Der Beitrag erscheint in der Reihe: Materialien Deutsch als Fremdsprache, Bd. 86, Universitätsverlag Göttingen 2012. Camilla Badstübner-Kizik, Poznań „Erinnerungsorte“ in der fremdsprachlichen Kulturdidaktik. Anmerkungen zu ihrem didaktisch-methodischen Potenzial Auf der Suche nach authentischen, mehrdimensionalen, trag- und entwicklungsfähigen Lernanlässen und -inhalten, die sowohl sprach- wie kulturdidaktisch relevant sind und eine reflexive, methodische und nicht zuletzt mediale Potenz für den Fremd- und Zweitsprachenunterricht besitzen, rücken die in den letzten Jahren lebhaft diskutierten „Erinnerungsorte“ ins Blickfeld. Auf den ersten Blick scheint ihre Fokussierung im Rahmen einer fremdsprachliche Kulturdidaktik einen Schritt in Richtung auf eine „ReKulturalisierung“ („Re-Nationalisierung“) landeskundlichen Lernens zu implizieren – insbesondere, wenn man die diesbezüglich zahlreichen Kritikpunkte an der Konzeption bedenkt. Es lohnt sich jedoch, genauer hinzusehen, sehr viel kleinschrittiger vorzugehen und definitiv lernerorientierter zu denken: aus der Außensicht, und vor allem aus der Außensicht von Lernergruppen, die sich selbst in Bezug auf fremde Sprachen und Kulturen eher homogen wahrnehmen, können Phänomene , wie sie die „Erinnerungsorte“ bieten, geeignete Ausgangspunkte darstellen, um Selbst- und Fremdwahrnehmung zu differenzieren und dabei konkrete Wissensfragmente zu erarbeiten. Wir müssen also fragen dürfen: Inwieweit bieten „Erinnerungsorte“ ein sinnvolles Reservoir für die fremdsprachliche Kulturdidaktik und welche von ihnen können für wen, wann, wo und in welcher Form aufbereitet werden? Entscheidend sind dabei aus meiner Sicht zunächst die Auswahlkriterien, die an die vorliegenden und sich stetig mehrenden Essay-Sammlungen von „Erinnerungsorten“ aus der Perspektive der fremdsprachlichen Kulturdidaktik anzulegen sind. Kulturwissenschaftliche Forschung ist hier auf ihre tatsächliche Handhabbarkeit in einem konkreten Kontext zu prüfen, darin liegt nicht zuletzt ein wesentliches Argument für ihre Relevanz und Nachhaltigkeit. Dass die Suche nach Lernanlässen und -inhalten mit nachhaltigem inhaltlichen, sprachlichen, medialen und reflexiven Potential nicht abgeschlossen ist, scheint kaum einer Begründung zu bedürfen: - Fremdsprachliches und inhaltliches Lernen stehen häufig unverbunden nebeneinander, die Schere zwischen sprachlichem (Un-)Vermögen, authentischen Inhalten und dem subjektiven Gefühl fremdkultureller Kompetenz bleibt für viele Lernende weit geöffnet. - Für eine fremdsprachliche Kulturdidaktik fehlen Modelle, die sich in unterschiedlichen fremdsprachlichen Settings bewähren – tatsächlich gibt es bisher kaum Vorschläge, wie diesbezüglich nach unterschiedlichen Sprachniveaus, Lernzielen, kulturellen und sprachlichen Parallel- und Multi-Kompetenzen bei den Lernenden oder auch nach der Entfernung zwischen Lernort und dem Raum der zu lernenden Sprache sinnvoll differenziert werden kann. Insbesondere scheint die Spanne zwischen Vogel- und Froschperspektive – zwischen Fern und Nah, Überblick und Detail –, auch zwischen Fremd- und Zweitsprache, didaktisch noch recht wenig reflektiert worden zu sein. - Aus der Außen-Perspektive erscheint der Raum (die Räume) hinter der Fremdsprache Deutsch häufig recht homogen. Das meint nicht nur den Blick aus Regionen, die weit entfernt vom deutschsprachigen Raum liegen und der daher eine sprachliche und kulturelle Kontraktion bewirkt (bewirken muss). Auch aus nächster Nähe oder gar aus der Innensicht heraus mag „Deutschland“ sprachlich, ethnisch, kulturell oder auch politisch überraschend einheitlich und „geschlossen“ wirken, der deutschsprachige (oft auch der westeuropäische) Raum insgesamt wird nicht selten als Einheit wahrgenommen. Man könnte hier eine Art Spiegelreflex der Selbstwahrnehmung vermuten: ein Land wie Polen etwa wird von den meisten seiner Bewohnern spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts als sprachlich, kulturell, ethnisch und natürlich konfessionell als kulturell distinkt, eigenständig und weitgehend homogen gesehen.1 Die „eigene“ Nation, das „eigene“ Land mit „seiner“ Geschichte und „seiner“ Kultur spielen aus der Sicht vieler polnischer DaFLernender (noch?) eine große Rolle und eine entsprechende Erwartungshaltung wird – unbewusst – an die Gebiete angelegt, in denen eine „andere“ Sprache gesprochen wird, das betrifft in starkem Maße etwa auch Englisch-, Französisch-, Russisch- oder Spanischunterricht. Eine wichtige Rolle spielt hier zweifellos die Wahrnehmung kultureller Phänomene durch die Folie der „fremden“ Sprache: sie bündelt Blick und                                                                                                                           1 Die verstärkte sprachliche, ethnische, konfessionelle und kulturelle „Homogenisierung“ der Eigenwahrnehmung setzt in Polen (das hier lediglich als Beispiel für viele andere mittel-, ost- und südosteuropäische Länder dient) im Kontext des 2. Weltkrieges, der Besetzung Polens und deren Folgen ein, seit den 50-/60er Jahren des 20. Jahrhunderts gilt sie in weiten Kreisen der Bevölkerung als etabliert und wird nur ganz allmählich etwas differenzierter. Die Veränderung der Fremd- in Abhängigkeit von der Eigenwahrnehmung einer Gruppe stellt einen Aspekt dar, der zu einer Konkretisierung und Differenzierung des interkulturellen Paradigmas im Kontext einer lernerorientierten DaF- und DaZ-Didaktik beitragen könnte (z.B. Alterskriterium, Erfahrungskriterium, Abgrenzungs- und Selbstversicherungsbestrebungen im Hinblick auf die eigene Gruppe). Wahrnehmung.2 Das wiederum steht in zunehmendem Kontrast zur Selbstwahrnehmung und zum Selbstverständnis der Gesellschaft / der Gesellschaften in den deutschsprachigen Ländern selbst, stößt dort nicht selten auf Überraschung, Unverständnis, Irritation und gelegentlich sogar auf Anschuldigungen (z.B. „Konservatismus“, „Patriarchalismus“, „extremer Nationalismus“), selbst im Umkreis von Fremdsprachenlehr- und lehrforschung und Kulturwissenschaften.3 Das komplexe Abhängigkeitsverhältnis zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung gehört daher, ebenso wie das zwischen Sprachund Kulturvermittlung mit Sicherheit zu den Fragestellungen, die bei der Wahl von Lerninhalten und -anlässen im Rahmen einer Kulturdidaktik unbedingt zu berücksichtigen wären. Beim Versuch, die potentielle Rolle von „Erinnerungsorten“ zu beleuchten, möchte ich eine Konkretisierung des Begriffes durch Auswahlkriterien für die Zwecke der fremdsprachlichen Kulturdidaktik vorschlagen und diese durch Beispiele aus kulturdidaktischen Lehrveranstaltungen in unterschiedlichen Kontexten illustrieren. Neben einem kommunikativen Gedächtnis verfügen gesellschaftliche Gruppen jenseits des floating gap über ein sog. kulturelles Gedächtnis, das nicht primär auf Erfahrung basiert, zeitlich fast unbegrenzt erweiterbar und relativ stabil ist. Seine Inhalte leben über mediale Tradierung, man spricht auch von einem „an Fixpunkten orientierten Langzeitgedächtnis“ (Assmann). Diese „Fixpunkte“, auch Mosaiksteine oder „Kristallisationspunkte“ (François/Schulze) genannt, werden als „Erinnerungsorte“ im Sinne von loci memoriae bezeichnet. Sie beinhalten Phänomene von unterschiedlich starker Ausstrahlungskraft, die gruppendistinktive (ausschließliche), von mehreren Gruppen geteilte, für mehrere Gruppen gemeinsame oder auch vergleichbare (parallele) Bedeutung haben, und zwar auf lokaler bzw. regionaler, ethnischer, sozialer, konfessioneller, sprachlicher oder natürlich auf nationaler Ebene, ebenso wie beispielsweise auf der Ebene von Generationen usw. Die (unendliche und veränderbare) Gesamtheit dieser Erinnerungsorte wird „kein verbindliches Gesamtbild der Erinnerung“ ergeben, sondern „jeder Einzelne wird seine Auswahl [daraus] treffen“ (Erll 2005: 23). „Erinnerungsorte“ verfügen über verschieden lange Wurzeln, deren man sich in der Gegenwart nicht unbedingt bewusst ist (und nicht bewusst sein muss). Im Laufe ihrer                                                                                                                           2 Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen visuelle und akustische Erwartungen, die über Lehrwerke transportiert werden, auch wenn diese sich noch so sehr um Vielfalt und Differenzierung bemühen. Der DaFUnterricht (vergleichbar z.B. Englischunterricht usw.) vermittelt einen „Normbegriff“ (z.B. lexikalische und phonetische „Normen“), der für eine differenzierte Wahrnehmung sprachlicher und kultureller Phänomene „im anderen Land“ kontraproduktiv ist. Vgl. hier allein das bekannte Problem der im DaF-Kontext dominierenden „Teutonismen“. 3 Vgl. etwa die völlig unterschiedliche Wahrnehmung von deutschsprachigen Autoren mit sog. Migrationshintergrund in der Innen- und Außensicht. Existenz machen sie mehrfachen Bedeutungs- und Interpretationswandel durch, sie können verschwinden, plötzlich wieder auftauchen und neu besetzt werden. Besonders starke und „lebendige“ Erinnerungsorte zeichnen sich durch eine langfristige und mehrmediale Tradierung aus. Die Grenze zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis ist fließend, sie ist nicht so sehr eine Zeit- als eine Bewusstseinsgrenze. Erll spricht vom Kriterium des „Zeitbewusstseins“ (Erll 2005: 117). „Die kollektive Vorstellung von der Bedeutung des Erinnerten und von seiner Einbettung in zeitliche Prozesse“ ist entscheidend (Erll 2005: 117, Hervorhebung Erll). Durch die Tradierung von Erinnerung in die Gegenwart haben „Erinnerungsorte“ die Potenz, zwischen kulturellem und kommunikativem Gedächtnis Verbindungen herzustellen, an ihnen kann deren wechselseitige Durchdringung gezeigt werden. „Erinnerungsorte“ können in unterschiedlicher medialer Form auftreten (Speichermedium), sie werden über Medien tradiert (Zirkulationsmedium) und eine aktuelle mediale Form kann einen Erinnerungsort aufrufen, in die Gegenwart zurückrufen bzw. mit dieser verknüpfen (Abrufmedium, Abruffunktion). Natürlich beeinflusst die Form des Mediums seinen Inhalt, es nimmt an der Konstruktion der Vergangenheit teil (vgl. Erll 2005: 136, 139 u.ö.). Ein dankbares Beispiel dafür sind Spielfilme mit historischem Sujet. Filme wie „Good bye Lenin“ (Wolfgang Becker, 2001-03) oder „Das Leben der Anderen“ (Florian Henckel von Donnersmarck, 2005/06) spielen zweifellos die Funktion von Abrufmedien, sie sind – in erster Linie jenseits des zeitlich und räumlich unmittelbaren Erlebnis- und Erinnerungskontextes von ehemaligen Einwohnern der DDR – fest mit dem Thema „DDR“ verknüpft und werden nicht selten zu dessen Abbild: sie zeigen – auch nach Meinung vieler DaF-Lehrender – „wie die DDR war“. Gleichzeitig fungieren diese Filme als Speichermedien: es werden originale DDR-Produkte (z.B. Pionierlieder, Lebensmittel) und viele dokumentarisch anmutende Szenen (z.B. TV-Berichterstattung) gezeigt, die wiederum den Eindruck von Authentizität verstärken können. „Erinnerungsorte“ werden in der Form von langen und dicht geschriebenen Essays angeboten, in der Regel verfasst von Historikern, Kulturwissenschaftlern, Soziologen und Politikwissenschaftlern für ein muttersprachliches Publikum. Für fremdsprachliche Lernende sind sie nachweislich schwer zugänglich.4 Gerade weil „Erinnerungsorte“ a priori immer nur                                                                                                                           4 Zwar wird ausdrücklich die angestrebte Reduktion von „akademischem Ballast“, der Verzicht „auf jede belehrend-moralisierende Haltung“ (François/Schulze 2001, Bd1: 21) oder auch ein „außerwissenschaftliche(r) Rückenwind“ betont, den es so zu nutzen gelte, dass für den „Endabnehmer“ die wissenschaftlichen Verarbeitungswege überschau- und nachvollziehbar werden (Zentrum 2009: 6), dennoch sind die Essays selbst Ausschnitte sind, lohnen die solchen Textsammlungen zugrunde liegenden Auswahlkriterien einen genaueren Blick. Pierre Nora, gewissermaßen der „Vater“ dieser Art von Sammlungen, setzte die Kriterien von (dinglicher und zeitlicher) Materialität, Funktionalität / Intentionalität und symbolischer Bedeutung an (vgl. Erll 2005: 23-24). Sein Verdienst ist es, auf die Vielfalt der loci memoriae aufmerksam gemacht zu haben und den Begriff auf geographische Orte, Gebäude, Gegenstände und Kunstwerke, Personen, Gedenktage und Daten, unterschiedlichste Texte, Gesten und Handlungen zu beziehen. Noras Sammlung von 130 kulturellen Objektivationen für Frankreich (1984-1992/2005) zeigt Ausschnitte einer „erwünschten Nationalerinnerung“, die begrenzt ist auf das Mutterland Frankreich und eine Art „Vergangenheitsversicherung“ versucht (Erll 2005: 25). Hauptsächlich wegen dieser „funktionalen, identitätsstiftenden, das heißt ‘nationalen’ Codierung von Gedächtnisorten, die den Symbolhaushalt eines Volkes (Nation) repräsentieren“ soll (Csáky 2004: 10), ist Noras Konzeption hinterfragt worden. Ihr wird häufig angelastet, abgegrenztes (abgeschlossenes) nationales Gedächtnis konstruieren zu wollen, das ein Autor (oder bestenfalls eine Autorengruppe) für relevant und erstrebenswert hält. François/Schulze (2001) haben in den „Deutschen Erinnerungsorten“ (DEO) Noras Konzeption in einigen Punkten modifiziert. In ihrer Sammlung finden sich 120 Phänomene, die aus unterschiedlichem Blickwinkel, von verschiedenen Autoren und nach einem mehrjährigen und mehrstufigen Auswahlverfahren beschrieben werden (vgl. François/Schulze 2001, Band 1: 18- 20): - Sie sind mehrheitlich um 19. und 20. Jahrhundert gruppiert, die als prägende Jahrhunderte für die deutschsprachige Gegenwart gelten. - Sie sind einer Öffnung des Begriffes „nach außen“ verpflichtet, d.h., es wird eine Einbeziehung von gesamteuropäischen Verknüpfungen versucht, insbesondere zu den nächsten Nachbarn (v.a. Frankreich). - Sie enthalten sehr unterschiedliche Erinnerungsorte, darunter neben „bedeutenden“ auch (aus der Sicht der Autoren) „triviale“5 (z.B. „Schlager“), neben „nationalen“ auch regionale (z.B. „Wyhl“), neben „erwarteten“ auch „unerwartete“ (z.B. „Duden“), neben sehr lebendigen auch (derzeit?) „verschüttete“ (z.B. „Canossa“) oder „definitiv tote“ (z.B. „Langemarck“). Auch wenn weder Sinnstiftung noch Staatsbefestigung ihr Ziel war (vgl. François/Schulze 2001, Bd. 1: 23), so sind doch „die zu untersuchenden Inhalte kollektiver Erinnerungen durch                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                             für fortgeschrittene fremdsprachige Studierende (GER B2/C1) sprachlich und inhaltlich zu schwierig und durch ihre ausschließlich verschriftete Form wenig motivierend. 5 Vgl. zur Kritik gegenüber dem Begriff u.a. Zentrum 2009: 16. die beteiligten Wissenschaftler selbst [definiert] und damit ein[…] nationaler Kanon mehr oder weniger attraktiver Erinnerungsorte [vorgegeben worden]“ (Brix/ Bruckmüller/Stekl 2004/05, Bd. 1: 11). Der Ausgangspunkt für das ebenfalls dreibändige Projekt der „Memoria Austriae“ (MA) war eine österreichweite Umfrage (1000 Personen) im Jahre 1998. Erhoben wurde in 9 offenen Fragen, was „typisch österreichisch“ sei, worauf man „stolz“ wäre, womit man „auf keinen Fall etwas zu tun haben wollte“, was man „außerhalb Österreichs […] persönlich mit Österreich verbinden“ würde usw. (Brix/Bruckmüller/Stekl 2004/05, Bd. 1: 12). Unterschieden wurde nach Bauwerken, Plätzen, Landschaften, Flüssen, (vergangenen) Ereignissen, lebenden und verstorbenen Personen, Firmen und Unternehmen, Orten, Personen und Festen des „christlichen Österreich“ sowie seinen Aufgaben in der EU. Aus der letzten Frage versprach man sich Auskünfte über tragfähige „österreichische Konzepte“. Näher betrachtet wurden 41 Nennungen jenseits der 5%-Hürde, sie bilden in der Interpretation der Herausgeber Eckpfeiler eines „Österreichbewusstseins“ und einer „österreichischen Identität“. Gegenstand kritischer Reflexion, Bearbeitung und Interpretation stellten Fragen der Genese, der medialen Träger und Tradierungswege, der Veränderungen, Funktionen und der Reichweite der so erfassten Phänomene dar, ausdrückliches Ziel war „das Bild eines spezifischen österreichischen Identitätsgeflechts, das im Spannungsfeld zwischen integrativgesamtstaatlichen sowie länder- und regionalspezifischen Elementen liegt“ (Brix/Bruckmüller/Stekl 2004/05, Bd. 1: 22). Unter Berufung auf Clifford Geertz heißt es: „Dem an Österreich interessierten Leser wird hier Kultur als das Ensemble von Elementen erschlossen, mittels derer Individuen in einer Gesellschaft miteinander kommunizieren“ (Brix/ Bruckmüller/Stekl 2004/05, Bd. 1: 23). Dem DACH(L)-Anspruch einer Kulturdidaktik für DaF/DaZ kommt entgegen, dass inzwischen auch eine Sammlung von 26 „Schweizer Erinnerungsorten“ (SE) vorliegt (Kreis 2010). Ein Außenbezug auf den deutschsprachigen Raum (hier aber nur für Deutschland) wird am dezidiertesten in dem am Zentrum für Historische Forschung der Berliner Niederlassung der Polnischen Akademie der Wissenschaften entstehenden Projekt der „Deutsch-Polnischen Erinnerungsorte“ (DPEO) versucht, eine bewusst beziehungsgeschichtlich und auf binationale Identitätsrelevanz angelegte Sammlung von knapp 100 Phänomen, die sich u.a. an Kriterien wie „historischer Wirkmächtigkeit“ und „Identitätsrelevanz“ ausrichtet (Zentrum 2009: 22) aus. Ausgangspunkt ist jeweils ein von einem internationalen (mehrheitlich deutsch-polnischen) Wissenschaftlerteam bestimmtes historisches Phänomen, das zum „Erinnerungsort“ geworden sei (Zentrum 2009: 23). Die Leistung dieses bilateralen Ansatzes liegt u.a. in der Ausdifferenzierung von parallelen Erinnerungsorten (Hahn/Traba 2011). In allen Textsammlungen werden unterschiedliche Typen von „Erinnerungsorten“ thematisiert: - konkrete Gebäude, Orte und geographische Regionen, z.B.: „Wiener Ringstraße“ (MA), „Rütli“ (SE), „Die Paulskirche“ (DEO), „Rhein / Weichsel“ (DPEO6 ) - Personen aus unterschiedlichsten Bereichen, darunter vermehrt Künstler, Schriftsteller, Politiker und Sportler, z.B. „Niki Lauda“ (MA), „Henri Guisan“ (SE), „Die Familie Mann“ (DEO), „Ludwig van Beethoven / Frédéric Chopin“ (DPEO) - Ereignisse, insbesondere politischer und gesellschaftlicher Natur, z.B.: „1955“ (MA), „Schlacht bei Marignano“ (SE), „Reformation“ (DEO), „Versailles / Jalta / Potsdam“ (DPEO) - sich verselbständigende künstlerische Produkte, insbesondere Texte (einschließlich ihrer Vorlagen), Bilder und Klänge, z.B.: „Musikantenstadl“ (MA), „Heidi“ (SE), „Max und Moritz“ (DEO), „Nationalhymnen“ (DPEO) - Gegenstände, insbesondere Alltags- und Gebrauchsgegenstände sowie Speisen, z.B.: „Manner-Schnitte“ (MA), „Soldatenmesser“ (SE), „Der Duden“ (DEO), (VW) „Käfer / Maluch / Trabi“ (DPEO) - Begriffe, Mythen und komplexe Programme, z.B.: „Habsburg“ (MA) / „Landsgemeinde“ (SE), „1968“ (DEO), „KKK / Mutter Polin“ (DPEO). Für viele, wenn auch keineswegs für alle dieser Phänomene gilt, dass sie für größere Gruppen im deutschsprachigen Raum ähnlich konnotiert sind, vorhersehbare Deutungsstrukturen generieren und eine gewisse Verbindlichkeit hinsichtlich der ausgelösten Assoziationen besitzen. Ein inhalts- und lernerorientierter Fremdsprachenunterricht braucht überschaubare Inhalte, die in realen gesellschaftlichen Gruppen lebendig sind und die sich über die fremde Sprache in unterschiedlicher Form fassen lassen. Diese Inhalte können Einblicke und Zugänge in                                                                                                                           6 Die angeführten Beispiele aus den Deutsch-Polnischen Erinnerungsorten beziehen sich nur auf den Band Hahn/Traba 2011. Zur Liste der geplanten (und abgelehnten) Stichworte aus diesem Projekt vgl.: http://www.cbh.pan.pl/images/stories/pliki/pdf/PNMP/D-P_EO_lista_hasel_2011-05_online_doc.pdf und http://www.cbh.pan.pl/images/stories/pliki/pdf/PNMP/lista_hasel_odrzuconych_DE.pdf (05.01.2012). authentische Welten (hinter) der Fremdsprache bieten, sollten aber auch das Potenzial besitzen, neue Lern- und Erkenntniswege zu generieren. Dafür bieten sich insbesondere Phänomene an, die in der Gegenwart deutlich präsent sowie synchron und diachron mehrfach vernetzt sind. Zu interkultureller Kompetenz gehört sicher die Fähigkeit, in einem konkreten Kontext zu erkennen, was größere Gruppen von Sprechern der anderen Sprache und im anderen Land bestimmt und bewegt, also die Fähigkeit, andere diskursive Strukturen zu erkennen. Interkulturelle Kompetenz bedeutet auch, zu einer partiellen Teilhabe an diesen Strukturen fähig zu sein, sie (ansatzweise) zu verstehen und einzuordnen sowie an das eigene Weltbild anknüpfen zu können. Zu interkultureller Hardware (verstanden als Prädisposition für jede Art sinnvoller Kontaktaufnahme über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg) gehört aus meiner Sicht immer eine konkrete Software für den jeweiligen Kontext, auf den sich Lernende im Kontakt mit einer anderen Sprache einlassen (müssen). Im Fall DaZ / DaF impliziert das die potentielle Öffnung für die Vielfalt an Phänomenen, die größere Gruppen innerhalb des deutschsprachigen Raums prägen, ihnen (derzeit) selbstverständlich und wichtig scheinen. Hier kann es keinen Kanon geben, Vollständigkeit und Verallgemeinerung sind ausgeschlossen7 , vielmehr muss der vorläufige, veränderliche und fragmentarische Gültigkeitsbereich thematisierter kultureller Phänomene immer deutlich werden. Gute Möglichkeiten bieten diesbezüglich lebendige „Erinnerungsorte“ mit weit verzweigten langen Wurzeln. Viele Aspekte ihres „Lebenslaufes“ können sich für Lernende als bekannt, nachvollziehbar oder gar parallel oder gemeinsam herausstellen und die Anbindung an „eigene“ Phänomene möglich machen. Die Beschäftigung mit Elementen eines kulturellen Gedächtnisses im Rahmen einer fremdsprachlichen Kulturdidaktik, könnte, so wird oft eingewandt, historischen, nationalen und auch ethnischen Kategorisierungen und Etikettierungen Vorschub leisten und die Aufmerksamkeit von Lernenden zu stark auf (tote) „Vergangenheit“ (Mittelalter?), „politische Geschichte“ (Schlachten? Feldherren?), „Hochkultur“ (Literaten und Komponisten?) fixieren, gängige Klischees (nationale Symbole?) bestätigen oder für nationale Abgrenzungen anfällige Phänomene und Ereignisse (Nationalhymnen? Sportsiege?) überbetonen. Das scheint in den                                                                                                                           7 Schmidt/Schmidt setzen sich das Ziel, die potentielle Partizipation an „fremden“ Gefühlen, Konnotationen und Assoziationen zu ermöglichen: „Was empfinden Deutsche beim Gedanken an die Berliner Mauer oder an die Bücherverbrennung? Was verbinden sie mit Weimar und Dresden? Welche Ideen assoziieren sie mit der Wartburg oder der Paulskirche?“ (Schmidt/Schmidt 2007, Umschlagseite). Hier müsste mit Sicherheit genauer differenziert werden („Deutsche“?) und zugleich die Instabilität dieser Bereiche deutlich werden („empfinden/verbinden/assoziieren“? – wann, wer, unter welchen Umständen usw.). vorliegenden Sammlungen von „Erinnerungsorten“ tatsächlich angelegt, bedeutet aus meiner Sicht aber nicht, dass sie grundsätzlich zu verwerfen sind. Ich denke vielmehr, fremdsprachliche Kulturdidaktik sollte sie als das verstehen, was sie sind: Ausschnitte und Angebote, die das Entstehen und Funktionieren von kulturellen Gedächtnissen in vielen Fällen sehr gut zeigen. Werden sie unter didaktischen Aspekten gefiltert, ergänzt und (re)medialisiert, dann gestatten sie ein Lernen, das inhaltliche und methodologische Exemplarizität besitzt. Sie können es ermöglichen, den (durch die Folie der fremden Sprache konditionierten) „fremden Raum“ als in zeitlicher Entwicklung begriffen, unabgeschlossen, unterschiedlich deutbar, vielfältig und widersprüchlich, diachron und synchron vernetzt wahrzunehmen. „Erinnerungsorte“ werden so zu Phänomenen, die authentische Anlässe zum fremdsprachlichen Reflektieren und versuchsweisen (Mit-)Erleben geben. Als besonders günstig und didaktisch ergiebig erweisen sich vor allem diejenigen Erinnerungsorte, die ein besonders starkes multimediales Potenzial sowie greifbare diskursive Relevanz in der Gegenwart besitzen, solche also, die „anschlussfähig“ an einen alltagsweltlichen Nahhorizont sind. Dabei sollte das in vielen Sammlungen angelegte Makrosystem „Nationalstaat“ bewusst differenziert und durch unterschiedliche Mikrosysteme ergänzt werden. Die in den Sammlungen in Essay- oder Aufsatzform aufscheinenden Angebote implizieren unterschiedliche mediale Formen. Das ist zum einen die Form, in der sich ein Erinnerungsort ursprünglich selbst präsentiert (Speichermedium), also z.B. als dreidimensionales Gebäude, Landschaft, Text, Bild, Gegenstand oder Klang. Da sind zum anderen die Medien, über die Erinnerung transportiert wird (Zirkulationsmedium), also wiederum Texte zum Lesen oder Hören, statische oder bewegte Bilder (Fotos, Reproduktionen, Filme), Klänge oder Symbole. Methodisch sind damit unterschiedliche Möglichkeiten gegeben: von der klassischen Leseund Hörverstehensdidaktik, über Elemente der fremdsprachlichen Bild-, Musik-, Film- und Mediendidaktik, bis hin zu Museums-, Exkursions- und Ausflugsdidaktik. Viele dieser Aspekte gehören bereits zum festen Repertoire des Fremd-und Zweitsprachenunterrichts, andere sind dabei, sich zu etablieren. Klassisches Fertigkeitentraining (Leseverstehen, Hörverstehen, Hör-Sehverstehen wie Schreiben, Sprechen) ist damit ebenso angelegt wie der Erwerb von Recherche- und Präsentationskompetenzen oder die Arbeit in kürzer- oder längerfristigen Projekten. Form und Intensität der Arbeit sind stark vom konkreten didaktischen Setting abhängig (Erfahrungen mit dem und im konkreten fremdsprachlichen Raum, Zugänglichkeit von Materialien etc.). Der bisher einzige offizielle Didaktisierungsversuch von (deutschen) „Erinnerungsorten“ stützt sich auf die Sammlung von François/Schulze (Schmidt/Schmidt 2007). Ausgewählt wurden topographische Orte (Gebäude, Denkmale, Gebäudeensemble bzw. Städte), die nicht in unmittelbarer Reichweite der Lernenden liegen (DaF-Situation), die über verschiedene Medien (hier mit Zirkulations- und Abruffunktion, sog. memory cues) in den Unterrichtsraum hinein geholt werden. Ausgehend von einem Text-oder Bildimpuls, „werden verschiedene thematische Stränge entfaltet, die sich an diesem Ort festmachen lassen“ (Schmidt/Schmidt 2007: 8), die Erarbeitung erfolgt dann sehr handlungsorientiert, eigenverantwortete Recherche und Projektarbeit bilden den Kern des methodischen Angebots. Verwendung finden erklärende Texte sowie ergänzende Textsorten (Fotografien, Bilder, Lieder und andere Hörtexte, Abbildungen von Originaldokumenten, Landkarten usw.). Für viele DaF-Lernende wird diese Vorgehensweise eine gute Möglichkeit bieten, die Kluft zwischen (eindimensionalen) Erwartungen und (mehrdimensionaler und mehrmedialer) Realität zu verringern. Die Beschäftigung mit der überraschenden Komplexität und Veränderbarkeit eines (scheinbar „eindeutigen“ und „toten“) Ortes (z.B. „Wartburg“) kann ein willkommenes (und sicheres) Trainingsfeld darstellen, um die Komplexität von Gesellschaften über authentische Materialien zu erfassen. Folgende inhaltliche Auswahlkriterien könnten sich für den Kontext der fremdsprachlichen Kulturdidaktik als sinnvoll erweisen: 1. Geeignete „Erinnerungsorte“ besitzen für größere Gruppen einen gewissen Wiedererkennungswert, man kann an ihnen verschiedene regionale, soziale, sprachliche usw. Facetten des deutschsprachigen Raumes veranschaulichen, auch im Sinne des DACH(L)-Prinzips. Das schließt einen u.U. hohen Bekanntheitsgrad außerhalb des deutschsprachigen Raumes nicht aus (z.B. „Karneval“, DEO). 2. Die mediale Tradierung erfolgt über einen längeren Zeitraum (auch über mehrere Generationen hinweg) bis in die Gegenwart und über verschiedene Kanäle (z.B. „Heldenplatz“, MA / DEO). 3. Geeignete Phänomene sind immer wieder – und vor allem in der Gegenwart – „rezeptionswürdig“. Das schließt verschiedenste Formen der Rezeption ein, etwa Neuauflagen, Aufführungen, „Übersetzung“ in andere Medien und Sprachen (z.B. Verfilmung), Bearbeitungen, Parodien usw. (z.B. „Wilhelm Tell“, SE). 4. Rezeption und Gebrauch sind in gewisser Weise ritualisiert, d.h. die Erinnerung erfolgt zu bestimmten, immer wiederkehrenden Anlässen oder ist relativ fest im Alltag verankert und wird dadurch auch medial „greifbar“ (z.B. „Donauwalzer“, MA). 5. Es besteht ein symbolischer Bedeutungsüberschuss, d.h. das Phänomen bedeutet mehr als es auf den ersten Blick scheint (z.B. „Die Pickelhaube“, DEO). 6. Das Phänomen lässt Aussagen zur Entstehung, Funktion und Tradierung von „Erinnerungsorten“ zu (z.B. Vernetzung, unterschiedliche Perspektivierung von Ereignissen, Veränder- und Manipulierbarkeit der Wahrnehmung), es besitzt für diese Merkmale eine sog. „dichte Beweislage“ (z.B. „Córdoba 1978“, MA). 7. Es besitzt Bedeutung im Kontext einer konkreten fremdsprachendidaktischen Konstellation, also z.B. deutschsprachig-polnisch (z.B. „Willy Brandt“, DPEO) oder deutschsprachig-französisch (z.B. „Rhein“), d.h. eine sog. kontaktdidaktische Relevanz. Daneben stehen didaktische Auswahlkriterien: 1. Das Phänomen ist in seinem Ausmaß überschaubar bzw. lässt sich auf überschaubare Einzelaspekte reduzieren (z.B. einzelne Texte, Bilder usw.). 2. Diese Einzelaspekte liegen in medialen Formaten vor (z.B. schriftliche Texte, Hörtexte, Filmausschnitte), die authentische Sprache liefern. 3. Es kann auf unterschiedlichem sprachlichem Niveau, in unterschiedlicher Ausführlichkeit und mit unterschiedlichen Methoden bearbeitet werden und lässt damit spiralförmige Progression zu, d.h., es gibt sprachlich und kulturell immer wieder neue Aspekte zu bearbeiten. Das kann aus der Arbeit mit zwei konkreten Studierenden-Gruppen illustriert werden.8 Nach einer Einführung in die Konzeption der „Erinnerungsorte“ und Beispielen, bei denen insbesondere die Kriterien von langanhaltender, aktueller sowie multimedialer Präsenz betont wurden, wurde einer Gruppe polnischer Studierender (DaF) ein Pool an eher historischen Phänomenen zur Auswahl vorgegeben. Ihr Status als „Erinnerungsort“ war von vornherein deklariert und sollte „bewiesen“ werden (v.a. über Argumente der Lebendigkeit und Vielschichtigkeit). Die Blickrichtung war dabei von der Vergangenheit in die Gegenwart gerichtet. Die Gruppe in Österreich (DaM/DaZ/DaF) arbeitete mit Phänomenen eigener Wahl und zwar in umgekehrter Richtung: was sich von seiner gegenwärtigen Präsenz her als „Erinnerungsort“ zu eignen schien, sollte über unterschiedliche Tradierungskanäle bis zu den „Wurzeln“ zurückverfolgt werden. Innerhalb dieser Aufgabenstellungen ist eine Progression zu sehen: abgesehen von einer höheren Sprachkompetenz scheint die eigenverantwortete Wahl von lohnenden Objekten und Phänomenen sowie das Aufspüren von medialen „Beweisen“ aus einer Art Innenperspektive (Wien) leichter zu sein, wobei sicher deutlicher                                                                                                                           8 Zum einen handelte es sich um eine sprachlich und kulturell eher homogene Gruppe, die außerhalb des deutschsprachigen Raumes Deutsch als Fremdsprache studiert (polnische Studierende, Universität Poznań). Die andere Gruppe bildeten Personen, die im deutschsprachigen Raum (Universität Wien) Deutsch als Fremd- und Zweitsprache studieren, darunter in der Mehrzahl muttersprachliche Österreicher und Deutsche (DaM), Österreicher und Deutsche mit Migrationshintergrund, häufig in DaZ-Situation, sowie DaF-Studierende aus ganz Europa (Erasmus). Die Veranstaltungen fanden im Wintersemester 2010/11 (Wien) sowie im Sommersemester 2011 (Poznań) statt. zwischen DaM- und DaZ- Perspektiven differenziert werden müsste. DaF-Studierenden (Poznań und z.T. Wien) fiel es deutlich schwerer, abseits von „touristischen Highlights“ lohnende Phänomene zu erkennen, Vorschläge waren hier in jedem Fall hilfreich, insofern, als sie den Blick schärfen, so dass dann in einem nächsten Schritt selber gewählt werden kann. In keiner der Gruppen waren die Vorschläge durchweg überzeugend, aber es gab interessante Zwischenergebnisse, die deutlich zeigen, wie komplex die inhaltlichen und sprachlichen Anregungen sein können, die von „Erinnerungsorten“ ausgehen. Unter den in der relativ homogenen DaF-Gruppe (Poznań) vorgestellten Phänomenen entstammten viele der Sammlung von François/Schulze, einige den „Deutsch-polnischen Erinnerungsorten“ (Gesamtliste). Alle befanden sich zeitlich definitiv jenseits der Erfahrungsschwelle der Studierenden, in vielen Fällen reduzierte sich ihre Wahrnehmung zunächst auf eine eindimensional zeitgebundene Erscheinung (z.B. „Wirtschaftswunder“) oder auf die (negativen) Auswirkungen für die „eigene Nation“ (z.B. „Habsburg“, „Preußen“), wenn sie denn überhaupt bekannt waren. Als „Beweise“ für ihre Lebendigkeit und Vielschichtigkeit wurden von den Studierenden ausschließlich relativ leicht zugängliche Sekundärquellen, darunter vor allem Texte, Filme und Bilder aus dem Internet, herangezogen. Dabei wurden insbesondere Webseiten ausgewählt, die einen deutlichen Bezug auf den eigenen Interessenund Wissenshorizont hatten bzw. die durch ihre Andersartigkeit bzw. Distinktivität vor dem eigenen Erfahrungshintergrund auffällig waren. Die Erkenntnis von Mehrdimensionalität und anhaltender Präsenz – auch im eigenen Land – wurde von den teilnehmenden Studierenden als positiv und neuartig erlebt. Für den Erinnerungsort „Mauer“ wurden in dieser Gruppe beispielsweise ausgewählt und entsprechend präsentiert: - Teilnahme des ehemaligen polnischen Präsidenten Lech Wałęsa an der Aktion „9. November 2009 – Mauerfall als Domino-Aktion“ - Versuche einer „Musealisierung“ der Mauer im öffentlichen Raum (Mauer-Museum, East-Side-Gallery, Gedenkstätte Berliner Mauer) - unterschiedliche Belege für eine „Musikalisierung“ der Mauer (darunter „Klassiker“ wie Udo Lindenberg, Pink Floyd, aber auch die populäre polnische Gruppe „Big Cyc“) - Ausschnitte aus Spielfilmen, darunter die aus anderen Zusammenhängen bereits bekannten Filme „Sonnenallee“ (Leander Haußmann, 1998/99), „Helden wie wir“ (Sebastian Peterson, 1999), „Die Stille nach dem Schuss“ (Volker Schlöndorff, 1999/2000), „Good bye Lenin“ (Wolfgang Becker, 2001-03) sowie der oskarnominierte polnische Kurzfilm über Kaninchen im Mauerstreifen, „Rabbit á la Berlin“/„Królik po berlińsku“ (Bartek Konopka, 2009) - Witze rund um die Mauer, darunter vor allem solche mit dem Setting „Ein Ossi und ein Wessi…“ bzw. „Ein Pole, ein Ossi und ein Wessi …“ - Ansichten von Mauersegmenten rund um die Welt - Ausschnitte aus Internet-Diskussionen zum Phänomen der „Ostalgie“ sowie zu einem Wiederaufbau der Mauer (darunter vor allem Texte aus der polnischsprachigen Presse, die diese Diskussion aus polnischer Sicht als eine Art Kuriosum wiedergeben) - „Mauer“ im Kontext von Freizeit (darunter viele kuriose Phänomene, wie das der in Polen sehr populären historischen Rekonstruktionsgruppen („Polen spielen die Mauer nach“) und Kommerz (darunter Computerspiele). In der Wiener Studierendengruppe gehörten zu den selbstgewählten Phänomenen besonders viele literarische und filmische Texte. Im einzelnen handelte es sich um: - Kinder- und Jugendbücher im weitesten Sinne (Wilhelm Busch „Max und Moritz“, Benjamin Lebert „Crazy“, Mira Lobe „Das kleine Ich bin Ich“, Janosch „Post für den Tiger“) - multimedial ergiebige „österreichische Klassiker“ (Joseph Roth „Radetzkymarsch“, Arthur Schnitzler „Traumnovelle“) - „deutsche literarische Klassiker“ der Nachkriegszeit (Heinrich Böll „Wanderer, kommst du nach Spa…“) - literarische Texte, die eine konkrete Außensicht präsentieren (Polen-Österreich: Radek Knapp „Herrn Kukas Empfehlungen“) - lokal relevante literarische Texte (Wien: Augustin-Sage) - didaktisch unverbrauchte und besonders potente literarische Texte (Konkrete Poesie). Eine weitere wichtige Gruppe bildeten Gebäude und öffentliche Räume, wobei die Abnahme der Nennungen in Abhängigkeit von der Entfernung vom Aufenthaltsort (Wien) besonders interessant ist: - Wiener Identifikationsobjekte (Wiener Hofburg, Stephansdom, Spittelauer Müllverbrennungsanlage, Prater, Wiener Straßenschilder) - regionale Identifikationsobjekte (Heurigen/ Buschenschank, Grottenbahn Linz) - kontaktdidaktisch relevante Objekte (hier: kärntisch-slowenischer Grenzraum: Eisenkappel / Železna kapla / Peršman-Hof) - „deutsche“ Identifikationsobjekte (Kölner Dom) - Identifikationsobjekte für den deutschsprachigen Raum insgesamt (Flaktürme). Die zahlenmäßig drittgrößte Gruppe bildeten Filme, darunter insbesondere österreichische Produktionen: - österreichische Kultfilme ( „MA 2412“, Harald Sicheritz u.a. TV 1998-2002; „Good News“, Ulrich Seidl 1990; „Komm, süßer Tod“, Wolfgang Murnberger 2000) - Filme mit historischem Sujet aus der jüngsten deutschsprachigen Vergangenheit ( „Good bye Lenin“, Wolfgang Becker 2001-03; „Die fetten Jahre sind vorbei“, Hans Weingartner 2003/04) - (Musik)Filme, die u.U. bereits in einem anderen Kontext als DaF-relevant erkannt oder erlebt wurden und die eine konkrete Außensicht präsentieren, in diesem Fall des englischsprachigen Raums ( „The Sound of Music“, Robert Wise 1965 nach dem Musical von Richard Rogers/ Oscar Hammerstein über die „österreichische“ Familie Trapp) - kommerzielle Filmerfolge mit parodistischem Bezug zu bekannten Vorlagen ( „Die Sieben Zwerge […]“, Sven Unterwaldt 2003/04, 2005/06) - Klassiker aus der Zeit des frühen deutschen Films ( „Das Cabinet des Dr. Caligari“, Robert Wiene 1919/20). Aus dem akustischen Bereich wurden folgende „Erinnerungsorte“ gewählt: - „Klassiker“ aus den Bereichen Klassik, Rock und Volkslied (Wolfgang Amadeus Mozart: „Zauberflöte“, Falco: „Rock me, Amadeus“, Gesamtkunstwerk Nina Hagen, „Stille Nacht“, „O Tannenbaum“). Als „visuelle Erinnerungsorte“ wurden Schlüsselbilder - aus dem Bereich der jüngsten Vergangenheit („Konrad Schumann“, „Entführungsplakat Hanns Martin Schleyer“) und - aus dem Bereich des Sports („Thomas Muster“) präsentiert. Daneben waren - Ereignisse aus dem Bereich des Sports („Schmach / Wunder von Córdoba“ 1978, „Thomas Muster Tennis-Weltmeisterschaft 1996) - regionale Kulinaria („Sacher-Torte“, „Heurigen / Buschenschank“) und - regionale Alltagsgegenstände („Kuckucksuhr“) präsent. Zu den Standardargumenten für die Begründung der Wahl gehörten: - Bekanntheitsgrad im In-und Ausland (Auflagenhöhen / Besucherzahlen, Anzahl der Übersetzungen in andere Sprachen, Präsenz im österreichischen Schulkanon, kleinere Umfragen) - nachweisliche Verselbständigung und Eigenleben einzelner Fragmente des Erinnerungsortes (geflügelte Worte, Einzelbilder, Namen etc.) - andauernde bzw. aktuelle mediale Präsenz im öffentlichen Raum österreichweit (z.B. Lesungen, Aufführungen) - zahlreiche und unterschiedliche Bearbeitungen (Theaterstücke, Parodien). Das Beispiel „Córdoba 1978“ sei kurz erläutert, da es exemplarisch zeigen kann, welche Rolle „Erinnerungsorte“ im Rahmen fremdsprachlicher Kulturdidaktik spielen können.9 1. „Córdoba 1978“ ist „ethnisch“ und „national-konfrontativ“10 , polarisierend angelegt („Wunder“ vs. „Schmach“), wird nachweislich als österreichischer Erinnerungsort wahrgenommen (vgl. z.B. Weiß/Norden 2004: 179-180) und besitzt eine beachtliche Assoziationspotenz im deutschsprachigen Raum insgesamt. Er regt dazu an, die Kategorisierungen „deutsch“ und „österreichisch“ zu hinterfragen. Nicht zuletzt gehört die Analyse der wandelnden Zusammensetzung von Nationalmannschaften (weltweit) und damit die (indirekte) Demontage „nationaler“ Erinnerungsorte dazu. 2. Es zeigt eine ungewöhnliche, sich zyklisch verstärkende Medienpräsenz, wird über unterschiedliche Medien und in unterschiedlichen medialen Formaten (z.B. Text, Bild, Hörspiel, Film, Theaterstück, Hypertext, Symbol) nahezu ununterbrochen überliefert (vgl. zu einzelnen Nachweisen Badstübner-Kizik: im Druck). 3. „Córdoba 1978“ ist damit anhaltend rezeptions- und parodiewürdig. 4. Das Ereignis wird zyklisch wiederbelebt, insbesondere natürlich dann, wenn österreichische und bundesdeutsche Fußballnationalmannschaften aufeinander treffen, das letzte Mal war das beim Länderspiel im Juni 2011 der Fall. 5. Das Ereignis besitzt symbolischen Bedeutungsüberschuss und wird entsprechend genutzt („österreichisch-deutsche Antagonismen“). 6. „Córdoba 1978“ gestattet Einsichten in das Funktionieren und die Funktionalisierbarkeit von „Erinnerungsorten“ und bietet ungewöhnlich viele diachrone und synchrone Anschlussmöglichkeiten. Die Wurzeln und Entstehung eines Erinnerungsortes können exemplarisch (ein Stück weit) sichtbar gemacht werden. Dazu gehören z.B. die nationalen                                                                                                                           9 Im Zentrum des „Konzepts Córdoba“ steht das Länderspiel Österreich-Deutschland während der Fußball-WM 1978 in Argentinien, bei dem der österreichische Nationalspieler Hans Krankl in der 88. Minute das entscheidende 3:2 gegen den „Erzfeind“ Deutschland erzielte. Krankl wurde Nationalheld, gilt als bester österreichischer Fußballer aller Zeiten und war zeitweise ernsthafter Wunschkandidat für das österreichische Bundeskanzleramt (vgl. Weiß/Norden 2004). Berühmt ist insbesondere die Reportage Edi Fingers, die mehrere sich verselbständigende, inzwischen alltagsfrequente Wendungen enthält (z.B. „I wear narrisch“, „wir busseln uns ab“, „Und warten S’ noch ein bisserl […], dann können wir uns vielleicht ein Vierterl genehmigen“) und die als Hör- und Lesetext dicht überliefert ist, z.B. http://www.youtube.com/watch?v=CXbS_EqwWNY&feature=related (05.01.2012). Zu besonderem Dank für viele interessante Informationen und Anregungen bin ich Frau Martina Hartl verpflichtet (unveröffentlichte Hausarbeit Wien, WS 2010/11). „Córdoba“ wird natürlich in den Memoria Austriae besprochen (vgl. Weiß/Norden 2004: 179-180) und besitzt eine enorme Internetpräsenz. 10 Zur Problematik der Identifikations- und Integrationsfunktion sowie der „Nationalisierung“ von Fußballspielen vgl. z.B. Pornschlegel, Clemens (2002: „Wie kommt die Nation an den Ball? Bemerkungen zur identifikatorischen Funktion des Fußballs“. In: Martínez, Matías (Hrsg.): Warum Fußball? Kulturwissenschaftliche Beschreibungen eines Sports. Bielefeld, 103-111. Bestrebungen des 19. Jahrhunderts im gesamten deutschsprachigen Raum, die Schlacht von Königgrätz 1866 als einer der Höhepunkte der historischen Konfrontation zwischen Österreich (Habsburg) und Preußen, der sog. „Anschluss“ Österreichs an das 3. Reich 1938 oder die Gründung der 2. Republik mit dem Staatsvertrag 1955 (und der „endgültigen“ Abgrenzung von Deutschland) usw. Es gibt ergiebige Anknüpfungspunkte zu parallelen deutschsprachigen Phänomenen (wie z.B. „Das Wunder von Bern“ 1954), die immer neue mediale Möglichkeiten eröffnen (z.B. Spielfilm, Zeitungsreportage etc.). 7. Das Thema besitzt für viele Lernende einen hohen Motivationswert (Sport) und bietet kontaktdidaktisches Potential (für das Beispiel Polen: „Wembley 1973“, Fußball EM 2008 mit der Konfrontation Deutschland-Polen, die ihrerseits bis auf eine Schlacht zwischen „Polen“ und „Deutschen“ im Jahre 1410 zurückgeführt wird11 ). „Córdoba 1978“ ist didaktisch gut fass- und handhabbar durch kurze und längere authentische Texte und Textausschnitte zum Lesen und Hören auf unterschiedlichem sprachlichen Niveau (z.B. T-Shirt-Aufschriften, Zitate und Passagen aus Interviews, Kommentaren, Reportagen, Interviewtranskripte, ausführliche Kommentare und Interpretationen, Hörspiel usw.), zum Sehen (z.B. Fotos) sowie zum Sehen und Hören (z.B. Dokumentar- und Spielfilmausschnitte, Theaterstück, Kabarett). Rund um das Ereignis ranken sich zahllose Internetauftritte, Fanseiten und aktuelle Blogs, die interaktive Aufgaben ermöglichen. Sprachdidaktisch ermöglicht das Thema damit eine äußerst vielseitige Arbeit rund um authentische Materialien (z.B. Erarbeiten von sportspezifischem Wortschatz, rezeptive und produktive Arbeit an Leseund Hörtexten, Arbeit mit Fotos/Bildern, Filmausschnitten, Filmtrailern und Plakaten, Diskussionen rund um Fußball und Fanwesen, Vergleiche, Übersetzungsübungen, NetzRecherchen zu historischen Ereignissen, Namen oder Begriffen, Erarbeitung von Varianten des Deutschen, von übergreifenden Themen wie Hymnen, Fußballliedern, interaktive Aufgaben usw.). „Erinnerungsorte“ können für DaF-Lernende (mit „Fernsicht“) gangbare Wege in die Komplexität der deutschsprachigen Welt öffnen, für DaZ-Lernende (mit „Nah-Sicht“) Einblicke und Erklärungs-/ Interpretationshilfen für die sie umgebende Realität ermöglichen, insgesamt bieten sie sprachlich, kulturell und medial authentische Lernsituationen und ein umfangreiches Feld für Reflexion und Diskussion. Angelegt ist die Erkenntnis von notwendiger und inhärenter Perspektivierung, Ausschnitthaftigkeit und Vorläufigkeit, die eine Begegnung mit „Fremde“ immer charakterisieren.                                                                                                                           11 Vgl. zum „Konzept Grunwald“ in diesem Zusammenhang genauer Badstübner-Kizik 2011. Literaturverzeichnis: Badstübner-Kizik, Camilla (2011): „Kulturelles Gedächtnis und Erinnerungsorte als Grundlage für interkulturelle Schlüsselkompetenzen?“. In: Adamczak-Krysztofowicz, Sylwia u.a. (Hrsg.): Aktuelle Probleme der Angewandten Linguistik. Interkulturalität als Schlüsselkompetenz für Fremdsprachenlehrer, Übersetzer und Mediatoren, Poznań: Wyd. UAM, 175-193. Badstübner-Kizik, Camilla (im Druck): Inhaltsorientiertes Fremdsprachenlernen in medialen Umgebungen. In: Chudak, Sebastian u.a. (Hrsg.): Fremdsprachenunterricht omnimedial?, Frankfurt a.M.: Peter Lang (=Posener Beiträge zur Germanistik). Csáky, Moritz (2004): Die Mehrdeutigkeit von Gedächtnis und Erinnerung. Ein kritischer Beitrag zur historischen Gedächtnisforschung. In: Digitales Handbuch zur Geschichte und Kultur Russlands und Osteuropas, online: http://epub.ub.uni-muenchen.de/603/1/csakygedaechtnis.pdf (05.01.2012). Brix, Emil / Bruckmüller, Ernst / Stekl, Hannes (Hrsg.) (2004-2005): Memoria Austriae, Band 1-3, Wien: Verlag für Geschichte und Politik. Erll, Astrid (2005): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart: J.B. Metzler. François, Etienne /Schulze, Hagen (Hrsg.) (2001): Deutsche Erinnerungsorte, Band 1-3, München: C.H.Beck. Hahn, Hans-Henning / Traba, Robert (Hrsg.) (2011): Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, Band 3: Parallelen, Paderborn: Ferdinand Schöningh. Hartl, Martina (2011): Córdoba 1978 … oder warum immer alle narrisch werden. Oder auch nicht“, Universität Wien (unveröffentlichte Hausarbeit). Kreis, Georg (2010): Schweizer Erinnerungsorte. Aus dem Speicher der Swissness, Zürich: Verlag Neue Züricher Zeitung. Nora, Pierre (Hrsg.) (1984-1992): Les lieux de mémoire. 7 Bände. Paris: Gallimard; deutsch: (2005): Erinnerungsorte Frankreichs. München: C.H. Beck. Schmidt, Sabine / Schmidt, Karin (Hrsg.) (2007): Erinnerungsorte. Deutsche Geschichte im DaF-Unterricht, Berlin: Cornelsen. Weiß, Otmar / Norden, Gilbert (2004): Sporthelden. In: Brix; Bruckmüller; Stekl (Hrsg.), Bd. 1., 164-193. Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften (2009): Reader für Autorinnen und Autoren der Aufsätze über deutsch-polnische Erinnerungsorte, 5. Ausgabe, Oktober 2009, http://www.cbh.pan.pl/images/stories/pliki/pdf/PNMP/2009-10-16_Reader_D_online.pdf (05.01.2012).