ich hattes vergessen. - Aber jetzt hast dus wieder, den Anfang. - Da du mich dran erinnerst. Vielleicht willst dus mir auch nur einreden. Wer weiß? - Den Traum? - Meinen Schlaf, den das »lebendig!« unterbrochen, gebrochen haben soll. - Zu welchem Zweck würd ich dir sowas einreden wollen? - Wenn ich das wüßte. Irgendein Hinterhalt könntes sein. I - Würd ich dann immer wieder zu dir kommen? - Entweder das, oder du hast zuviel Geduld mit mir. Es stimmt: immer wieder suchst du mich auf. Immer I wieder versuchst du, mit mir zu reden. Aber weißt du: i gerade da hast du die Möglichkeit des offenen Hinterhalts. Auf offener, altvertrauter Straße gehts plötzlich nicht mehr weiter, dort stehen sie an Straßensperren, t sie halten fest, sie sondern aus, entführen mich. Viel-: leicht kommst du zu mir wie jener Mann mit der teuf-j lischen Geduld, von dem mein Vater in einer seiner i Geschichten erzählte. Schon gestern morgen ahnte i ich: es wird ein besonderer Tag ... I I - Von welcher Geschichte sprichst du da? j \ - Es gab eine Geschichte, die nannte er »Löwen- ä grübe«. Er hat sie öfter erzählt. Und doch erinnere ich \ mich nicht mehr ans Ganze, denn als Kind blieb ich immer bei seiner Beschreibung jenes Mannes stehen. \ Der Mann war ... ein König. Er hatte den Auftrag, j einen Jungen zu entführen, dieser König. Nicht heute, s nicht morgen, sondern in dreizehn Jahren, in einer ; entscheidenden Nacht, sollte ein dreizehnjähriger j Junge aus seiner Familie gesondert, entführt und in t eine Löwengrube geworfen werden. »War also ge- I nauso alt wie du, Johnny«, hatte mein Vater immer l gesagt und dann zu meiner Schwester, der er die Frage 20 21 vom Gesicht ablas: »Nur ein Jahr älter als du, Sharon, nur i Jahr.« Unheimlich, unvorstellbar: der König und Entführer, der anderswo doch ein Reich gehabt hatte, so erzählte mein Vater, der gab dieses auf, ja ließ Frau und Kinder im Stich, seine Besitztümer zurück, nur um sich, unendlich weit weg, in einem kleinen Dorf anzusiedeln und dort unter den Bauern zu wohnen. Und wartete dann, heimisch sich machend, teuflisch geduldig. Bald war er einer von ihnen. Er wartete und lebte sein anderes Leben. - Ich glaube nicht, daß mein Vater das alles so ausschmückte. Nur meine j Phantasie ging so damit um. Ich mochte dem Rest der J Geschichte kaum folgen. Denn hier war das Rätsel: I Wie hatte der König wissen können, daß, erst nach Jahren, die Familie, deren Sohn er entführen sollte, in i das Dorf ziehen und dort wohnen würde? Er konnte \ es nicht wissen und hat es doch gewußt. Oder gese- j hen. Heimlich, im Traum. Dann entsprechend ge- | handelt. Der Entführer war wie das Schicksal, von I dem ich als Dreizehnjähriger noch nichts ahnen j konnte. f i i 1 - Was geschah mit dem Jungen? I 1 - Nach dem dreizehnten Geburtstag des Kindes i schlich sich der König-Entführer nachts ins Heim der I Familie, bei der er oft zu Gast gewesen war, weckte den Jungen und sprach ihm von einem verspäteten Ge- i schenk, das draußen, an Stricken gebunden, auf ihn i warte, er solle ihm nur still folgen und niemanden in der Familie wecken. »Was ist es denn?« fragte der j Junge, freudig und neugierig, während er aufstand. Der Entführer flüsterte: »Was du noch nicht bist.« Der Junge glaubte nun, er wolle ihm damit bedeuten, still zu sein - was er noch nicht war, auch daß es etwas Stilles sei, was ihn draußen erwarte, vielleicht ein Tier, das ihm geschenkt werden und still dienen würde. Und da der Junge den Tag nicht abwarten, das Geschenk noch diese Nacht besitzen und besehen wollte, stand er auf und ging mit dem Mann still nach draußen. Dort wurde er von ihm gebunden und von drei weiteren Männern, die sich dem König verschworen hatten, eng geführt und aus dem Dorf gezogen, zur selben Nacht aber in die Löwengrube geworfen. - Hat dir dein Vater erklärt, warum der Entführer dreizehn Jahre mit seinem Anschlag gewartet hatte? - Er hat Geschichten erzählt, er hat sie nicht erklärt. Oder wenn er erklärte, neue Geschichten daraus gemacht, neue Rätsel. Einmal zeigte er mir eine Stelle in einem Buch, das er gerade las. Da stand: Am Anfang war das Universum kleiner als der Punkt am Ende dieses Satzes. Ich sah den Punkt, an den schon eng ein neuer Satz sich schloß, und konnte doch nicht weiter. Ich sah den Punkt. Ich rührte dran mit meinem Finger und wollte meinen Vater etwas fragen. Kann sein, daß er uns dann und damals mit der Geschichte von der »Löwengrube« antwortete, ohne daß wir den Zusammenhang verstanden hätten. Es war uns hier ein neues Rätsel, von dem er zu behaupten schien, daß eins das andre nur verhohlen habe. Als wollt er sagen: im An- 22 23 fang ists versteckt, ist alles rätselhafter Hinterhalt, ist alles längst von langer Hand uns vorbereitet. Dann zerbricht es, wird Anbruch, in immer neuen Brüchen, neuen Verwandlungen, aus altem Hinterhalt sich zu erkennen gebend. Vielleicht, so schien mir damals, trug sichs zu Anfang seiner Geschichte aber gerade so zu, weil das wirklich Hinterhältige ganz offen vor uns liegen muß und unser Vertrauen immer ganz hat, bevor es uns mißbraucht. Ich zumindest sah, seit der »Löwengrube«, die Leute, denen ich in Blade vertraute, mit anderen Augen. Wo wartet er? Wie lange lebt er schon hier? hab ich mich immer gefragt. Mir geantwortet: Dreizehn Jahre lebt er schon hier. Mister McClusky zum Beispiel, der mir ein Magnavox Transistorradio geschenkt hatte, obwohl man in Blade kaum was empfangen konnte. Oder Larry Tenbrook, angeblich ein entfernter Verwandter, der Sharons kleiner Hand beim Schönschreiben des »c« öfter mal nachgeholfen hatte, ihr weismachen wollte, der Aufstrich des Buchstabens beuge sich vorwärts wie der Grashalm-im-Wind, nach dem unsere Stadt benannt sei, der Abstrich aber baue ein Nest fürs Osterei. Sharon war viel zu arglos, auch der alten Miss Klingenberg gegenüber, die in der Kirche Orgel spielte und nach Mottenpulver roch, so daß ihr meine Mutter einmal Parfüm schenkte, das sie aber prompt an Sharon weitergab. Mir waren die alle verdächtig geworden: wann würden sie zuschlagen, hinterm vertrauten Gesicht hervor sich zu erkennen geben? Aber niemand im Ort rührte sich, alle verhielten sich leise, lauerten noch geduldig, kamen auch immer wieder, suchten 24 mich und meine Familie auf, weil sies »gut meinten«. Wie du. - Das Mißtrauen wird dir heute erwidert, Johnny. Ich kenne das Vorstrafenregister, das der Sergeant sich gerade durchgeben läßt. Du bist schon einige Male ver- I haftet worden. In einigen Fällen standst du auch unter I Mordverdacht. 1 - Nicht vor dem Gesetz. 1 - Bei den Leuten im jeweiligen Ort, das genügt » doch. ! - Genügt dir. 1 - Wie ist es dazu gekommen? S - Wozu? ' - Warum hat man dich verhaftet? i ; - Das weißt du doch, wenn dus gelesen hast. I - Nein, ich will, daß dus mir erzählst. Ich meine: man i hat dich doch dort gekannt, in einigen der Dörfer und kleineren Städte in Nevada, Arizona, Kalifornien, in ; Shinbone im Death Valley, in Cartago, Inyo County, [ hat man dich gekannt, in San Bernardino County und, I weiter südlich, in Riverside County, den kleinen Kaffs I der Mojave Wüste, aber auch weiter nördlich, hör ich, j 2 5 r kennt man dich, oder kennt dich vielleicht nicht, aber mancher hat deinen Namen gehört, immer mal wieder, diese letzten Jahre. Warum? - Matthäus, Kapitel zehn, Vers acht. - Komm mir jetzt nicht mit dem Bibelmist. Da steht doch nicht drin, warum du verhaftet worden bist. - »Weckt die Toten auf!« - Du meinst: »Sachbeschädigung, Ruhestörung, öffentliches Ärgernis ...« Das ist dein Matthäus. - Ich wecke die Toten auf. - »Grabschändung«. Grabschändung hatt ich vergessen. Und »Widerstand gegen die Staatsgewalt«. Werden alle aufgeführt. Nur las ich nie was von deinem »Matthäus« oder »auferweckten Toten«. Aber erzähl mir. - Erzähl dir? - Kannst du Tote auf erwecken? - Wärst du gestern in Shinbone gewesen, wüßtest dus. - Was ist dort geschehen? Dort hast du auch Hallte Doniphan kennengelernt, nicht? 26 - Die sprach mich erst später an. - Und wie kamst du nach Shinbone? Woher? - Oder ist das auch ein Geheimnis? - Johnny, heißt das, wenn du jetzt stillschweigst, heißt das, daß du mir all das nicht verraten willst, weil du befürchtest, ich könnte später abhauen und draußen in Blade oder Shinbone, Cartago oder Lone Pine Tote aus den Gräbern holen? Den Job überlaß ich dir gern. Ich will nur die Story. Fangen wir noch mal von vorn an. Was war gestern in Shinbone los, was ist da passiert? Wie bist du von Shinbone hierher nach Blade gekommen? Warum will der Sergeant in einem Predigerzelt in der Wüste nach Hallie Doniphans Leiche suchen? Was ist passiert, Johnny? Fang mit Shinbone an. Das war wann, das war gestern ? - Gestern? Ich weiß es nicht mehr. - Was weißt du noch? Was ist das erste, an das du dich noch erinnerst? - Das erste? -Ja. 27 12 Eines Nachts, zwölf Jahre nach der Geburt unseres Heilands, am Brechtentag, so hat ihr Vater immer erzählt, stahlen sich drei Männer in das Dorf Nazareth, wo der junge Jesus mit seinen Eltern lebte. Ein vierter, der schon Jahre auf diesen Moment gewartet hatte, stahl sich ins Haus seiner Eltern, weckte den Jungen, der ihn kannte und ihm vertraute, und sprach ihm von einem Geschenk, das er draußen für ihn angebunden habe. »Was ist es?« fragte der Junge aufgeregt. »Was du noch nicht bist«, antwortete ihm der Mann, und Jesus ging leise mit ihm, ohne die Eltern zu wecken, aus dem Haus in die Nacht. Draußen aber - er betrachtete gerade bewundernd zwei stillangebundene Tiere und kam zwischen diese zu stehen - wurd er erkannt, und der ihn geführt hatte, hielt ihm den Mund zu, als seine Verschworenen herbeieilten. Die knebelten und fesselten den Jungen auf eines der Tiere. Jesus nämlich wußte nicht, wer die waren, die hier auf den vierten gewartet hatten, daß er ihn heraus und zwischen die Tiere führe. Nur seine Eltern, hätten sie nicht so tief geschlafen, würden in den Entführern drei Könige, die einst zur Geburt ihres Sohnes gekommen waren, wiedererkannt haben. Der vierte im Bund war damals, noch bevor Herodes die Kinder hinmorden ließ, ebenfalls aufgebrochen, hatte sich aber nicht mit den Brüdern in Bethlehem eingefunden, sondern in Nazareth niedergelassen, wo er, zwölf Jahre lang, ge- 102 duldig aufs Nachtwerden dieser wichtigsten Nacht gewartet. Die vier Könige schleppten den Jungen in die Wüste hinaus und warfen ihn dort, nachdem man ihn von Fesseln und Knebel befreit hatte, in eine verlassene Löwengrube. Uber der begannen die sternkundigen Könige nun ein Zelt zu errichten, so daß der Junge den Sternenhimmel nicht mehr sehen und bald nur noch im Kreuz der von vier Fackeln auf den Grund der Grube geworfenen Lichter und Schatten gehen, stehen und sehen konnte. Als sie ihre Arbeit am Zelt vollendet hatten, knieten sie, jeder an einem der Grubenränder, nieder und verneigten sich priesterlich-tief vor dem Jungen. Sie erklärten ihm, wer sie seien und woher und zu welchem Zweck sie einst so weit gekommen und in diesem Jahr, seinem dreizehnten, wiedergekehrt waren. »Und warum ihr mich, wie den Daniel, in eine Löwengrube geworfen und den Himmel meines Vaters über solcher Gewalttat mit Gehängen und Tuchen verschränkt, sagt mir das auch!« forderte wütend der junge Mann von den am Grubenrand Knienden. Denn daß sie ihn hier nur als den zukünftigen Heiland zu ehren gekommen waren, wollte er ihnen, verständlich, nicht abnehmen. »Nicht wie Daniel aber!« sagte da der ihm einst Gold gebracht hatte, indem er seine Stirn, die den Sand des Randes der Grube berührte, aufhob, ihm hinab in die Augen zu schauen. »Denn in dessen Grube traten die Löwen, und die, das konnte nächsten Tags jeder sehen, waren durch die Macht seines Gottvertrauens gezähmt. Wo sind denn die Löwen in dei- 103 ner Grube und also dein Glaube, der ihnen den Rachen zuhielte?« - »Hört auf, mit mir zu spielen, und sagt mir endlich, wozu ihr mich hierhergeschleppt und mitten in der Nacht aus meinem Heimatdorf entführt habt.« - »Sieh auf das Gitter dort in der Wand deiner Grube, dann wirst du den Löwen schon sehen.« Jesus konnte im Schatten der gegenüberliegenden Grubenwand zwar ein Gatter erkennen, aber viel weiter drangen seine Augen nicht, und der Löwe, der wohl dahinter wartete, war aus dieser Entfernung nicht zu erkennen. »Tritt näher und schau ihn dir an, wenn du der Heiland bist, denn die Prüfung in der Löwengrube mußt du bestehen. Denn wenn du es auch bist, Messias und Heiland, mußt du es uns, die wir als Gesandte der Welt nicht enttäuscht werden wollen, doch erst werden«, sprach der, der ihm einst Weihrauch gebracht hatte. Da schritt der Junge vor und ging vorsichtig hin unter den Schatten der anderen Grubenwand und trat bis zur Wand selbst, wo das Gatter war. Und sah immer noch nicht dahinter. Bis er das Gatter, davor zu stehen kommend, mutig mit beiden Händen faßte und sein Gesicht ans Viereck der Gitterstäbe lehnte, dahinterzusehen. Da, als seine Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, erkannte er aber kein Tier, sondern - ganz auf den Löwen gefaßt, erschrak er: als es ein Mensch war. Ein gleichaltriger Junge, auch sonst wie er, kam dort eben zu stehen, dunkelhäutig, wartend, still jetzt. Und war ebenso erschrok-ken wie er, als hätte auch er den Löwen erwartet. Beide wichen zurück, als das Gatter rasselnd hochfuhr und nichts mehr sie trennte. Mit dem ersten Schritt des 104 Gegenüber auf ihn zu überfiel unsägliche Angst den jungen Jesus. Da rief einer der Könige aus: »Schnell, tritt zurück und hab acht, daß er dich nicht tötet!« Und Jesus, der im Ruf seine Furcht vor dem Andern bestärkt sah, wich zurück in das Kreuz der Schatten und Lichter und sah, langsam auf ihn zu, zur Mitte der Grube hin kommend, den Anderen aus dem Schatten treten und dessen Menschengesicht, schattenlos, von den Fackelsonnen erleuchtet: zum ersten Mal. Der König aber, der im Rücken des Jesus und über ihm sprach und ihm einst Myrrhe geschenkt hatte, rief: »Du sollst deinen Weg nicht weitergehen! Denn hier haben wir dir einen zugeführt, der wird dein Leben jung enden lassen. Er wird dich morden, oder verraten, auf daß sie dich morden. Und der Heiland, der du werden sollst, der wirst du der Welt nicht werden, denn hier, schau ihn dir an, hier durchkreuzt er dein Leben, der Sohn des Simon.« Und vor Jesus trat Judas, Sohn des Simon. »Stimmt, was sie sagen, und du willst mich töten, mich verraten?« fragte Jesus. Judas erwiderte nichts, sondern sah weg von ihm, nach oben, auf die noch Knienden. Die Könige, die auch in anderen Bemerkungen angezeigt hatten, daß sie den schon länger bei sich gehabt und ihn für dieses Treffen, kraft königlicher Kunst, in ganz bestimmter Weise vorbereitet hatten, warfen nun ein Messer in die Grube, hin zwischen die beiden. Und Judas, aus Angst, hob es auf. Sich aufrichtend aber schlug er schon zu. Jesus, der abwehrend, im letzten Augenblick erst den Angriff erkennend, die Hände entgegengestreckt hatte, fuhr die Klinge unter dem linken Handballen entlang, 105 die Pulsader kreuzend, schnittschnell, so daß er entsetzt, den Arm zu sich reißend, zurücktaumelnd, vom eigenen Blut bespritzt hingestürzt wäre, hätte die Grubenwand ihm nicht noch den Rücken gehalten. Aber auch hier war die Hand Judas' am Vorschnellen schon und stach, ihn niederzustrecken, durchs Kleid, aber fehlend, nur am Rippenkorb entlang, gleichsam eine Stelle markierend. Wütend vor Schmerz stieß Jesus den Angreifer von sich, so daß der, nur für Momente, die Gewalt übers Messer verlor: die Klinge war tief in den Lehm der Wand gedrungen und haftete dort. Jesus schrie ihn an, abzulassen, den Kampf aufzugeben. Da starrte Judas, keuchend: »Was redest du ... redest du?« Ging auf ihn zu, das Messer loszureißen, und im Versuch, ihm zuvorzukommen, das Messer aus dem Lehm zu ziehen, war Jesus gezwungen, dem Angreifer den Rücken zu kehren. Da hörte er, noch als er am Schaft des Messers zog, nicht mehr die auf ihn losstürmenden Schritte des Judas. Sondern die hielten. Leise statt dessen war ein Schleifen und Zischen, wie auf Sand entlang, hörbar. Und in der Kehre noch, das Messer jetzt in der Rechten, sah Jesus ein Zweites, niedergeworfenes, den festgetretenen Boden hinschlitterndes, das blitzte, von Judas ergriffen werden, linker Hand, womit der sofort auf ihn eindrang. Und Jesus übermannte die Wut, daß der immer noch nicht hören und ihm ans Leben wollte, und er wich ihm aus und, ausweichend, stach er, mit einem Stich tief ins Herz, stach er ihn nieder, dessen fallender Körper das eingedrungene Messer fallend hinabriß. Und durch den Körper des jungen Judas zuckte es und riß 106 den rechten Unterschenkel zum Oberschenkel hin, so daß er angewinkelt blieb, verharrend, auch unter dem Röcheln des Sterbenden sich nicht mehr bewegte. Und Jesus erschrak vor dem Anblick des Jungen, und es schüttelte seine Stimme, als er, am Toten vorbei sich machend, so daß der ihm im Rücken lag und sein zerstochener Körper nicht mehr von ihm gesehen werden mußte, aus der Tiefe hinauf zu den Königen schrie: »Die blutige Probe, ihr Wahnsinnigen, habe ich euch geliefert. Jetzt laßt mir die Leiter herab und befreit mich!« Da stand der vierte König auf, der einst scheinbar nichts, wie ein Magier, heute nacht aber Jesus selbst gebracht hatte, und sprach: »Du mißverstehst. Denn noch nicht beendet ist deine Arbeit, wenn du die Probe bestehen und aus dem Graben hinaufsteigen willst in die Welt.« - »Was wollt ihr noch? Ihr Verrückten!« schrie der Junge hinauf. Da stachen die Stimmen der vier mitsammen herab: »Erst mußt du ihn wieder lebendig machen!« 107 i9 - Um was denn vor uns zu verbergen? Wir waren kaum durch die Bergkette ins Panamint Valley gekommen, da brach ein schweres Gewitter los. Im Licht des Scheinwerfers sahen wir die Schlammströme, die über den Highway schlierten, ihn mit den roten und schwarzen Aschzirren der Berghänge äderten und unkenntlich machten. Hallie bog von der Straße, der Sterndüne am Ende des Tals zu, die im Aufschein der Blitze immer wieder zu sehen gewesen war. In dieser Richtung stand ein verlassenes Predigerzelt, unter das sie mit dem Wagen ins Trockene fuhr. Wir stiegen aus, gingen im Licht des Wagens zwischen den in der Runde gesteckten Zeltstangen hin, unterm dunklen Tuch langsam der Zeltmitte zu, während sie weitererzählte: - »Mach ihn uns wieder lebendig!« hatten die Könige ihm befohlen. Da brannten die vier Fackeln aus, und wurde dunkel in der Löwengrube. Und der löwengleiche König der Mörder, Jesus, der seinen Verräter, der ihn nicht hören konnte, getötet hatte, wandte rückwärts sich, hin zum Opfer. Und manche sagen hier: drei ganze Jahre blieb die Finsternis über der Grube, andere: drei Tage währte sie, wieder andere: drei Stunden warens, die wie drei Jahre ihm lasteten, dem jungen Jesus. Drei Stunden Finsternis. Wie später auch am Kreuz, nach jener sechsten bis um die neunte Stunde: Finsternis. - Um zu verstehen erst: die Vielfalt unserer Ängste, die dort im Dunkel wohnen; und ihnen nachzutun, sie, nachgetan, sich nachzuholen und uns daraus zu bergen. Drei Stunden Finsternis für uns, um unsere Krankheit, unsre Morde, unsern Hunger, unsern Haß zu säugen, stillen, bergen; uns, nachgetan, und nachgeschaffen, neu: in Eins gemacht, aus diesen Drei-in-Durikelheit das Leben neu zu geben. - Und wie hat Er verstanden, um uns dann nachzu-schaffen, neu zu machen? - So, wie er sich gebrochen, uns sich an uns gegeben hat, so wollt er auch verstanden sein: er brach sich, brach das Brot. Nehmt und eßt, hat er das nicht gesagt? - Was dann? Was geschah dann? - Dort in der Finsternis, sagt die Geschichte, die dir dein Vater nie zuende erzählt hat, dort unten nahm der junge Heiland, der er der Welt noch nicht war, das Messer des Judas, mit dem er ihn getötet hatte, und legte dessen Leib in sieben Teile dar, in Kopf und Glieder, Rumpf und, Letztes, Herz. Und sammelte das Blut im Kelch; und tauchte seine Lippen und trank hinein: und war wie er: so Er. Und Er verstand des Judas Herz und aß. Bis beide eins, verstanden und lebendig: auferstanden. Und Judas, aufgestanden aus x54 J55 dem Jesus, von Ihm: jetzt vor Ihm stand. Da riß das Tuch der Tücher, das Tuch des Zelts der Könige, das über ihnen Finsternis gewesen: da war es heller Tag. Die Grubenwand herab hing eine Leiter, aus Seilen geknüpft, und Judas war der erste, der in die Welt entkam und der vergaß. Denn daher kannt der Andere ihn und wußte, wer ihn, noch Jahre später, aus Finsternis, mit einer Fackel in der Hand, zu küssen kam. - Wer bist du, Hallie, daß du die Geschichte weißt? Und bis zu Ende? - Deine Begleiterin bin ich. Erinnerin, Muse. Die deine Geschichte weiß, übers Ende hinaus. - Das ist die Seele. - Das sagst du. - Wer bist du also? - Frag doch, warum Er, nach jenen Stunden Finsternis, dann um die neunte Stunde schrie. - Warum Er ... - Schrie und verschied. »Eli, Eli«, schrie Er, »warum hast du mich verlassen?« - Bist du Seine Erlöserin? 156 - Das sagst du. - Und warum schrie der Retter in der neunten Stunde? - Weil Er, nach allem Hunger, Mord und Haß, nach aller Last des Bergens, der Geborgenen: nun selbst geborgen werden wollte. Und niemand kam. Das heißt: verloren war, verlassen. Der Retter muß sich geben, ganz, muß sich verlieren, nicht nur: zu retten. Auch 1 um, verloren, der Schrei aller Verlorenen zu sein, für j immer, der machtlos zum Allmächtigen schreit und ' ihn nicht mehr versteht. Da ist der Tod des Holers, 1 unverhohlen. 1 - Und du? - Sein Echo. Die du riefst. - Und zu erlösen wie? i 1 [ i *S7