FVF Forum Vormärz Forschung Jahrbuch 2013 19. Jahrgang Geld und Ökonomie im Vormärz herausgegeben von Jutta Nickel AISTHESIS VERLAG Sonderdruck aus: Patrick Eiden-Offe (Duisburg-Essen) Weisse Sclaven, oder: Wie frei ist die Lohnarbeit? Freie und unfreie Arbeit in den ökonomisch-literarischen Debatten des Vormärz Im Zuge jener Great Transformation, als die Karl Polanyi die Durchsetzung der Marktgesellschaft im 19. Jahrhundert beschrieben hat, entwickelt sich die Lohnarbeit zur gesellschaftlich dominanten Form der materiellen Reproduktion der Individuen. Der „freie Arbeitsmarkt“ fungiert dabei als zentrales Bindeglied zwischen der Gesellschaft und der aus ihr „herausgelösten“, sich autonom setzenden Sphäre der Wirtschaft.1 Auch in der Sozialgeschichte wird die Durchsetzung der Lohnarbeit als entscheidende Dynamik im Prozess der Modernisierung angesehen. Jürgen Kockas idealtypische Bestimmung der Klassenbildungsprozesse zwischen 1800 und 1875 fasst als deren „Kern“ den „Durchbruch der Lohnarbeit zum strukturbestimmenden Massenphänomen“. Lohnarbeiter sind demnach all diejenigen, die „ihre Arbeitsleistungen auf der Grundlage eines der Form nach freiwilligen und beiderseits kündbaren Vertrags“ an einen „Käufer ihrer Arbeitsleistung“ abtreten, „der den Boden, das Werkzeug, die Maschinen, das Rohmaterial – Produktionsmittel also – in Form von Kapital“ bereitstellt.2 1 Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt/M. 1973 [1944], besonders das Kapitel „Markt und Mensch“ (S. 224-243), wo Polanyi die uns selbstverständlich gewordene Idee einer marktförmigen Vermittlung und Organisation der gesellschaftlichen Arbeit dadurch fremd werden lässt, dass er die Effekte analysiert, welche die „Errichtung eines Arbeitsmarkts“ in den Kolonien zeitigte. 2 Jürgen Kocka, Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert, Bonn 1990, S. 5f. – Auch die politische Soziologie des Sozialstaats operiert mit der Hypothese, Sozialpolitik sei – auch historisch – „die staatliche Bearbeitung des Problems der dauerhaften Transformation von Nicht-Lohnarbeitern in Lohnarbeiter“; Gero Lenhardt/Claus Offe, „Staatstheorie und Sozialpolitik. Politisch-soziologische Erklärungsansätze für Funktionen und Innovationsprozesse der Sozialpolitik“, in: Christian von Ferber; Franz-Xaver Kaufmann (Hg.): Soziologie und Sozialpolitik. Sonderheft 184 Beide Varianten der Geschichtsschreibung, die wirtschaftsethnologische wie die sozialhistorische, affirmieren eine Diagnose, die zeitgenössisch von Karl Marx im Kapital aufgestellt wurde: Die kapitalistische Produktionsweise sei, so heißt es im Kapitel vom „Kauf und Verkauf der Arbeitskraft“, darauf angewiesen, dass es einen „Arbeitsmarkt als eine besondere Abteilung des Warenmarkts“ gebe, dass also Arbeitskraft als Ware verkauft werde. Das aber könne nur gewährleistet werden, wenn es als Marktteilnehmer neben dem „Geldbesitzer“ auch „den freien Arbeiter“ gebe: „frei in dem Doppelsinn, daß er als freie Person über seine Arbeitskraft als eine Ware verfügt, daß er andererseits andre Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen“.3 Gegen die Auffassung, dass der „doppelt freie Lohnarbeiter“ als dominante Figur zu betrachten sei, in der sich alle wesentlichen Tendenzen des Zeitalters bündelten, ist in letzter Zeit von einer nun global orientierten Sozialgeschichte der Arbeit (Global Labor History) Einspruch erhoben worden.4 In globalerPerspektiveerscheintFreiheit(freieVerfügungsgewaltüberdieeigene Arbeitskraft, Freiwilligkeit des Vertragsabschlusses, Freizügigkeit) als Paradigma moderner Arbeitsverhältnisse zweifelhaft; die „freie Lohnarbeit“, so heißt es hier, müsse auch in der Moderne „eher als Ausnahme denn als Regelfall“ angesehen werden.5 Parallel zur Durchsetzung der freien Lohnarbeit in den Metropolen war, so wird hier argumentiert, die zunehmend marktförmig organisierte Weltwirtschaft des 19. Jahrhunderts immer auch von unfreien Arbeitsverhältnissen aller möglichen Schattierungen geprägt: Hier ist zuvör- 19/1977 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, S. 98-127, hier S. 101. 3 Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Berlin 1956ff., Band 23, S. 183 (im Folgenden zitiert als MEW mit Band und Seitenzahl). 4 Global Labor History ist eine Prägung Marcel van der Lindens. Es handelt sich dabei nicht um eine methodologisch stabilisierte und klar identifizierbare Schule, sondern eher um ein Forschungsprogramm, das von einer Reihe gemeinsamer Grundannahmen getragen wird; vgl. dazu das Schwerpunktprogramm des International Institute of Social History in Amsterdam: http:// socialhistory.org/en/research/global-labour-history. Ein vorläufiges Resümee des Forschungsprogramms liefert Jan Lucassen (Hg.), Global Labour History: A State of the Art, Bern 2008. 5 Tom Brass, Marcel van der Linden, Jan Lucassen, „Conference on the history of free and unfree labour“, in: Dies., Free and Unfree Labour, Amsterdam 1993, S. 5. Patrick Eiden-Offe 185 derst an die koloniale und postkoloniale atlantische Sklaverei zu denken. Parallel zur Versklavung von Millionen Afrikanerinnen und Afrikanern wurden Hunderttausende Europäer in die Kolonien verbracht, die in Schuld- oder Vertragsknechtschaft standen oder als verurteilte Delinquenten Zwangsarbeit leisten mussten: Der atlantische Weltmarkt vom 16. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts kann mit vollem Recht als ein integrierter „Weltmarkt der Zwangsarbeit“ bezeichnet werden.6 Ausgehend von der globalen Betrachtung wurden, in einem zweiten Schritt, die Beobachtungen der Global Labor History nach Hause gebracht und auch in den Metropolen des 19. Jahrhunderts überall unfreie Arbeitsverhältnisse (wieder)entdeckt: Von schuldknechtschaftlichen Verhältnissen, die oft mit der Massenmigration zusammenhingen, über öffentliche Strafarbeiten bis hin zum Regime der Arbeitshäuser; von der unfreien Arbeit im Haus bis zur (Zwangs-)Prostitution. Die Globalgeschichte der Arbeit wurde vielfach – so zeigt schon die Liste der Themen – angestoßen von aktuellen Beobachtungen im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert, und die Forschung stiftet wiederum dazu an (und befähigt überhaupt erst dazu), Formen unfreier Arbeit auch in der Gegenwart zu identifizieren. Das Problem der unfreien Arbeit hat jüngst auch über die Fachgrenzen hinaus verstärkte Aufmerksamkeit erregt, etwa durch die Veröffentlichung des Global Slavery Index 2013 der Walk Free Foundation. Nach dieser Studie leben weltweit 29,8 Millionen Menschen in „moderner Sklaverei“, die sich in 162 Staaten nachweisen lässt.7 Die Sozial- 6 Patrick Manning, Slavery and African Life. Occidental, Oriental, and African Slave Trades, Cambridge 1990, S. 84, zit. nach Jan Lucassen, „Free and unfree labour before the twentieth century: a brief overview“, in: Brass/van der Linden/ Lucassen, Free and Unfree Labour (Anm. 5), S. 77-18, hier S. 14: „an integrated ‚world market of forced labor‘“. – In seiner von Hegel inspirierten „normativen Rekonstruktion“ des Arbeitsmarkts konstatiert Axel Honneth für „Westeuropa“ einen „Prozeß der Reinigung der Arbeitsverhältnisse von allen traditionellen Elementen der Fron-, Lehn- oder Zwangsarbeit“, der sich „um 1800 auf seinem Höhepunkt“ befunden haben soll; Honneth reklamiert für diese Erzählung allerdings eine spezifische „Freiheit“, die der „normativen Rekonstruktion“ eingeräumt werden müsse – hier wohl die Freiheit, von der globalen Sklaverei abzusehen, die – organisiert aus den Zentren Westeuropas – ebenfalls um 1800 ihren Höhepunkt erlebt hat; vgl. Axel Honneth, Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Frankfurt/M. 2011, S. 412. 7 Die Studie ist veröffentlicht auf http://www.globalslaveryindex.org/. Weitere Informationen finden sich unter http://www.walkfreefoundation.org/. ‚Weisse Sclaven‘, oder: Wie frei ist die Lohnarbeit? 186 philosophin Debra Satz hat zur Beantwortung der Frage Why Some Things Should not Be For Sale „moralische Grenzen der Märkte“ vermessen und sich dabei auf drei „toxische Märkte“ der Gegenwart konzentriert, die schon in der Literatur und Sozialtheorie des 19. Jahrhunderts heftig debattiert wurden: den Markt für „Sexarbeit von Frauen“, den für Kinderarbeit und die „freiwillige Versklavung“, worunter Satz alle Formen unfreier Arbeit von Erwachsenen (mit Ausnahme der eigens verhandelten Sexarbeit) fasst.8 Satz’ vierten „toxischen Markt“, den Organhandel, wird man sicher exklusiv der Gegenwart zurechnen dürfen; literarisch-metaphorisch aber war er schon im 19. Jahrhundert präsent: Nachdem der „freie Arbeiter“ – so Marx – „seine eigne Haut zu Markte getragen“ hat, weiß er, dass er „nichts andres zu erwarten hat als – die Gerberei“.9 Und erst nachdem Fantine in Victor Hugos Elenden ihre schönen Vorderzähne an einen Jahrmarktzahnarzt verkauft hat, wirft sie sich mit dem Ausruf „Auf, verkaufen wir auch das übrige!“ in die Prostitution.10 Im Folgenden soll das Problem der unfreien Arbeit in sozialtheoretischpolitischen und literarischen Selbstbeschreibungen des Vormärz untersucht werden. Dabei wird sich zeigen, dass schon hier das gesamte Problemspektrum verhandelt wird, das auch in den historiografischen und politischen Debatten der Gegenwart zur Disposition gestellt wird. Im Vormärz wurde vielfach die „Freiheit“ der Lohnarbeit besonders kritisch problematisiert; oft wurde gar die „freie Lohnarbeit“ mit der paradigmatischen Formen unfreier Arbeit, der Sklaverei, in eins gesetzt. Dadurch wird aber auch die klare Gegenüberstellung von freier und unfreier Arbeit überhaupt infrage gestellt werden, die in den Debatten der Gegenwart nur allzu oft einfach vorausgesetzt wird. Die aktuelle historiografische und politische Rede von der unfreien Arbeit – und die dabei zuweilen mitschwingende oder auch offengelegte Skandalisierung – tendiert dazu, die Schrecken der freien Arbeit zu überdecken, die doch den Autoren des Vormärz so drückend präsent waren. Von den Debatten des Vormärz her muss vielleicht nochmals die Ironie der Marx’schen Rede von der „doppelten Freiheit“ des Lohnarbeiters 8 Debra Satz, Why Some Things Should Not Be for Sale: The Limits of Markets. New York 2010. Auf deutsch: Von Waren und Werten. Die Macht der Märkte und warum manche Dinge nicht zum Verkauf stehen sollten, Hamburg 2013. 9 Marx, Kapital, (Anm. 3), S. 191. 10 Victor Hugo, Die Elenden, aus dem Französischen von Hugo Meier, Zürich 1968, S. 218-222. Patrick Eiden-Offe 187 eruiert werden, um deren Pointe nicht zu verpassen. Zugleich aber lassen sich vom Vormärz her auch einige Löschungen und Vereindeutigungen sichtbar machen, die nicht erst im Marxismus, sondern schon bei Marx selbst mit der politisch-theoretischen Prämierung der „freien Lohnarbeit“ verbunden waren. 1. Politik der Sklaverei: Wilhelm Weitling Dem groß angelegten Plan zur „Reorganisation der Gesellschaft“, der den zweiten Teil seiner Schrift Garantien der Harmonie und Freiheit von 1842 bildet, stellt Wilhelm Weitling eine geschichtsphilosophische Erzählung voran, welche die „Entstehung der gesellschaftlichen Übel“ klären soll.11 Von einem „Urzustand der Gesellschaft“ ausgehend, rekonstruiert Weitling die Genese einer Welt der Ungleichheit: der ungleich verteilten Arbeit, der ungleich verteilten Reichtümer und der Herrschaft.12 Weitlings Rekonstruktion kreist dabei um den Begriff des Eigentums. Nach der „Entstehung des beweglichen“ und des „unbeweglichen Eigentums“ fällt der wahre Sündenfall des Menschen in Weitlings Erzählung mit der „Entstehung der Sklaverei“ zusammen: „Bis auf den Menschen selbst“ habe sich in der Sklaverei „der Begriff des Eigentums ausgedehnt“, die Ungleichheit der Menschen werde institutionell zementiert. Mit der Erfindung der Sklaverei legt der Mensch „die Hand an sein Ebenbild, um es mit seinem erschrecklichen Mein den Tieren des Waldes, dem Boden unter seinen Füßen und dessen Produkten 11 Wilhelm Weitling, Garantien der Harmonie und Freiheit, Vivis 1842; im Folgenden zit. nach: Wilhelm Weitling, Garantien der Harmonie und Freiheit, mit einem Nachwort hg. v. Ahlrich Meyer, Stuttgart 1974. Frühere Fassungen und Varianten der geschichtsphilosophischen Erzählung und des kommunistischen Transformationsprogramms, das die Garantien systematisieren, finden sich in Weitlings Zeitschriften Der Hülferuf der deutschen Jugend („Herausgegeben und redigiert von einigen deutschen Arbeitern“) und Die junge Generation, Genf 1841-43 (Nachdruck Zentralantiquariat der DDR, Leipzig 1972). 12 Der Urzustand ist bei Weitling weniger real-historische Annahme als Konstruktion einer Kontrastfolie, vor der sich die „Übel der Gegenwart“ schärfer konturieren lassen: „Welche Kluft zwischen damals und heute! Welch veränderter Zustand der Gesellschaft in unsern heutigen zivilisierten Ländern!“ (Weitling, Garantien, Anm. 11, S. 10). ‚Weisse Sclaven‘, oder: Wie frei ist die Lohnarbeit? 188 gleichzumachen“.13 Der Mensch habe aufgehört, ein „Ebenbild Gottes“ zu sein; es gibt nun nicht mehr den einen Menschen, sondern „zweierlei Menschen, Menschen die arbeiten, und Menschen, die nicht arbeiten. Herren und Knechte.“14 Weitling betont die Einführung der Sklaverei als anthropologisch-zivilisatorischen Einschnitt aus zwei entgegengesetzten, aber komplementären Gründen: Zum einen geht mit der Sklaverei die letzte Erinnerung an jenen „Urzustand“ verloren, in dem das Glück des einen nicht ohne das Glück des anderen zu denken war – das Glück war das Glück der Gleichheit.15 Zum anderen aber dient die Sklaverei Weitling dazu, den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft als noch unter dem der Sklaverei stehend zu skandalisieren. Denn der Mensch könne „wohl noch tiefer sinken“: Er kann sich zum Sklaven des Geldes machen, dessen „Erfindung“ zu einer elementaren Korruption des Gesellschaftskörpers führt.16 Das Geld tritt in Weitlings Erzählung nicht primär als Medium sozialen Austauschs in Erscheinung, sondern als Instrument des Kommandos über die gesellschaftliche Arbeit; durch das Geld erst tritt der „empörende Unterschied der Klassen in der Gesellschaft“ zutage.17 Die moderne, geldvermittelte Ausbeutung der Arbeit konturiert Weitling nun durchgängig in Abgrenzung zur Sklaverei im Schema eines „früher“ und „jetzt“: Wo der Sklave „durch den Begriff des Eigentums ein erbeutetes, getauschtes oder geerbtes Gut“ und als solches auf den Stand des Viehs gebracht worden war, da hat der Mensch heute „gar keinen Wert mehr, nicht einmal mehr den des Viehs“; wo früher der Sklavenhalter sein Gut immerhin so pfleglich behandeln musste, dass es im Gebrauch nicht vollkommen ruiniert wurde, da 13 Weitling, Garantien (Anm. 11), S. 40f. 14 Weitling, Garantien (Anm. 11), S. 42. Weitling beobachtet hier gleichsam eine anthropologische Transformation, denn den Menschen geht das Bewusstsein einer gemeinsamen Gattungszugehörigkeit verloren. Zur „Entsozialisierung“ und „Entpersönlichung“ des Sklaven vgl. Claude Meillasoux, Anthropologie der Sklaverei, Frankfurt/M./New York/Paris 1989, S. 101-109. 15 Vgl. Weitling, Garantien (Anm. 11), S. 10: „Glücklich ist nur der Zufriedene, und zufrieden kann nur der sein, der Alles haben kann, was jeder Andere hat.“ 16 Weitling, Garantien (Anm. 11), S. 41. Die Kapitel über „Die Erfindung des Geldes“ (S. 48-66) und die über die „Geld- und Warenkrämerei“ (S. 99-114) sind die längsten im ganzen ersten Teil der Garantien. 17 Weitling, Garantien (Anm. 11), S. 55. Patrick Eiden-Offe 189 schindet man sie [die modernen Arbeiter] bis aufs Blut, um von ihren Kräften Vorteil zu ziehen; und wenn sie dann krank, alt und schwächlich werden, so jagt man sie zur Werkstatt, zur Fabrik und zum Haus hinaus, um sie nicht mehr nähren zu müssen, und draußen stehen sie schon zu Haufen und drängen sich hinein in die Marterhöhlen, aus welchen ein Opfer nach dem anderen wankt, sowie ihre Kräfte verbraucht sind.18 An die Stelle des äußeren Zwangs und der „Übermacht des Starken“ ist die „Verkäuflichkeit“ getreten: „Früher machte man den Menschen mit Gewalt zum Sklaven; jetzt verkauft er sich selbst“.19 Letztlich bleibt auch der moderne Arbeiter für Weitling ein Sklave, weil er sich und seine Arbeit an andere verkauft und sich so zum Sklaven des Geldes macht: Mit dieser Kernaussage folgt Weitlings Erzählung einem politischen Darstellungsschema, das ich in Anlehnung an Quentin Skinner als „Politik der Sklaverei“ bezeichnen möchte. Dass die Menschen heute unter der Herrschaft des Geldes noch immer im „Zustand der Sklaverei“ leben, lässt die Abschaffung der Geldherrschaft als „Akt der Selbstbefreiung“ einer versklavten Menschheit erscheinen, die bloß ihr „angeborenes Freiheitsrecht zurückerobern“ will.20 Weitling nutzt die Tatsache, dass die Sklaverei weithin als Unrecht anerkannt ist, um die moderne Geldherrschaft einerseits der Sklaverei gleichzuordnen – wir haben auf diesem Gebiet noch keinen Fortschritt gesehen: so lautet hier die Behauptung –, und andererseits herauszustellen, dass die moderne Geldherrschaft sozial noch viel verderblicher wirkt als die Sklaverei. Denn „das äußerlich Gehässige“ der Sklaverei verbirgt sich heute zwar im „Schatten von Verträgen und Gesetzen“, der Zustand der Sklaverei „besteht jedoch in vieler Beziehung in noch schlimmern Grade fort“.21 Weitlings Konstruktion kommt nicht als politisch neutrale Geschichtsphilosophie daher, sondern als Vorspiel einer kommunistischen Umgestaltung der Gesellschaft. Es ist eine Geschichtsphilosophie von Arbeitern für Arbeiter, die hier unterbreitet wird, und auch die Erörterung der Sklavenmoral soll eine selbstbewusste und kämpferische Haltung bei den Adressaten 18 Weitling, Garantien (Anm. 11), S. 49. 19 Weitling, Garantien (Anm. 11), S. 51f. 20 Quentin Skinner, „John Milton und die Politik der Sklaverei“, in: Ders., Visionen ddes Politischen, Frankfurt/M. 2009, S. 196-223, hier S. 197; mit dem Terminus „Politik der Sklaverei“ beschreibt Skinner Miltons publizistisch-propagandistische Strategie zur Legitimation der Absetzung und Hinrichtung Karls I. 21 Weitling, Garantien (Anm. 11), S. 50. ‚Weisse Sclaven‘, oder: Wie frei ist die Lohnarbeit? 190 befördern.22 Aus diesem Grund nimmt Weitling das alte Bild von der hündischen Zufriedenheit der Sklaven auf und schärft dessen Konturen noch durch die Schilderung der verderblichen Wirkung des Geldes.23 Er hält den modernen Arbeitern so ein Spiegelbild vor, in dem diese sich mit Sicherheit nicht erkennen wollen. Und so ruft Weitling denn auch seinem Leser provokativ zu: „Und du auch! Sklave! zu Staube gekrochen! Was! den Blick, den du schüchtern und furchtsam vor deinem Herrn niederschlägst, getraust du dich frech gen Himmel zu richten? Soll sich der Himmel in deiner Schande spiegeln?“24 Die Rückseite von Weitlings „Politik der Sklaverei“ ist in einer durchgängigen Abwertung der „echten“, (post)kolonialen atlantischen Sklaverei zu sehen, auf die er vielfach anspielt. Die „Abschaffung der Sklaverei“ durch die „menschenfreundlichen Engländer“ ist für Weitling bloß eine „Komödie“, die den Skandal der modernen Geldsklaverei nur noch schärfer hervortreten lässt: „In entfernten Ländern verbieten sie den Sklavenhandel, und im eignen wimmelt es von unglücklichen Sklaven, die zu Tausenden Hungers sterben!“ Es sei ein „beißender Spott“, wenn die „teilweise Befreiung der Schwarzen eine Aufhebung der Sklaverei“ genannt werde – eine „Maskerade“, die für Weitling an Heuchelei nur mit den „Vereine[n] gegen die Tierquälerei“ verglichen werden kann.25 2. Der Lohn als Preis der Freiheit: Moses Heß In Moses Heß’ Aufsatz „Ueber die Noth in unserer Gesellschaft und deren Abhülfe“ aus dem Deutschen Bürgerbuch für 1845 wird die letzte Wurzel der gegenwärtigen sozialen Übel im „Egoismus“ gefunden, den Heß allerdings 22 Weitlings Zeitschrift Der Hülferuf der deutschen Jugend verstand sich sich selbstbewusst – und historisch wohl zutreffend – als „das erste deutsche Arbeiterjournal“; Weitling, Hülferuf (Anm. 11), S. 6 (Reprint). 23 Die spezifische „Zufriedenheit eines Sklaven“ besteht darin, so Weitling, immer nur sich selbst und das eigene Wohlergehen zu bedenken; es ist die „Zufriedenheit des geprügelten Hundes“, die keiner übergreifenden Regung der Solidarität mehr fähig ist. Das „Geldsystem“ verwandelt auch die „natürliche männliche Seele“ des Arbeiters „in eine Hundeseele“; Weitling, Garantien (Anm.  11), S. 11 und S. 52. 24 Weitling, Garantien (Anm. 11), S. 43. 25 Weitling, Garantien (Anm. 11), S. 50f. Patrick Eiden-Offe 191 nicht als individuelles Laster auffasst, sondern als Ausdruck der ökonomischen Einrichtung der Welt: Dem Egoismus korrespondiert die „freie Concurrenz“, die wiederum mit dem „Princip der Gewerbefreiheit“ einhergeht.26 Für die Einzelnen bedeuten Konkurrenz und Gewerbefreiheit, dass sie in ökonomischer Hinsicht überhaupt erst als Einzelne eingesetzt und gezwungen werden, ihre individuelle Reproduktion durch eine „Erwerbsthätigkeit“ zu sichern; synonym mit „Erwerbsthätigkeit“ setzt Heß nun „Lohnarbeit“. Die Lohnarbeit wird zur verallgemeinerten Form des sozialen Überlebens, denn die gegenwärtige Wirtschaftsweise hält die „Menschen und ihre Produkte […] von einander getrennt – und beide verderben“.27 Nur der Markt und mit ihm das Geld können die Menschen und ihre Produkte wieder zusammenbringen; der Markt – bei Heß: das Erwerbs- oder „Krämerwesen“ – werden zum universellen Vermittler, durch den wiederum sich erst gesellschaftliche Universalität herstellt: „Die Lohnarbeit oder Erwerbsthätigkeit ist daher nicht mehr auf bestimmte Kreise beschränkt; der dritte Stand, der Erwerbs- oder Krämerstand, wird der allgemeine Stand und auch innerhalb seiner selbst fallen alle Schranken.“28 Die Universalisierung des Warenverkehrs wird von Heß durchgängig als zweiseitiger Prozess dargestellt, in dem Befreiung und Zwang einander bedingen: Da nämlich das höchste menschliche Gemeinwesen, der allgemeine Verkehr (nicht dieses oder jenes beschränkte Gemeinwesen) jetzt das herrschende oder bestimmende ist, so folgt daraus das gleiche Recht (die gleiche Zulässigkeit) und die gleiche Pflicht (der gleiche Zwang) aller Menschen zu dieser ganz allgemeinen Erwerbsthätigkeit. Jeder will, Jeder muß Geld erwerben.29 In der verallgemeinerten Lohnarbeit werde sich schließlich der „allseitige Menschengeist“ ansichtig. Erst die Lohnarbeit stelle somit praktisch jenes „menschliche Gemeinwesen“ her, das Religion und Philosophie bisher bloß theoretisch postuliert haben.30 26 Moses Heß, „Ueber die Noth in unserer Gesellschaft und deren Abhülfe“. Deutsches Bürgerbuch für 1845. Herausgegeben von H. Püttmann, Darmstadt 1845, S. 22-48, hier S. 25f., S. 29, S. 31. 27 Heß, Noth, (Anm. 26), S. 25. 28 Heß, Noth, (Anm. 26), S. 32; Hervorhebung im Original. 29 Heß, Noth, (Anm. 26), S. 32. 30 Variationen dieses Gedankens, der für den Übergang von der noch Feuerbach geprägten Kritik der Theologie und spekulativen Philosophie hin zur Kritik der ‚Weisse Sclaven‘, oder: Wie frei ist die Lohnarbeit? 192 Heß lässt keinen Zweifel daran, dass die mit der Lohnarbeit verbundene Universalisierung als Fortschritt zu werten ist, oder richtiger: als Fortschrittspotenz. Denn das „Gattungsvermögen“, das sich im „allgemeinen Verkehr“ schon ausspricht, ist bisher ein nur „einseitiges geblieben“.31 Um diese Einseitigkeit sinnfällig zu machen und um gleichzeitig die mögliche allseitige Ausbildung des Gattungsvermögens zu umreißen, die in der Lohnarbeit schon angedeutet ist, setzt auch Heß die Lohnarbeit wieder mit der Sklaverei gleich, von der er sie zunächst doch logisch und historisch absetzt.32 Es bleibe der bloß „äußerliche Trieb (Noth und Zwang)“33 , der die Menschen zur Tätigkeit treibt, wenn sie als Sklaven oder aber als Lohnarbeiter arbeiten, und es ist nur die wiederum äußere Gestalt dieses „äußere[n] Antrieb[s]“, die sich für Heß unterscheiden lässt: sei es „die Peitsche des Sklavenbesitzers“ oder „der Hunger des Proletariers“. Weder beim Sklaven noch beim Proletarier finden wir eine „Thätigkeit aus innerm Antriebe“, nur eine solche aber wäre wahrhaft freie menschliche Tätigkeit. Die Lebenstätigkeit des Proletariers bleibt für Heß bloße „Noth- und Sklavenarbeit“.34 Nur die „innere Selbstbestimmung“ kann für Heß als wahre „Freiheit, Selbstständigkeit“ gelten: Die „Sklavenarbeit“, als die auch die Lohnarbeit vor diesem normativen Hintergrund zu werten ist, werde erst enden, wenn „das Wesen, welches uns zur Thätigkeit bestimmt, in uns ist“. Solange indes die „Lohndienerei“– Inbegriff der Einheit von Lohn- und Sklavenarbeit – noch währe, solange könne die Arbeit dem Menschen nur dazu dienen, „sein kümmerliches Dasein zu fristen, zu conservieren, wie man einen Leichnam Politischen Ökonomie in seiner Bedeutung nicht überschätzt werden kann, finden sich in Heß’ Traktat Über das Geldwesen, der, zunächst zur Veröffentlichung in Marx’ und Ruges Deutsch-Französischen Jahrbüchern vorgesehen, 1845 in Püttmanns Rheinischen Jahrbüchern für gesellschaftliche Reform veröffentlicht wurde (Darmstadt 1845, S. 1-34). Zu Heß’ Feuerbach-Transformationen vgl. das Kapitel „Moses Hess, Love, and ‚True Socialism‘“ in: Peter C. Caldwell, Love, Death, and Revolution in Central Europe: Ludwig Feuerbach, Moses Hess, Louise Dittmar, Richard Wagner, New York 2009, S. 39-68. 31 Heß, Noth, (Anm. 26), S. 40; Hervorh. i.O. 32 Heß unterscheidet eine „unfreie“ von einer „‚freie[n]‘ Concurrenz“ und parallelisiert diese Unterscheidung mit der zwischen dem „antike[n], auf die Sklaverei und die bornierteste Nationalität gegründete[n] Staat“ und der „christliche[n] Welt“; Heß, Noth, (Anm. 26), S. 26. 33 Heß, Noth, (Anm. 26), S. 42, 34 Heß, Noth, (Anm. 26), S. 41 und S. 46. Patrick Eiden-Offe 193 conserviert“.35 Der Lohndiener ist für Heß ein lebender Toter, der von seinem eigentlich menschlichen Lebenselement, der selbstbestimmten Tätigkeit, getrennt bleibt. In diesem „Zustande der Trennung“ aber könne die Welt für den Menschen nur eine „Scheinwelt“ bleiben, die proklamierten Freiheiten aber: freie Konkurrenz, Gewerbefreiheit, freie Lohnarbeit, nichts als Scheinfreiheiten.36 Die Verwirklichung wahrhaft freier Tätigkeit nennt Heß „Socialismus“. Was damit über die Einrichtung von Nationalwerkstätten hinaus gemeint sein könnte, expliziert Heß in einer harschen Kritik an den zeitgenössischen französischen „Socialisten“ und „Communisten“, in der sich wiederum auch Heß’ eigene Konzeption von freier und unfreier Arbeit schärft: Die „Socialisten“ (er nennt Fourier, Proudhon, Thoré und Louis Blanc sowie „die sogenannten Reformisten“) würden an der „Categorie der Lohnarbeit“ festhalten und nur den Lohn gerecht bemessen wollen. Da aber „die äußerliche Werthbestimmung der menschlichen Thätigkeit“ an sich schon eine „falsche und inhumane“ sei, so blieben alle Versuche zur Einrichtung eines gerechten Lohnsystems eitel. Der „Lohn der Arbeit als äußerliche Belohnung“, die Lohnform als solche also, verhindere die Verwirklichung jenes Sozialismus, den Heß kurz und bündig zu definieren versteht: „Es ist die Aufgabe, einen socialen Zustand zu schaffen, in welchem Jeder den Lohn für seine sociale Thätigkeit in dieser selbst sucht und findet.“37 Die „Communisten“ gehen zwar weiter als die „Socialisten“, da sie „die Arbeit nicht mehr als Lohnarbeit aufgefaßt wissen wollen“; zum „Gedanken der freien Thätigkeit“ als Gegensatz zur Lohnarbeit aber hätten auch sie sich bisher nicht erheben können.38 Da die „Communisten“ die Marktmechanismen aussetzen wollten, ohne die tiefere Problematik der Lohnform verstanden zu haben, könne bei solchen Experimenten nur der „Rückfall in einen orientalischen Despotismus oder in einen sonstigen bereits überwundenen Zustand der Herrschaft und Knechtschaft“ folgen.39 Denn wenn den Menschen „ihre Arbeitszeit und ihre Arbeit selbst, wie den Sklaven vorge- 35 Heß, Noth, (Anm. 26), S. 40f. 36 Heß, Noth, (Anm. 26), S. 26 und S. 40. 37 Heß, Noth, (Anm. 26), S. 46; Hervorh. i.O. 38 Heß, Noth, (Anm. 26), S. 43; Hervorh. i.O. 39 Hier bezieht Heß ausdrücklich Weitlings System der Stundenzettel und der „Kommerzstunden“ mit ein; vgl. dazu Weitling, Garantien (Anm. 11), S. 162- 187. ‚Weisse Sclaven‘, oder: Wie frei ist die Lohnarbeit? 194 schrieben“ würde, so könne dies nur zu einer „gezwungenen Gemeinschaft von Sklaven“ führen. Einer solchen Sklaven-Kommune aber seien selbst die marktvermittelten „jetzigen Zustände“ haushoch überlegen.40 3. Inventarien unfreier Arbeit: der Gesellschaftsspiegel Heß konzipiert die Lohnarbeit als soziale Form, in der sich die Möglichkeit wahrhaft freier menschlicher Tätigkeit überall schon abzeichnet. Heß’ Akzent liegt auf den Potenzen der Zukunft, weil die Vergangenheit geschlossener sozialer Formen für ihn unwiederbringlich verloren ist. Dass und wie aber im Herzen der modernen Wirtschaftsordnung längst überwunden geglaubte Formen unfreier Arbeit nicht nur überdauern, sondern sogar aktiv restituiert werden, das hat Hess in einem seiner anderen publizistischen Projekte verfolgt. Im ersten Heft der Zeitschrift Gesellschaftsspiegel, die Heß in Zusammenarbeit mit Friedrich Engels 1845/46 in zwölf Heften in Elberfeld herausgegeben hat, findet sich ein Artikel über „Die neue Gesindeordnung“.41 Der Artikel, der anonym erschienen ist, aber Heß zugeschrieben wird, dokumentiert eine in ihrer Herkunft nicht weiter charakterisierte „Petition der Rheinländer“ an den Rheinischen Provinzial-Landtag, in der die Abschaffung der erst jüngst wieder eingeführten Gesindeordnung gefordert wird.42 Durch diese alt-neue Gesindeordnung werde, so die Petition, „eine ganze Klasse von Menschen zu einer Art temporärer Leibeigenschaft 40 Heß, Noth, (Anm. 26), S. 45f. 41 Gesellschaftsspiegel. Organ zur Vertretung der besitzlosen Volksklassen und zur Beleuchtung der gesellschaftlichen Zustände der Gegenwart, Redakteur: M. Heß, Elberfeld 1845, Heft 1, S. 18-20. 42 Zur Geschichte der Gesindeordnungen in Preußen vgl. Reinhart Koselleck, „Die Auflösung des Hauses als ständischer Herrschaftseinheit. Anmerkungen zum Rechtswandel von Haus, Familie und Gesinde in Preußen zwischen der Französischen Revolution und 1848“, in: Ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt/M. 2010, S. 465-485; zur Koexistenz von und zum Kampf zwischen dem durch Napoleon eingesetzten Code civil und dem preußischen Recht in der Rheinprovinz vgl. Daniel Bensaid, Die Enteigneten. Karl Marx, die Holzdiebe und das Recht der Armen, Hamburg 2012. Patrick Eiden-Offe 195 verdammt“.43 Wo das Rheinische Gesetzbuch jedes „Verhältniß der Herrschaft zu ihrem Gesinde wie einen Vertrag freier Leute mit gleichen Rechten vor dem Gesetze“ behandelt, also Vertragsfreiheit gewährt habe, da werde durch die Wiedereinführung der Gesindeordnung der direkte Zwang zur Arbeit wieder als Prinzip eingeführt; ein „Dienstbote“ etwa könne jetzt wieder „durch die Polizei körperlich gezwungen werden“, seinen Dienst zu tun. Zur freien Lohnarbeit – darauf macht der Artikel über die Gesindeordnung aufmerksam – gehört das Prinzip der Vertragsfreiheit, welches wiederum die Kündbarkeit der Arbeitsverträge beinhaltet und damit verbunden die Freizügigkeit der Arbeiter. In verschiedenen Artikeln beschreibt der Gesellschaftsspiegel nun, mit welchen Mitteln die „Fabrikherren“ es schaffen, die Freizügigkeit ihrer Arbeiter aufzuheben und sie an Ort und Arbeit zu binden. Dazu gehört etwa das „Truksystem“.44 Hier werden Arbeiter nicht mit Geld, sondern mit einem Teil jener Waren entlohnt, die sie selbst während der Arbeitszeit hergestellt haben, und die sie dann in ihrer Freizeit auf dem Markt „versilbern“ müssen. Das „Truksystem“ hebe die „Selbstständigkeit“ der Arbeiter auf, heißt es im Gesellschaftsspiegel, denn die einzelnen Arbeiter hätten keine Möglichkeit, eine eigenständige Position am Markt zu erlangen. Sie müssten sich Zwischenhändlern anvertrauen, welche die Zwangslage der Arbeiter ausnutzten und zudem oft mit den Fabrikanten der betreffenden Waren kooperierten. Während die Geldform des Lohns es dem Arbeiter wenigstens formal erlaube, nach abgeleisteter Arbeitszeit von dannen zu ziehen, fessele das „Truksystem“ den Arbeiter in langfristigen, räumlich gebundenen Tauschbeziehungen. Die Zwischenhändler etwa erklärten sich vielfach nur zur Abnahme sehr großer Warenmengen bereit, 43 Die Rede von der „temporären Leibeigenschaft“ kann als Verweis auf einen Artikel von Karl Marx gelesen werden, der ebenfalls zu den Mitarbeitern des Gesellschaftsspiegel gehörte. In der Artikelfolge zu den „Debatten über das Holzdiebstahlgesetz“ aus der Rheinischen Zeitung von 1842 schreibt Marx, dass überführte Holzdiebe, die ihre Strafgelder nicht zahlen können und deshalb Zwangsarbeit für den geschädigten Waldeigentümer leisten müssen, zu „temporellen Leibeigenen“ des Waldeigentümers gemacht würden (MEW 1, S. 109- 147, hier S. 140). 44 Die Standardschreibweise ist Trucksystem; der Artikel zum Thema findet sich in Gesellschaftsspiegel (Anm. 41), Heft 1, S. 2-4 der eigens paginierten „Nachrichten und Notizen“. Zum Trucksystem vgl. auch Kocka, Arbeitsverhältnisse (Anm. 2), S. 275f. ‚Weisse Sclaven‘, oder: Wie frei ist die Lohnarbeit? 196 die der Arbeiter erst in Zukunft liefern könne; die Bezahlung aber erhalte er im Voraus „gegen Abarbeitung“. Die Arbeiter werden durch das „Truksystem“ in sich verstetigende Schuldverhältnisse getrieben, die man als Form von Schuldknechtschaft beschreiben kann.45 Eine verwandte Form der Bindung entsteht, wenn die Arbeiter ihre Miete abarbeiten müssen – etwa weil sie zuvor durch niedrige Löhne gezwungen wurden, ihre eigenen „Hütten“ zu verkaufen. Dies schildern etwa Otto Lüning in seiner Artikelserie über „Die Lage der Weber und Spinner im Ravensbergischen“46 , oder die Meldungen über „Das Mietwesen der Arbeiter“ in Elberfeld; den Arbeitern wurde hier die Möglichkeit gewährt, ihre „Miethschuld sozusagen in Ueberstunden [zu] erarbeiten“.47 In der Artikelserie „Schicksale weiblicher Dienstboten“ schließlich wird eine weitere, diesmal deutlich geschlechtsspezifische Variante unfreier Arbeit thematisiert. In einer Reihe – mutmaßlich von Heß – fingierter Briefe zwischen zwei jungen Dienstbotinnen wird deren Arbeits- und Lebensalltag eingefangen.48 Neben der wiederkehrenden Klage über die harte Arbeit, die überlangen Arbeitszeiten und die schlechte Unterbringung nimmt die Schilderung (drohender oder ausgeführter) sexueller Übergriffe durch die Dienstherren und männlichen Hausangestellten breiten Raum ein. Den Übergriffen korrespondiert der Prostitutionsverdacht, dem sich die jungen Frauen dauernd ausgesetzt sehen: „Man hält uns für verkäufliche Waare, man zwingt uns, uns zu verkaufen, um zu leben, man behandelt uns, wie Diebe und Sklaven, ja, wie das Vieh und noch schlimmer.“ Gerade die fehlende Solidarität ihrer meist älteren männlichen Mit-Arbeiter, die sich in als 45 Zur Rechtsgeschichte der Schuldknechtschaft, die juristisch auf die Personalexekution im Römischen Recht zurückgeht, vgl. Michael Spann, Der Haftungszugriff auf den Schuldner zwischen Personal- und Vermögensvollstreckung. Eine exemplarische Untersuchung der geschichtlichen Rechtsquellen ausgehend vom Römischen Recht bis ins 21. Jh. unter besonderer Berücksichtigung bayerischer Quellen, Münster 2004. 46 Gesellschaftsspiegel (Anm.  41), H. 3 (S.  126-130), H. 4 (S.  153-157), H. 5 (S. 187-191) und H. 6 (S. 203-208). 47 Gesellschaftsspiegel (Anm. 41), H. 11, S. 57ff. 48 Gesellschaftsspiegel (Anm. 41), H. 9 ( S. 80-91) und H. 10 (S. 114-133). Zur Literatur- und Sozialgeschichte des Dienstmädchens vgl. Eva Eßlinger, Das Dienstmädchen, die Familie und der Sex. Zur Geschichte einer irregulären Beziehung in der europäischen Literatur, München/Paderborn 2013. Patrick Eiden-Offe 197 besonders schändlich erlebten Übergriffen ausdrückt, führt eine der Frauen dazu, sich als „Sklavin von Sklaven“ zu fühlen.49 Eine letzte Verdichtung verschiedener Formen unfreier Arbeit schließlich findet sich in einer Rezension des anonym erschienenen Berichts Die Prostitution in Berlin und ihre Opfer. Nach amtlichen Quellen und Erfahrun- gen.50 Es sei, so heißt es hier, „bekannt, in welcher harten Leibeigenschaft die Bordellbesitzer, namentlich die Besitzer heimlicher Bordelle, ihre Dirnen zu erhalten wissen, indem sie die armen Sklavinnen in Schulden stürzen und ihnen, wenn sie nicht polizeilich inskribiert sind, mit Denunziation drohen, die sie nur zu oft ausführen.“ Die normale „Laufbahn“ der Prostituierten folge einem „ewige[n] Kreislauf “ aus Bordell und Polizeigewahrsam, in dem auch das „Arbeitshaus“ zur wiederkehrenden Episode werde.51 4. Systematisierung und Reinigung: Karl Marx Zeitschriften wie der Gesellschaftsspiegel, das Westphälische Dampfboot oder die Junge Generation zeichnen sich durch eine hohe Sensibilität für die reale Vielförmigkeit des vormärzlichen Proletariats aus, das heißt jener „Volksklasse, die um jeden Preis arbeiten möchte, wenn sie nur eben Arbeit findet, der bei der sie existiren kann“.52 Dem korrespondiert allerdings oftmals ein eklatanter Mangel – oder vielleicht auch ein Desinteresse – an theoretisch-begrifflicher Präzision, wenn es um die Analyse und Klassifikation der Phänomene geht. Allein die soeben zitierte Passage zur Lage der Prostituierten nennt vier Formen unfreier Arbeit (Sklaverei, Leibeigenschaft, Schuldknechtschaft, Zwangsarbeit) und setzt sie gleich, statt sie zu differenzieren und zu ordnen. Begrifflich-theoretische Synthesen der gesammelten Phänomene finden sich erst später in den 1840er Jahren, und sie gehen durchgängig einher mit einer Beschäftigung mit Fragen der Politischen Ökonomie. Zu denken wäre 49 Gesellschaftsspiegel (Anm. 41), H. 4, S. 123f. Zum Prostitutionsbezug vgl. S. 127. 50 Gesellschaftsspiegel (Anm.  41), H. 11, S.  142-152. Als Autor des Berichts wurde später der berüchtigte Berliner Polizei-Obere Wilhelm Stieber namhaft gemacht. 51 Gesellschaftsspiegel (Anm. 41), H. 11, S. 147f. 52 „Die Landtagsverhandlungen über Revision des Steuersystems“, Gesellschaftsspiegel (Anm. 41), H. 3, S. 110-114, hier S. 112. ‚Weisse Sclaven‘, oder: Wie frei ist die Lohnarbeit? 198 etwa an Heß’ Traktat „Über das Geldwesen“, vor allem aber an die Arbeiten von Karl Marx.53 Der Artikelserie „Lohnarbeit und Kapital“, erschienen im April 1849 in der Neuen Rheinischen Zeitung, stellt Marx die Absicht voran, die „ökonomischen Verhältnisse“ darzustellen, „welche die materielle Grundlage der jetzigen Klassenkämpfe“ bildeten.54 Marx beginnt nun tatsächlich mit einem der „einfachsten ökonomischen Verhältnisse“ und fragt grundsätzlich: „Was ist der Arbeitslohn?“ – „Der Arbeitslohn ist die Summe Geldes, die der Bourgeois für ein bestimmte Arbeitszeit oder für eine bestimmte Arbeitsleistung zahlt. Der Bourgeois kauft also ihre [der Arbeiter] Arbeit mit Geld. Für Geld verkaufen sie ihm ihre Arbeit.“ Der Arbeitslohn, so heißt es kurz darauf bündig, ist der „Preis der Arbeit“.55 Ausgehend von dieser Grundbestimmung – an der Marx später eine, wenn nicht die entscheidende Modifikation seines Begriffsapparats vornehmen wird: bezahlt wird, so weiß er seit Mitte der 1850er Jahre, nicht „die Arbeit“ oder die „Arbeit selbst“, wie es noch 1849 heißt, sondern die „Arbeitskraft“ oder das „Arbeitsvermögen“56 – unterscheidet Marx die Lohnarbeit als „freie Arbeit“ von den zentralen Formen unfreier Arbeit: Die Arbeit war nicht immer eine Ware. Die Arbeit war nicht immer Lohnarbeit, d.h. freie Arbeit. Der Sklave verkaufte seine Arbeit nicht an die Sklavenbesitzer, sowenig wie ein Ochse seine Leistungen an den Bauer verkauft. Der Sklave mitsamt seiner Arbeit ist ein für allemal an seinen Eigentümer verkauft. Er ist eine Ware, die von der Hand des einen Eigentümers in die des anderen übergehen kann. Er selbst ist eine Ware, aber die Arbeit ist nicht seine Ware.57 53 Zu Hess vgl. Anm. 29. Bei Marx findet sich eine systematische Beschäftigung mit Fragen der Arbeitsregime vor allem in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844 (MEW 40, S. 465-588), im Elend der Philosophie (MEW 4, S. 61-182) und, zusammen mit Friedrich Engels, im Manifest der kommunistischen Partei (MEW 4, S. 459-493). 54 Karl Marx, „Lohnarbeit und Kapital“, MEW 6, S. 397-423, hier S. 397. Hervorhebungen im Original. 55 Marx, Lohnarbeit (Anm. 54), S. 398f; Hervorh. i.O. 56 Die Unterscheidung ist seit jenen Manuskripten zum Kapital nachweisbar, die 1857/58 entstanden sind und die 1939-41 als Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie in Moskau erstmals veröffentlicht wurden (Nachdruck Berlin 1953). Der „Rohentwurf “ des Kapital firmiert seit 1983 als MEW 42. 57 Marx, Lohnarbeit (Anm. 54), S. 401. Hervorh. i.O. Patrick Eiden-Offe 199 Der Sklave ist Ware, der Lohnarbeiter besitzt eine Ware, die er verkaufen kann: seine Arbeit (seine Arbeitskraft). Ware haben oder Ware sein, das ist der entscheidende Unterschied. Der Leibeigene – die andere zentrale Figur unfreier Arbeit – ist keine Ware, die von einer Hand in die andere wechseln könnte. Der Leibeigene ist vielmehr wesentlich immobil; er „gehört zum Grund und Boden und wirft dem Herrn des Grund und Bodens Früchte ab.“ Deshalb erhält er auch keinen „Lohn vom Eigentümer des Grund und Bodens“, sondern leistet diesem umgekehrt „einen Tribut“. „Der freie Arbeiter dagegen“, so fährt Marx fort, „verkauft sich selbst“, aber nicht „ein für alle mal“ wie der Sklave, sondern „stückweis“: für gewisse Zeitabschnitte. Der Lohnarbeiter, so resümiert Marx – „gehört weder einem Eigentümer noch dem Grund und Boden an, aber 8, 10, 12, 15 Stunden seines täglichen Lebens gehören dem, der sie kauft.“58 Die begriffliche Differenzierung ermöglicht es Marx, das Verhältnis von Lohnarbeiter und Kapitalist nicht länger bloß als Verhältnis zwischen Individuen, sondern als ein Verhältnis von Klassen zu konzeptualisieren. Dass immer schon ein Klassenverhältnis vorausgesetzt werden muss, sobald ein einzelner Arbeiter sich auf den Arbeitsmarkt begibt, tritt für diesen Einzelnen als Zwang in Erscheinung: Zwar kann er als „freier Arbeiter“ „den Kapitalisten, dem er sich vermietet, so oft er will“ verlassen, ebenso wie umgekehrt der Kapitalist den Arbeiter entlassen kann, „sooft er es für gut findet“. Der elementare Zwang aber, sein Leben zu verdienen, bindet den „freien Arbeiter“ doch: „Aber der Arbeiter, dessen einzige Erwerbsquelle der Verkauf der Arbeit ist, kann nicht die ganze Klasse der Käufer, d.h. die Kapitalistenklasse verlassen, ohne auf seine Existenz zu verzichten. Er gehört nicht diesem oder jenem Bourgeois, aber der Bourgeoisie, der Bourgeoisklasse.“59 Dass der einzelne Arbeiter für die „Bourgeoisklasse“ wiederum auch nur als Teil einer Klasse in Betracht kommt, zeigt sich daran, dass sein Lohn nicht im Zuschnitt auf seine individuellen Existenzbedürfnisse bemessen wird, sondern bloß im Hinblick auf die Sicherung der Existenz seiner Klasse als ganzer: Der zu zahlende Minimallohn muss die „Produktionskosten der Arbeit selbst“ ersetzen, aber „[d]ieses Minimum des Arbeitslohns gilt […] nicht für das einzelne Individuum, sondern für die Gattung. Einzelne Arbeiter, Millionen von Arbeitern, erhalten nicht genug, um existieren und sich fortpflanzen zu 58 Marx, Lohnarbeit (Anm. 54), S. 401. Hervorh. i.O. 59 Marx, Lohnarbeit (Anm. 54), S. 401. Hervorh. i.O. ‚Weisse Sclaven‘, oder: Wie frei ist die Lohnarbeit? 200 können; aber der Arbeitslohn der ganzen Arbeiterklasse gleicht sich innerhalb seiner Schwankungen zu diesem Minimum aus.“60 Die systematische Weitung der Perspektive auf Fragen der Klassenbildung hebt die Beschreibung der politisch-ökonomischen Verhältnisse auf eine abstraktere Ebene, die sich von der Erfahrung des Einzelnen – Hunger, Unterbeschäftigung, Konkurrenz – abkoppelt. Diese Ebene wird dem Blick der Einzelnen, so Marx, nachgerade systematisch entzogen; und doch lassen nur diese abstrakten Bestimmungen das „Produktionsverhältnis der bürgerlichen Gesellschaft“ verständlich werden, das in letzter Instanz auch die Erfahrungen der Einzelnen produziert. Nun ist der Marx’schen Begriffsklärungsarbeit in den letzten Jahren u.a. vonseiten der Global Labor History eine Gegenrechnung aufgemacht worden, die sich aus den Debatten des Vormärz vielfach untermauern lässt: So zeigt der Abgleich mit den begrifflich wesentlich weniger elaborierten Arbeiten von Weitling, Heß und anderen, dass es problematisch ist, die begriffliche Unterscheidung von Leibeigenschaft, Sklaverei und Lohnarbeit für eine empirische auszugeben: In der Empirie tauchen die drei Formen abhängiger Arbeit so gut wie nie in Reinform auf; die begrifflichen Bestimmungen stellen eher idealtypische Konstruktionen als empirisch valide Beschreibungen dar.61 Für die Beschreibungskraft der Theorie erweist es sich zudem als fatal, wenn die begriffliche Gegenüberstellung verzeitlicht und als historischer Entwicklungsgang dargestellt wird. Der berühmte Anfang des Manifests der kommunistischen Partei ordnet Sklaverei und Leibeigenschaft „früheren Epochen der Geschichte“ zu und hebt diese scharf von der Gegenwart ab.62 Damit verbunden wird die These, dass sich der Klassengegensatz in der Gegenwart vereinfache und auf den klaren Gegensatz von „Bourgeois und Proletarier“ zulaufe, wobei Letztere beiläufig als „moderne Arbeiter“63 identifiziert werden, die vorzugsweise in der „großen Industrie“ tätig sind: „Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüberstehen, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse. Die übrigen Klassen 60 Marx, Lohnarbeit (Anm. 54), S. 407. Hervorh. i.O. 61 Marx selbst im dritten Band des Kapital davon, dass er „nur die innere Organisation der kapitalistischen Produktionsweise, sozusagen in ihrem idealen Durchschnitt, darzustellen“ beabsichtige (MEW 25, S. 839). 62 Marx/Engels, Manifest (Anm. 53), MEW 4, S. 462. 63 Marx/Engels, Manifest (Anm. 53), MEW 4, S. 468. Patrick Eiden-Offe 201 verkommen und gehen unter mit der großen Industrie, das Proletariat ist ihr eigenstes Produkt.“64 Das „Exklusionsdenken“, das man hier am Werk sehen kann65 , führt die Theorie schließlich zur aktiven Verleugnung der Empirie. All die Mischwesen der vormärzlichen Gesellschaft, wie sie etwa den Gesellschaftsspiegel bevölkern, werden hier einfach als Atavismen betrachtet. Dass verschiedene Formen unfreier Arbeit nicht nur überleben, sondern sich auf dem Boden der modernen Marktgesellschaft gerade wieder rekonstituieren, kann in diesem Theorierahmen kaum Platz mehr finden.66 Auch innerhalb des vorgegebenen Theorierahmens schließlich bleibt zu fragen, wie und warum das Kapital das „Minimum des Arbeitslohns“ so bemessen sollte, dass sich die „Arbeiterklasse als ganze“ damit nicht nur augenblicklich, sondern auch auf mehrere Generationen reproduzieren sollte. Diese, so Michael A. Lebowitz scharf, „teleologische Absurdität“ setzt voraus, dass sich das Kapital nur über den freien Arbeitsmarkt mit Arbeitskraft versorgen kann und deshalb mit großer Voraussicht dieses Arbeitskraftpotential geradezu nachhaltig pflegt.67 Es ist vielleicht diese teleologi- 64 Marx/Engels, Manifest (Anm. 53), MEW 4, S. 472. Der historische Entwicklungsgedanke mit der scharfen Betonung des Unterschieds von „freier“ und „unfreier“ Arbeit dient – nicht nur bei Marx – im gesamten Denken des „Westens“ dazu, andere Gesellschaftsformen, die angeblich auf „unfreier“ Arbeit beruhen, als „rückständig“ zu qualifizieren; zur „invention of backwardness in Western economic and philosophical thought“ vgl. Alessandro Stanziani, „Free Labor – Forced Labor: An Uncertain Boundary? The Circulation of Economic Ideas between Russia and Europe from the 18th to the Mid-19th Century“. Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 9,1 (Winter 2008), S. 27-52, hier S. 29. 65 Marcel van der Linden/Karl Heinz Roth, „Einleitung“. Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts, hg. von van der Linden/Roth unter Mitarbeit von Max Henninger, Berlin/Hamburg 2009, S. 7-28, hier S. 19f. 66 Oder allenfalls als Scherz, der immerhin noch vermerkt, was verschwindet: „Was ist ein Negersklave? Ein Mensch von der schwarzen Rasse. Die eine Erklärung ist die andere wert. Ein Neger ist ein Neger. In bestimmten Verhältnissen wird er erst zum Sklaven. Eine Baumwollspinnmaschine ist eine Maschine zum Baumwollspinnen. Nur in bestimmten Verhältnissen wird sie zu Kapital“; Marx, Lohnarbeit (Anm. 54), S. 407, Herv. i.O. 67 Vgl. Michael A. Lebowitz, Following Marx. Method, Critique, and Crisis, Chicago 2008, S. 311: „Frankly, to propose that the value of labour-power contains ‚Weisse Sclaven‘, oder: Wie frei ist die Lohnarbeit? 202 sche Illusion, die verhindert, dass Marx etwa die enorme Ausweitung der Sklaverei im späten 18. und noch im ganzen 19. Jahrhundert systematisch in seine Überlegungen einbezieht.68 Das Kapital verschafft sich die nötige Arbeitskraft, wo und wie immer sie schnell, flexibel und billig zu haben ist, und es kombiniert die verschiedenen Ressourcen mit nachgerade undogmatischer Elastizität – so zeigt es die Global Labor History, und so stellt sich die Lage auch schon im Gesellschaftsspiegel dar.69 5. Vom Kontinuum freier und unfreier Arbeit: Weisse Sclaven Die neuere Arbeitsgeschichte schlägt vor, nicht eine Dichotomie von freier und unfreier Arbeit vorauszusetzen, sondern eher von einem „Labyrinth aus verschiedenen Arbeitsverhältnissen“ auszugehen; „zwischen den beiden Polen der Sklaverei und der freien Lohnarbeit“ spanne sich demnach ein provisions for the maintenance of children because capital wants future recruits twenty years hence – rather than because workers have struggled to secure such requirements – is a teleological absurdity! However, it is a logical result of the disappearance of wage-labour-for-itself from Capital. Marx himself must bear responsibility for some of the functionalist absurdities of his disciples.“ 68 Die Frage nach dem Verhältnis der Marx’schen Theorie zur Sklaverei hat eine lange Diskussion hervorgebracht. Es ist sicher falsch zu behaupten, dass Marx die Sklaverei gar nicht berücksichtigt habe – das wird deutlich bei Robin Blackburn, An Unfinished Revolution: Karl Marx and Abraham Lincoln, London/ New York 2011, wo die ganze Debatte sachkundig rekonstruiert wird und auch alle einschlägigen Stellen zusammengestellt sind. Marx hat sich vor allem aus Anlass des Amerikanischen Bürgerkriegs mit der modernen Sklaverei auseinandergesetzt; im Vormärz finden sich hingegen kaum systematische Ansätze, die nicht auf eine bloße Historisierung hinauslaufen; eine kurze, sehr instruktive Passage aus dem Elend der Philosophie werde ich zurückkommen. 69 Vgl. den treffend betitelten Aufsatz „Warum gab (und gibt) es Sklaverei im Kapitalismus? Eine einfache und dennoch schwer zu beantwortende Frage“ von Marcel van der Linden, in: M. Erdem Kabadayi/Tobias Reichardt (Hg.), Unfreie Arbeit. Ökonomische und kulturgeschichtliche Perspektiven. Bd.  3 der Reihe Sklaverei – Knechtschaft – Zwangsarbeit. Untersuchungen zur Sozial-, Rechts- und Kulturgeschichte, hg. v. Elisabeth Hermann-Otto, Hildesheim/ Zürich/New York: Georg Olms 2007, S. 260-279. Patrick Eiden-Offe 203 ganzes Kontinuum abhängiger Arbeit auf.70 Ein solches Kontinuum konnte im Vormärz die Literatur vielleicht besser darstellen als eine Theoriebildung, die sich noch in Frontstellungen bewegen muss, um überhaupt trennscharfe Begriffe bereitstellen zu können. Moses Heß hat explizit darauf hingewiesen, dass man den modernen Arbeiter zu „Unrecht einen ‚weißen Sklaven‘ genannt“ habe: „er ist kein Sklave, er ist nur eine Waare“.71 Dagegen wird man konstatieren müssen, dass Ernst Willkomm in seinem Roman Weisse Sclaven oder die Leiden des Volkes die von Heß beklagte begriffliche Unschärfe ungemein produktiv zu machen versteht.72 Der Roman stellt eine weite Zeitspanne vor Augen: Die Haupthandlung spielt im Jahr 1832, eine lange Binnenerzählung blendet in die Zeit der (ersten) Französischen Revolution zurück.73 In einem abgelegenen Winkel der Niederlausitzer Heide findet sich am Ende des 18. Jahrhunderts das Schloss des Grafen Bobenstein; 1832 steht an der Stelle des Schlosses eine industriell betriebene „Baumwollenspinnerei“.74 Die „weißen Sklaven“ des Titels verortet der Roman auf beiden Zeitebenen: auf der ersten werden so die leibeigenen Bauern des Grafen bezeichnet75 , auf der zweiten die Lohnarbeiter 70 Marcel van der Linden/Karl Heinz Roth, „Ergebnisse und Perspektiven“. Über Marx hinaus (Anm. 65), S. 557-600, hier S. 570. 71 Moses Heß, „Die Folgen einer Revolution des Proletariats“. Ders., Philosophische und sozialistische Schriften 1837-1850, hg. v. Auguste Cornu u. Wolfgang Mönke, Berlin 1961, S. 425-444, hier S. 434. Die Artikelfolge wurde erstmals 1847 in der Deutschen-Brüsseler Zeitung veröffentlicht. Heß’ Bemerkung muss sichnichtunbedingtundjedenfallsnichtausschließlichaufWillkommsRoman beziehen; in der englischen Debatte war der Ausdruck „white slaves“ weit verbreitet; vgl. etwa Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, MEW 2, S. 225-506, hier S. 405, oder Marx, Kapital (Anm. 3), S. 270 und 704. Willkomms Roman ist nur in einer Auflage von 500 Exemplaren erschienen – man sollte seine zeitgenössische Bedeutung also nicht überschätzen (vgl. Hans Adler, „Der soziale Roman“, Zwischen Revolution und Restauration 1815-1848, hg. v. Gerd Sautermeister und Ulrich Schmid, Hansers Sozialgeschichte der Literatur Bd. 5, S. 195-209, hier S. 203. 72 Ernst Adolf Willkomm, Weisse Sclaven oder die Leiden des Volkes, Leipzig 1845; zitiert nach Reprint Berlin 2013. 73 Die Binnenerzählung findet sich bei Willkomm, Weisse Sclaven (Anm.  72), S. 58-291; der Beginn ist (ungenau) datiert: „179*“ (S. 58). 74 Willkomm, Weisse Sclaven (Anm. 72), S. 298. 75 Die Überblendung von Leibeigenschaft und Sklaverei war zeitgenössisch durchaus üblich und europaweit verbreitet; vgl. Stanziani, Free Labor (Anm. 64), S. 34. ‚Weisse Sclaven‘, oder: Wie frei ist die Lohnarbeit? 204 der Fabrik. Gleichzeitig sind auch die „Herren“ familiär identisch: Die Fabrik wird von den Söhnen des Grafen Magnus von Boberstein betrieben, dessen Verbrechen am Ende des langen Rückblicks zu einer Katastrophe geführt hatten: Nachdem der Graf eine junge leibeigene Frau, das „Haideröschen“, in der Hochzeitsnacht entführt und vergewaltigt hatte, erheben sich die Leibeigenen und brennen das Schloss nieder. Die Söhne des verbrecherischen Magnus, die sich nun nur noch „Herren vom Stein“ nennen: Adrian, Aurel und Adalbert, gründen Jahre später ein Unternehmen und bauen das Schloss als Fabrik wieder auf; die Söhne und Töchter der aufständischen Leibeigenen werden, nun formal frei, als ArbeiterInnen in der Fabrik angestellt.76 Die „weißen Sklaven“ der ersten Zeitebene sind ihrem Herrn direkt und körperlich ausgeliefert: Zum Zeichen ihrer Leibeigenschaft tragen sie einen „ledernen Riemen“ um die Stirn, einen „Sclavenring“, den einer der Protagonisten, der noch leibeigen geborene alte Sloboda, mit dem Brandzeichen der Schafe vergleicht77 ; der Grundherr übt die Gerichtsbarkeit aus und exekutiert Körperstrafen; schließlich maßt sich der Graf noch das ius primae noctis an, wobei dieses schon umstritten ist, was sich an der Empörung nach der Vergewaltigung Röschens zeigt.78 Die Bauern leisten regelmäßig „Frohn- und Hofdienste“, darüber hinaus wird jährlich unter ihnen Gesinde ausgehoben, das im Schloss Dienst tun muss. Junge Frauen sind hier ständig Übergriffen vonseiten der Herren und der älteren Dienstboten ausgesetzt.79 Die historische Kontinuität der Versklavung spricht der alte Leberecht aus, der ebenfalls noch leibeigen geboren wurde: [I]ch hasse den selbstsüchtigen Grafen vom Grund des Herzens, weil er vielleicht mit mehr Bewußtsein und süßerem Behagen noch als sein Vater uns arme Freigelassenen wieder zu elenden Sclaven macht, die blindlings, willenlos 76 Die Leibeigenschaft in Sachsen, zu dessen Herrschaftsbereich die Niederlausitz gehörte, wurde erst 1832 abgeschafft. 77 Willkomm, Weisse Sclaven (Anm. 72), S. 16. 78 Zu diesem „Recht“, das über weite historische Strecken immer wieder zur Skandalisierung von Leibeigenschaft, Sklaverei und Hörigkeit bemüht wurde, vgl. Alain Boureau, Das Recht der Ersten Nacht. Zur Geschichte einer Fiktion. Patmos, Düsseldorf 1996 79 Willkomm, Weisse Sclaven (Anm. 72), S. 83, sowie das Kapitel „Die Gesindestube“, S. 114-128. Patrick Eiden-Offe 205 seinem Wink gehorchen müssen, wenn sie nicht in namenloses Elend versinken sollen!80 In der Mitte des Romans kehrt der Titel „Weiße Sklaven“ als Überschrift eines Kapitels wieder, das die Versklavung durch „namenloses Elend“ drastisch vor Augen führt.81 Nach einer „großen Lohnverkürzung“ herrscht im „Fabrikdorf “ Hunger. Es kommt zu Unruhen und einer Arbeitsniederlegung, die Arbeiter fordern mehr Lohn.82 Die Replik des Fabrikherren Adrian auf die Forderungen der Arbeiter bringt deren neue Sklaverei auf den Punkt: „Wer sich bei mir zurückgesetzt glaubt, kann gehen! Ich halte ja Niemand, zwinge Niemand, mir zu dienen! Lieber Gott, was will man denn noch? Freier bewegt sich auf Gottes weiter Erde kein König und kein Kaiser, wie meine Arbeiter!“ Die behauptete Freiheit wird von den Arbeitern selbst bloß als „Scherz“ wahrgenommen, der ihnen selbst allerdings „sehr bitter“ vorkommt.83 Die bittere Ironie der Freiheit wird wenig später von Leberecht pointiert als „Sclaverei der Freiheit“ bezeichnet, als „verabscheuungswürdigste[] Sclaverei“ von allen.84 Die Not der Arbeiter hat sie sich beim Fabrikherren verschulden lassen, die „freie Lohnarbeit“ entpuppt sich als verdeckte Schuldknechtschaft: „Wir hatten gegen Sie keine Waffen“, so der Arbeiterführer Martell zu Adrian, „denn wir waren arm, hingen von Ihnen ab, standen in Ihren Schuldbüchern, waren mit einem Wort Ihre leibund seeleneigenen Knechte, Ihre weißen Sclaven!“85 Adrian weiß, dass seine 80 Willkomm, Weisse Sclaven (Anm. 72), S. 383. 81 Willkomm, Weisse Sclaven (Anm. 72), S. 413-426. 82 Adrian empfängt eine Delegation der Streikenden in einem Festsaal, den „[s]eidene Tapeten aus Lyon“ zieren – vielleicht eine Anspielung auf den Seidenweberaufstand in Lyon 1831, den ersten großen proletarischen Aufstand auf dem Kontinent; vgl. Louis Blanc/Louis Auguste Blanqui/Ludwig Börne/ Jewgeni Tarlé, Die Lyoner Arbeiteraufstände 1831 und 1834, hg. v. Kurt Holzapfel, Berlin 1984. 83 Willkomm, Weisse Sclaven (Anm. 72), S. 419. 84 Willkomm, Weisse Sclaven (Anm. 72), S. 400. 85 Willkomm, Weisse Sclaven (Anm. 72), S. 683. Dass die Schuldknechtschaft der „freien Arbeiter“ System hat und von Anfang an zum Geschäftsmodell gehörte, bekennt Adrian schon zuvor gegenüber seinen Arbeitern freimütig ein: „Ich nahm Jedermann freundlich auf und warb so viele, als ich beschäftigen konnte. Nur bedang ich mir aus, daß, wer bei mir Arbeit finden und behalten wollte, sich auf meinem eigenen Grund und Boden ansässig machen müsse. Anfangs ‚Weisse Sclaven‘, oder: Wie frei ist die Lohnarbeit? 206 Arbeiter ihm ausgeliefert sind, und verlangt totale Unterwerfung: „Gehorsam will und befehle ich! Dem blind Gehorchenden werd’ ich ein gütiger Herr sein!“86 Der Roman setzt die Situation der Lohnarbeiter in eine historische Kontinuität zu jener der Leibeigenen, er markiert aber auch einen Bruch, wenn er die zentrale Bedeutung der Lohnkämpfe betont, die aus der neuen formellen Freiheit der Arbeiter resultiert. Daneben spannt der Roman aber auch ein soziales Kontinuum auf, in dem, wenn auch nur am Rande, weitere Formen abhängiger und unfreier Arbeit aufgereiht werden. Über Aurel, der als Hamburger Hochseekapitän eingeführt wird, kommen Seeleute und Matrosen in den Blick. Nun hat nicht nur die Arbeitsgeschichte mit der „Presse“, der gewaltsamen Rekrutierung von Matrosen für die Kriegs- und Handelsflotten der Frühen Neuzeit, eine der Wurzeln moderner abhängiger Arbeit freigelegt – und im grausam reglementierten Alltag der Seeleute einen der Entstehungsherde der modernen Arbeitsdisziplin87 ; auch in den Roman wird – idyllisch-verstellt – die grausame Geschichte der Seefahrerei über die Figur des Gilbert eingespielt: Dieser junge „Sohn eines Engländers und einer Kreolin“ aus New Orleans ist Aurels Diener. Nach dem frühen Tod beider Eltern vollkommen „mittellos“, wird der Junge „aus reiner Gutmütigkeit“ vom Kapitän aufgenommen, er ist ihm im Gegenzug aber auch vollkommen ausgeliefert. Ebenso gutmütig nimmt Aurel die Erziehung des Jungen auf sich, dessen Herkunft sich dabei fortwährend bemerkbar macht: Obwohl Aurel den Knaben wie ein Kind liebte, hatte er doch im Dienst durchaus keine Nachsicht mit ihm. Verstöße gegen die Disciplin, die sich Gilbert im stutzte Mancher bei diesem Verlangen, als ich ihnen aber vorschlug, unentgeltlich ein Stück Land zu geben und für Bau eines kleinen Hauses Geld zu niedrigem Zins vorzuschießen, schlug Jeder ein. Ich fing die Freiheitshelden wie genäschige Mäuschen. Schaarenweise sprangen sie in meine Falle, und so entstand das Spinnerdorf drüben am See. Als meine Schuldner waren diese Thoren von Anfang an in meiner Gewalt“; Willkomm, Weisse Sclaven (Anm. 72), S. 433f. 86 Willkomm, Weisse Sclaven (Anm. 72), S. 425. 87 Vgl. Peter Linebaugh/Marcus Rediker, Die vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks, Berlin/Hamburg 2008, besonders das Kapitel „Hydrarchie: Seeleute, Piraten und der Seestaat“, wo das Kriegs- und Handelsschiff der Frühen Neuzeit als „Vorläufer der Fabrik“ gekennzeichnet wird (S. 157-189, hier S. 164). Patrick Eiden-Offe 207 Anfange häufig zu Schulden kommen ließ, bald aus Nachlässigkeit bald aus Eigensinn und Widerspänstigkeit, bestrafte Aurel mit derselben Härte, wie bei dem gemeinsten Matrosen. Mehrmals sah der verzogene Knabe der müßiggehnden Kreolin sein Blut fließen, bis sein Eigensinn vor der Unerbittlichkeit des strengen Kapitäns sich beugte.88 Die globale Dimension der transatlantischen Sklaverei, die über die Mutter Gilberts schon angespielt ist, wird noch weiter mit der Handlung verknüpft: Der Kapitän Aurel schließt die Baumwollspinnerei Adrians an die „transatlantische[] Welt“ und damit den Weltmarkt an. Die Brüder gründen in Hamburg ein Handelshaus, über das der Baumwollhandel abgewickelt und der Vertrieb der gesponnenen Baumwolle an die entsprechenden „Manufactoreien“ organisiert wird. Die Rohbaumwolle wird zunächst aus Louisiana bezogen, bevor die Brüder vom Stein zum Betrieb einer „eigenen Pflanzung […] am Red River in Arkansas“ fortschreiten. Damit aber kooperieren die Brüder nicht nur mit Sklavenhaltern, sie sind als Plantagenbesitzer selbst welche geworden.89 Mit dem Verweis auf die aus Afrika verschleppten Sklaven der Baumwollplantagen erhält nun auch das erste Wort des Romantitels seinen Gegenhalt. Es geht mit der Rede von den „weißen Sklaven“ nicht nur darum, die „Freiheit“ der modernen Lohnarbeit als schlecht verhohlene Sklaverei zu entlarven; es geht auch darum, diese Sklaverei auf ein Wissen um jene schwarzen Sklaven zu beziehen, die im Roman nie direkt benannt werden. Der Titel Weisse Sclaven setzt ein solches Wissen voraus und skandalisiert das Schicksal der Titelhelden vor dem Hintergrund dieses Wissens; zugleich aber zeigt der Roman – wenn auch nur am Rande –, dass die Schicksale der weißen und der schwarzen Sklaven funktional zusammenhängen: Die „Sklaverei der Schwarzen in Surinam, in Brasilien, in den Südstaaten Nordamerikas […] ist der Angelpunkt der bürgerlichen Industrie ebenso wie die Maschinen etc.“, so resümiert Marx an einer der wenigen Stellen, an denen er im Vormärz auf „direkte Sklaverei“ zu sprechen kommt: „Ohne Sklaverei keine Baumwolle; ohne Baumwolle keine moderne Industrie. Nur die Sklaverei hat den Kolonien ihren Wert gegeben; die Kolonien haben den Welthandel geschaffen; und der Welthandel ist die Bedingung der Großindustrie.“90 88 Willkomm, Weisse Sclaven (Anm. 72), S. 305f. 89 Willkomm, Weisse Sclaven (Anm. 72), S. 299. 90 Marx, Elend (Anm. 53), S. 132. ‚Weisse Sclaven‘, oder: Wie frei ist die Lohnarbeit? 208 Wenn an einer späteren Stelle im Roman der alte Leberecht meint, dass der „freie“ Arbeiter Mitteleuropas nur jenen „Neger“ beneiden könne, „der in heißen Ländern die Pflanzung seines Herrn bebaut und dafür sorglos seinen Reis essen kann“91 , so wiederholt er den vormärzlichen Topos von der verschärften Sklaverei der freien Lohnarbeiter; er markiert aber auch ein grundsätzlich vorhandenes, wenn auch ideologisch – und vielleicht rassistisch – überformtes Wissen um globale Arbeitsteilung und globale Produktionsketten, das der Roman auch den vormärzlichen Arbeitern und Bauern der Niederlausitz zuschreibt. 6. Lohnarbeit und Proletarisierung Das Verhältnis von Lohnarbeit und Sklaverei, von freier und unfreier Arbeit stelltsichindenpolitischen,theoretischenundliterarischenGegenwartsanalysen des Vormärz unübersichtlich dar: Auf der einen Seite wird eine Fortschrittsgeschichte erzählt, die von der Vorherrschaft unfreier Arbeitsformen zur Dominanz der „freien Lohnarbeit“ führt. Solche Narrative finden wir bei Marx, zum Teil bei Heß, aber auch bei bürgerlich-liberalen Autoren wie Wilhelm Schulz, der 1859 resümieren kann, dass nun endlich der „Grundsatz der freien Arbeit […] seine Herrschaft über die Neuzeit begonnen hat“.92 Mit der historischen Erklärung geht bei Marx die bis dato schärfste begriffliche Trennung von freier und unfreier Arbeit einher. Auf der anderen Seite aber dementieren Autoren wie Wilhelm Weitling oder Ernst Willkomm eine solche scharfe Trennung, sie betonen vielmehr eine starke Kontinuität, die von der alten Sklaverei über die Leibeigenschaft zur modernen Lohnarbeit führt. Dass indes ein gewichtiger historischer Einschnitt stattgefunden haben muss, macht sich auch bei diesen Autoren geltend, wenn sie darauf beharren, dass die moderne Sklaverei der Lohnarbeiter noch schlimmer sei als die der alten oder der modernen Plantagensklaven – was, auf der anderen Seite, nur allzu oft mit einer Verharmlosung oder sogar Verniedlichung dieser „gemütlichen“ Formen von Sklaverei einhergeht. Wir haben es hier mit einer rheto- 91 Willkomm, Weisse Sclaven (Anm. 72), S. 400. 92 Nach dem zitierten ersten Satz seiner Abhandlung über Die Rettung der Gesellschaft aus den Gefahren der Militärherrschaft (Leipzig 1859) will Schulz das zeitgenössische Militärwesen als atavistische Verletzung dieses Grundsatzes brand- marken. Patrick Eiden-Offe 209 rischen „Politik der Sklaverei“ zu tun, die in Anschlag gebracht wird, um die Unhaltbarkeit der Situation der Lohnarbeiter plastisch vor Augen zu stellen. Nun bleibt allerdings auch Marx’ Darstellung auf die eigentümliche Suggestivkraft des Worts „Sklaverei“ angewiesen: Um den Zwang zur Lohnarbeit zu beschreiben, spricht auch er von einer „Sklaverei der Arbeiter“.93 Später wird Marx vereinzelt den Begriff „Lohnsklaverei“ verwenden, der die „Schwierigkeiten beim Festlegen einer Trennlinie zwischen freier und erzwungener Arbeit“ offen einbekennt.94 Gleichwohl bleibt bei Marx im Vormärz das begrifflich-systematische Differenzierungsbedürfnis offenbar noch stärker als die Einsicht in den vorderhand auch empirisch noch unklaren Charakter der meisten Arbeitsverhältnisse. Eine komplexe und vielleicht gerade darum nicht weiter ausgeführte Verknüpfung von freier und unfreier Arbeit findet sich in Heß’ Artikel „Ueber die Noth in unsrer Gesellschaft“. Es ist für Heß – so legt diese eine, im Text sonst weitgehend konsequenzlos bleibende Stelle nahe – kein Anachronismus, wenn gerade unter der Herrschaft eines allseitigen, vollendeten Egoismus „alle die frühern, einseitigen Formen“ des sozialen Widerspruchs wieder neu auftreten: Hier ist der Mensch Raubmörder, Sklave, Leibeigner, Betrüger, Wucherer, Lohnarbeiter und Bettler zugleich. In unsrer Krämerwelt, von Nordamerika an bis nach Rußland hin, gedeihen alle die politischen und socialen Formen der Herrschaft und Knechtschaft, welche uns die Geschichte der Reihe nach aufführt, von der thierähnlichen der afrikanischen Sklaverei bis zu den gottähnlichen der Theokratie.95 Mit der „Krämerwelt“ hat Heß offenbar ein tatsächlich global gedachtes System, ein „modernes Weltsystem“ vor Augen, in dem verschiedene Regime der Nutzung und Ausbeutung von Arbeitskraft koexistieren und „gedeihen“. Die verschiedenen „politischen und socialen Formen der Herrschaft 93 Marx, Lohnarbeit (Anm. 54), S. 398; später ist davon die Rede, dass die Lohnarbeit die „Sklavin“ der „Macht“ des Kapitals sei (S. 410). Zur Rhetorik der Sklaverei bei Marx vgl. auch Stanziani, Unfree Labor (Anm. 64), S. 41. 94 Zur „Lohnsklaverei“ vgl. Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation, MEW 17, S. 313-365, hier S. 342. Zur „difficulty fixing a dividing line between free labor and forced labor“ vgl. Stanziani, Unfree Labor (Anm. 64), S. 29. 95 Heß, Noth (Anm. 26), S. 26. ‚Weisse Sclaven‘, oder: Wie frei ist die Lohnarbeit? 210 und Knechtschaft“ bilden bei Heß zwar eine historische „Reihe“, nur spannt sich diese Reihe nicht von einem am meisten zurückgebliebenen bis zu einem fortschrittlichen Pol: Die afrikanische Sklaverei wie die Theokratie bilden allenfalls Ausgangs-, keinesfalls aber Endpunkte einer Fortschrittsgeschichte. Die „thierähnliche[] afrikanische[] Sklaverei“ feiert in der Gegenwart zudem nun ausgerechnet in „Nordamerika“ ihre Wiederauferstehung: Dass sich an diesem Ort des avancierten Fortschritts auch dessen Rückseite besonders prägnant abzeichnet, wird den Tocqueville-Leser Heß nicht überrascht haben; als Irritation eines einfachen Fortschrittsnarrativs wird die Beobachtung aber trotzdem gelten können.96 Im System der „Krämerwelt“ muss jeder, so hatte Heß konstatiert, „Geld erwerben“, um zu überleben; damit aber würden alle Menschen, unabhängig davon, welcher Tätigkeit sie konkret nachgehen, zu Angehörigen des „Gewerb-oderKrämerstand[s]“.IndermodernenWeltistjeder–soschreibt Heßmiteineminklusiv-identifizierenden„oder“–zueiner„Lohnarbeitoder Erwerbstätigkeit“ gezwungen.97 Diese Gleichsetzung aber dementiert Heß, wenn er in der soeben zitierten Passage in einer fast beliebig erscheinenden Reihe aller möglichen Formen von Erwerbstätigkeit unter anderen, nahezu beiläufig, auch die Lohnarbeit aufführt. Alle Menschen müssen „Geld erwerben“; zum Lohnarbeiter aber werden nur einige. Man kann alternativ auch zum Sklaven, zum Leibeigenen, zum Raubmörder, Wucherer oder Bettler werden, und es zeichnet diese Formen aus, dass sie sich auch alternierend in einem einzigen Leben ablösen können – unter anderem davon erzählt Willkomms Roman Weisse Sclaven. Um die Differenz, die sich bei Heß hier kurz und nahezu unmerklich öffnet, begrifflich dingfest zu machen, bietet sich die Unterscheidung von „passiver“ und „aktiver“ Proletarisierung an98 : „Passiv“ proletarisiert sind alle, die von jeder Möglichkeit einer gesicherten, erwerbs- und d.h. marktfernen Sub- 96 Heß zitiert den 1835 erschienen ersten Band von Tocquevilles De la démocratie en Amérique bereits 1837 in seiner Heiligen Geschichte der Menschheit. Von einem Jünger Spinozas, Stuttgart 1837, wiederabgedruckt in Heß, Schriften (Anm. 71), S. 1-74, hier 47. Tocquevilles Beobachtungen zu den politischen und sozialen Auswirkungen der Sklaverei in den amerikanischen Freistaaten, die sich im letzten Kapitel des ersten Bandes der Démocratie finden, können bei Heß als Hintergrundwissen also angenommen werden. 97 Heß, Noth (Anm. 26), S. 32. 98 Vgl. Lenhard/Offe, Sozialpolitik (Anm. 2), S. 102ff. Kocka nimmt das Begriffsangebot auf, verschiebt aber die „‚passive‘ Proletarisierung“ hin zu einer „negaPatrick Eiden-Offe 211 sistenz entblößt sind. „Passive“ Proletarisierung bedeutet die „Zerstörung der jeweils ‚bisherigen‘ Arbeits- und Subsistenzformen“, die Auflösung aller nicht-kapitalistischen Formen materieller Reproduktion; „Proletarier“ müssen demnach all diejenigen genannt werden, die auf Gedeih und Verderb dem Markt (der „Krämerwelt“) mit seinem „Egoismus“ der „Concurrenz“ ausgeliefert sind und sich auf diesem verdingen müssen. „Aktive Proletarisierung“ hingegen meint die Umwandlung der „passiv“ Proletarisierten in Lohnarbeiter, ihre Einsetzung in Verhältnisse „freier Lohnarbeit“. Bei Heß wird an besagter Stelle deutlich, dass auf dem gegebenen Stand der wirtschaftlichen und industriellen Entwicklung im deutschen Vormärz von einem automatischen Fortschreiten von „passiver“ zu „aktiver“ Proletarisierung und damit von einer sozioökonomisch exklusiven Rolle der Lohnarbeit noch keine Rede sein kann: Die Existenzformen der Sklaven, der Leibeigenen, der Raubmörder, Wucherer oder Bettler erscheinen hier noch als gleichermaßen plausible „Alternativen zur ‚aktiven‘ Proletarisierung in der Lohnarbeiterexistenz“.99 Die Unterscheidung zwischen „passiver“ und „aktiver“ Proletarisierung –  oder, in Klassenbegriffen: zwischen Proletarier und Lohnarbeiter100 – tiven Proletarisierung“; Jürgen Kocka, Weder Stand noch Klasse. Unterschichten um 1800, Bonn 1990, S. 204. 99 Lenhard/Offe, Sozialpolitik (Anm. 2), S. 102. Die historische Übergangsphase, in der von einer massenhaften „passiven“ ohne folgende „aktive“ Proletarisierung auszugehen ist, bezeichnet den historischen Ort des Pauperismus und der „Massenarmut“ sowie der Debatten um den „Pöbel“; vgl. Frank Ruda, Hegels Pöbel. Eine Untersuchung der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, Konstanz 2011, sowie dazu Patrick Eiden-Offe, „Tote Hunde leben länger. Hegel ist zurück“. Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken Nr. 757, Juni 2012, S. 510-522. ÜberHegelundseinenPöbel-BegriffmüsstedieUntersuchungdervormärzlichen Debattenumdie Lohnarbeit zurückverfolgtwerden bisaufAdamSmithunddessen Rezeption im Deutschen Idealismus und auf der Hegel’schen Linken – etwa bei Max Stirner, der Smiths Wohlstand der Nationen 1847 neu übersetzt hat. Zum Verhältnis von Hegel und Smith, gerade auch im Hinblick auf beider Konzeptionen des (Arbeits-) Markts vgl. die Studie von Lisa Herzog, Inventing The Market. Smith, Hegel, and Political Theory, Oxford 2013, besonders das Kapitel „Identity in the Market: Selling one’s labour“ und „Choosing one’s place“, S. 68-79. 100 Zur Differenz von Proletariat und Arbeiterklasse und deren Verwischung bei einem„GroßteildermarxistischenTradition“vgl.auchRuda,Pöbel(Anm. 100), S. 250. ‚Weisse Sclaven‘, oder: Wie frei ist die Lohnarbeit? 212 kann als eine solche von zwei Stufen gedacht werden, die nicht notwendig aufeinanderfolgen, die aber auch nicht ohne einander gedacht werden können. In den Debatten des Vormärz aber werden beide Stufen immer wieder zusammengeworfen. Der Grund dafür scheint mir auch klassenpolitisch motiviert zu sein: Die totale „Entblößung“, die das Proletariat charakterisiert, die vollkommene Freisetzung aus allen Sicherungsmechanismen des Lebens, ist vielleicht weniger leicht politisierbar als der Produzentenstolz einer Lohnarbeiterklasse, die schon im Vormärz mit der Industriearbeit identifiziert wurde und insofern auch als Verkörperung des technischen Fortschritts auftreten konnte: Die Exekutoren der industriellen Revolution werden schließlich auch die soziale Revolution vollenden – so lautet das Versprechen. All jene Proletarisierten aber, die den Schritt in geordnete Lohnarbeitsverhältnisse nicht vollziehen konnten (oder wollten), wurden von der Lohnarbeiterklasse ausgesondert; das „Lumpenproletariat“ ist zum Inbegriff dieser begrifflichen und sozialpolitischen Säuberung geworden.101 Wollte man hingegen „passive“ Proletarisierung zum bestimmenden Merkmal einer Klassenfiguration machen, so würde dies wohl zu jenem „proletarischen Multiversum“ führen, das Karl Heinz Roth und Marcel van der Linden am Ende ihrer groß angelegten Revision des Marx’schen Klassenund Arbeitsbegriffs entwerfen.102 Der Begriff des Multiversums markiert einstweilen noch eher ein Desiderat; zur sozialhistorischen Füllung dieser Leerstelle lässt sich Ahlrich Meyers summarisch-multiversaler Abriss der „arbeitenden Armut“ des Vormärz heranziehen: Diese Klasse der labouring poor bestand aus Bettlern und Vagabunden auf der Suche nach Arbeit, Tagelöhnern auf dem Land, verarmten Bauern und Halbpächtern, Webern der protoindustriellen Hausindustrie, Gesinde und städtischen Handlangern, saisonalen Wanderarbeitern, Arbeitern auf den Eisenbahnbaustellen, proletarisierten Handwerker-Arbeitern, dem Manufaktur- und Fabrikproletariat und nicht zuletzt aus denen, die Marx das ‚Lumpenproletariat‘ genannt hat, aus den classes dangereuses – Männer, Frauen und Kinder, insgesamt eine weitgehend mobilisierte Klasse auf 101 Vgl. die berüchtigte Bestimmung des „Lumpenproletariats“ durch Marx und Engels im Manifest (Anm. 52), S. 472, wonach dieses als die „passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft“ zu fassen ist. 102 van der Linden/Roth, Ergebnisse (Anm. 70), S. 560ff. Patrick Eiden-Offe 213 einem Arbeitsmarkt, der durch Migrationsprozesse erstmals auch eine europäische Dimension annahm.103 Nun sollte sich aber auch die Kritik an der ideologischen Identifikation von Proletarisierung und Lohnarbeit, und weitergehend: an der von Lohnarbeit und Industriearbeit – eine doppelte Identifikation, die sich bei Marx findet und die darum auch vor allem an Marx kritisiert wird – davor hüten, diese Identifikationen in der Kritik einfach fortzusetzen. Der Marx’sche „freie Lohnarbeiter“ ist nicht begrifflich-notwendig schon der weiße, männliche, erwachsene Industriearbeiter, zu dem er in der ikonografisch-rhetorischen Tradition der Arbeiterbewegung schnell geworden ist. Vielleicht ist Marx in der Ausarbeitung des Kapital die Ironie jenes „Doppelsinn[s]“, in dem der moderne Lohnarbeiter frei sein soll, allzu fein geraten, sodass sie als solche schließlich gar nicht mehr erkannt und so schon bald einfach vergessen werden konnte. In den Entwürfen zum Kapital werden die sozialhistorischen Bedingungen „passiver“ Proletarisierung noch in Begriffen gefasst, welche die Erfahrung solcher Proletarisierung drastischer und lebensnäher in Szene setzen. „Das von Arbeitsmitteln und Lebensmitteln entblößte Arbeitsvermögen“, so heißt es hier, ist also die absolute Armut als solche, und der Arbeiter, als die bloße Personifikation desselben, besitzt wirklich seine Bedürfnisse, während er die Tätigkeit, sie zu befriedigen, nur als gegenstandslose, nur in seiner eignen Subjektivität eingeschloßne Anlage (Möglichkeit) besitzt. Er ist als solcher, seinem Begriff nach, Pauper, als die Personifikation und der Träger dieses für sich, von seiner Gegenständlichkeit isolierten Vermögens.104 Erst danach – „Andrerseits“ – wird das Arbeitsvermögen als die „allgemeine Möglichkeit des stofflichen und die einzige Quelle des Reichtums“ bestimmt. Von dieser zweiten, positiven Fassung aus erst konnte eine Apotheose der Arbeit und des „freien Arbeiters“ ihren Ausgang nehmen, in der schließlich alle Negativität zum Verschwinden gebracht wurde. Wird die Lohnarbeit als Folge jener Drohung aufgefasst, die mit der Proletarisierung im Raum steht: der Drohung, zum bloßen „Pauper“ zu 103 Ahlrich Meyer, „Eine Theorie der Niederlage. Marx und die Evidenz des 19.  Jahrhunderts“, in van der Linden/Roth, Über Marx hinaus (Anm.  65), S. 311-333, hier S. 312f. 104 Karl Marx, Ökonomisches Manuskript 1861-63. Teil 1, MEW 43, S. 36f. ‚Weisse Sclaven‘, oder: Wie frei ist die Lohnarbeit? 214 werden, dann verliert das Epitheton der Freiheit jeden erstrebenswerten Beiklang.105 Die Freiheit der Lohnarbeit wird dann kenntlich als bloße Freiheit zur „absoluten Armut“. Der unerbittliche Zwang, der zu dieser Freiheit nötigt, wurde im Vormärz durchgängig als Sklaverei beschrieben: bei Willkomm pointiert als „Sklaverei der Freiheit“. Die übertragene Redeweise hat es immer wieder auch ermöglicht, den Zusammenhang des modernen Regimes der freien Lohnarbeit mit allen möglichen Praktiken „unfreier Arbeit“ – bis hin zur „echten“ (post)kolonialen Sklaverei – zu benennen; oft wurden diese Zusammenhänge aber gerade durch die Beschreibung der Lohnarbeit als Sklaverei auch wieder überdeckt. Erst die Emanzipation der politisch-theoretischen Rede über die Lohnarbeit von den Metaphern der Sklaverei hat es ermöglicht – oder könnte es ermöglichen? –, die funktionale Verzahnung freier und unfreier Arbeit im Vormärz – und in der Gegenwart – genau zu begreifen. 105 In Marx’ Grundrissen (Anm. 56), MEW 42, S. 505 heißt es: „In dem Begriff des freien Arbeiters liegt schon, daß er Pauper ist: virtueller Pauper.“ Patrick Eiden-Offe Inhalt I. Schwerpunktthema: Geld und Ökonomie im Vormärz Jutta Nickel (Hamburg) Geld und Ökonomie im Vormärz. Zur Transformation des Akkumulationsregimes zwischen Manufaktur und Fabrik ............................................................................. Karin Baumgartner (Salt Lake City) „Der verarmte Edelmann wird Mäkler, Speculant, oder gemeiner Bauer…“ Geld, Ökonomie und Adel in den konservativen Texten des Vormärz ................................................................................................... Franziska Schößler (Trier) Frühsozialistische Kapitalismuskritik und die (literarische) Ausbeutung von Weiblichkeit. Zu Ernst Willkomm und Louise Otto ................................................... Mirjana Vuković (Berlin) „Ich lasse mich nicht verhandeln gegen schnödes Gold.“ Geldallmacht und Warenlogik in Louise Astons Aus dem Leben einer Frau (1847) ........................................................................................ Patrick Fortmann (Chicago) „Geld, Geld. Wer kein Geld hat“. Ökonomien des Mangels und Dramatik der Knappheit im Vormärz (Raimund, Nestroy, Wiese, Büchner) .............................. Hans-Joachim Hahn (Oxford) Gibt Geld Geltung? .................................................................................... Jörg Füllgrabe (Frankfurt/M.) Von der Idealisierung (bzw. Indienstnahme) der ‚apostolischen Armut‘ zur kirchlich-paternalistischen Fürsorge. Kirchliche Reaktionen auf das Arbeiterelend in der Zeit des Vormärz .............................................................................. 11 37 57 77 95 113 135 Tobias Reichardt (Lüneburg) Von der Religionskritik zur Ökonomiekritik. Der Weg von Marx und Engels bis 1846 ............................................... Patrick Eiden-Offe (Duisburg-Essen) Weisse Sclaven, oder: Wie frei ist die Lohnarbeit? Freie und unfreie Arbeit in den ökonomisch-literarischen Debatten des Vormärz ............................................................................... Lena Christolova (Konstanz) Vom Bund der Geächteten (1834-1836) zum Bund der Gerechten (1836-1840). Anomie und Ausnahmezustand im Vormärz ....................................... Christine Künzel (Hamburg/Dresden) „Sorgend für uns, schadeten wir niemand – uns am wenigsten“. Zur Figur des Kaufmanns zwischen Händler, Unternehmer und Betrüger in Georg Weerths Humoristischen Skizzen aus dem deutschen Handelsleben .............................................................. Alexander Ritter (Hamburg) Schreibfeder und Börsenkurse. Der ökonomische Mensch Charles Sealsfield und die Affinität zum Geld ............................................................................... Christina Ujma (Paderborn/Berlin) Idyllisches oder modernes Italien? Politik und Ökonomie in Fanny Lewalds Italienreisebeschreibungen II. Weitere Beiträge Ann-Christin Bolay / Julia Ilgner (Freiburg i. Br.) Epigonales Erzählen und dialogische Intertextualität. Fanny Lewalds literarisches Spiel mit der Tradition im Italienischen Bilderbuch (1847) .......................................................... Detlev Kopp (Bielefeld) 20 Jahre Forum Vormärz Forschung – eine kleine Zwischenbilanz .... 157 183 215 237 255 275 297 325 III. Rezensionen Sven Haase: Berliner Universität und Nationalgedanke 1800-1848. Genese einer politischen Idee (von Sandra Markewitz) .......................... Brigitte Prutti: Grillparzers Welttheater: Moderne und Tradition (von Brigitte Tumfart) ................................................................... Hartmut Kircher: Heinrich Heine (von Janina Schmiedel) .................... Karl Gutzkow: Aus der Knabenzeit (1852). Textkritische und kommentierte Ausgabe (von Wolfgang Beutin) .......................................... Jesko Reiling (Hg.): Berthold Auerbach (1812-1882). Werk und Wirkung (von Anna-Maria Post) ............................................... Bodo Morawe: Faszinosum Saint-Just. Zur programmatischen Bedeutung der Konventsrede in Danton’s Tod (II,7) von Georg Büchner / Ariane Martin/Bodo Morawe: Dichter der Immanenz. Vier Studien zu Georg Büchner / Daniela Bravin: Zeit und ihre Nutzung im Werk Georg Büchners. Eine Untersuchung zeitgenössischer Quellen / Georg Büchner und das 19. Jahrhundert. Hg. von Ariane Martin und Isabelle Stauffer (von Heiko Ullrich) .......... Martin Herzig: Geliebt – gehasst – gelyncht. Leben und Tod des Fürsten Felix von Lichnowsky (von Christina Ujma) ........................ Georg Herwegh: Werke und Briefe. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe. Band 4: Prosa 1849-1875 (von Peter Stein) .................. Gabriela Jelitto-Piechulik: Theodor Opitz (1820-1896). Polenfreund, Historiker, Literat und Übersetzer (von Olaf Briese) ........ Daniela Richter: Domesticating the Public. Women’s Discourse on Gender Roles in Nineteenth-Century Germany (von Christina Ujma) Frank Hoffmann: „Ein den thatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild nicht zu gewinnen“. Quellenkritische Untersuchungen zur preußischen Gewerbestatistik zwischen Wiener Kongress und Reichsgründung (von Wilfried Sauter) ........................................................ 331 335 338 340 344 347 355 358 360 364 367 Werner Ort: Heinrich Zschokke (1771-1848) (von Frank Stückemann) ................................................................................. Fanny Lewald (1811-1889). Studien zu einer großen europäischen Schriftstellerin und Intellektuellen (von Birgit Bublies-Godau) ........... IV. Mitteilungen Personalia ........................................................................................................... Aufruf zur Mitarbeit ........................................................................................ 368 371 385 386