Carlo Ginzburg Spurensicherungen Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis Aus dem Italienischen von Karl Friedrich Hauber Veritas filia temporis. urg, Proske-Bibliothek Verlag Klaus Wagenbach Berlin 19 Ebd., S. 244-248. ■"" Vgl. Le Charivari Jans le Roma» de Fatwel, op. cit, und im selben Heft der -Revuede Folklore Francnts el de Folklore roloniaU, Le Charivari auz Veufs daits les Landes, S. 17736. Die Schlußfolgerungen von Fortier-Beaulieu sind von A. van Gennep, Mittlrer tili fotklore francais contcinporain, 1, 1, Paris 1943, S. 620,627 aufgenommen (aber nicht übernommen) worden; ebenso von J.-CI. Margolin, Charivari et mariagc ridicule au lemps de ta Renaissance, in: Les fites de la Renaissance, Iii, Paris 1975, S. 582-583 (der ihnen dagegen zustimmt). 21 Vgl. K. Meuli, Charivari, in: Festschrift Franz Dornseiff zum 6j. Geiuirrsrflg, Leipzig 1953, S. 243 (mir Bibliographie) (wiederabgedruckt in. K. Meuli, GesriHiwie/lr Schriften, 8d, 1, Basel und Stuttgart 1975). Auf den S. 239 (f. insistiert Meuli auf den Verbindungen von Charivari und (wirklicher, nicht mythischer) Jagd. " Vgl. L, Sainean, in mesnie Hellequin, in: »Revue des Traditions Populaires«, 20 (1905), S. 177-186, vor ollem S. 184-185. Siehe außer der zitierten Untersuchung von Driesen G. Raynaud, I. La mesnie Hellequin .. ., in: Emdes romancs dediees ii Gaston Paris, Paris 1891, S, 51-68, was von F. Lot, La mesnie Hellequin el le compte Ernequin de Bourgogne, in: »Romania«, 32 (1903), S. 422-441 verworfen wird; er schlägt (S. 440-441) eine andere Etymologie vor. die von dem Wort Hölle ausgeht. 1J Vgl. N. Zemon Davis, Society and Culture in Early Modern France, Stanford, Ca!. 1975, S. 98-123, 296-309 (»The Reasons o( Misrule«), 24 Vgl. E P. Thompson, »Rough Music« . . ., op. cit., S. 146. Davis ist diesbezüglich vorsichtiger; vgl. Society and Culture . . ., op. cit., S. 109 und die Anmerkung 47 auf S. 302-303. *' Vgl. zu alle dem mein Buch, Die ßeiimiAiitlt .., op. cit. " Für Rumänien vgl. den Verweis auf Parallelfiguren zu den Benandanti bei M, Eliade, Einige Beobachtungen über das europäische Hexcntum, in: ders,, Das Okkulte und die moderne Welt, Salzburg 1978, S. 78-83. Für Ungarn vgl. G. Roheim, Hungarian Shamanism, in: *Psychoanalysis and the Social Sciences», 3 (1951), S. 131-169 (für den Hinweis van Carla Caprioli dankeich herzlich). Für die Osseten im Kaukasus vgl. G. Dumczil, Le probleme des Centaurcs, Paris 1929, S. 92-93. t7 Vgl. Die Benandanti . , ., op. cit., S. 129. lB Trotzdem kann man nicht ausschließen, daß die Treffen der Benandanti zumindest in einigen Fallen real stattfanden; vgl. ebd., S, 166-169. 29 Vgl. N. Zemon Davis, Society and Culture . . ., op. dt., S. 98 ff. 30 Vgl. G. C. Pola Falletti-Villafalletto, Associazioni giovanili t feste antiche. Loro origini, 1, Mailand '939- S. 37. 31 Ebd. S. 234 ff, 361 ff. ,2 Vgl. H. Hours, Erneutes et etnotions populaires dans les campagues du Lyonnais au XVIW siede, in: »Cahters d'histoire«, 9 (1964), S. 137-153, vor allem S. 144-145. " Vgl. N. Zemon Davis, Society «ruf Culture . ., op. cit.. S. 104; siehe auch G. C. Polo Falletti-Villa- falletto, Associazioni giovanili. .., op. cit., S. 297. 14 Vgl. N. Zemon Davis, Society and Culture . . ., op. cit., S. 105. " Ebd., S. 104-105, mit Bibliographie. !* Die Wichtigkeit der Verbindung von Charivari und mesnie Hellequin im Einschub zum Roiunn de Fauvel ist von T. Dömötör, Erscheinungsformen des Charivari im Ungarischen Sprachgebiet, in: »Acta Ethnographie,! Academiae Scientiarum Hungaricae«, 6 (1958), S. S3-84 erahnt worden, ohne daß sie jedoch die nötigen Konsequenzen zog. 37 Vgl. Martene-Durond, Thesaurus novus anecdoiorum, tv, Lutetiae Parisiorum 1717, Sp. 560-561. 38 Vgl. ebd., Sp. 654 (SynodalStatuten von Beziers, 1368). Ein Verbot in Turin von 1337 ist von F. Neri, Le abbazie degli slolti in Piemonte nel secoli XVe XVI, in: »Giornalc storico della leitcratura italiana«. 40 (1902), S. 3 Anm. 2 zitiert worden. Andere Zeugnisse aus dem 14. Jahrhundert sind bei Ducange (Stichworte »charicarium«, »chalvaricum« u.s.w.) erwähnt worden. 39 Vgl. V. AKord, Rough Music or Charivari, in: »Folklore«, 70 (1959), S. 507. 40 Vgl. Society and Culture .. ., op. cit., S. 106-107. 41 Vgl. zu diesem Ansatz E. De Martino, Ii mundo magico, Turin 1948. 42 Vgl. vom selben Autor, Morte t. piauto rituale dal tamento fnuebre antico al pianto di Maria, Turin 1975 (1. Aufl. 1958). 43 Dieser Vorgang ist für Friaul in den Benandanti, op. cit.. rekonstruiert worden. In einem Buch, das sich in Vorbereitung befindet, nehme ich mir vor, die Schlußfolgerungen in breiterem Umfang, sowohl unter zeitlichem wie räumlichem Aspekt, nachzuprüfen. 60 Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli - die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst í 1, Der liebe Gott steckt im Detail. Gustave Flaubert und Aby Warburg Ein Ding, das vom Verlust sprrchi, von der Zerstörung, vom Verschwinden der Dinge. Von sich selber spricht es nicht. Es spricht von anderen. Schließt es sie auch ein? lasper lohns Ich möchte auf den folgenden Seiten zeigen, wie im Bereich der Humanwissen-schaften gegen Ende des 19. Jahrhunderts stillschweigend eine neue Vorgehensweise aufgetaucht ist: ein epistemologisches Modell (oder, wenn man will, ein Paradigma1), dem bislang noch nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Die Analyse dieses Paradigmas - das faktisch sehr wirksam ist, nie aber ausdrücklich theoretisiert wurde - könnte vielleicht dazu beitragen, aus dem Dilemma der seichten Gegenüberstellung von »Rationalismus« und »Irrationalismus« herauszukommen. 1. Zwischen 1874 und 1876 erschien in der »Zeitschrift für bildende Kunst« eine Reihe von Aufsätzen über italienische Malerei. Sie waren von einem unbekannten russischen Autor namens Ivan Lermolieff gezeichnet und von einem ebenso unbekannten Johannes Schwarze ins Deutsche übertragen. Die Aufsätze stellten eine neue Methode zur Identifizierung von Autoren antiker Bilder vor, die eine lebhafte und kontroverse Diskussion unter Kunsthistorikern auslöste. Nur wenige Jahre später warf der Autor die doppelte Maske ab, hinter der er sich verborgen hatte. Es Dieser Text erschien (nach mehreren Teilveioffenilichiingen) unter dem Titel Spie. Radici di un paradigma indiziaro in dem von Aldo Gargani herausgegebenen Band Crisi della ragione. Nuovi modelli nel rapporto tra sapere e atlivitä umane, Turin 1979, S. 57-106. Die deutsche Übersetzung (die für den vorliegenden Band leicht überarbeitet wurde) erschien zuerst in »Freibeuter« 3, S. 7-17, und 4, S. 11-36. Sie wurde von Gisela Bonz besorgt. Der Anmerkungsapparat ist gekürzt. 61 war in Wirklichkeit der Italiener Giovanni Morelli (Schwarze ist die deutsche Übersetzung [»Morello«, Plural: »morelli«, ist das italienische Wort für »Rappe, schwarzes Pferd«. Anmerkung der Übersetzerin] und Lermolieff fast das Anagramm des Namens Morelli). Noch heute ist es unter Kunsthistorikern üblich, von der »Morelli-Methode« zu sprechen.1 Fassen wir kurz zusammen, worin diese Methode bestand. Die Museen, so sagte Morelli, sind voll von Bildern, deren Autoren nur ungenau ermittelt sind. Aber es ist auch sehr schwierig; jedes einzelne Bild ganz exakt einem bestimmten Künstler zuzuweisen: sehr oft hat man es mit Werken zu tun, die nicht signiert, die vielleicht übermalt oder schlecht erhalten sind. In solchen Fallen ist es unbedingt notwendig, die Originale von den Kopien unterscheiden zu können. Man dürfe sieh daher, so Morelli, nicht - wie es sonst üblich ist-auf die besonders auffälligen und daher leicht kopierbaren Merkmale der Bilder stürzen: die gen Himmel gerichteten Augen der Figuren Peruginos, das Lächeln der Gestalten Leonardos usw. Man solle stattdessen mehr die Details untersuchen, denen der Künstler weniger Aufmerksamkeit schenkt und die weniger von der Schule, der er angehört, beeinflußt sind: Ohrläppchen, Fingernägel, die Form von Fingern, Händen und Füßen. Auf diese Weise entdeckte Morelli die für Botticelli, die für Cosimo Tura typische Form der Ohren und katalogisierte sorgfältig alle diese Merkmale, die in den Originalen, nicht aber in den Kopien vorkommen. Mit dieser Methode revidierte er die Zuordnung zahlreicher Gemälde aus einigen der wichtigsten Museen Europas. Oft waren es sensationelle Entdeckungen: das Bild einer liegenden Venus etwa, das in der Dresdner Gemäldegalerie hängt und für eine von Sassoferrato angefertigte Kopie eines verlorenen Tizian-Gemäldes gehalten wurde, identifizierte Morelli als eines der wenigen Werke, das mit Sicherheit von Giorgione stammt. Giovanni Morelli (Ivan Lermolieff) 62 Ohr des Lorenzo Costa Ohr des Cosimo Tura i Giorgione, Schlummernde Venus, Dresden. Trotz solcher Ergebnisse wurde Morellis Methode heftig kritisiert - wohl auch wegen der fast anmaßenden Sicherheit, mit der er sie vortrug. Später wurde sie dann als mechanisch und grob positivistisch abgetan und geriet in Mißkredit (freilich schloß das nicht aus, daß viele der Kunsthistoriker, die nun abfällig von ihr sprachen, sie stillschweigend weiterhin benutzten). Das neuerliche Interesse an den Arbeiten Morellis ist ein Verdienst von Edgar Wind: er sah in ihnen ein typisches Beispiel für eine neue Rezeptionsweise von Kunstwerken - eine Rezeptionsweise, die eher am Detail als an dem Werk als Ganzem Gefallen findet. Morelli betreibe, so Wind, einen übersteigerten Kult, der der Unmittelbarkeit des Genies huldige; schon in seiner Jugend, in Verbindung zu den romantischen Zirkeln Berlins, habe er diese Haltung entwickelt. Diese Interpretation ist wenig überzeugend, denn die Probleme, die Morelli sich stellte, waren nicht ästhetische, sondern philologische, waren also Probleme, die der Ästhetik vorgelagert waren (und gerade das wurde ihm später ja vorgeworfen). Tatsächlich waren die Implikationen der Methode, die Morelli vorschlug, ganz andere und sehr viel reichhaltigere. Wir werden sehen, daß Wind sie selbst um ein Haar erfaßt hätte. 2. Wind schreibt: »Morellis Bücher heben sich von denen anderer Kunstschrift-steiler deutlich ab: sie sind übersät mit Abbildungen von Fingern und Ohren, sorgfältigen Darstellungen jener charakteristischen Kleinigkeiten, in denen ein Künstlersich verrät wie ein Verbrecher durch seine Fingerabdrücke. Und (. . .) jede Gemäldesammlung, die Morelli studierte, (ähnelte) unter der Hand einem Kriminalmuseum . . Diesen Vergleich hat Castelnuovo in brillanter Art weiterem- 63 wickelt: er hat Morellis Methode der Indizienforschung mit der Methode in Verbindung gebracht, mit der - fast zur gleichen Zeit - Sherlock Holmes von seinem Schöpfer ausgerüstet wurde.4 Der Kunstsachverständige ist dem Detektiv vergleichbar: er entdeckt den Täter (der am Bild schuldig ist) mittels Indizien, die dem Außenstehenden unsichtbar bleiben. Es gibt bekanntlich zahllose Beispiele für Holmes' Scharfsinn und seine Fähigkeit, etwa Fußspuren im Schlamm oder Zigarettenasche zu interpretieren. Um sich aber von der Genauigkeit des Vergleichs zu überzeugen, den Castelnuovo anstellte, muß man nur etwa eine Story wie Ei» unheimliches Paket (1892) heranziehen, in der Sherlock Holmes buchstäblich »morelli-siert«. Der Fall beginnt mit zwei abgeschnittenen Ohren, die einer unschuldigen Frau per Post zugeschickt werden. Und schon ist der Kenner am Werk: Holmes »hielt mitten im Satz inne, und ich (Watson) war höchst überrascht, zu sehen, daß er mit intensivem Interesse das Profil der Dame studierte. Erstaunen und dann Befriedigung zeigten sich einen Augenblick lang auf seinem Gesicht, doch als auch sie sich ihm zuwandte, um den Grund für sein plötzliches Verstummen festzustellen, waren seine Züge wieder unbewegt wie immer. «5 Etwas später erklärt Holmes seinem Freund Watson (und den Lesern) den Ablauf seiner blitzschnellen Grübelarbeit: »Als Mediziner weißt du ja, Watson, daß es kaum einen Körperteil gibt, der so individuell ausfällt wie das menschliche Ohr. In der Regel ist jedes Ohr anders und unterscheidet sich somit von allen übrigen. In der vorjährigen Ausgabe des Anthropolocical Journal kannst du zwei kurze Beiträge aus meiner Feder über dieses Thema lesen. Ich hatte die Ohren in der Schachtel als Sachverständiger betrachten können und dabei sorgfältig ihre verschiedenen anatomischen Merkmale registriert. Stell dir nun mein Erstaunen vor: Miss Cushings Ohr bildete fast das genaue Gegenstück zu dem weiblichen Ohr, das ich gerade untersucht hatte. Das konnte kein reiner Zufall sein. Da war dieselbe Verkürzung des Muskels, dieselbe breite Kurve des Ohrläppchens, dieselbe Windung des inneren Knorpels. In allen wesentlichen Zügen war es dasselbe Ohr. Natürlich erkannte ich sofort die ungeheure Bedeutung dieser Entdeckung. Das weibliche Opfer mußte eine Blutsverwandte, wahrscheinlich sogar eine sehr nahe sein.«6 3. Wir werden bald sehen, was diese Parallelität alles impliziert. Zunächst jedoch möchte ich eine andere wertvolle Intuition von Edgar Wind wieder aufnehmen: »Einigen Gegnern Morellis schien es unbegreiflich, >daß die Persönlichkeit dort zu finden sei, wo sie am schwächsten eingesetzt ist<. Aber in diesem Punkt würde die moderne Psychologie Morelli beipflichten: unsere unwillkürlichen, kleinen Gesten verraten mehr von unserem Charakter als irgendwelche wohleinstudierten Posen. «7 »Unsere unwillkürlichen, kleinen Gesten . . .«: an die Stelle des allgemeinen Ausdrucks »moderne Psychologie« können wir ohne weiteres den Namen Freud setzen. Und Winds Ausführungen haben in der Tat die Aufmerksamkeit der Wis- 64 senschaftler auf eine lange vernachlässigte Stelle in Freuds berühmten Essay Der Moses des Michelangelo (1914) gelenkt. Am Anfang des zweiten Abschnittes schreibt Freud: »Lange bevor ich etwas von der Psychoanalyse hören konnte, erfuhr ich, daß ein russischer Kunstkenner, Ivan Lermolieff, dessen erste Aufsätze 1874 bis 1876 in deutscher Sprache veröffentlicht wurden, eine Umwälzung in den Galerien Europas hervorgerufen hatte, indem er die Zuteilung vieler Bilder an die einzelnen Maler revidierte, Kopien von Originalen mit Sicherheit unterscheiden lehrte und aus den von ihren früheren Bezeichnungen frei gewordenen Werken neue Künstlerindividualitäten konstruierte. Er brachte dies zustande, indem er vom Gesamteindruck und von den großen Zügen eines Gemäldes absehen hieß und die charakteristische Bedeutung von untergeordneten Details hervorhob, von solchen Kleinigkeiten wie die Bildung der Fingernägel, der Ohrläppchen, des Heiligenscheines und anderer unbeachteter Dinge, die der Kopist nachzuahmen vernachlässigt, und die doch jeder Künstler in einer ihn kennzeichnenden Weise ausführt. Es hat mich dann sehr interessiert zu erfahren, daß sich hinter dem russischen Pseudonym ein italienischer Arzt, namens Morelli, verborgen hatte. Er ist 1891 als Senator des Königreiches Italien gestorben. Ich glaube, sein Verfahren ist mit der Technik der ärztlichen Psychoanalyse nahe verwandt. Auch diese ist gewöhnt, aus gering geschätzten oder nicht beachteten Zügen, aus dem Abhub - dem >refuse< - der Beobachtung, Geheimes und Verborgenes zu erraten.** Der Essay Der Moses des Michelangelo erschien zunächst anonym: erst als er den Text in seine gesammelten Werke aufnahm, gab sich Freud als Verfasser zu erkennen. Man hat vermutet, Morellis Neigung, sich durch den Gebrauch von Pseudonymen als Autor unkenntlich zu machen, habe in gewisser Hinsicht schließlich auch Freud angesteckt; über die Bedeutung dieses Zusammenfallens sind mehr oder minder plausible Vermutungen geäußert worden. Sicher ist aber, daß sich Freud - durch den Schleier der Anonymität geschützt — in zugleich eindeutiger und vorsichtiger Weise zu dem erheblichen intellektuellen Einfluß bekannte, den Morelli zu einer Zeit auf ihn ausgeübt hatte, als die Psychoanalyse noch längst nicht entdeckt war (»Lange bevor ich etwas von der Psychoanalyse hören konnte . . .«). Beschränkt man - wie es vorgekommen ist - diesen Einfluß auf den Essay Der Moses des Michelangelo oder andere Schriften Freuds über Probleme mit kunsthistorischem Bezug, so beschneidet man zu Unrecht die Tragweite seiner Worte: »Ich glaube, sein (Morellis) Verfahren ist mit der Technik der ärztlichen Psychoanalyse nahe verwandt.« Tatsächlich weisen die zitierten Ausführungen Freuds Giovanni Morelli einen besonderen Platz in der Entwicklungsgeschichte der Psychoanalyse zu. Es handelt sich hier um einen dokumentarisch erwiesenen und nicht nur mutmaßlichen Zusammenhang - welch letzteres vielmehr für den größten Teil der »Vorgeschichte« und die meisten »Vorläufer« Freuds gilt. Mehr noch: Freud stieß, wie schon gesagt, in seiner »präanalytischen« Phase auf die Schriften Morellis. Wir haben es hier also mit einem Element zu tun, das direkt zur Herausbildung der Psychoanalyse beigetragen hat, und nicht nur mit einer Übereinstim- 65 mung, die nachträglich festgestellt wurde (wie im Fall des Traumes von Josef Popper-Lynkeus, auf den in den Neuauflagen der Traumdeutung hingewiesen wird.).9 4. Bevor wir zu verstehen versuchen, was Freud den Schriften Morellis entnehmen konnte, ist es angebracht, genau den Zeitpunkt seiner Morelli-Lektüre zu ermitteln. Den Zeitpunkt, oder besser: die Zeitpunkte, da Freud von zwei verschiedenen Begegnungen spricht: »Lange bevor ich etwas von der Psychoanalyse hören konnte, erfuhr ich, daß ein russischer Kunstkenner, Ivan Lermolieff« . . . »Es hat mich dann sehr interessiert zu erfahren, daß sich hinter dem nissischen Pseudonym ein italienischer Arzt, namens Morelli, verborgen hatte . . .« Die erste Bemerkung kann man nur vermutungsweise datieren. Als terminus ante quem können wir 1895 (das Jahr, in dem die Studien über Hysterie von Freud und Breuer veröffentlicht wurden) oder 1896 (in dem Freud zum ersten Mal den Ausdruck »Psychoanalyse« benutzte) annehmen. Als terminus post quem das Jahr 1883. Im Dezember dieses Jahres schrieb Freud in einem langen Brief an seine Verlobte von der »Entdeckung der Malerei«, die er während eines Besuches der Dresdner Gemäldegalerie gemacht habe; davor habe ihn die Malerei nicht interessiert. »Jetzt habe ich meine Barbarei abgeschüttelt und angefangen, sie zu bewundern«, schrieb er. Es ist kaum anzunehmen, daß die Schriften eines unbekannten Kunsthistorikers Freud schon vor diesem Zeitpunkt fesselten. Es ist jedoch sehr plausibel, daß er kurze Zeit nach dem Brief an seine Verlobte sie zu lesen begann; denn die ersten, in einem Sammelband veröffentlichten Aufsätze Morellis (Leipzig 1880) befaßten sich mit den Werken italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin.10 Die zweite Begegnung Freuds mit den Schriften Morellis kann genauer datiert werden. Der wirkliche Name von Ivan Lermolieff wurde zum ersten Mal auf der Titelseite der englischen Übersetzung jener eben erwähnten Aufsätze veröffentlicht; sie erschien 1883. In den Neuauflagen und Übersetzungen, die nach 1891 (dem Todesjahr Morellis) erschienen, stehen immer sowohl der wahre Name als auch das Pseudonym.11 Es ist nicht ausgeschlossen, daß einer dieser Bände früher oder später auch Freud in die Hände fiel. Wahrscheinlich aber erfuhr er die wahre Identität Ivan Lermolieffs ganz zufällig im September 1898, als er in einer Mailänder Buchhandlung herumstöberte. In der in London erhaltenen Bibliothek Freuds gibt es nämlich einen Band von Giovanni Morelli (Ivan Lermolieff): Deila pittura italiana. Studii storico critici. - Le gallerie Borghese e Doria Pamphili in Roma, Mailand 1897 (deutsche, im folgenden zitierte Ausgabe: Kunstkritische Studien über italienische Malerei. Die Galerien Borghese und Doria Panfili in Rom, Leipzig 1890). Auf der Titelseite ist das Datum des Buchkaufs vermerkt: Mailand, 14. September. Freud hielt sich nur ein einziges Mal in Mailand auf, im Herbst 1898. Übrigens interessierte er sich zu dieser Zeit noch aus einem anderen Grund für das Buch Morellis. Seit einigen Monaten beschäftigte er sich mit dem 66 Lapsus; vor geraumer Zeit hatte er in Dalmatien ein Erlebnis, das er später in der Psychopathologie des Alltagslebens analysierte. Freud hatte vergeblich versucht, sich an den Namen des Künstlers, der die Fresken in Orvieto gemalt hat, zu erinnern. Nun waren aber sowohl der wirkliche Maler (Signorelli) als auch die fälschlich angenommenen, an die Freud sich erinnert hatte (Botticelli, Boltraffio), in dem Buch Morellis erwähnt.12 Was aber konnte ihm - dem jungen, von der Psychoanalyse noch weit entfernten Freud - das Studium der Aufsätze Morellis bedeuten? Freud selbst weist darauf hin: die Entwicklung einer Methode der Interpretation, die sich auf Wertloses stützt, auf Nebensächlichkeiten, die jedoch für aufschlußreich gehalten werden. So lieferten Details, die gewöhnlich als unwichtig, gar trivial oder »niedrig« galten, den Zugang zu den erhabensten Produkten des menschlichen Geistes. Mit einer Ironie, die Freud sicher gefiel, schrieb Morelli: ». . . warum haben (meine Gegner) die von mir anempfohlene Methode zur sicheren Bestimmung der Meister dadurch lächerlich zu machen gesucht, daß sie mich darzustellen belieben als einen, welcher blind sei für den geistigen Gehalt eines Kunstwerkes und darum auf äußere Hilfsmittel, wie die Formen der Hand, des Ohres, ja sogar, horribile dictu, der garstigen Nägel, ein besonderes Gewicht lege?«13 Auch Morelli hätte sich das Motto Vergils »Flectere si nequeo Superos, Acheronta movebo« (Wenn ich nicht die Überirdischen beugen kann, so werde ich [wenigstens] die Unterirdischen bewegen), das Freud so schätzte und der »Traumdeutung« voranstellte, zu eigen machen können. Zudem hatten diese Nebensächlichkeiten für Morelli einen Offenbarungswert, denn sie bezeichnen die Momente, in denen die an die kulturelle Tradition gebundene Kontrolle des Künstlers nachläßt, um rein individuellen Zügen Platz zu machen, »die ihm entschlüpfen, ohne daß er derselben gewahr wird«.14 Mehr noch als der bloße Hinweis auf eine Tätigkeit des Unbewußten, der für diese Zeit nichts Außergewöhnliches war, fällt auf, daß hier das Innerste der künstlerischen Individualität in den Elementen gesehen wird, die sich der Kontrolle durch das Bewußtsein entziehen. 5. Wir haben gesehen, daß sich zwischen der Methode Morellis, Holmes' und Freuds eine Analogie abzeichnet. Von der Beziehung zwischen Morelli und Holmes und der zwischen Morelli und Freud haben wir schon gesprochen. Auf die sonderbare Ubereinstimmung der Vorgehensweisen von Holmes und Freud hat St Marcus hingewiesen.15 Übrigens bezeugte Freud selbst, im Gespräch mit einem Patienten (dem »Wolfsmann«), sein Interesse an den Abenteuern Sherlock Holmes'. Doch einem Kollegen (T. Reik) gegenüber, der die psychoanalytische Methode mit der von Holmes zusammenbrachte, sprach er im Frühjahr 1913 fast bewundernd von den Identifikationstechniken Morellis. In allen drei Fällen erlauben es unendlich feine Spuren, eine tiefere, sonst nicht erreichbare Realität einzufangen. Spuren, 68 genauer gesagt: Symptome (bei Freud), Indizien (bei Sherlock Holmes) und malerische Details (bei Morelli).16 Wie erklärt sich diese dreifache Analogie? Die Antwort ist auf den ersten Blick sehr einfach. Freud war Arzt; Morelli promovierte in Medizin, Conan Doyle hatte als Arzt gearbeitet, bevor er sich der Literatur widmete. In allen drei Fällen erahnt man das Modell der medizinischen Semiotik: einer Wissenschaft, die es erlaubt, die durch direkte Beobachtung nicht erreichbaren Krankheiten anhand von Oberflächensymptomen zu diagnostizieren, die in den Augen eines Laien - etwa Dr. Watsons - manchmal irrelevant erscheinen. (Nebenbei: das Paar Holmes-Watson, der scharfsinnige Detektiv und der stumpfsinnige Arzt, stellt die Aufspaltung einer realen Person dar - eines für seine außergewöhnlichen diagnostischen Fähigkeiten bekannten Professors des jungen Conan Doyle.)'7 Aber es handelte sich hier nicht einfach um biographische Übereinstimmungen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts - genauer: zwischen 1870 und 1880 - begann sich in den Humanwissenschaften ein Indizienparadigma durchzusetzen, das sich eben auf die Semiotik stützte. Seine Wurzeln aber reichen sehr viel weiter zurück. n 1. Jahrtausendelang war der Mensch Jäger. Im Verlauf zahlreicher Verfolgungsjagden lernte er es, aus Spuren im Schlamm, aus zerbrochenen Zweigen, Kotstük-ken, Haarbüscheln, verfangenen Federn und zurückgebliebenen Gerüchen Art, Größe und Fährte von Beutetieren zu rekonstruieren. Er lernte es, spinnwebfeine Spuren zu erahnen, wahrzunehmen, zu interpretieren und zu klassifizieren. Er lernte es, blitzschnell komplexe geistige Operationen auszuführen, im Dickicht des Waldes wie auf gefährlichen Lichtungen. Über viele Generationen hinweg bereicherten die Jäger dieses Erkenntnisvermögen und überlieferten es. Da eine verbale Dokumentation fehlt, müssen wir -neben Felsmalereien und Gebrauchsgegenständen - auf Märchen zurückgreifen, die uns manchmal ein wenn auch verspätetes und verformtes Echo vom Wissen dieser längst vergangenen Jäger abgeben. Ein unter Kirgisen, Tartaren, Hebräern und Türken18 verbreitetes Märchen erzählt von drei Brüdern; sie treffen einen Mann, der ein Kamel oder, in anderen Versionen, ein Pferd verloren hat. Ohne zu zögern beschreiben sie es ihm: es ist weiß, auf einem Auge blind, trägt zwei Schläuche auf dem Rücken, einen mit Wein, den anderen mit Öl gefüllt. Sie haben es also gesehen? Nein, gesehen haben sie es nicht. Also werden sie wegen Diebstahl angeklagt und müssen sich einer Gerichtsverhandlung stellen. Für die Brüder ist es ein Triumph: sofort und ohne Mühe demonstrieren sie, wie sie das Aussehen eines Tieres, das sie nie gesehen haben, mit Hilfe kleinster Indizien rekonstruieren konnten. Die drei Brüder bewahren ganz offensichtlich ein Jägerwissen (auch wenn sie I 69 nicht als Jäger beschrieben werden). Charakteristisch für dieses Wissen ist die Fähigkeit, in scheinbar nebensächlichen empirischen Daten eine komplexe Realität aufzuspüren, die nicht direkt erfahrbar ist. Man kann hinzufügen: der Beobachter organisiert diese Daten so, daß Anlaß für eine erzählende Sequenz entsteht, deren einfachste Formulierung sein könnte: »Jemand ist dort vorbeigekommen«. Vielleicht entstand die Idee der Erzählung selbst (im Unterschied zu Zaubersprüchen, Beschwörung und Anrufung) zuerst in einer Gesellschaft von Jägern und aus der Erfahrung des Spurenlesens. Diese - natürlich nicht beweisbare - Hypothese wird dadurch gestützt, daß alle rhetorischen Figuren, auf denen noch heute der Dechif- 1 frierungscode der Jäger basiert - der Teil für das Ganze, die Wirkung für die Ursache -, auf die prosaische Achse der Metonymie zurückgeführt werden können (lediglich die Metapher fällt nicht hierunter).19 Der Jäger hätte demnach als erster »eine Geschichte erzählt«, weil er als einziger fähig war, in den stummen - wenn nicht unsichtbaren - Spuren der Beute eine zusammenhängende Folge von Ereignissen zu lesen. Tierspuren »entziffern« oder »lesen«: das sind metaphorische Ausdrücke. Man ist aber versucht, sie wörtlich zu nehmen - als verbale Kondensation eines historischen Prozesses, der in einem sehr langen Zeitraum zur Erfindung der Schrift führte.^ Derselbe Zusammenhang wird in der chinesischen Tradition durch einen ätiologischen Mythos formuliert. Dieser schreibt die Erfindung der Schrift einem hohen Würdenträger zu, der im sandigen Flußufer die Fußabdrücke eines Vogels beobachtet hatte.20 Wenn man den Bereich der Mythen und Hypothesen verläßt und sich der dokumentierten Geschichte zuwendet, fällt andererseits die unleugbare Analogie zwischen dem oben erwähnten Paradigma des Jägers und dem auf, was in den seit dem 3. Jahrtausend v. Chr. verfaßten Texten mesopotamischer Wahrsager enthalten ist.21 Beide gehen von der minutiösen Erkundung einer vielleicht sehr »niederen« Realität aus, um so die Spuren von Ereignissen, die für den Beobachter nicht direkt erfahrbar sind, zu entdecken. Kot, Fußspuren, Haare und Federn einerseits; Tierinnereien, Öltropfen im Wasser, Gestirne, unwillkürliche Körperbewegungen usw. andrerseits. Zwar ist die zweite Gruppe im Unterschied zur ersten praktisch unbegrenzt, und insofern konnte für die Seher fast alles Gegenstand der Wahrsagung werden. Aber der grundsätzliche Unterschied ist unseres Erachtens ein anderer: die Wahrsagung bezog sich auf die Zukunft und das Spurenlesen der Jäger auf die - vielleicht nur sekundenalte - Vergangenheit. Trotzdem war das kognitive Verhalten in beiden Fällen sehr ähnlich und die damit verbundenen intellektuellen Verfahren - Analyse, Konfrontation, Klassifikation - formal identisch. Natürlich nur formal: denn der soziale Kontext war völlig verschieden. Im besonderen hat man festgestellt, daß die Erfindung der Schrift tiefgreifend die mesopotamische Wahrsagekunst formte. Den Gottheiten wurde unter anderem auch das Herrscherprivileg zugesprochen, mit den Untertanen durch schriftliche Botschaften zu kommunizieren - durch Gestirne, durch menschliche Körper, durch alles; und Aufgabe der Wahrsager war es, diese Botschaften zu entziffern (eine Vorstellung, die später in das Jahrtausende alte Bild vom »Buch der Natur« einmünden sollte). Daß die Wahrsagekunst wesentlich darin besteht, göttliche Zeichen, die in die Wirklichkeit eingeprägt sind, zu entziffern, wurde obendrein noch durch die malerischen und zeichnerischen Eigenschaften der Keilschrift verstärkt: wie die Wahrsagekunst bezeichnete sie Dinge durch Dinge. Auch die Spur bezeichnet ein Tier, das vorbeigelaufen ist. Der konkreten, ganz materiellen Spur sind die Zeichen der Bilderschrift auf dem Weg der intellektuellen Abstraktion schon einen unermeßlichen Schritt voraus. Aber die Abstraktionsfähigkeit, die die Einführung der Bilderschrift voraussetzte, ist selbst nur eine Kleinigkeit - gemessen an den Anforderungen, die der Übergang zur phonetischen Schrift stellt. In der Keilschrift lebten piktografische und phonetische Elemente gemeinsam fort; ganz ähnlich in der mesopotamischen Literatur zur Wahrsagekunst: zwar gab es dort die Tendenz, immer stärker apriorische und generalisierende Aspekte zu betonen - das löschte aber nicht die grundsätzliche Tendenz aus, die Ursache aus der Wirkung herzuleiten.22 Dieses Verhalten erklärt einerseits, wie in die Sprache mesopotamischer Wahrsager Fachausdrücke aus juristischem Wortschatz eingesickert sind; andrerseits, wieso die Abhandlungen über die Wahrsagekunst Abschnitte über Physiognomik und medizinische Semiotik enthalten.23 Endlich sind wir also zur Semiotik zurückgekehrt. Teil einer Gruppe von Disziplinen (aber dieser Ausdruck ist sicher anachronistisch), ist sie doch von einzigartiger Gestalt. Man könnte versucht sein, zwei PseudoWissenschaften wie die Wahrsagekunst und die Physiognomik den zwei Wissenschaften Jura und Medizin gegenüberzustellen; und die Tatsache, daß Jura und Medizin viel weiter voneinander entfernt sind als Wahrsagekunst und Physiognomik, könnte man allein mit der räumlichen und zeitlichen Entfernung zwischen den Gesellschaften, von denen die Rede ist, erklären. Doch das wäre eine oberflächliche Folgerung. Etwas verband im klassischen Mesopotamien wirklich diese Formen von Wissen (sieht man von der prophetischen Inspiration ab, die sich auf ekstatische Erfahrungen gründet): nämlich eine Vorgehensweise, die sich auf die Analyse von Einzelfällen richtete, welche sich nur durch Spuren, Symptome und Indizien rekonstruieren ließen. Gerade die 70 71 juristischen Texte Mesopotamiens waren nicht etwa eine Sammlung von Gesetzen und Verordnungen, sondern die Erörterung der konkreten Kasuistik. Man kann hier von einem Indizien- oder Wahrsageparadigma sprechen, das sich - je nach der Form des Wissens - auf die Vergangenheit, die Gegenwart oder die Zukunft bezog: auf die Zukunft die eigentliche Wahrsagung; auf die Zukunft, die Gegenwart und die Vergangenheit die medizinische Semiotik mit ihrem doppelten Gesicht, dem der Diagnostik und dem der Prognostik; auf die Vergangenheit bezogen die Rechtswissenschaft. Aber hinter diesem Indizien- und Wahrsageparadigma erahnt man den vielleicht ältesten Gestus in der Geschichte des menschlichen Intellekts: den des Jägers, der im Schlamm hockend die Spuren der Beute untersucht. 2. Was wir bisher gesagt haben, erklärt, wie die aufgrund beidseitigen Schielens gestellte Diagnose einer Schädelverletzung in eine mesopotamische Abhandlung über Wahrsagerei hätte Eingang finden können. Und allgemeiner erklärt es, wie historisch eine Konstellation von Wissenschaften auftauchte, die sich auf die Entzifferung verschiedenartiger Zeichen, vom Symptom bis zur Schrift, stützte. Im Übergang von der mesopotamischen zur griechischen Kultur änderte sich diese Konstellation grundsätzlich, und zwar dadurch, daß sich neue Wissenschaften wie Geschichtsschreibung und Philologie herausbildeten und alte Disziplinen wie die Medizin eine neue soziale und erkenntnistheoretische Autonomie erwarben. Körper, Sprache und Geschichte des Menschen wurden zum ersten Mal einer unvoreingenommenen Untersuchung unterzogen, die ein göttliches Eingreifen prinzipiell ausschloß. Es ist offensichtlich, daß wir noch heute Erben dieser entscheidenden Wendung sind, die die Kultur der Polis charakterisierte. Nicht so offensichtlich ist jedoch, daß in dieser Wende vor allem ein Paradigma, das man als semiotisches oder Indizienparadigma bezeichnen könnte, eine so wichtige Rolle spielte. Besonders evident ist das im Fall der hippokratischen Medizin, die ihre Methoden definierte, indem sie den entscheidenden Begriff des Symptoms {semeion) durchdachte. Die Hippokraten behaupteten, es sei nur dann möglich, die »Geschichte« der einzelnen Krankheiten präzis herauszuarbeiten, wenn man alle Symptome aufmerksam beobachtet und mit größter Genauigkeit registriert: die Krankheit an sich sei unerreichbar. Man hielt an der Medizin als einer Indizienwissenschaft fest, sehr wahrscheinlich unter dem Einfluß der - von dem pythagoräischen Arzt Alk-meon formulierten - strikten Gegenüberstellung von Unmittelbarkeit göttlicher Erkenntnis einerseits und bloß vermutendem Erkennen des Menschen andrerseits. Weil die Transparenz der Wirklichkeit negiert wurde, erschien ein Indizienparadigma als legitim, das in sehr vielen Anwendungsbereichen wirksam war. Ärzte, Historiker, Politiker, Töpfer, Tischler, Schiffer, Jäger, Fischer und Frauen sind unter den Griechen nur einige Gruppen, die im weiten Feld des vermutenden Wissens wirkten. Bezeichnenderweise herrschte die Göttin Metis, die erste Gattin des Zeus, die die dem Wasser entnommene Wahrsagung personifizierte, über die Grenzen dieses Bereiches, die an Begriffen wie »Vermutung« und »vermuten« 72 (tekmor, tekmairesthai) verliefen. Aber dieses Paradigma blieb, wie gesagt, implizit, erdrückt vom Prestige des von Piaton entwickelten und sozial höher stehenden Erkenntnismodells.24 3. Obwohl der Tonfall bestimmter Passagen in den hippokratischen Schriften sehr defensiv ist, läßt er doch erkennen, daß sich schon im 5. Jahrhundert vor Christus die Polemik über die Unsicherheit medizinischen Wissens entzündete -eine Polemik, die bis in unsere Tage andauern sollte. Der Grund für diese Beständigkeit liegt sicher darin, daß sich seit den Zeiten des Hippokrates wenig an der Beziehung zwischen Arzt und Patient geändert hat: nach wie vor ist es dem Patienten unmöglich, das Wissen und die Macht des Arztes zu kontrollieren. Verändert haben sich jedoch im Laufe der fast 2500 Jahre die Termini der Polemik, und zwar in dem Maße, wie sich die Begriffe von »Strenge« und »Wissenschaft« transformiert haben. Es liegt auf der Hand, daß es in dem Moment zu dem dabei entscheidenden Einschnitt kam, als ein wissenschaftliches Paradigma auftauchte, das sich auf die Physik Galileis stützte und dauerhafter als diese selbst war. Auch wenn die moderne Physik sich nicht als galileisch bezeichnen kann (was nicht heißt, daß sie Galilei negiert), ist die erkenntnistheoretische und symbolische Bedeutung Galileis für die Wissenschaft im allgemeinen unangetastet geblieben.25 Nun fällt die Gruppe der Wissenschaften, die wir - die Medizin eingeschlossen - Indizienwissenschaften nennen, keineswegs unter die Kriterien von Wissenschaftlichkeit, die das galileische Paradigma enthält. Es sind vielmehr in hohem Grade qualitative Wissenschaften, die das Individuelle an Fällen, Situationen und Dokumenten zum Gegenstand haben, und die gerade deshalb zu Ergebnissen kommen, die einen Rest von Unsicherheit nie ganz vermeiden können: man braucht nur an die bedeutsame Rolle denken, die die Vermutungen (»congetture« [vgl. auch das deutsche Wort »Konjektur«, Anm. d. Ü.]; der Ausdruck selbst hat seinen Ursprung in der Wahrsagekunst26) in Medizin und Philologie spielen. Einen ganz anderen Charakter hatte die galileische Wissenschaft, die sich das scholastische Motto individuum est ineffabile, vom Individuellen kann man nicht sprechen, hätte zu eigen machen können. Tatsächlich implizierten der Gebrauch der Mathematik und die experimentelle Methode die Quantifizierung bzw. Wiederholbarkeit der Dinge - während eine individualisierende Wissenschaftsrichtung die Wiederholbarkeit per Definition ausschloß und die Quantifizierung nur als Hilfsfunktion zuließ. Dies macht deutlich, warum die Geschichtsschreibung nie eine galileische Wissenschaft geworden ist. Es trat vielmehr gerade im Verlauf des 17. Jahrhunderts, als man der Geschichtsschreibung die Methoden der Altertumskunde aufpfropfte, indirekt ihr ferner, ursprünglicher Indiziencharakter, der jahrhundertelang im Dunkel geblieben war, zutage. Und das ist immer unverändert so geblieben, obwohl die Beziehung zwischen Geschichtsschreibung und Sozialwissenschaften immer enger geworden ist. Die Geschichtsschreibung ist eine Sozialwissenschaft sui generis geblieben und bedingungslos an das Konkrete gebunden. Auch wenn der Historiker sich explizit oder implizit auf eine Reihe von vergleichbaren Phänomenen beziehen muß, bleiben die Strategie seiner Erkenntnis und seine Ausdrucksweise zutiefst individualisierend (und auch dann, wenn das Individuum eine soziale Gruppe oder eine ganze Gesellschaft ist). Insofern kann man den Historiker mit einem Arzt vergleichen, der die Krankheitsbeschreibungen nur benutzt, um die spezifische Krankheit des Einzelnen zu analysieren. Wie die medizinische Erkenntnis ist auch die Erkenntnis der Geschichte indirekt, durch Indizien vermittelt, konjektural.27 Aber die Gegenüberstellung, von der die Rede war, ist zu schematisch. Im Bereich der Indizienwissenschaften stellte eine von ihnen, die Philologie, genauer gesagt: die Textkritik, von ihrer Entstehung an einen gewissermaßen atypischen Fall dar. Sie bildete ihren Gegenstand heraus, indem sie in ihrem inhaltlichen Umfeld entschieden und immer wieder von neuem selektierte. Dieser Prozeß innerhalb der Wissenschaft wurde von zwei historisch bedeutsamen Einschnitten geprägt: der Erfindung der Schrift und des Druckes?Bekanntlich entstand die Textkritik nach Erfindung der Schrift (als man sich entschloß, die Verse Homers zu kopieren) und konsolidierte sich nach der Erfindung des Druckes (als die ersten und oft oberflächlichen Ausgaben der Klassiker durch zuverlässigere ersetzt wurden28). Zunächst wurde alles, was an den mündlichen Vortrag oder die Gestik gebunden war, als nicht zum Text gehörend angesehen, und schließlich auch alles andere, was an die Körperlichkeit der Schrift gebunden war. Ergebnis dieser doppelten Operation war die fortschreitende Entmaterialisierung des Textes, der nach und nach von jedem sinnlich wahrnehmbaren Bezug gereinigt wurde: denn obwohl ein stofflicher »Träger« nötig ist, damit ein Text überlebt, wird dieser dennoch nicht mit seinem »Träger« identifiziert. Dies alles scheint uns heute offensichtlich, obwohl es das durchaus nicht ist. Man braucht nur an die große Bedeutung der Intonation in mündlich überlieferter Literatur zu denken oder auch an die gemalten Schriftzüge in der chinesischen Dichtung, dann fällt auf, daß der Textbegriff, von dem eben die Rede war, an eine kulturelle Entscheidung von großer Tragweite gebunden ist. Das Entscheidende hierbei ist jedoch nicht, daß sich die maschinelle Reproduktion gegen die manuelle durchsetzt; dies beweist das verblüffende Beispiel Chinas, wo die Erfindung des Druckes die Beziehung zwischen literarischem Text und der Schrift eben nicht aufgelöst hat. (Wir werden gleich sehen, daß sich das Problem der figürlichen »Texte« historisch ganz anders stellte.) Das neue, zutiefst abstrakte Textverständnis erklärt, warum die Textkritik, selbst wenn, sie weitgehend »wahrsagerisch« blieb, doch in sich die Möglichkeit einer im strengen Sinn wissenschaftlichen Entwicklung trug, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts zur Reifung gelangen sollte. Die Wissenschaft der Textkritik traf eine radikale Entscheidung: nur noch mit den (zunächst manuell, nach Gutenberg maschinell) reproduzierbaren Elementen des Textes befaßte sie sich. Auch wenn sie individuelle Fälle zum Gegenstand hatte, konnte sie so schließlich doch die größte Klippe der Humanwissenschaften umschiffen: das Problem der Qualität. Es ist bezeichnend, daß sich Galilei auf die Philologie berief, als er - ebenso entschieden selektierend - die moderne Naturwissenschaft begründete. Im Mittelalter war es üblich, Welt und Buch miteinander zu vergleichen; dieser traditionelle Vergleich stützte sich auf das Offensichtliche, auf die unmittelbare Lesbarkeit beider. Galilei hob jedoch hervor, daß man »die Philosophie in diesem großartigen Buch, das wir ständig offen vor Augen haben (ich meine das Universum) . . . nicht verstehen kann, bevor man nicht die Sprache verstehen lernt und die Buchstaben kennt, mit denen sie geschrieben ist«, also: »Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren«.29 Für den Naturphilosophen wie für den Philologen hat der Text ein tiefes, unsichtbares Wesen, das jenseits der sinnlich-wahrnehmbaren Fakten rekonstruiert werden muß: durch »Figuren, Zahlen und Bewegungen, und nicht etwa durch Gerüche, Geschmack oder Klang; geht man über die Unmittelbarkeit tierischer Wahrnehmung hinaus, so sind jene - glaube ich - nichts anderes als bloße Na-men«?° Mit diesem Satz gab Galilei den Naturwissenschaften eine tendenziell anti-anthropozentrische und anti-anrhropomorphe Richtung, die von nun an beibehalten werden sollte. Natürlich konnte der Gegensatz zwischen dem Physiker Galilei, der von Berufs wegen taub und unempfindlich gegenüber Geschmack und Geruch war, und einem Arzt jener Zeit, der Diagnosen wagte, indem er sein Ohr an eine röchelnde Brust legte, Kot beroch und Urin prüfte, nicht größer sein, 4. Einer dieser Ärzte war Giulio Mancini aus Siena, Leibarzt Urbans vin. Es ist nicht bekannt, ob er Galilei persönlich kannte: es ist aber sehr wahrscheinlich, daß sich die beiden begegnet sind, da sie in denselben Kreisen Roms (vom Papsthof bis zur Accademia dei Lincei) und mit denselben Personen verkehrten (Federico Cesi, Giovanni Ciarnpoli, Giovanni Faber). In einem sehr lebendigen Portrait beschrieb Nicio Eritrio, alias Gian Vittorio Rossi, den Atheismus Mancinis, beschrieb (mit Begriffen aus dem Wortschatz der Wahrsagekunst) seine außergewöhnlichen diagnostischen Fähigkeiten sowie die Skrupellosigkeit, mit der er seinen Patienten Gemälde abpreßte: darin sei er »intelligentissimus«.*' Mancini hatte tatsächlich ein Werk mit dem Titel Alcttne considerationi appartenenti alla pittura come di diletto di un getitilhuomo nobile e come introduttione a quellt) si deve dire (Eitrige Betrachtungen über die Malerei zum Wohlgefallen eines Edelmannes und zur Einführung in das, was man dazu sagen muß) verfaßt, das in handschriftlicher Form weit verbreitet war (die erste vollständige Ausgabe erschien etwa vor zwanzig Jahren im Druck-"). Das Buch richtete sich, wie schon der Titel sagt, nicht an Maler, sondern an Laien aus aristokratischen Kreisen, an jene virtuos!, die immer zahlreicher jene Ausstellungen antiker und moderner Gemälde besuchten, die jedes Jahr am 19. März im Pantheon stattfanden. Ohne diesen Kunstmarkt wäre der wahrscheinlich später geschriebene Teil der Betrachtungen Mancinis nie geschrieben worden: dieser Teil war der »recognition della pittura« gewidmet, d. h. den 74 75 Methoden, mit denen man Fälschungen erkennen, Originale von Kopien unterscheiden kann usw.33 Der erste Versuch, die connoisseurship (wie man sie ein Jahrhundert später nennen sollte) zu begründen, geht also auf einen für seine blitzschnellen Diagnosen berühmten Arzt zurück; auf einen Mann, der, wenn er zu einem Kranken kam, mit einem schnellen Blick »quem exitum morbus ille esset habiturus, divinibat« (wahrsagte, welchen Ausgang diese Krankheit nehmen würde).34 Hier darf man wohl in der Koppelung von klinischem Blick und Blick des »Kenners« mehr als nur einen bloßen Zufall sehen, Bevor wir die Argumentation Mancinis näher verfolgen, soll auf eine Voraussetzung hingewiesen werden, die für ihn selbst, den Adligen, die aber auch für alle die gilt, an die sich die Betrachtungen wandten, wie schließlich für uns. Eine Voraussetzung, die nie expliziert worden ist, da man sie (zu Unrecht) für selbstverständlich hielt: daß nämlich zwischen einem Bild von Raffael und einer Kopie (sei es ein Gemälde, ein Stich oder heute eine Photographie) unvermeidlich ein Unterschied besteht. Die kommerzielle Bedeutung dieser Voraussetzung, daß ein Gemälde per Definition ein unicum, etwas Unwiederholbares ist, ist klar. Nur weil diese Voraussetzung akzeptiert wurde, konnte eine neue soziale Figur entstehen: die des Kunstkenners. Was da vorausgesetzt wird, ist jedoch Ergebnis einer kulturellen Entscheidung, die alles andere als selbstverständlich ist - was sich etwa schon darin zeigt, daü sie nicht für schriftliche Texte gilt. Der angeblich ewige Charakter von Malerei und Literatur hat nichts damit zu tun. Wir haben schon gesehen, in welchen historischen Prozessen der Textbegriff von einigen Momenten gereinigt worden ist, die man für dem Gegenstand nicht zugehörig hielt. Im Fall der Malerei hat diese Reinigung (noch) nicht stattgefunden. Deshalb können - in unseren Augen - handschriftliche Kopien oder (gedruckte) Ausgaben des Orlando Furioso den von Ariost gewollten Text exakt wiedergeben - die Kopien eines Gemäldes von Raffael aber können niemals das wiedergeben, was der Künstler ausgedrückt hat.35 Die unterschiedliche Bedeutung der Kopien in Malerei und Literatur erklärt, weshalb Mancini als Kunstkenner nicht die Methoden der Textkritik benutzen konnte, obgleich man prinzipiell eine Analogie zwischen dem Akt des Malens und des Schreibens herstellen kann. Aber gerade indem man von dieser Analogie ausging, wandte man sich hilfesuchend an andere Disziplinen, die sich gerade herausbildeten. Das erste Problem, das sich Mancini stellte, war die Datierung der Gemälde. Zu diesem Zweck, sagte er, müsse man »eine gewisse Praxis im Erkennen der Merkmale haben, die die Malerei verschiedener Epochen kennzeichnet«; es sei die gleiche Praxis, die, »was die Schriftzeichen angeht, die Altertumsforscher und Bibliothekare haben, die aus diesen Schriftzeichen die Entstehungszeit des Textes erkennen.«36 Der Hinweis auf die »Kenntnis der Schriftzeichen« bezieht sich wahrscheinlich auf die in denselben Jahren von Leone Allacci, dem Bibliothekar des Vatikan, erarbeiteten Methoden, die der Datierung von griechischen und lateinischen Handschriften dienten und ein halbes Jahrhundert später von Mabillon, dem 76 Begründer der paläographischen Wissenschaft, wiederaufgenommen und weiterentwickelt werden sollten. Aber, so fährt Mancini fort, »neben dem, was dem ganz allgemein eignet, gibt es die eigentlich individuellen Eigenschaften«, genau »wie bei den Dichtern, denen man diese besondere Eigenschaft zuerkennt«. Die Analogie zwischen Malerei und Literatur, die zunächst auf makroskopischer Ebene hergestellt worden war (»die Epochen«, »das Jahrhundert«), wurde also auf mikroskopischer, individueller Stufe wiederaufgenommen. Auf dieser Ebene waren die proto-paläographischen Methoden eines Allacci nicht brauchbar. Es gab jedoch in denselben Jahren einen vereinzelten Versuch, individuelle Texte unter einem ungewöhnlichen Gesichtspunkt zu analysieren. Der Arzt Mancini beobachtete (und berief sich dabei auf Hippokrates), daß es möglich ist, die »Operationen« der Seele auf ihre »Empfindungen« zurückzuführen, die ihrerseits in den »Eigenschaften« der einzelnen Körper wurzeln: ». . . unter dieser Annahme, glaube ich, haben einige große Denker unseres Jahrhunderts darüber geschrieben und eine Methode entwickelt, den Intellekt und den Geist dieses oder jenes Menschen aus der Art des Schreibens oder der Schrift zu erkennen«. Einer dieser »großen Denker« war wahrscheinlich der Arzt Camillo Baldi aus Bologna, der in seinen trattato come da una lettera missiva si conoscano la natura e qualitä dello scrittore {Traktat, wie man aus einem Brief die Natur und die Eigenschaften des Schreibers erkennen kann) ein Kapitel eingefügt hatte, das man als den ältesten in Europa erschienenen graphologischen Text ansehen kann. »Welche Bedeutungen man in den Schriftcharokteren erkennen kann«, lautet der Titel von Kapitel vt. dieses Traktats; wobei mit »Charakter« die »Figur und das Bild des Buchstabens« gemeint war - also das, was man »das mit der Feder auf Papier geschriebene Element nennt«.37 Aber trotz der zitierten Lobesworte interessierte sich Mancini nicht weiter für das erklärte Ziel der gerade entstehenden Graphologie, d. h. für die Rekonstruktion der Persönlichkeit eines Schreibenden dadurch, daß man aus den Schriftzeichen (»caratteri«) den psychologischen Charakter erschloß (diese Synonymie verweist wiederum auf eine weit zurückliegende, gemeinsame wissenschaftliche Matrix). Er verweilte jedoch bei dem, was diese neue Wissenschaft voraussetzte: der Verschiedenheit oder eher Unnachahmbarkeit individueller Schrift. Wenn man in der Malerei die ebensowenig imitierbaren Elemente isoliert betrachtet hätte, so wäre man wahrscheinlich an das Ziel gelangt, das Mancini sich gesetzt hatte: die Erarbeitung einer Methode, die eine sichere Unterscheidung zwischen Originalen und Fälschungen, zwischen den Werken der Meister und den Kopien bzw. den Werken der Schule erlaubt hätte. Dies erklärt seine Aufforderung nachzuforschen, ob man in den Gemälden »jene Ungezwungenheit des Meisters sieht, und zwar besonders in den Teilen, die notwendigerweise mit großer Selbstverständlichkeit ausgeführt werden und die man nicht leicht nachahmen kann, wie vor allem die Haare, den Bart und die Augen. Die Haarlocken gelingen einem nur mit Mühe, wenn man sie imitieren will - was dann in der Kopie zum Vorschein kommt; und will man sie nicht kopieren, dann haben sie nicht die Perfektion des Meisters. Diese Teile der Malerei sind wie die Schrift- 77 r- züge und -gruppen, die die Ungezwungenheit und Unbefangenheit des Meisters erfordern. Dasselbe kann man auch hier und dort bei einigen Lichttupfen und -flecken beobachten, die der Meister mit einem Zug undmit der unnachahmbaren Sicherheit eines Pinselstriches setzt; und ebenso bei den Falten der Gewänder und ihrer Beleuchtung, die eher von der Phantasie und Unbefangenheit des Meisters denn von der Wirklichkeit des gemalten Gegenstandes abhängen«.38 Wie man sieht, wird in diesem Abschnitt die Parallele zwischen dem Akt des Schreibens und dem des Malens, die Mancini schon in verschiedenen Zusammenhängen angesprochen hatte, unter einem völlig neuen Gesichtspunkt wiederaufgenommen (sieht man von einem flüchtigen Hinweis des Filarete ab, den Mancini zudem nicht kennen konnte35). Die Analogie wird noch durch den häufigen Gebrauch von Fachausdrücken wie »Ungezwungenheit«, »Schriftzüge« und »Gruppen« hervorgehoben, die sehr oft in den zeitgenössischen Abhandlungen über die Schrift vorkommen. Auch das Insistieren auf der Schnelligkeit (»mit einem Zug«) hat denselben Ursprung: in einer Epoche aufblühender Bürokratie waren die Eigenschaften, die den Erfolg einer Kanzleischrift auf dem Schriftmarkt sicherten, neben der Eleganz auch die Schnelligkeit des ductusA" Überhaupt beweist die Bedeutung, die Mancini den ornamentalen Elementen zumaß, eine durchaus tiefgehende Reflexion über die Eigenschaften der Schriftmodcllc, die zwischen dem Ende des 16. und dem Anfang des 17. Jahrhunderts in Italien vorherrschten. Das Studium der »Charaktere« von Schriften lehrte - was die Malerei anging - vor allem dies: daß man die Hand des Meisters vor allem in den Teilen des Gemäldes erkennen kann, die a) sehr schnell ausgeführt sind und b) tendenziell nichts Reales mehr repräsentieren (z. B. das Gewirr der Haare und der Faltenwurf - die beide »eher von der Phantasie und der Unbefangenheit des Meisters als von der Wirklichkeit des gemalten Gegenstandes abhängen«). Auf den in diesen Aussagen verborgenen Reichtum, den weder Mancini noch seine Zeitgenossen ans Licht bringen konnten, werden wir später zurückkommen. 5. Schriftzeichen: »caratteri«. Dasselbe Wort taucht in diesem oder einem analogen Sinn etwa um 1620 in sehr unterschiedlichen Schriften wieder auf: in denen des Begründers der modernen Physik einerseits und denen der Begründer der Paläographie, der Graphologie und der connoisseurship andrerseits. Natürlich war die Verwandtschaft zwischen den körperlosen, immateriellen Schriftzeichen, die Galilei mit den Augen des Geistes im Buche der Natur las, und den materiellen, die Allacci, Baldi oder Mancini auf Papier oder Pergament, Leinwand oder Tafeln entzifferten, nur metaphorisch. Aber die Identität der Termini läßt die Unterschiedlichkeit der hier zusammengestellten Wissenschaften nur noch stärker hervortreten. Der Grad ihrer (in der galileischen Bedeutung verstandenen) Wissenschaftlichkeit ließ in dem Maße nach, wie man von den universellen Eigenschaften der Geometrie über die »Eigenschaften, die der Literatur eines Jahrhunderts gemein sind« zu den »individuellen Eigenschaften« in Malerei oder gar Kalligraphie vorstieß. Diese absteigende Rangfolge beweist, daß das eigentliche Hindernis bei der Anwendung des galileischen Paradigmas die mehr oder weniger zentrale Stellung des individuellen Elementes in den einzelnen Wissenschaften war. Je mehr die individuellen Aspekte miteinbezogen wurden, desto mehr schwand die Möglichkeit einer 1 streng wissenschaftlichen Erkenntnis. Natürlich garantierte die Vorentscheidung, alle individuellen Aspekte zu vernachlässigen, nicht an sich schon die Anwendungsmöglichkeit physikalisch-mathematischer Methoden (ohne die man nicht im eigentlichen Sinn von der Anwendung des galileischen Paradigmas sprechen kann): aber sie schloß sie zumindest nicht ganz aus. 6. An diesem Punkt eröffnen sich nun zwei Möglichkeiten: entweder man opfert die Erkenntnis des individuellen Elementes zugunsten der (mehr oder weniger streng mathematisch formulierbaren) Verallgemeinerung, oder man versucht -sich langsam vortastend - ein anderes Paradigma zu erarbeiten, das sich auf die wissenschaftliche Erkenntnis des Individuellen stützt (wobei es sich um eine Wissenschaftlichkeit handelt, die völlig neu zu definieren wäre). Den ersten Weg schlugen die Naturwissenschaften ein und, erst sehr viel später, die sogenannten Humanwissenschaften. Der Grund dafür ist offensichtlich. Die Tendenz, die individuellen Aspekte abzuwerten, ist direkt proportional zur emotionalen Distanz des Beobachters. In einem Abschnitt des Trattato di architettura (Traktat über die Architektur) behauptete Filarete zunächst, daß es unmöglich sei, zwei genau identische Gebäude zu errichten, so wie auch - allem Anschein zum Trotz - »die Tartarenfratzen, die alle gleich sind, oder die Äthiopier, die alle schwarz sind, doch Unterschiede zeigen, wenn man sie genau ansieht«. Dann räumte er jedoch ein, daß es »genug Tiere« gebe, »die sich einander ähneln, wie z. B. Fliegen, Ameisen, Würmer, Spinnen und viele Fische und bei denen man den einen vom anderen nicht unterscheiden kann«.'" In den Augen eines europä i seilen Architekten waren die auch noch so geringen Unterschiede zwischen zwei (europäischen) Bauwerken relevant, die zwischen zwei Tartaren- oder Äthiopier-»Fratzen« aber unbedeutend und die zwischen zwei Würmern oder Ameisen sogar inexistent. Ein tartarischer Architekt, ein der Architektur unkundiger Äthiopier oder eine Ameise hätten eine andere Rangordnung vorgeschlagen. Die individualisierende Erkenntnis ist immer anthropozentrisch, ethnozenirisch usw. Natürlich konnte man auch Tiere, Mineralien und Pflanzen in einer individualisierenden Perspektive, z. B. der der Wahrsagekunst, betrachten: vor allem bei Exemplaren, die deutlich außerhalb der Norm lagen. Bekanntlich war die Teratologie, die Lehre von den Mißbildungen, ein wichtiger Teilbereich der Wahrsagekunst. Aber in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts tendierte man - indirekt vom galileischen Paradigma beeinflußt - dazu, ' das Studium der anomalen Phänomene der Untersuchung der Norm und die Wahrsagekunst der allgemeinen Erkenntnis der Natur unterzuordnen. Im April 1625 wird in der Umgebung von Rom ein Kalb mit zwei Köpfen ge- 78 79 boren. Die Naturalisten der »Accademia dei Lincei« interessieren sich für den Fall. Es treffen sich zur Diskussion in den vatikanischen Garten des Belvedere Giovanni Faber, Sekretär der »Accademia«, Ciampoli (beide, wie gesagt, Galilei sehr nahestehend), Mancini, der Kardinal Agostino Vegio und Papst Urban viii. Die erste Frage, die man sich stellt, ist folgende: ist das zweiköpfige Kalb als einzelnes oder als doppeltes Tier anzusehen? Für die Ärzte ist das, was ein Individuum ausmacht, das Gehirn, für die Anhänger von Aristoteles jedoch das Herz. Im Bericht Fabers spürt man vermutlich das Echo des Beitrags von Mancini, des einzigen anwesenden Arztes. Trotz seiner astrologischen Interessen analysiert er die spezifischen Eigenschaften der Mißgeburt nicht mit dem Ziel, Auspizien für die Zukunft daraus zu lesen, sondern um zu einer genaueren Definition des Individuums zu gelangen: des Individuums also, das, wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Art, mit gutem Recht für wiederholbar gelten konnte. Mit derselben Aufmerksamkeit, die er gewöhnlich der Prüfung eines Gemäldes widmete, muß er die Anatomie des doppelköpfigen Kalbes untersucht haben. Aber hier hört die Analogie zu seiner Tätigkeit als Kunstkenner auf. In gewisser Weise verkörperte gerade eine Persönlichkeit wie Mancini die Verbindung zwischen dem Paradigma der Wahrsage (Mancini als Diagnostiker und Kenner) und dem Paradigma der Verallgemeinerung (Mancini als Anatom und Naturalist). Zwar Verbindung, aber auch Differenz. Allem Anschein zum Trotz war es nicht das Ziel der - von Faber verfaßten - exakten Beschreibung der Autopsie des Kalbes sowie der präzisen begleitenden Abbildungen, die die inneren Organe des Tieres darstellten, die »individuellen Eigenschaften« des Objektes als solche herauszufinden; vielmehr ging es, jenseits davon, um die »allgemeinen Eigenschaften« (in diesem Fall: um die natürlichen, nicht die historischen). So wurde die auf Aristoteles zurückgehende naturalistische Tradition wiederaufgenommen und perfektioniert. Das Auge, im Wappen der Akademie des Federico Cesi durch den scharfblickenden Luchs symbolisiert, wurde bevorzugtes Organ jener Wissenschaften, denen das übersinnliche Auge der Mathematik versagt war. 7. Zu diesen gehörten, zumindest dem Schein nach, die Humanwissenschaften (wie wir sie heute definieren würden). Es konnte auch nicht anders sein - schon aufgrund ihres hartnäckigen Anthropozentrismus, der in den zitierten Zeilen von Filarete so naiv ausgedrückt war. Dennoch gab es Versuche, die mathematische Methode auch in das Studium der menschlichen Angelegenheiten einzuführen.42 Es ist verständlich, daß der erste und erfolgreichste Versuch, nämlich die politische Arithmetik, die eher biologisch bestimmten Tätigkeiten des Menschen zu ihrem Gegenstand machte: Geburt, Zeugung und Tod. Diese drastische Einschränkung erlaubte eine streng wissenschaftliche Forschung und genügte zugleich den militärischen und fiskalischen Erkenntnisinteressen der absoluten Staaten, die, angesichts der Größenordnung ihrer Operationen, rein quantitativ orientiert waren. Aber die Gleichgültigkeit, die die Auftraggeber der neuen Wissenschaft - der Sta- tistik - dem Qualitativen entgegenbrachten, löste dennoch nicht ganz die Verbindung der Statistik zum Bereich der Disziplinen, die wir Indizienwissenschaften genannt haben. Wie der Titel des klassischen Werkes von Bernouilli (Ars conjec-tandi) schon sagt, versuchte die Wahrscheinlichkeitsrechnung, den Problemen, die in der Wahrsagekunst in völlig anderer Form angegangen worden waren, eine streng mathematische Formulierung zu geben.43 Aber in ihrer Gesamtheit blieben die Humanwissenschaften fest im Qualitativen verankert; nicht ohne Unbehagen, vor allem was die Medizin angeht. Trotz aller Fortschritte schienen ihre Methoden unsicher und ihre Resultate zweifelhaft. Die Ende des 18. Jahrhunderts erschienene Schrift La certezza della mediana (Die Sicherheit der Medizin) von Cabanis gestand den Mangel an (wissenschaftlicher) Strenge ein, auch wenn sie sich dann bemühte, der Medizin trotz allem eine Wissenschaftlichkeit su! generis zuzuerkennen. Die Gründe für die »Unsicherheit« der Medizin schienen wesentlich zwei zu sein. Erstens reichte es nicht, die einzelnen Krankheiten zu katalogisieren und sie dann in einer geordneten Übersicht zusammenzufassen: in jedem Individuum hatte die Krankheit verschiedene Charakteristika. Zweitens blieb die Kenntnis der Krankheit indirekt, an Indizien gebunden: der lebende Körper war per Definition unzugänglich. Die Leiche konnte man natürlich sezieren; aber wie sollte man von einer Leiche, die schon von den Prozessen des Todes berührt war, auf die Eigenschaften des lebenden Individuums schließen?44 Dieser doppelten Schwierigkeit gegenüber mußte man einfach anerkennen, daß die Wirksamkeit der medizinischen Methoden nicht nachweisbar war. Ihre Unfähigkeit, die den Naturwissenschaften eigene Strenge zu erreichen, beruhte also auf der Unmöglichkeit der Quantifizierung, sofern diese nicht reine Hilfsfunktionen hatte. Diese Unmöglichkeit hing wiederum davon ab, daß die Präsenz des Qualitativen, des Individuellen nicht auszuschalten war; und diese basierte ihrerseits darauf, daß das menschliche Auge für die (auch unbedeutenden) Unterschiede zwischen menschlichen Lebewesen empfindlicher ist als für die zwischen Steinen und Blättern. In den Diskussionen über die »Unsicherheit« der Medizin waren die künftigen epistemologischen Kernfragen der Humanwissenschaften schon formuliert. 8. Die Schrift von Cabanis läßt eine verständliche Intoleranz durchblicken. Trotz aller mehr oder weniger gerechtfertigten Einwände, die auf methodischer Ebene gegen die Medizin erhoben werden konnten, blieb sie dennoch immer eine sozial voll anerkannte Wissenschaft. Aber nicht alle Formen von Indizienwissen genossen in jener Zeit ein ähnliches Prestige. Einige, so z. B. die relativ junge connoisseur-ship, hatten eine zweideutige Position am Rande der anerkannten Wissenschaften inhe. Andere, stärker an die Alltagspraxis gebundene, lagen ganz außerhalb. Die Fähigkeiten, ein gebrechliches Pferd am Fersengelenk, ein kommendes Gewitter durch eine plötzliche Veränderung des Windes oder eine feindselige Absicht in der Verfinsterung der Gesichtszüge zu erkennen, wurden natürlich nicht in die Ab- 80 81 handlungen über Pferdezucht, Meteorologie oder Psychologie aufgenommen. Auf jeden Fall waren diese Formen von Wissen reicher als irgendeine schriftliche Kodifizierung; sie wurden nicht Büchern, sondern der lebendigen Stimme, den Gesten und den Blicken entnommen; sie gründeten sich auf scharfsinnige Beobachtungen, die natürlich nicht formalisierbar und oft noch nicht einmal in Worte übersetzbar waren; sie konstituierten ein teils einheitliches, teils zerstreutes Bildungsgut von Männern und Frauen aller sozialen Klassen. Eine subtile Verwandtschaft vereinte sie; alle entstanden aus der Erfahrung, aus der Konkretheit der Erfahrung. Darin bestand die Stärke dieses Typs von Wissen; und seine Schwäche bestand in der Unfähigkeit, sich der mächtigen und schrecklichen Waffe der Abstraktion zu bedienen.45 Die schriftliche Kultur hatte seit einiger Zeit versucht, diesem Körper lokalen Wissens (corpo di saperi locali)46 ohne Ursprung, Erinnerung und Geschichte eine genaue verbale Formulierung zu geben. Und diese war im allgemeinen farblos und verarmt. Man braucht nur an die Kluft zwischen der schematischen Starrheit der physiognomischen Abhandlungen und der Genauigkeit und Geschmeidigkeit zu denken, mit der ein Liebhaber, ein Pferdehändler oder ein Kartenspieler seinen Gegenstand erfaßt. Nur in der Medizin hatte die schriftliche Kodifizierung des Indizienwissens vielleicht zu einer realen Bereicherung geführt (doch die Geschichte der Beziehung zwischen »gelehrter« und populärer Medizin muß noch geschrieben werden). Im Verlauf des 17. Jahrhunderts ändert sich dann die Situation. Die Bourgeoisie startet eine regelrechte kulturelle Offensive und eignet sich einen großen Teil des Wissens der Handwerker und Bauern an, sei es Indizienwissen oder nicht; sie kodifiziert es und beschleunigt gleichzeitig den ungeheuren Kultivierungsprozeß, der - natürlich unter anderen Formen und Inhalten - schon mit der Gegenreformation begonnen hatte. Symbol und zentrales Instrument dieser Offensive ist natürlich die Encyclopedie. Aber man sollte auch die zwar kleinen, jedoch außerordentlich erhellenden Episoden analysieren - wie etwa die von einem ungenannten römischen Maurermeister, der dem - wahrscheinlich sehr verblüfften - Winckelmann zeigte, daß das »kleine, flache Steinchen«, das man zwischen den Fingern einer am Porto d'Anzio entdeckten Statue erkennen konnte, »der Pfropfen oder Korken eines Fläschchens« war. Die systematische Sammlung dieser »kleinen Erkenntnisse«, wie Winckelmann47 sie an anderer Stelle nennt, förderte zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert die Neuformulierung des antiken Wissens - von der Kochkunst bis zu Hydrologie und Tierheilkunde. Der Zugang zu bestimmten Erfahrungen wurde für eine ständig wachsende Leserschaft immer mehr über Buchseiten vermittelt. Der Roman lieferte der Bourgeoisie geradezu einen Ersatz und zugleich eine Neuformulierung der Initiationsriten - will sagen: den Zugang zur Erfahrung im allgemeinen. Gerade dank der phantastischen Literatur hatte das Indizienparadigma in dieser Phase einen neuen, unerwarteten Erfolg. 9. Was den fernen, vermutlich jägerischen Ursprung des Indizicnparadigmas angeht, haben wir schon auf das orientalische Märchen bzw. die Novelle von den drei Brüdern hingewiesen, die das Aussehen eines Tieres, das sie nie gesehen haben, beschreiben können, indem sie eine Reihe von Indizien interpretieren. Im Abendland tauchte diese Novelle zum ersten Mal in der Sammlung von Sercambi48 auf, Später kehrte sie als Rahmenhandlung einer sehr viel umfangreicheren Novellensammlung wieder, die von dem Armenier Cristoforus als Übersetzung aus dem Persischen ins Italienische herausgegeben wurde und in Venedig Mitte des 16. Jahrhunderts unter dem Titel Peregrinaggio di tre giovani figliuoli del re di Serendippo (Die Pilgerfahrt der drei jungen Söhne des Königs von Serendippo) erschien. In dieser Form wurde das Buch mehrmals neu aufgelegt und zunächst ins Deutsche, dann im Laufe des 18. Jahrhunderts, im Zuge der orientalisierenden Mode jener Zeit, in die wichtigsten europäischen Sprachen übersetzt. Die Geschichte der drei Königssöhne von Serendippo hatte so großen Erfolg, daß Horace Walpole 1754 den Neologismus serendipity prägen konnte, um damit »unvorhergesehene Entdeckungen, die durch Zufall und Intelligenz gemacht werden«49, zu bezeichnen. Einige Jahre zuvor hatte Voltaire im dritten Kapitel des Zadig die erste Geschichte aus dem Peregrinaggio, die er in der französischen Übersetzung gelesen hatte, neu bearbeitet. In dieser Bearbeitung ist das Kamel des Originals in eine Hündin und ein Pferd transformiert, die Zadig minuziös beschreiben kann, indem er die Spuren im Erdboden entziffert. Des Diebstahls angeklagt und den Richtern vorgeführt, rechtfertigt sich Zadig, indem er - laut - die gedanklichen Kombinationen erzählt, die es ihm erlaubt hatten, sich ein Bild von Tieren zu machen, die er nie gesehen hat: »Ich bemerkte im Sande die Spuren eines Tieres, und ich konnte ohne Schwierigkeiten feststellen, daß sie von einem kleinen Hund herrührten. Leichte, längliche Furchen, die sich zwischen den von den Pfoten herrührenden Spuren auf den kleinen Sanderhöhungen zeigten, brachten mich zu der Erkenntnis, daß es eine Hündin mit lang herabhängenden Zitzen war, die also erst wenige Tage vorher geworfen haben mußte. «5° In diesen und den darauffolgenden Zeilen ist in embryonaler Form schon der Detektivroman enthalten. Poe, Gaboriau und Conan Doyle ließen sich davon anregen - die ersten beiden direkt, letzterer vielleicht indirekt. Die Gründe für den außergewöhnlichen Erfolg des Detektivromans sind bekannt; auf einige von ihnen werden wir später zurückkommen. Schon jetzt kann man jedenfalls feststellen, daß sich der Kriminalroman auf ein sehr altes und zugleich sehr modernes Erkenntnismodell stützt. Sein geradezu undefinierbares Alter haben wir schon erwähnt. Was seine Modernität angeht, braucht man nur den Abschnitt zu zitieren, in dem Cuvier die Methoden und Erfolge der neuen paläontologischen Wissenschaft preist: ». . . heute genügt es, den Abdruck eines gespaltenen Hufs zu sehen, um daraus zu schließen, daß das Tier, das die Spur hinterlassen hat, ein Wiederkäuer war: und diese Schlußfolgerung ist genauso sicher, wie nur irgendeine Physik oder Ethik. Diese eine Spur reicht aus, um dem Beobachter 82 83 die Form der Zähne, Kiefer, Wirbel, aller Bein-, Schenkel-, Schulter- und Beckenknochen des eben vorbeigelaufenen Tieres mitzuteilen: dieses Zeichen ist weit sicherer als alle Zeichen Zadigs.«51 Ein sichereres Zeichen, vielleicht: aber auch ein zutiefst verwandtes. Der Name Zadig war so symbolisch geworden, daß Thomas Huxley 1880 während einer Vortragsreihe zur Verbreitung der Entdeckungen Darwins die Methode, die der Geschichtsschreibung, der Archäologie, der Geologie, der physikalischen Astronomie und der Paläontologie gemeinsam sei, nämlich die Fähigkeit zur retrospektiven Wahrsagung, als die »Methode Zadigs« definierte. Zutiefst diachronisch geprägte Wissenschaften, wie die eben genannten, mußten sich, da sie das Galileische Paradigma als untauglich ablehnten, an ein Indizien- oder Wahrsageparadigma halten (und von einer vergangenheitsbezogenen Wahrsagung sprach Huxley explizit52). Wenn man die Ursachen nicht reproduzieren kann, bleibt nichts anderes übrig, als sie aus ihren Wirkungen zu folgern. III 1. Wir könnten die Fäden, die diese Untersuchung zusammenhalten, mit denen eines Teppichs vergleichen. An diesem Punkt angekommen, sehen wir, daß sie sich zu einem dichten, homogenen Netz zusammensetzen. Man kann die Kohärenz der Stoffzeichnung feststellen, indem man das Gewebe mit den Augen in verschiedenen Richtungen abtastet. Vertikal haben wir die Reihe Serendippo-Zadig-Poe-Gaboriau-Conan Doyle. Horizontal haben wir am Anfang des 18. Jahrhunderts einen Dubos, der - in der Reihenfolge ihrer abnehmenden Zuverlässigkeit - die Medizin, die connoisseurship und die Kunst der Identifizierung von Schrift aneinanderreiht.53 Diagonal, von einem historischen Kontext zum anderen überspringend, sehen wir schließlich Monsieur Lecoq, der fieberhaft ein »brachliegendes, schneebedecktes, mit Spuren von Kriminellen gespicktes Gelände« durchquert und es mit einer »riesigen weißen Seite« vergleicht, »auf die die von uns gesuchten Personen nicht nur ihre Bewegungen und Schritte, sondern auch ihre geheimen Gedanken, Hoffnungen und Ängste, die sie bewegten, geschrieben haben«54; und hinter ihm zeichnen sich Autoren von physiognomischen Traktaten, zeichnen sich babylonische Wahrsager, die sich bemühen, die von Göttern in Stein und Himmel geschriebenen Botschaften zu lesen, und Jäger des Neolithikums ab. Der Teppich ist das Paradigma, das wir je nach seinem Kontext als Jäger-, Wahrsage-, Indizien- oder semiotisches Paradigma bezeichnet haben. Obwohl diese Attribute natürlich keine Synonyme sind, verweisen sie doch auf ein gemeinsames epistemologisches Modell, das sich in den verschiedenen, durch Entlehnung von Methoden und Schlüsselbegriffen miteinander verbundenen Wissenschaften artikuliert hat. Als dann aber zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert die »Humanwissenschaften« entstehen, verändert sich die Bedeutung der Indizienwissenschaften tiefgreifend: neue Sterne ziehen am wissenschaftlichen Himmel auf - 84 entweder, wie im Falle der Phrenologie, der Schädellehre, zu schnellem Untergang oder, wie im Falle der Paläontologie, zu großem Erfolg bestimmt; vor allem aber behauptet sich aufgrund ihres erkenntnistheoretischen und sozialen Prestiges die Medizin. Auf sie beziehen sich - explizit oder implizit - alle »Humanwissenschaften«. Aber auf welchen Teil der Medizin genau? Mitte des 19. Jahrhunderts zeichnet sich eine Alternative ab: das anatomische Modell auf der einen, das semiotische auf der andern Seite. Die auch von Marx" an einer zentralen Stelle gebrauchte Metapher »Anatomie der Gesellschaft« drückt in einer Epoche, die den Zusammenbruch des letzten großen, philosophischen Systems, des Hegeischen, erlebt hatte, das Streben nach einer systematischen Erkenntnis aus. Trotz des großen Erfolgs des Marxismus haben die Humanwissenschaften schließlich aber immer deutlicher das Indizienparadigma der Semiotik übernommen (mit einer wichtigen Ausnahme allerdings, wie wir noch sehen werden). Und hier finden wir wieder die Triade Morelli-Freud-Conan Doyle, von der wir ausgegangen waren. 2. Bisher haben wir vom Indizienparadigma (und seinen Synonymen) im weitesten Sinne gesprochen. Jetzt sind wir soweit, es aufzugliedern. Eine Sache ist es, Spuren, Gestirne und Kot (tierischen oder menschlichen), Katarrhe, Hornhäute, Pulsschläge, Schneefelder oder Zigarettenasche zu analysieren; eine andere, Schriften, Gemälde oder Diskurse zu untersuchen. Der Unterschied zwischen (unbeseelter oder lebendiger) Natur und Kultur ist viel wesentlicher als die unendlich viel oberflächlicheren und veränderbaren Unterschiede zwischen den einzelnen Wissenschaften. Nun hatte sich Morelli vorgenommen, in einem System kulturell bedingter Zeichen, der Malerei, diejenigen aufzuspüren, die das Unwillkürliche von Symptomen (und der meisten Indizien) an sich hatten. Aber nicht nur das: Morelli erkannte sogar die sicherste Spur der Künstler-Individualität in diesen unbeabsichtigten Zeichen, den »materiellen Kleinigkeiten - ein Kalligraph würde sie Schnörkel nennen«, die mit den »beliebten Worten und Phrasen« vergleichbar sind, die »die meisten Menschen, . . . sowohl die redenden als die schreibenden, . . . haben, die sie, ohne dessen sich zu versehen, absichtslos, oft anbringen«.56 Auf diese Weise nahm er (wahrscheinlich indirekt) die methodischen Prinzipien, die sein Vorgänger Giulio Mancini schon sehr viel früher formuliert hatte, wieder auf und entwickelte sie weiter. Daß sie erst nach so langer Zeit zur Reifung gelangten, war kein Zufall. Gerade damals bildete sich immer deutlicher die Tendenz zu einer qualitativen, kapillaren Kontrolle der Gesellschaft durch die staatliche Macht heraus: und diese nutzte ebenso die auf geringfügigen und unwillkürlichen Merkmalen basierende Kenntnis vom Individuum. 3. Jede Gesellschaft verspürt das Bedürfnis, die Komponenten, aus denen sie sich zusammensetzt, zu unterscheiden; aber die Art, in der dieses Bedürfnis befriedigt wird, variiert je nach Zeit und Ort.57 Da gibt es vor allem den Namen: je komplexer aber eine Gesellschaft ist, desto weniger scheint der Name auszureichen, um die 85 Identität eines Individuums eindeutig zu bestimmen. Wenn z. B. im griechischrömischen Ägypten jemand vor einem Notar eine Frau ehelichte oder ein Handelsgeschäft abschloß, wurden außer dem Namen auch einige physische Daten registriert, ergänzt durch einen Hinweis auf eventuelle Narben oder andere besondere Kennzeichen. Das Risiko eines Irrtums oder einer vorsätzlichen Personenvertau-schung blieb dennoch beträchtlich. Demgegenüber bot ein Kalkabdruck als Unterschrift unter Verträge etliche Vorteile: Ende des 18. Jahrhunderts stellte der Abt Lanzi in einem Abschnitt seiner Storia pittorica (Geschichte der Malerei), der den Methoden der Kunstsachverständigen gewidmet war, fest, daß die Unnachahmbar-keit individueller Schriften naturgewollt sei - zur »Sicherheit« der »zivilen Gesellschaft« (der bürgerlichen also). Natürlich hatte auch diese Methode Lücken: man konnte Unterschriften fälschen - und vor allem waren die Analphabeten von der Kontrolle ausgeschlossen. Aber trotz dieser Mängel verspürten die europäischen Gesellschaften jahrhundertelang nicht die Notwendigkeit von sichereren und praktischeren Methoden zur Identitätsermittlung. Auch dann nicht, als das Entstehen der großen Industrie, die damit verknüpfte geographische und soziale Mobilität und die sehr rasche Bildung riesiger Städtekonzentrationen den Rahmen des Problems radikal veränderten. Und doch war es in einer solchen Gesellschaft immer noch ein Kinderspiel, seine Spuren zu verwischen und mit veränderter Identität wieder aufzutauchen - und das nicht nur in Städten wie London oder Paris. Aber erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurden von verschiedenen Seiten her neue, miteinander konkurrierende Systeme zur Identifizierung erdacht. Der Bedarf danach entstand unter dem Druck des Klassenkampfes jener Zeit: dem Entstehen einer internationalen Arbeiterassoziation, der Unterdrückung der proletarischen Opposition nach der Pariser Kommune und der veränderten Bedeutung der Kriminalität. Das Entstehen kapitalistischer Produktionsverhältnisse hatte - in England etwa ab 172058, in den anderen Teilen Europas fast ein Jahrhundert später, nämlich mit dem »Code Napoleon« - eine Transformation eingeleitet, die an den neuen, bürgerlichen Begriff von Eigentum und Gesetzgebung, der die Zahl der strafbaren Handlungen und das Strafmaß beträchtlich erhöht hatte, gebunden war. Die Tendenz zur Kriminalisierung des Klassenkampfes war von der Errichtung eines Gefängnissystems begleitet, dessen Grundlage lange Haftzeiten waren.59 Doch das Gefängnis produziert Kriminelle. In Frankreich ging die Zahl der Rückfälligen ab 1780 ständig in die Höhe - bis gegen Ende des Jahrhunderts schließlich fünfzig Prozent der Kriminellen, gegen die verhandelt wurde, Rückfällige waren. Das Problem der Identifizierung von Rückfälligen, das sich in jenen Jahren stellte, bildete praktisch den Brückenkopf eines komplexen, mehr oder weniger bewußten Projektes zur allgemeinen und subtilen Kontrolle der Gesellschaft. Bei der Identifizierung der Rückfälligen mußte man zweierlei nachweisen: a) daß ein Individuum schon verurteilt worden war und b) daß das fragliche Individuum dasselbe wie das verurteilte war. Das erste Problem wurde durch das Erstel- 86 len von Polizeiregistern gelöst; das zweite warf größere Schwierigkeiten auf.6" Die alten Strafen, die einen Verurteilten für immer kennzeichneten, indem sie ihn brandmarkten oder verstümmelten, waren abgeschafft worden. Die tätowierte Lilie auf der Schulter von Mylady hatte es D'Artagnan ermöglicht, sie als Giftmörderin zu erkennen, die schon in der Vergangenheit einmal bestraft worden war, während die beiden Ausbrecher Edmond Dantes und Jean Vanjean mit falscher Identität wieder in der Gesellschaft auftreten konnten (diese Beispiele sollten genügen um zu zeigen, wie sehr die Figur des rückfälligen Kriminellen die Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts bedrohte). Die bürgerliche Ehrbarkeit verlangte nach Erken-nungszeichen,die genauso unauslöschlich, aber weniger blutig und demütigend waren als die des Ancien Regime. Die Idee, ein riesiges Fotoarchiv von Kriminellen einzurichten, wurde zunächst verworfen, weil es unlösbare Klassifizierungsprobleme stellte: wie sollte man einzelne Elemente aus dem Bildzusammenhang lösen? Die Methode der Quantifizierung erschien einfacher und präziser. Ab 1879 entwickelte ein Angestellter der Pariser Präfektur, Alphonse Bertillon, eine anthropometrische Methode (die er dann in verschiedenen Abhandlungen und Aufsätzen erläuterte); sie stützte sich auf genaue Körpermessungen, die in die Personenkartei aufgenommen wurden. Es ist klar, daß schon ein Versehen von nur wenigen Millimetern die Bedingungen für einen Justizirrtum schuf. Aber der grundsätzliche Fehler dieser anthropometri-schen Methode Bertillons war ein anderer: sie war rein negativ. Zwar erlaubte sie es, unähnliche Individuen bei der Gegenüberstellung abzusondern, aber sie konnte nicht sicher feststellen, ob zwei identische Datenserien sich auf ein und dasselbe Individuum bezogen. Man hatte - mit der Methode der Quantifizierung - die unausrottbare Fähigkeit des Individuums, sich zu entziehen, endlich besiegt, und nun kam sie durch die Hintertür wieder herein. Deshalb schlug Bertillon vor, die anthropometrische Methode mit dem sogenannten »gesprochenen Portrait«, d. h. der verbalen, analytischen Beschreibung der persönlichen Kennzeichen (Nase, Augen, Ohren usw.), die insgesamt das Bild des Einzelnen ergeben müßten, zu verbinden, um so eine exakte Identifizierung zu ermöglichen. Die seitenweise von Bertillon reproduzierten Ohren erinnern zwingend an die Illustrationen, die Mo-relli in den gleichen Jahren seinen Aufsätzen beifügte. Vielleicht gab es keine direkte Beeinflussung - auch wenn es verblüfft, daß Bertillon in seiner Tätigkeit als graphologischer Experte die Besonderheiten oder »Idiotismen« des Originals, die der Fälscher nicht reproduzieren konnte und allenfalls durch eigene ersetzte, eben deswegen für Indizien ansah, die den Fälscher verraten. Man sieht, die Methode Bertillons war unglaublich kompliziert. Das Problem, das die Messungen aufwarfen, haben wir schon erwähnt. Das »gesprochene Porträt« verschlimmerte alles nur noch mehr. Wie sollte man bei der Personenbeschreibung eine höckerig gebogene Nase von einer gebogenen Höckernase unterscheiden? Oder die Farbabstufungen eines blaugrünen Auges klassifizieren? Aber schon 1880 hatte Galton in seinem Aufsatz, der in der Folgezeit korrigiert 87 Diese Abdrücke führten zum ersten Sensationsprozeß (Raubmord in Deptford), in dem Fingerabdrücke als Beweismittel dienten. Von links nach rechts: Abdruck auf der Geldkassette, seine Charakteristika und ein von der Polizei angefertigter Abdruck des Verdächtigen Stratton. und vertieft wurde, eine sehr viel einfachere Methode zur Identifizierung vorgeschlagen - besonders was die Sammlung und Klassifizierung der Daten betraf.61 Diese Methode basierte bekanntlich auf den Fingerabdrücken. Mit großer Ehrlichkeit gab aber Galton selbst zu, daß er praktisch wie theoretisch Vorgänger hatte. Die wissenschaftliche Analyse der Fingerabdrücke wurde 1823 von Purkyne, dem Begründer der Histologie, in seiner Schrift Commentatio de examine physio-logico organi visus et systematis cutanei62 (Kommentar zur physiologischen Untersuchung der Sehorgane und des Hautsystems) eingeleitet. Purkyne unterschied und beschrieb neun Grundtypen von Papillenlinien, stellte aber gleichzeitig fest, daß es nicht zwei Individuen mit denselben Fingerabdrücken gebe. Die praktischen Anwendungsmöglichkeiten dieser Entdeckung waren ihm gleichgültig, ganz im Gegensatz zu den philosophischen Implikationen, mit denen er sich in einem Kapitel mit dem Titel »De cognitione organismi individualis in genere« (Allgemeines über die Erkenntnis des individuellen Organismus) auseinandersetzte. Er vertrat die Ansicht, die Kenntnis des Individuums sei in der praktischen Medizin, angefangen bei der Diagnostik, von zentraler Bedeutung: bei verschiedenen Individuen hätten die Symptome auch verschiedene Formen und müßten deshalb verschieden behandelt werden. Deshalb hätten einige moderne Forscher, die er nicht nannte, die praktische Medizin als »artem individualisandi (die Kunst des Individualisi-1'ens)«63 definiert. Aber die Grundlagen dieser Kunst fänden sich in der Physiologie des Individuums. Hier stieß Purkyne, der in seiner Jugend in Prag Philosophie studiert hatte, wieder auf die tiefgründigsten Probleme der Gedanken von Leibniz. Das Individuum, das »ens omnimodo determinatum«, habe etwas Besonderes, das bis in seine unendlich feinen, unsichtbaren Eigenschaften hinein aufzufinden sei. Es zu erklären, reichten weder der Zufall noch die äußeren Einflüsse aus. Man müsse die Existenz einer inneren Norm oder eines inneren »Typus« annehmen, der die Vielfalt der Organismen in den Grenzen der Spezies halte: die Kenntnis dieser 88 »Norm«, behauptete Purkyne prophetisch, »erschließe die verborgene Kenntnis der individuellen Natur.«64 Der Fehler der Physiognomie war es, die Vielfalt der Individuen im Licht vorgeformter Meinungen und übereilter Hypothesen zu sehen: deshalb war es bisher unmöglich, eine wissenschaftliche, deskriptive Physiognomie zu begründen. Purkyne überließ das Studium der Handlinien der »eitlen Wissenschaft« der Chiromanten und richtete seine Aufmerksamkeit auf etwas viel weniger Auffälliges: er fand das geheime Kennzeichen der Individualität in den Linien der Fingerkuppe. Verlassen wir für einen Augenblick Europa und wenden uns Asien zu. Anders als ihre europäischen Kollegen und von ihnen völlig unabhängig hatten sich auch die chinesischen und japanischen Wahrsager für diese so unauffälligen Linien interessiert, die die Epidermis furchen. Der für China und vor allem für Bengalen nachgewiesene Brauch, auf Briefe und Dokumente den pech- oder tintengeschwärzten Daumen abzudrücken,'5 hat wahrscheinlich eine ganze Reihe von wahrsagerischen Reflexionen zum Hintergrund. Wer es gewohnt war, aus den Adern von Stein und Holz, aus Vogelspuren oder der Zeichnung eines Schildkrötenpanzers geheimnisvolle Schriften zu entziffern, der mußte auch in der Lage sein, einen schmutzigen Fingerabdruck auf jeder beliebigen Oberfläche ohne Schwierigkeit als Schrift zu entziffern. Im Jahre 1860 bemerkte Sir William Her-schel, Verwaltungsdirektor des Bezirkes Hooghly in Bengalen, diesen Brauch, erkannte dessen Nützlichkeit und dachte daran, ihn für ein besseres Funktionieren der englischen Verwaltung nutzbar zu machen (die theoretischen Aspekte der Frage interessieren ihn nicht; die lateinische Abhandlung Purkynes, die ein halbes Jahrhundert lang tote Schrift geblieben war, kannte er nicht). Rückwirkend bemerkte Galton, daß man damals tatsächlich dringend eines wirksamen Instrumentes zur Identifizierung bedurfte - nicht nur in Indien, sondern ganz allgemein in den englischen Kolonien: die Einheimischen waren Analphabeten, streitsüchtig, schlau, verlogen und in den Augen der Europäer alle gleich. 1880 berichtete Herschel in der Zeitschrift »Nature«, daß die Fingerabdrücke nach 17 Probejahren im Bezirk Hooghly offiziell eingeführt worden waren und seit nunmehr drei Jahren mit bestem Erfolg angewendet würden.66 Die Funktionäre des Empire hatten sich das Indizienwissen der Bengalesen angeeignet und es gegen sie gewendet. Galton nahm Herschels Artikel zum Anlaß, das ganze Problem zu überdenken und systematisch zu vertiefen. Das Zusammentreffen dreier sehr unterschiedlicher Elemente hatte seine Untersuchung ermöglicht: die Entdeckung Purkynes, eines reinen Wissenschaftlers; konkretes, an die Alltagspraxis der bengalischen Bevölkerung geknüpftes Wissen; und schließlich die politische sowie verwaltungstechni-sche Klugheit Sir William Herschels, des treuen Dieners Seiner Majestät, der Königin von Großbritannien. Galton bezeigte Purkyne und Herschel seine Hochachtung. Außerdem versuchte er, bei den Fingerabdrücken rassische Besonderheiten zu unterscheiden - freilich ohne Erfolg; er nahm sich jedoch vor, seine Studien 89 über einige indische Stämme fortzusetzen, in der Hoffnung, in diesen »affenähnlichere Eigenschaften« (a more monkey-like patternf7 zu finden, Galton trug jedoch nicht nur entscheidend zur Analyse der Fingerabdrücke bei, sondern er erkannte, wie gesagt, auch ihre praktischen Implikationen. In kürzester Zeit wurde die neue Methode in England eingeführt und von hier aus nach und nach in der ganzen Welt (eines der letzten Länder war Frankreich). So erwarb und bekam der Mensch endlich eine Identität und Individualität, auf die man sich sicher und dauerhaft stützen konnte - wie Galton voller Stolz bemerkte; und er beanspruchte dabei für sich jene Anerkennung, die ein Funktionär des französischen Innenministeriums seinem Konkurrenten Bertillon ausgesprochen hatte. So würde das, was in den Augen englischer Verwaltungsbeamter bis vor kurzem eine unterschiedslose Masse bengalischer »Fratzen« gewesen war (um den verächtlichen Ausdruck des Filarete zu gebrauchen), mit einem Mal eine Menge von Individuen, die durch jeweils biologische spezifische Merkmale gekennzeichnet waren. Praktisch vollzog sich diese erstaunliche Verbreitung des Begriffes von Individualität über die Beziehung zum Staat und seinen bürokratischen und politischen Organen. So wurde - dank der Fingerabdrücke - auch der letzte Einwohner eines armseligen Dorfes in Asien oder Europa identifizierbar und kontrollierbar. 4. Aber dasselbe Indizienparadigma, das dazu gebraucht wurde, immer subtilere und kapillarere Formen sozialer Kontrolle zu erarbeiten, kann ein Mittel werden, um die ideologischen Nebel zu lichten, die die komplexe soziale Struktur des Spätkapitalismus immer mehr verschleiern. Wenn die Forderung nach systematischer Erkenntnis auch immer anmaßender zu werden scheint, sollte deshalb die Idee von einer Totalität noch nicht aufgegeben werden. Im Gegenteil: die Existenz eines tiefen Zusammenhangs, der die Phänomene der Oberfläche erklärt, sollte man gerade dann betonen, wenn man behauptet, daß eine direkte Kenntnis dieses Zusammenhanges unmöglich ist. Wenn auch die Realität »undurchsichtig« ist, so gibt es doch besondere Bereiche - Spuren- Indizien -, die sich entziffern lassen. Diese Idee, die den Kern des Semiotik- oder Indizienparadigmas ausmacht, hat sich in den verschiedensten Bereichen der Erkenntnis durchgesetzt und die Humanwissenschaften, tiefgreifend geformt. Feinste paläographische Details dienten als Spuren, die eine Rekonstruktion kultureller Wechselbeziehungen und Veränderungen ermöglichten - mit einem ausdrücklichen Hinweis auf Morelli, der die drei Jahrhunderte alten Schulden Mancinis bei Allacci beglich. Die Darstellung wehender Gewänder bei den florentinischen Malern des 15. Jahrhunderts, die Neologismen von Rabelais und die Heilung der Skrofulosekranken im Auftrag der Könige von Frankreich und England sind nur einige Beispiele dafür, daß minimale Indizien immer wieder dazu benutzt wurden, allgemeinere Phänomene zu enthüllen: die Weltanschauung einer sozialen Klasse, eines Schriftstellers oder einer ganzen Gesellschaft.68 Wie wir schon gesehen haben, hat sich die Psychoanalyse aufgrund der Hypothese herausgebildet, daß scheinbar nebensächliche Eigenschaf- 90 ton tiefgründige Phänomene von großer Bedeutung enthüllen können. Die Dekadenz des systematischen Gedankens wurde vom Erfolg des aphoristischen Gedankens begleitet - von Nietzsche bis zu Adorno.Der Ausdruck »aphoristisch« ist selber enthüllend (er ist ein Indiz, ein Symptom, eine Spur: dem Paradigma entkommt man nicht). Aphorismen: so lautete nämlich der Titel eines berühmten Werkes des Hippokrates. Im 17. Jahrhundert erschienen die ersten Sammlungen von Aforismi politici.69 Die aphoristische Literatur ist per Definition der Versuch, Urteile über den Menschen und die Gesellschaft auf der Basis von Indizien und Symptomen zu formulieren: über einen Menschen und eine Gesellschaft, die krank, in Krise sind. Und »Krise«: das ist auch ein medizinischer, hippoki atischer Ausdruck.70 Auch läßt sich leicht zeigen, daß der größte Roman unserer Zeit - La Recherche - nach einem konsequenten Indizienparadigma konstruiert ist. 5. Aber kann ein Indizienparadigma konsequent sein? Die quantitative und antianthropozentrische Ausrichtung der Naturwissenschaften seit Galilei hat die Humanwissenschaften in ein Dilemma gebracht: entweder sie akzeptieren eine wissenschaftlich unabgesicherte Haltung, um zu wichtigen Ergebnissen zu kommen, oder sie geben sich eine wissenschaftlich abgesicherte Ordnung, um zu Ergebnissen von geringer Bedeutung zu kommen. Nur der Linguistik ist es im Laufe dieses Jahrhunderts gelungen, sich diesem Dilemma zu entziehen; deshalb stellt sie auch für andere Disziplinen ein - mehr oder weniger vollendetes - Modell dar, Es ist jedoch nicht nur zweifelhaft, ob diese Art von Konsequenz erreichbar ist -es ist auch zweifelhaft, ob sie überhaupt wünschenswert ist für die Formen von Wissen, die an die tägliche Erfahrung oder genauer: an alle Situationen gebunden sind, in denen Einzigartigkeit und Unersetzbarkeit der Faktoren in den Augen der betroffenen Personen entscheidend sind. Irgendjemand hat einmal gesagt, daß die Verliebtheit eine Überbewertung unwesentlicher Unterschiede zwischen einer Frau und den anderen (oder einem Mann und den anderen) sei. Doch das gilt auch für Kunstwerke oder Pferde. In solchen Situationen erscheint die elastische Härte (man lasse uns dieses Oxymoron durchgehen!) des Indizienparadigmas als unzerstörbar. '. Es handelt sich hier um Formen eines tendenziell stummen Wissens - und zwar deswegen, weil sichjseine Regeln nicht dazu eignen, ausgesprochen oder gar formalisiert zu werden. Niemand erlernt den Beruf des Kenners oder Diagnostikers, wenn er sich darauf beschränkt,"schon vorformulierte Regeln in der Praxis anzuwenden. Bei diesem Wissenstyp spielen unwägbare Elemente, spielen Imponderabilien eine Rolle: Spürsinn, Augenmaß und Intuition. Wir haben uns bisher skrupulös davor gehütet, diesen ausgehöhlten Terminus zu benutzen. Aber wenn man ihn wirklich als Synonym für die blitzschnelle Rekapitulation eines rationalen Prozesses anwenden will, muß man eine niedere und eine hohe Intuition unterscheiden. Die alte arabische Physiognomik stützte sich auf die firasa: ein komplexer Begriff, der im allgemeinen die Fähigkeit bezeichnete, auf der Basis von Indizien 91 unmittelbar vom Bekannten zum Unbekannten vorzustoßen.71 Man gebrauchte diesen Ausdruck aus dem Vokabular der sufi, um sowohl mystische Intuition als auch die Formen von Scharfsinn und Klugheit zu bezeichnen, wie sie den Söhnen des Königs von Serendippo zugeschrieben wurden. In dieser zweiten Bedeutung ist die firasa nichts anderes als ein Instrument des Indizien Wissens.72 Diese »niedere Intuition« wurzelt in den Sinnen (auch wenn sie über diese hinausgeht); und insofern hat sie nichts mit der übersinnlichen Intuition der verschiedenen Irrationalismen des 19. und 20. Jahrhunderts zu tun. Sie ist - ohne geographische, historische, ethnische, geschlechts- oder klassenspezifische Grenzen - in der ganzen Welt verbreitet und deshalb jeder Form höheren Wissens, dem Privileg weniger Erwählter, ganz fern. Sie ist Besitz der Bengalen, die von Sir William Herschel ihres Wissens enteignet wurden, sie ist Besitz der Jäger, der Seeleute, der Frauen. Und sie bindet das Tier Mensch an alle anderen Tierarten. Anmerkungen 1 Ich gebrauche diesen Terminus im Sinn von Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main 1973, unter Verzicht auf die später vom Autor eingeführten Präzisierungen und Unterscheidungen (vgl. Postscript - 1969, in: The structure of Scientific Revolutions, z. erweiterte Ausgabe, Chicago 1974, S. 174 ff.). 2 Zu Morelli vgl. vor allem E. Wind, Kunst und Anarchie, Frankfurt am Main 1979, S. 40-55 und die dazugehörige Bibliographie (S. 150-155). Zur Biographie vgl. außerdem M. Ginoulhiac, Giovanni Morelli. La vita, in: »Bergomum« xxxiv, 1940, Nr. 2, S. 51-74; neuerdings beziehen sich auf die Methode Morellis auch R. Wollheim, Giovanni Morelli and the origins of Scientific Connoisseurship, in: On Art and the Mind, Essays and Lectures, London 1973, S. 177-201; H. Zerner, Giovanni Morelli el la science de l'art, in: »Revue de l'art«, Nr. 40-41,1978, S. 209-215 und G. Previtali, Ä propos de Morelli, ibid., Nr. 42,1978, S. 27-31. Leider fehlt eine umfassende Untersuchung über Morelli, in der nicht nur seine kunsthistorischen Schriften, sondern auch die wissenschaftliche Ausbildung in seiner Jugendzeit, seine Beziehung zu deutschen Kreisen, seine Freundschaft zu De Sanctis und seine Teilnahme am politischen Leben analysiert werden müßten. Zu De Sanctis vgl. den Brief, in dem Morelli ihn als Dozent für italienische Literatur am Züricher Polytechnikum vorschlug (F, De Sanctis, Lettere dall'esilio (1S53- 18611), lusg. von B. Crocc, Bari 1938. S. 34-38), sowie die Register der Rande des T.piilolario von De Sanctis, die ?.. Z. bei Einaudi veröffentlicht werden. Zum polnischen Engagement Morellis vgl, vorlaufig die kurzen Hinweise in G. Spini, Riiorgimtolo e protestantl, Neapel 1956, S. 114. 261, 335. Zur Reaktion auf die Schriften Morellis in Europa beachte man die Zeilen, die Morelli am 22. Juni 1882 ans Basel an Minghctti schrieb: -Der alte Jacob Burckhardt, den ich .gestern abend besuchte, empfing mich sehr freundlich und wollte den ganzen Abend mit mir verbringen. Er ist in seinem Tun und Denken ein höchst origineller Mann und würde auch Dir gefallen, ganz besonders aber unserer Frau Laura zusagen. Er erzählte mir von dem Buch Lermolietfs, als würde er es auswendig kennen, und nuizie es, um mir unendlich viele Fragen zu stellen - was meiner Eigenliebe nicht wenig schmeichelte. Heute vormittag werde ich ihn noch einmal treffen . ..« (Biblioicca Comunale di Bologna (Archiginnasio). Carte Ming-hetti, xxnt, j4). Vgl. Wind, a. a. O., S. 45 f. (in der Wiedergabe des Zitats wurde in einem Won vun der deutschen Ausgabe des Buches vom Wind abgewichen', an die Stelle des ungenauen »Spiizbubeitgalerie. wurde det treffendere Ausdruck »Kriminalmuseum« gesetzt. A. d. 0.). < Vgl. E. Castelnuovo, Altrihution. in: tncyclopatdia universalis, Bd. Ii, 1968, S. 782; allgemein vergleicht Arnold Häuser die Detekiivmethode Freuds mit der von Morelli: A. Häuser, Methoden moderner Kunslbattachtinig, München 1970, S. 119. ' Sir Arthur Conan Doyle, Ein unheimliches Paket, in: ders.. Sämtliche Sherlock Holmes Romane und Stories, Band 2, Frankfurt und Berlin 1977. S 442 6 a. a. 0., S, 447. Ei» unheimliches Paket (The Cardboard Box) erschien zuerst in -The Strand Magazine«, v. Januar-Juni 1893, S. 61-73. Man ni" nun fes'S1'8'1'"1 (vs'- ieri- Tl,e Amiotaled Sherlock Holmes, Hrsg. von W. S. Baring-Gould, London 1968, Bd. n, S. 208), daß in derselben Zeitschrift wenige Monate spater ein anonymer Artikel über die verschiedenen Formen des menschlichen Ohres abgedruckt worden war (Enrs: 11 Cliajjfer ort. in: »The Strand Magazine«, vi, Juli-Dezember 1893, S. 388-391. 525-527). Dem Herausgeber des Annotated Sherlock Holmes (a. a. O., S. 208) zufolge könnte der Verfasser des Artikels sogar Conan Doyle gewesen sein, der den Beiirng Holmes' für das •Anlhropologkal Journal- (versehentlich für -Journal of Anthropology«) redigiert hätte. Aber dies ist wahrscheinlich nur eine unbegründete Vermutung: dem Anikel über die Ohren war im -Strand Magazine«, v. Januar-Juli 1893, S. 119,123, 295-301. schon ein Aulsaiz mit dem Tuel Hiliirts vorausgegangen, gezeichnet von Beckles Willson. Jedenfalls erinnert das Blait des »Strand Magazine«, das die verschiedenen Ohrenformen darstellt, unwiderstehlich an die Abbildungen in den Schriften Morellis -was nur die Zirkulation derartiger Themen in jener Zeit bestätigt. ' Wind, n. a. O., S. 45. 8 Vgl. S. Freud, Der Moses des Michelanseh, in: Gesnnime/le Werke, Bd. x, Frankfurt am Main 1967, S. 185; R. Bremer, Freud and Michelangelo') Moses, in: »American Imago«, 33, «976, S. 60-75, >em sich mit der von Freud vorgeschlagenen Interpretation des Moses auseinander, ohne sich mit Morelli zu beschäftigen. Nicht zu Rate ziehen konnte ich K. Victorius. Der «Moses des Michelangelo* von Sigmund Freud, in: Entfaltung der Psychoanalyse, Hrsg, A. Mitscherlich, Stuttgart 1956. S. 1-10. » Vgl. S. Freud, Die Traumdeutung, in: Gesammelte Werke, Bd. u/111, Frankfurt am Main 1967, S. 314 Fußnote (in der Anmerkung auf S. 99 ist eine spatere Schnlt Freuds über seine Beziehungen zu Popper-Lynkeus angegeben), 1D I. Lermoheff. Di« Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Ein kritischer Versuch. Aus dem Russischen übersetzt von Dr. Johannes Schwarze, Leipzig 1880. " C. Morelli (I. Lermolieff), Italian Masters in German Galleries. A Critical Essay on the Italian Plrliires in lltc Galliries of Mumrli, Dresden and Berlin. Übers, aus d. Deutschen von L, M. Richter, London, 1883. 12 Vgl. Marthe Robert, Die Revolution der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 197z, S. 166/67. Morelli (J. Lermolieff), Kunstkritische Studien, S. 117-119 (über Signorelli), S. 206-208 (über Boltraffio). 13 a. a. O., S. viii. lJ Mnrelh [Lermolieff), a. a. O.. S. 94/95- 15 Vgl. seine Einführung in: A. Conan Doyle, The Adventures of Sherlock Holmes, A faesimile of the stories as they toere first published in the Strand Magazine, New York 1976, S. x-xi. Der Wolfsniann vom Wolfsnuiun, hrsg von Muriel Cardin«, Frankfurt .1111 Main 107.', S i«a: T Reik. Das Ritual. Psychoanalytische Slioffeit, Leipzig/Wien/Zürich 1928. S. 16/17. Zur Unterscheidung zwischen Symptom und Indiz vgl. C. Segrc, La gerarchia dei segni, in: Pskanalisi e semiotica. Hrsg. A. Verdiglionc, Mailand 1975, S. 33; T. A. Sebeok, Theorie und Geschichte der Semiotik, Reinbek 1979. 92 93 17 Vgl. Conan Doyle, The Annotated Sherlock Holmes, a. a. O., Bd. i, Einführung (Two doctors and a detective: Sir Arthur Conan Doyle, John A. Watson, M. D.,and Mr. Sherlock Holmes of Baker Street), S. 7 ff.; zu John Bell, dem Arzt, der Doyle zur Figur des Holmes inspirierte. Vgl. auch A. Conan Doyle, Memories and Adventures, London 1924, S. 25-26, 74-75. 18 Vgl. A. Wesselofsky, Eine Märchengruppe, in: »Archiv für slavische Philologie«, 9,1886, S. 308/9, mit Bibliographie. 19 Vgl. den berühmten Essay von R. Jakobson, Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen, in: Roman Jakobson, Aufsätze zur Linguistik und Poetik, Frankfurt/Berlin/Wien 1979, S. 117-141. 2" Vgl. E. Caznde und C. Thomas, Alfabeto, in: Enciclopedia, Bd. I, Turin 1977, S, 289 (siehe auch L'ncmble, La scrittura, Mailand 1962, S. 22-23, der in einem wirkungsvollen Paradox feststellt, daß der Mensch erst lesen und dann schreiben gelernt hat). Allgemein zu diesen Fragen siehe W. Benjamin, Über das mimetische Vermögen, in: ders., Angelus Novus, Frankfurt am Main 1966, S. 96-99. 11 Ich berufe mich auf den ausgezeichneten Aufsatz von J. Bottero, Symptomes, signes, ecritures, in: Bottero u, a. Divination et rationalite, Paris 1974, S. 70-197. Hieraus auch die folgenden Angaben zu Mesopotamien, S. 154 ff. 22 Es handelt sich hier um die Schlußfolgerung, die Peirce »presumtiv« oder »abduktiv« nannte und sie so von der einfachen Induktion unterschied: vgl. C. S. Peirce, Deduktion, Induktion und Hypothese, in: ders., Schriften zum Pragmatismus und Pragmalizismus, Hrsg. von K.-O. Apel, Frankfurt am Main 1976, S. 229-250. 23 Hierzu sowie zu dem Folgenden vgl. Bottero, a. a. O. 24 Siehe dazu die sehr reichhaltige Untersuchung von M. Detienne und Vernant, Les ruses de l'intelli-gence. La metis des grecs, Paris 1974. Die wahrsagerischen Eigenschaften der Metis werden auf S. 104 ff. erwähnt: zur Verknüpfung der angegebenen Wissensformen mit der Wahrsagekunst vgl. auch S. 145-149 (in bezug auf die Seeleute) und S. 270 ff. Zur Medizin vgl. S. 297 ff. 25 Vgl. P. K. Feyerabend, Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt am Main 1976. 2 »Coniector« ist der Seher. - Ich beziehe mich hier und an anderen Stellen auf einige Feststellungen von S. Timpanaro, J7 lapsus freudiano. Psicanalisi e critica testuale, Florenz 1974, aber sozusagen unter umgekehrten Zeichen. Kurz (und vereinfacht) gesagt: während nach Timpanaro die Psychoanalyse abzulehnen ist, weil sie innerlich der Magie nahesteht, versuche ich zu zeigen, daß nicht nur die Psychoanalyse, sondern auch die meisten sogenannten Humanwissenschaften von einer wahrsagerischen Erkenntnistheorie beeinflußt sind. Die individualisierende Erklärungsweise der Magie und den individualisierenden Charakter der beiden Wissenschaften Medizin und Philologie erwähnte schon Timpanaro, a. a. O,, S. 71-73. 27 Zum »Wahrscheinlichkeitscharakter« historischer Erkenntnis siehe die denkwürdige Schrift von Marc Bloch, Apologie der Geschichte oder der Beruf des Historikers, Stuttgart 1974. 28 Zu den Auswirkungen der Erfindung der Schrift vgl. J. Goody und I. Watt, The Consequences of Literacy, in: »Comparative Studies in Society and History«, v, 1962-63, S. 304-345 (jetzt: J. Goody, The Domestication of the Savage Mind, Cambridge 1977). Zur Geschichte der Textkritik nach Erfindung des Buchdruckes vgl. E. J. Kenney, The Classical Text. Aspects of Editing in The Age of Printed Books, Berkeley (Cal.) 1974. 19 Vgl. G. Galilei, II Saggiatore, hrg. von L. Sosio, Mailand 1965, S. 38. Vgl. E, Garin, La nuova scienza e il simbolo del »libro«, in: La cultura filosofica del Rinascimento italiano. Ricerche e document!, Florenz 1961, S. 451-465, wo die von E. R. Curtius vorgeschlagene Interpretation dieser und anderer Textstellen von Galilei unter einem ähnlichen Aspekt wie in diesem Aufsatz erörtert wird. 30 Galilei, a. a. O., S. 264. Vgl. dazu auch J. A. Martinez, Galileo on Primary and Secondary Qualities, in: »Journal of the History of Behavioral Sciences«, 10, 1974, S. 160-169. Hervorhebungen im Text Galileis durch den Verfasser. 31 Vgl. J. N. Eritreo (G. V. Rossi), Pinacotheca imaginum illustrium, doctrinae vel ingenii laude, virorum . . ., Leipzig 1692, Bd. 11, S. 79-82. 32 G. Mancini, Considerazioni sulla pittura, hsg. von A. Marucchi, 2 Bde., Rom 1956-57. Die Bedeutung Mancinis als »Kenner« unterstreicht D. Mahon, Studies in Seicento Art and Theory, London 1947, S. 279 ff. Reich an Informationen, aber zu begrenzt im Urteil: J. Hess. Note manciniane, in: »Münchener Jahrbuch der bildenden Kunst«, Dritte Folge, xix, 1968, S. 103-120. 33 Mancini, a. a. O., Bd. 1, S. 133 ff. 34 Vgl. Eritreo, a. a. O., S. 80-81 (Hervorhebungen v. Verf.) Weiter unten (S. 82) wird eine andere von Mancini durchgeführte Diagnose, die sich als richtig erwies (Patient war Urban vnl), als »seu vaticinatio, seu praedictoi bezeichnet. j5 Von dieser Voraussetzung geht natürlich Walter Benjamin aus; siehe: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: W. Benjamin, íí/iimimiiioiieu. Frankfurt am Main 1961, aus; abei er bezieht sich nur auf die Werke der bildenden Kunst. Der Einzigartigkeit dieser Werke -insbesondere der Gemälde - wird die mechanische Reproduzierbarkeil literarischer Texte gegenübergestellt bei É. Gilson, Malerei und Wirklichkeit. Salzburg 1965 (den Hinweis auf diesen Text verdanke ich Renaio Turci). Für Gilson handelt es sich aber um einen inneren Gegensatz, nicht etwa einen historischen, wie ich hier zu zeigen versucht habe. 36 Mancini, a. a. O., Bd. 1, S. 134 (am Ende des Zitates berichtige ich »Malerei« durch »Schrift«, wie es dein Sinn entsprich]). V Mancini, Coiisidernzioni, «. it. O., S. 107; C. Baldi, Traum« . . ., Carpi 1622, S. 17,18 ff. Über Baldi, der auch über Physiognomie und Wahrsage schrieb, siehe die bio-bibliographischcn Angaben im Di-zionario biografico degli italiani (Rom 1963, S. 465-467), hrsg. von M. Tromi (der sieh schließlich das abschätzige Urteil von Morérl zu eigen macht: -Soll man ihn ruhig in den Katalog derjenigen aufnehmen, die über Nichtigkeiten schreiben.«) Es ist bemerkenswert, daß Mancini in dem noch vor dem 13. November 1610 abgeschlossenen Disconv dt pittura geschrieben hatte: ». . . die individuellen Eigenschaften des Schreibens hat jener edle Geist abgehandelt, der in seinem Büchlein, das unter den Leuien verbreitet ist, die Gründe für diese Eigenschaften zu zeigen und zu nennen versucht hat, statt zu versuchen, aus der Schreibweise Auskünfte über das Temperament und die Gewohnheiten des Schreibers zu geben, was merkwürdig und intetessant, aber etwas zu begrenzt ist ...« (vgl. Considemziani, a. a. O., S. 306/7; ich berichtige ^abstraki-astratto< durch »astreiio-bcgrenzi«; aul der Basis der Version in Ms. 1698 (60) der Universitätsbibliothek in Bologna, c. 34r). ,s Mancini, CoMsiiieraziorii, a. a. O., S. 134. é Vgl. A. Averlino. (gen. Filarete), Traclat über die Baukunst und andere Schriften, hsg von Wolfgang von Oeningen, Hildcshcim und New York 1974 (Buch 1, S. 44-62). *° Vgl. Scalzini, II secretario, Venedig 1585, S. 77-78: »Sollen gewisse Leute, die mit Lineal und Time gemütlich schreiben, duch bitte einmal sagen, wie lange sie für einen Auftrag brauchen würden, wenn sie im Dienst eines Fürsten oder Herrn stünden, für den sie. Wie es gewöhnlich Brauch ist, in vier oder fün( Stunden vierzig oder fünfzig lange Briefe schreiben müßten, und die /.um Schreiben ins Zimmer gerufen würden?!« (die Polemik richtet sich gegen die nicht weiter benonnten »Meister im Angeben«, denen vorgeworfen wird, daß sie eine Kanzleischrift nur langsam und mühsam 111 Umlauf bringen), 41 Averlino (Filarete) a. a. O., S, 57 (die deutsche Ausgabe ist gekürzt, nicht alles hier Zitierte ist in ihr enthalten |. 42 Vgl. z. B.: Craig's Knies of Historien/ Evidence, 1699, in: »History and Theory - Beiheft 4«, «964. 43 Zu diesem, hier kaum angeschnittenen Thema vgl. das sehr reichhaltige Buch von I, Hacking. The Emergence of Probability. A Philasophical Study of Early Mens Abotit Probability, htduetion and Statistical Inference, Cambridge 1975. 44 Vgl. dazu M. Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, München t973 45 Vgl. auch C. Ginzburg, Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt am Main 1979, S. 93/94- 46 Ich nehme hier in etwas verändertem Sinne Bemerkungen von Michel Foucault auf. 47 Vgl. |. ). Winckelmann, Briefe, Hrsg. H. Diepolder 11. W. Rehm, Bd. 11, Berlin 1954, S. 316 (Brief v. 30. 4. 1763 an G. L. Bianconi) u. Anm. auf S. 498. Der Hinweis aul die »kleinen Erkenntnisse« in: Briefe, Bd. 1, Berlin 1952, S. 391. 48 Vgl. E. Cerulli, Linn raceolta persiana di novella tradotte a Venezia nel 1557, in: »Atti dell 'Accademiu Nazionaledet Liticei«, ccclxxii, 1975, Memorie della classe di scienze moraliecc, s. vín, Bd. xvin, Heft 4, Rom 1975. « Vgl. W. S. Heckecher, Petiten pereeptions: All Account of sortes Worbiirgiaiuie, in: »The Journal of Medieval and Renaissance Studies«, 4,1974, S. 130-131 - ein Hinweis, der auch zu finden ist in: ders., The Genesis of leonology, in: Stil und Oberlieferung in der Kunst des Abendlandti, Bd. 111, Berlin 1967 (Akten des xxi, Iniernaiioiialen Kongresses für Kustgeschichtc in Bonn, 1964), S. 245, Anm. n. In den beiden an Ideen und Hinweisen sehr reichhaltigen Aufsätzen von Heckschcr wird die Genese der Methode Aby Warburgs unter einem Gesichtspunkt untersucht, von dem teilweise auch in diesem Aufsar/, ausgegangen wird. In einerweiteren Fassung dies e r Arbeil habeich vor, u. a. die von Heckscher angedeutete Spur Leibniz' zu verfolgen. 94 95 50 Voltaire, Zadig oder das Schicksal, Frankfurt am Main 1979, S. 21. 51 G. Cuvier, Recherches sur les ossements fossiles . . ., Bd, 1, Paris 1834, S. 185. 52 Vgl, Th. Huxley, On the Method of Zadig; Retrospective Prophecy as a Function of Science, in: Science and Culture, London 1881, 5. 128-148. Auf S. 132 erklärt Huxley: ». . . even in the restricted sense of >divination<, it is obvious that the essence of the prophetic operation does not lie in its backward or forward relation to the course of time, but in the fact that it is the apprehension of that which lies out of the sphere of immediate knowledge; the seeing of that which to the natural sense of the seer is invisible «. 53 (J. B. Dubos), Reflexions critiques sur la poesie et sur la peinture, Bd. n, Paris 1729, S. 562-365. 54 E. Gaboriau, Monsieur Lecoq, EkL 1, L'enquete, Paris 1877, S. 44. Auf S. 25 wird die »jeunc theorie« des jungen Lecoq der »vieille pratique* des alten Polizisten Gevrol, dem »champion de la police positiviste« [S. 20), der sich nur bei den Erscheinungen aufhält und deshalb nichts sehen kann, gegenübergestellt. 55 Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort (1859), MEW 13, S. 8. 56 Morelli (i. Lermolieff), Kunstkritische Studien, a. a. O., S. 94 und 95. 57 (Autorengruppe), L'identite. Seminaire interdiseiplinaire dirige par Claude Levi-Strauss, Paris 1977. 59 Vgl. E. P, Thompson, Whigs and Hunters. The Origin of the Black Act, London 1975. 59 Vgl. M. Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1976. 60 Vgl. A. Bertitlon, L'identite des r&itüvistes et in hi de relegation, Paris 1883 (Ausz. aus »Annales de demographic internationale«, S. 24); E. Locard, Lidentification des recidivistes, Paris 1909. Das Gesetz Wnldeck-Rutisseau, das bei ^Mehrfach-Rückfälligen« Gefängnis und bei den für »unheilbar« gehaltenen Individuen Ausweisung anordnete, stammt aus dem Jahre 1885. 61 Vgl. F. Galton, Finger Prints, London 1892, mit einem Verzeichnis der zuvor erschienenen Publikationen. 62 J. E. Purkyne, Opera selecta, Prag 1948, S. 29-56. ^ a. a. O., S. 31. 64 a. a. O., S. 31-33. 65 Galton, a. a. O., S. 24 ff. 66 Galton, a. a. O., S, 27-28 (vgl. auch die Danksagung auf S. 4), 67 a. a. O., S- 17-18. 68 Vgl. L. Traube, Geschichte der Paläographie, in: Zur Paläographie und Handschriftenkunde, Hrsg. P. Lehmann, Bd. l, München 1965 (Neuauflage der Ausgabe von 1909); A. Warburg, Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1.2, Leipzig und Berlin 1932; L. Spitzer, Die Wortbildung als stilistisches Mittel exemplifiziert an Rabelais, Halle 1910; M. Bloch, Les Rois thaumaturges. Etude sur le caractere surnaturei attribue ä la puissance royale, particulierement en France et en Angleterre, Paris 1961 (Originalausgabc 1924). 69 Außer den Aforistni politic! von CTampanella, die ursprünglich in lateinischer Übersetzung als Teil der Reali$ philosophia (De politics in aphorismos digesta) erschienen sind, vgl. noch: G. Canini, Aforismi politici cavati dall'Historia d'Italia dt M. Francesco Guicciardmi, Venedig 1625 (vgl. T. Bozza, Sättori politici italiani dal 1550 al 3650, Rom 1949, S. 141-143, 151-152). Siehe auch Stichwort »aphorisme« in: Dictionnaire von Littre. 70 Auch wenn er ursprünglich eine juristische Bedeutung hatte: got Geschichte dieses Terminus vgl. R. Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Well, Frankfurt am Main 1973- 71 Vgl. das sehr reichhaltige und scharfsinnige Buch von Y. Mourad, La physhgnomonie arabe et ia rKitab Al-Firasa« de Fakhr Al-Din Al-Razi, Paris 1939, S. 1-2 (und auch S. 60-61). 71 Vgl, Mourad, a. a. 0,, S. 29; er gibt folgende Klnssifizieruugen der verschiedenen Formen der Physiognomik an, die im Traktat von Tashköpru Zadrfi (1560 n. Chr.) enthalten sind: 1.) Wissenschaft von den Muttermalen. 2) Handlesekunst, 3) Kunst, die Schulterblätter zu »lesen», 4) Wahrsagung, basierend auf Spuren, 5) genealogische Wissenschaft, basierend auf der Untersuchung von Körperteilen und Haut, 6J Kunst der Orientierung in der Wüste, 7) Kunst der Quellhudung, Sj Kunst der Entdeckung von Metalknrkommen, 9J Kunsi der Regen vorhersage, io) Weissagung, die aus vergangenen und gegenwärtigen Ereignissen schließt, ti) Weissagung, die aus unwillkürlichen Körperbewegungen schließt.« Auf S. t5 ff. regt Mourad einen sehr suggestiven Vergleich zwischen der arabischen Physiognomik und den Untersuchungen der Gestalt-Psychologen über die Wahrnehmung von Individualität an. Mentalität und Ereignis. Über die Methode bei Marc Bloch Zwanzig Jahre nach dem Tod des großen französischen Historikers, der von den Nazis ermordet wurde, erscheint die Sammlung seiner »kleineren« Schriften.1 Sie umfaßt, wie Perrin (ein ehemaliger Kollege und Mitarbeiter Blochs) in seinem Vorwort bemerkt, die historiographischen Aufsätze, »die von Bloch veröffentlicht oder von ihm im Hinblick auf eine eventuelle Veröffentlichung verfaßt wurden« (S. ix). Ausgenommen sind einige Gelegenheitsartikel, die er in einer (nicht näher angegebenen) Zeitung während der Wahlkampagne von 1928 veröffentlichte, und eine sehr kurze Jugendschrift, die bereits von Bloch selbst verworfen worden war. Die Aufsätze sind auf verschiedene Rubriken mit den Titeln »L'histoire et les historiens«, »Les societes du Haut Moyen Age«, »Les institutions feodales«, »Le servage dans la societe europeenne«, »L'Allemagne et l'Empire Romain Germani-que«, »Vie rurale«, »Geographie historique: l'Ile-de-France«, »Histoire de l'econo-mie et des techniques« und »Aspects de la mentalite medievale«. Weggeblieben sind dagegen die sehr zahlreichen Rezensionen und bibliographischen Übersichten, die oft sehr wichtig sind: man darf hoffen, daß sie später gesammelt und wiederveröffentlicht werden (vgl. Einl. S. ix). Die beiden Bände, die, soweit es aus einem Verweis auf S. 1031 hervorgeht, von R. Mandrou bearbeitet wurden, enden mit einer Bibliographie des gesamten historiographischen Werkes Blochs (eingeschlossen also die Rezensionen, Anmerkungen, Vermerke usw.), die von M. Cl. Gas-nault-Beis erstellt worden ist (S. 1031-1104). Sicher muß man diese Mühe dankbar anerkennen, weil dadurch die Möglichkeit gegeben ist, die Aufsätze, die in nicht nur für den italienischen Forscher schwer zugänglichen Zeitschriften erschienen waren, zu lesen oder wieder zu lesen. Es ist dennoch geboten, auf einige Mängel und Lücken hinzuweisen, die den Wert dieser gleichwohl willkommenen Ausgabe mindern. Beginnen wir mit dem schwerwiegendsten Punkt. In verhängnisvoller Flüchtigkeit ist von dem Aufsatz La lutte pour l'individualisme agraire dans la France du xvnf siede, der 1930 in den »Annales d'histoire economique et sociale« veröffentlicht wurde (nebenbei gesagt, einer der schönsten Aufsätze Blochs), nur die erste Hälfte wieder abgedruckt worden. Der Aufsatz erschien in drei Folgen unterteilt, Dieser Text erschien erstmals unter dem Titel A proposito dalla raecolta äci saggi storici äi Marc Bloch in; »Studi medievali«, 3, R., vi, 1965, S. 335-353. 96 97