_ . . „„„ „ , Anonyma Die Andere Bibliothek Herausgegeben ; von Hans Magnus Enzensberger :. | i EINE FRAU IH BERLIN i lagebuthaufieithnungen vom 20.AnrilWs 22.iuni 1945 Mit einem Nachwort von Kurt W Marek Eichborn Verlag Frankfurt am Main 2003 Freitag, 20. April 1945,16 Uhr Ja, der Krieg roür auf Berlin zu. Was gestern noch fernes Murren war, ist heute Dauergetrommel. Man atmet Geschützlärm ein. Das Ohr ertaubt, es hört nur noch die Abschüsse schwerster Kaliber. Eine Richtung ist längst nicht mehr auszumachen. Wir leben in einem Ring von Rohren, der sich stündlich verengt. Zwischendurch Srunden von unheimlicher Lautlosigkeit. Plötzlich fällt einem der Frühling ein. Durch die brandschwarzen Ruinen der Siedlung weht in Schwaden Fliederdufc aus herrenlosen Gärren. Der Akazienstumpf vor dem Kino schäumt über von Grün. Irgendwann zwischen den Alarmen müssen die Schrebergärtner gebuddelt haben, denn bei den Lauben an der Berliner Straße sieht man frisch umbrochenes Land. Nur die Vögel mißtrauen diesem April; unsere Dachrinne ist spatzenleer. Gegen drei Uhr fuhr am Kiosk der Zeitungsfahrer vor. Es lauerten ihm schon zwei Dutzend Leute auf. Im Nu verschwand er zwischen Händen und Groschen. Gerda vom Portier ergatterte eine Handvoll »Nachtausgaben« und ließ mir eine. Gar keine richtige Zeitung mehr, bloß noch eine Art Extrablatt, zweiseitig bedruckt und ganz feucht. Im Weitergehen las ich als erstes den Wehrmachtbericht. Neue Ortsnamen: Müncheberg, Seelow, Buchholz. Klingt verdammt märkisch und nah. Ein flüchtiger Blick auf die Westfront. Was gehen uns jetzt die an ? Unser Schicksal rollt von Osten heran und wird unser 9 Klima ändern, wie es einmal die Eiszeit tat. Warum ? Man quält sich mit unfruchtbaren Fragen. Ich will jetzt nur den Tag sehen, die nahen Aufgaben. Um den Kiosk herum überall Gruppen von Menschen, käsige Gesichter, Gemurmel: »Nein, wer hätte das gedacht.« »So'n bißken Hoffnung hat wohl jeder noch jehabt.« »Auf uns kommt's nicht an, wir sind Neese.« Und, in bezug auf Westdeutschland: »Die haben's gut. Die haben's überstanden.« Das Wort »Russen« spricht keiner mehr aus. Es will nicht über die Lippen. Wieder oben in der Dachwohnung. Mein Zuhause ist sie nicht. Ich hab keins mehr. Wohl war auch die möblierte Stube, die mir weggebombt wurde, nicht mein. Immerhin hatte ich sie im Lauf von sechs Wohnjahren mit meiner Lebensluft erfüllt. Mit meinen Büchern und Bildern und den hundert Sachen, die man um sich häuft. Mein Seestern vom letzten Friedenssommer auf Norderney. Der Kelim, den Gerd mir aus Persien mitgebracht hatte. Die verbeulte Weckeruhr. Photos, alte Briefe, die Zither, meine Münzen aus zwölf Ländern, die angefangene Strickerei - all die Andenken, Häute, Schalen, Ablagerungen, der warme Trödel gelebter Jahre. Jetzt, wo alles weg ist und mir nur ein Handkoffer mit Kleiderkram bleibt, fühle ich mich nackt und leicht. Weil ich nichts mehr habe, gehört mir alles. Zum Beispiel diese fremde Dachwohnung. Das heißt, ganz fremd ist sie nicht. Wohnungsinhaber ist ein ehemaliger Kollege von mir. Ich war des öfteren hier zu Gast, als er noch nicht einberufen war. Wir tätigten zeitgemäße Geschäfte miteinander: seine dänischen Fleischkonserven gegen meinen französischen Kognak; meine französische Seife gegen die Strümpfe, die er über Prag bekam. Ich konnte ihm noch eben meine Ausbombung mitteilen und bekam Erlaubnis, hier einzuziehen. Zuletzt hat er sich aus Wien ge- meldet, wo er bei einer Zensurstelle der Wehrmacht saß. Wo er jetzt ist -? Jedenfalls sind Dachwohnungen wenig gefragt. Außerdem regnet es durch, da die Ziegel zum Teil zertöppert sind oder weggepustet. Ich finde keine Ruhe hier oben, trabe immerfort durch die drei Räume. Systematisch habe ich alle Schränke und Schübe nach Brauchbarem abgesucht, das heißt nach Eßbarem, Trinkbarem, Brennbarem. Leider fast nichts gefunden. Da hat die Frau Weiers, die hier saubermachte, wohl vorgearbeitet. Jetzt gehört alles allen. Man ist nur noch lose mit den Dingen verbunden, unterscheidet nicht mehr klar zwischen eigenem und fremdem Besitz. Eingeklemmt in einer Schubladenritze fand ich einen Brief an den Wohnungsinhaber. Ich schämte mich, daß ich ihn las, und las ihn doch. Ein verliebter Liebesbrief, hab ihn im Bad weggespült. (Noch haben wir die meiste Zeit Wasser.) Herz, Schmerz, Liebe, Triebe. Was für ferne, fremde Wörter. Offenbar setzt ein verfeinertes, wählerisches Liebesleben regelmäßige, ausreichende Mahlzeiten voraus. Mein Zentrum ist, während ich dies schreibe, der Bauch. Alles Denken, Fühlen, Wünschen und Hoffen beginnt beim Essen. Zwei Stunden später. Das Gas brennt mit sterbendem Flämmchen. Seit Stunden stehen die Kartoffeln darauf. Die armseligste Schnapskattoffel im Land, sie zerfällt zu Matsch und schmeckt nach Pappe. Eine davon hab ich halb roh geschluckt. Seit heute früh schon stopfe ich mich voll. Hab bei Bolle die hellblauen Milchmarken eingelöst, die Gerd mir zu Weihnachten geschickt hat. Es war höchste Zeit. Die Verkäuferin schöpfte schon aus schräg gehaltener Kanne und sagte, nun komme keine Milch mehr nach Berlin. Das heißt Kindertod. Gleich auf der Straße trank ich ein paar Schluck ab. Füllte mir daheim den Magen mit Griesbrei und schickte einen Brotkanten nach. Theoretisch bin ich so satt wie 10 11 lange nicht. Praktisch quält mich tierischer Hunger. Vom Essen bin ich erst richtig hungrig geworden. Bestimmt gibt es dafür eine wissenschaftliche Erklärung. Etwa, daß Speise die Magensekretion anregt und die Säfte verdauungslustig macht. Und wenn diese dann richtig in Schwung kommen, ist der kleine Vortat schon wegverdaut. Dann grollen die Säfte. Beim Kramen in den kümmerlichen Buchbeständen des Hausherrn (ich fand auch die leere Kladde dort, in die ich jetzt schreibe) klappte ich einen Roman auf. Englisches Adelsmilieu, darin etwa folgendet Satz: »...warf einen flüchtigen Blick auf ihre unberührte Mahlzeit, erhob sich und ging...« Ich war schon zehn Zeilen weiter, als ich magnetisch angezogen zu dem obigen Satz zurückkehrte. Ich las ihn wohl ein dutzendmal und ertappte mich dabei, wie ich mit den Nägeln über die Buchstaben kratzte, als könnte ich die unberührte Mahlzeit — sie war vorher genau beschrieben worden — aus dem Schmöker herauskratzen. Verrückt sowas. Beginn eines leichten Hungerwahnsinns. Schade, daß ich darüber nicht in Hamsuns Roman Hunger nachlesen kann. Selbst wenn ich nicht verbombt wäre, besäße ich das Buch nicht mehr. Vor über zwei Jahren ist es mir in der U-Bahn aus der Einkaufstasche geklaut worden. Es war in eine Buchhülle aus Bast eingeschlagen. Offenbar ist es von dem Dieb für eine Lebensmittelkartentasche gehalten worden. Der Arme! Muß der enttäuscht gewesen sein! Übrigens eine Story, die Hamsun gefallen würde. Heute morgen beim Bäcker ging das Gerede: »Wenn die kommen, holen sie alles Eßbare aus den Häusern. Die geben uns nichts. Die haben ausgemacht, daß die Deutschen erst mal acht Wochen hungern sollen. In Schlesien laufen sie schon in die Wälder und graben nach Wurzeln. Die Kinder verrecken. Die Alten fressen Gras wie die Tiere.« Soweit die Vox Populi. Man weiß ja nichts. Kein Völkischer Beobachter liegt meht auf der Treppe. Keine Frau Weiers kommt und liest mir zum Frühstück die fetten Schändungsbalken vor. »Siebzigjährige Greisin geschändet. Ordensschwester vierundzwanzigmal vergewaltigt.« (Wet zählte da mit?) Das sind so die Schlagzeilen. Sollen sie etwa die Männer Berlins anstacheln, uns Frauen zu schützen und zu verteidigen? Lachhaft. Tatsächlich werden dadurch nur weitere Tausende hilfloser Frauen und Kinder auf die Ausfallstraßen gen Westen gejagt, wo sie dann verhungern oder durch Bordbeschuß krepieren dürfen. Beim Lesen kriegte Frau Weiers immer ganz runde, glänzende Augen. Irgend etwas in ihr genoß die Greuel. Oder ihr Unbewußtes freute sich, daß es sie nicht traf. Denn Angst hat sie, und weg wollte sie unbedingt. Hab sie seit vorgestern nicht mehr gesehen. Das Radio ist seit vier Tagen tot. Wieder mal merkt man, was für zweifelhafte Sachen uns die Technik beschert hat. Sie haben keinen Wert an sich, sind nur bedingt wertvoll, so lange man sie irgendwo einstöpseln kann. Brot ist absolut. Kohle ist absolut. Und Gold ist Gold, in Rom oder Peru oder Breslau. Dagegen Radio, Gasherd, Zentralheizung, Kochplatte, die ganze große Bescherung der Neuzeit — sinnloser Ballast, wenn die Zentrale versagt. Wir sind zur Zeit auf dem Rückmarsch in vergangene Jahrhunderte. Höhlenbewohner. Freitag, schätzungsweise 19 Uhr. Hab schnell noch eine letzte Fahrt auf der Straßenbahn gemacht, Richtung Rathaus. Wummern und Rollen, pausenloses Gewitter der Geschütze. Kläglich schrie die Schaffnerin dagegen an. Ich fraß die Gesichter der Menschen ringsum. Es steht alles darin, was niemand ausspricht. Wir sind ein Volk von Stummen geworden. Bloß im vertrauten Keller sprechen die Menschen noch miteinander. Wann wetde ich wieder mit der Bahn fahren? Ob überhaupt je? In 12 13 dem Zeitungsblatt steht, daß ab morgen die Fahrausweise der Stufen I und II, mit denen sie uns die letzten paar Wochen gepiesackt haben, ungültig werden — daß bloß noch Inhaber der roten Karte von Stufe III die Verkehrsmittel benutzen dürfen. Also einer von vielleicht vierhundert, also keiner, also Schluß. Kalter Abend, trockene Wasserhähne. Immer noch kochen meine Kartoffeln auf dem winzigen Gasflämmchen. Ich kramte so herum, füllte Erbsen, Graupen, Mehl und Kaffee-Ersatz in Tüten, die ich in einem Karton verstaute. Wieder ein Stück Kellergepäck mehr zu schleppen. Hab alles nochmals aufgeschnürt, als mir einfiel, daß ich das. Salz vergessen hatte. Ohne Salz kann der Körper nicht bestehen, wenigstens nicht für lange Zeit. Und auf lange Kellerhaft müssen wir uns wohl einrichten. Freitag, 23 Uhr, im Keller, bei Petroleumlicht, mein Schreibheft auf den Knien.- Gegen 22 Uhr fielen hintereinander drei oder vier Bomben. Gleichzeitig heulte die Sirene los. Es heißt, daß sie nun mit Handbetrieb geht. Kein Licht. Im Finstern treppab wie seit Dienstag. Man tappt und rutscht. Irgendwo schnarrt ein kleiner Handdynamo und wirft Schattenriesen auf die Wand des Treppenhauses. Der Wind bläst durch die zerbrochenen Scheiben und klappert mit den Verdunklungsrollos, die keiner mehr herabläßt — wozu auch? Füße schurren. Koffer ecken an. Lutz Lehmann schreit »Mutti!«. Der Weg führt über die Straße zum Seiteneingang, dann Stufen abwärts, durch einen Gang, über ein Hofquadrat mit Sternen darüber und dem Hornissengesumm der Flugzeuge. Nochmals Stufen abwärts, Schwellen, Gänge. Endlich, hinter einer zentnerschweren, mit zwei Hebeln verschließbaren, gummigeränderten Eisentür unser Keller. Amtlich Schutzraum geheißen. Von uns Höhle, Unterwelt, Angstkatakombe, Massengrab genannt. Ein Wald von Stämmen, nur roh entrindet, stützt die Decke. Selbst in dieser eingesperrten Luft riechen sie harzig. Der alte Schmidt, Gardinenschmidt, quatscht allabendlich von statischen Berechnungen, nach denen der Balkenwald auch dann standhalten soll, wenn das Haus herunterkommt. Das heißt, wenn die Trümmermassen in bestimmten Fallwinkeln und Gewichtsverhältnissen stürzen. Der Hauswirt, der das ja wissen müßte, kann uns nicht Rede stehen. Er hat sich nach Bad Ems abgesetzt und ist bereits Amerikaner. Das Kellervolk hier im Haus ist jedenfalls überzeugt, daß seine Höhle eine der sichersten sei. Nichts Fremderes als ein fremder Keller. Ich gehöre nun seit fast drei Monaten dazu und fühle mich trotzdem noch fremd. Jeder Keller hat andere Tabus, andere Ticks. In meinem alten Keller hatten sie den Löschwassertick. Allerorten stieß man sich an Kannen, Eimern, Töpfen, Fässern, in denen eine trübe Brühe stand. Trotzdem ist das Haus wie eine Fackel heruntergebrannt. Die ganze Löschbrühe wäre soviel gewesen wie einmal hineingespuckt. Frau Weiers hat mir erzählt, daß in ihrem Keller der Lungentick grassiert. Sobald die erste Bombe fällt, beugen sich alle vornüber und atmen ganz flach, wobei sie die Hände gegen den Leib pressen. Irgend jemand hat ihnen gesagt, das verhindere Lungenrisse. Hier in diesem Keller haben sie den Mauertick. Alle sitzen sie mit dem Rücken gegen die Außenmauer. Bloß unter der Luftklappe ist eine Lücke in der Reihe. Bummst es, so kommt der Tücher-tick hinzu: Alle winden sich ein bereitgehaltenes Tuch um Mund und Nase und verknoten es am Hinterkopf. Das hab ich noch in keinem Keller gesehen. Ich weiß nicht, wogegen der Lappen helfen soll. Aber wenn es ihnen guttut —! Sonst das übliche Kellervolk auf den üblichen Kellerstühlen, unter denen vom Küchenstuhl bis zum Brokat - 14 15 sessel alle Typen vertreten sind. Die Leute: groß- und kleinbürgerlich gemixt mit proletarischen Einsprengseln. Ich schaue mich um, notiere: Die Bäckersfrau voran, zwei feiste rote Bäckchen unterm Lammfellkragen. Die Apothekerswitwe, die einen Samariterkurs absolviert hat und manchmal hier unter den anderen Frauen auf zwei zusammengestellten Stühlen die Karten legt. Frau Lehmann, Gatte im Osten vermißt, die Kissentüte mit dem schlafenden Baby im Arm und den schlafenden vierjährigen Lutz, dessen Schnürsenkel lang herabbaumeln, auf dem Schoß. Der junge Mann in grauen Hosen, mit Hornbrille, der sich bei näherem Zusehen als junges Mädchen entpuppt. Drei ältliche Schwestern, Schneiderinnen, die wie ein schwarzer Pudding dahocken. Das Flüchrlingsmädel aus Königsberg/ Ostpreußen in seinem zusammengestöppelten Plunder. Der verbombte, hier eingewiesene Schmidt, Gardinengrossist ohne Gardinen und trotz seines hohen Alters pausenloser Schwätzer. Das Buchhändler-Ehepaar, das etliche Jahre in Paris gelebt hat und des öfteren halblaut miteinander französisch parliert... Soeben hab ich zugehört, wie eine vierzigjährige Frau, in Adlershof verbombt und hier im Haus bei ihrer Mutter untergeschlüpft, von ihrer Ausbombung erzählte. Eine Sprengbombe hatte sich in Nachbars Garren gewühlt und auch ihr Haus, Frucht aus Gespartem, in Kleinholz verwandelt. Dabei war ihre ausgemästete Sau bis hoch hinauf in die Dachsparren geschleudert worden. »Die war nicht mehr zu genießen.« Auch das Nachbarsehepaar hatte dran glauben müssen. Zwischen Haustrümmern und Gartendreck hatte man die beiden zusammengesucht — was man eben fand. Es war ein schönes Begräbnis gewesen. Ein Männerchor der Schneiderinnung hatte am Grab gesungen. Zum Schluß allerdings ging es durcheinander. Die Sirenen heulten in das Lied von Gottes Rat hinein. Holterdiepolrer mußten die Totengräber den Sarg hinunterlassen. Man hörte den Inhalt darin rumpeln. Und nun die Pointe, die Erzählerin kicherte schon im voraus in ihre bis dato wenig komische Geschichte hinein: »Und stellen Sie sich vor — als die Tochter drei Tage danach im Garten rumwühlt und guckt, ob noch was zu brauchen ist, da findet sie doch hinter der Regentonne wahrhaftig noch 'nen Arm vom Papa.« Etliche haben kurz gelacht, die meisten nicht. Ob sie den Arm nachbegraben haben? Weiter, die Kellerrunde. Mir gegenüber, in Decken eingewickelt, ein fiebrig schwitzender älterer Herr, Kaufmann von Beruf. Ihm zur Seite seine Gattin, die hamburgisch s-pitz s-pricht, und die achtzehnjährige Tochter, ausgerechnet S-tinchen gerufen. Dann die kürzlich eingewiesene Blonde, die keiner kennt, mit ihrem ebenso unbekannten Untermieter Hand in Hand. Die mickrigen Postrats a.D. - sie stets und ständig mit einer Beinprothese im Arm, einem kunstvollen Ding aus Nickel, Leder und Holz - eine unvollständige Pietä. Der einbeinige Sohn dazu liegt - oder lag, man weiß ja nichts — in einem Breslauer Lazarett. Gnomenhaft im Sessel kauert der bucklige Doktor ehem. von der Limonadenfirma. Dann Portiers, bestehend aus Mutter, zwei Töchtern und einem vaterlosen Enkelsohn. Und Erna und Henni aus dem Bäckerladen, die nicht mehr nach Hause fahren können und nun beim Meister wohnen. Der schwarzlockige Belgier Antoine, der den Bäckergesellen mimt und was mit der Henni hat. Die hinterlassene Wirtschafterin des Hauswirts, die allen Luftschutzvorschriften zum Trotz einen ältlichen Foxterrier im Arm hält. Ich selber: blasse Blondine, stets im selben zufällig geretteten Wintermantel; in einem Verlag angestellt, bis dieser vorige Woche seinen Laden schloß und den Angesteilten »bis auf weiteres« freigab. 16 17 Dazu noch der und jener ohne Farbe. Wir sind der Schamott, den weder Front noch Volkssturm haben wollten. Es fehlt der Bäckermeister, der als einziger im Hause die rote Fahrkarte III hat und damit auf sein Laubengrundstück gefahren ist, um sein Silber zu vergraben. Es fehlt Fräulein Behn, Postangestellte, unverehelicht und dreist, die eben hinaufgeflitzt ist, als gerade keine Bombe fiel, um das heutige Zeitungsblatt zu holen. Es fehlt eine Frau, die zur Zeit in Potsdam weilt, um dort sieben beim großen Angriff umgekommene Angehörige zu beerdigen. Es fehlt der Ingenieur vom dritten Stock mit Weib und Sohn. Er hat vorige Woche einen Lastkahn bestiegen, der ihn mitsamt seinen Möbeln sicher über den Mittellandkanal nach Braunschweig bringen soll, wohin sein Rüstungsbetrieb verlagert worden ist. Alle Kräfte drängen ins Zentrum. Dort muß ein gefährlicher Menschen-Überdruck enrstehen. Falls nicht auch dort schon die Amis sind. Man weiß ja nichts mehr. Mitternacht. Kein Strom. Am Balken über mir blakt die Petroleumlampe. Draußen dickes Gebrumm, anschwellend. Der Tüchertick tritt in Tätigkeit. Ein jeder windet sich das beteitgehaltene Tuch um Nase und Mund. Ein gespenstischer Türkenharem, eine Galerie halbver-hüllter Totenmasken. Nur die Augen leben. Samstag, 21. April 1945,2 Uhr nachts Bomben, die Mauern schwankten. Meine Finger zittern noch am Füller. Ich bin naß wie nach schwerer Arbeit. Früher aß ich im Keller dicke Butterbrote. Seit ich ausgebombt bin und in der gleichen Nacht beim Bergen Verschüttetet half, laboriere ich an meiner Todesangst. Es sind immer die gleichen Symptome. Zuerst Schweiß ums Haar, Bohren im Rückenmark, im Hals sticht es, der Gaumen dörrt aus, und das Herz klopft Synkopen. Die Augen stieren auf das Stuhlbein gegenüber und prägen sich seine gedrechselren Wulste und Knorpel ein. Jetzt beten können. Das Hirn krallt sich an Formeln, Satzfetzen: »Geh an der Welt vorüber, es ist nichts ... Und keines fällt aus dieser Welt ... Noli timere ...« Bis die Welle sich verzieht. Wie auf Kommando brach fiebriges Schwatzen los. Alle lachten, überschrien einander, rissen Witze. Fräulein Behn trat mit dem Zeitungsblatt vor und las die Goebbelsrede zum Geburtstag des Führers (ein Datum, an das die meisten überhaupt nicht mehr gedacht hatten). Sie las mit ganz besonderer Betonung, mit einer neuen, spöttischen und bösen Stimme, die man hier unten noch nicht vernommen hat. »Goldenes Korn auf den Feldern ... Menschen, die in Frieden leben ...« Denkste, sagt der Berliner. Und »Schön war 's ja.« Schalmeientöne, die kein Ohr mehr finden. Drei Uhr nachts, der Keller duselt so dahin. Mehrfach kam Vorentwarnung, doch gleich hinterher wieder neuer Alarm. Keine Bomben. Ich schreibe, es tut gut, lenkt mich ab. Und Gerd soll es lesen, falls er wiederkommt — falls er überhaupt noch — Nein, ausgestrichen, man darf es nicht heraufbeschwören. Das junge Mädchen, das wie ein junger Mann aussieht, hat sich an mich herangepirscht und gefragt, was ich schreibe. Ich: «Es hat keinen Wert. Bloß privates Gekritzel, damit ich was zu tun habe.« Nach der ersten Welle kreuzte »Siegismund« auf, alter Herr aus der Nachbarschaft, den sie aus seinem eigenen Keller hinausgegrauit haben, vermutlich, weil er immerzu vom Siege spricht, woraus auch sein Spitzname bei uns resultiert. Siegismund glaubt wirklich, daß die Rettung nahe und unser Sieg gewiß sei und daß »Jenner« (unsere 18 19 neueste Bezeichnung für A.H.) genau wisse, was er tue. Während Siegismund also spricht, blicken sich die Stuhlnachbarn stumm und vielsagend an. Auf einen Disput mit ihm läßt sich keiner ein. Wer diskutiert schon mit Verrückten? Außerdem sind Verrückte manchmal gefährlich. Nur die Portiersfrau stimmt heftig zu und verkündet durch ihre beiden Zahnhauer hindurch, daß auf »Jennen« sowie auf den alten Herrgott Verlaß sei. Neun Uhr früh, in der Dachwohnung. (Alle meine Zeitangaben sind über den Daumen gepeilt; soweit kein Blick auf Uhren möglich, lebe ich zeitlos.) Grauer Morgen, der Regen pladdert. Ich schreibe auf der Fensterbank, die mein Stehpult ist. Kurz nach drei kam die Entwarnung. Ich zog Kleid und Schuhe aus und fiel ins Bett, das ständig aufgeschlagen ist. Fünf Stunden Tiefschlaf. Das Gas streikt. Hab soeben mein Bargeld gezählt, 452 Mark, weiß nicht, was ich mit so viel soll, da die wenigen Einkäufe, die uns noch möglich sind, mit Pfennigen bestritten wetden können. Dazu mein Konto auf der Bank, auf dem schätzungsweise tausend mangels Waren nicht ausgegebener Mark stehen. (Als ich im ersten Kriegsjahr das Konto anlegte, gedachte ich noch für den Frieden und für eine Reise um die Welt zu sparen. Lang, lang ist das her.) Manche Leute rennen dieser Tage zu den Banken, soweit sie noch in Betrieb sind, und heben das Ihre ab. Wozu eigentlich? Wenn wir absausen, ist auch die Mark im Eimer. Geld, d.h. Papiergeld, ist ja nur eine Fiktion und stellt keinen Wert mehr dar, wenn die Zentrale ausfällt. Ich blättere ohne jedes Gefühl in dem Geldbündel. Mir ist, als könnte das Zeug allenfalls noch als Andenken gelten. Als Bildchen aus versunkenen Zeiten. Ich nehme an, daß die Sieger ihr eigenes Geld mitbringen und uns damit ausstaffieren werden. Oder daß irgendein Militärgeld gedruckt wird — falls man uns überhaupt wieder so weit kommen läßt und uns nicht zur Arbeit für einen Schlag Suppe verdammt. Mittags. Unendlicher Regen. Bin zu Fuß in die Parkstraße marschiert und habe mir zu meinen »Papierbildchen« noch einen Packen hinzugeholt. Der Prokurist zahlte mir den letzten Monatslohn und erteilte mir »Urlaub«. Der ganze Verlag hat sich in Luft aufgelöst. Und das Arbeitsamt hat ausgepustet, niemand macht dort mehr Jagd auf frei werdende Arbeirskräfte; insofern sind wir jetzt alle unsere eigenen Herrn. Die Bürokrarie erscheint mir als eine Schönwettersache, jedenfalls lösen sich alle Ämter auf, sobald es Granatsplitter regnet. (Übrigens jetzt sehr ruhig. Beängstigende Stille.) Wir werden nicht mehr regiert. Und doch stellt sich von selbst immer wieder eine Art von Ordnung her, überall, in jedem Keller. Ich habe bei meiner Ausbombung erlebt, wie selbst die Verschütteten, die Verletzten, die Verstörten in guter Ordnung vom Schauplatz verschwanden. Auch hier im Hauskeller haben die ordnenden, anordnenden Geisrer Autorität. Es muß im Menschen drinstecken. Schon zur Steinzeit muß die Menschheit so funktioniert haben. Herdentiere, Instinkt der Arterhaltung. Bei den Tieren sollen es ja immer die männlichen sein, die Leitbullen und die Leithengste. In diesem Keller kann man eher von Leitstuten reden. Fräulein Behn ist so eine; auch die sehr ruhige Hamburgerin. Ich bin keine, war es auch in meinem alten Keller nicht, wo allerdings ein mächtig herumbrüllender Leitbulle das Feld beherrschte, ein Major a.D., der nicht Mann noch Weib neben sich aufkommen ließ. Mir war das erzwungene Beisammenhocken im Keller stets zuwider, hab mich immer abgesondert, mir einen Schlafwinkel gesucht. Aber wenn das Leittier ruft, folge ich willig. Unterwegs bin ich neben der Straßenbahn hergelaufen. Einsteigen durfte ich nicht, da ich keinen Ausweis III 20 21 habe. Dabei fuhr die Bahn fast leer, ich zählte acht Menschen im Wagen. Und Hunderte liefen im strömenden Regen nebenher, obwohl die Bahn, die ja doch fahren muß, sie gut und gern hätte mitnehmen können. Aber nein - siehe Ordnungsprinzip. Es steckt tief in uns drin, wir parieren. Hab im Bäckerladen Brötchen gekauft. Noch sind die Borde scheinbar voll, man sieht keine Kaufangst. Ging hinterher zur Kartenstelle. Heute war mein Buchstabe für die Abstempelung der Kartoffelabschnitte 75 bis 77 dran. Es ging überraschend schnell, obwohl statt der sonst so vielen nur noch zwei Kartendamen Dienst taten. Sie schauten gar nicht hin, stempelten die Abschnitte mechanisch wie Maschinen. Wozu eigentlich diese Stempelei? Keiner weiß es, doch alle gehen hin, nehmen an, daß es schon irgendeinen Sinn hat. Laut Aushang sollen am 28. April die Buchstaben X bis Z den Schluß machen. . Durch den Regen zockelten Katren in Richtung der Stadt, mit pitschnassen Planen verhängt, darunter Soldaten. Ich sah zum ersten Mal dreckige, graubärtige Typen, die richtigen Frontschweine, alle alt. Vor den Karren Panjepferdchen, dunkel vor Nässe. Die Ladung der Karren: Heu. Sieht nicht mehr nach motorisiertem Blitzkrieg aus. Auf dem Heimweg drang ich in Professor K.s verlassenen Garten ein, hinter der schwarzen Hausmine, pflückte Krokus und brach Flieder. Trug einen Teil davon zur Frau Golz, einer Mitbewohnerin aus meinem früheren Wohnhaus. Wir saßen einander am Kupfertisch gegenüber und plauderten. Das heißt, wir brüllten gegen die frisch einsetzende Schießerei an. Frau Golz, mit gebrochener Stimme: »Die Blumen, die wunderschönen Blumen...« Dabei liefen ihr die Tränen übers Gesicht. Auch mir war scheußlich zumute. Schönheit tut jetzt weh. Man steckt so voll Tod. Hab mir heute früh überlegt, wieviel Tote ich schon gesehen habe. Der erste war Herr Schermann. Ich war damals fünf, er siebzig, silberweiß auf weißer Seide, Kerzen zu Häupten, bedeutsam und erhöht. Also war der Tod feierlich und schön. Bis ich 1928 von Hilde und Käte P. ihren tags zuvor verstorbenen Bruder Hans gezeigt bekam. Wie ein Lappenbündel lag er auf dem Sofa, das Kinn mit einem blauen Tuch hochgebunden, die Knie krumm — ein Dreck, ein Garnichts. Später tote Verwandte, blaue Fingernägel zwischen Blumen und Rosenkränzen. Dann in Paris der Überfahrene im Blutbrei. Und der Erfrorene an der Moskwa... Tote, ja, aber das Sterben selbst sah ich noch nie. Dies Erleben wird mir nun wohl bald zuteil werden. Daß es mich selber erwischen könnte, glaub ich nicht. Bin schon so oft dem Tod von der Schippe gerutscht und fühle mich aufgespart. Es wird dies ein Gefühl sein, das in den meisten Menschen lebt. Wie könnten sie sonst inmitten von so viel Tod so aufgekratzt sein? Fest steht, daß die Bedrohung des Lebens die Lebenskräfte steigert. Ich brenne heftiger und mit größerer Flamme als vor dem Bombenkrieg. Jeder neue Lebenstag ist ein Triumphtag. Man hat es wieder mal überlebt. Man trotzt. Man richtet sich gleichsam höher auf und steht fester auf der Erde. Damals, als wir das erste Mal von Bomben durchgeblasen waren, hab ich mir an die Zimmerwand mit Bleistift ein Stück Latein angeschrieben, das ich noch zusammenbrachte: Si fractus illabatur orbis, Impavidum ferient ruinae. Damals konnte man noch ins Ausland schreiben. Ich hab in einem Brief an meine Freunde D. in Stockholm kraftprotzend und wohl auch, um mich selber zu stärken, den obigen Vers zitiert und von der Intensität unseres bedrohten Daseins geschrieben. Ich hatte dabei ein leicht 22 23 mitleidiges Gefühl, als ob ich, nun erwachsen und an den Kern des Lebens zugelassen, mit unschuldigen Kindlein spräche, die es zu schonen galt. Sonntag, 22. April 1945,1 Uhr nachts ch lag oben auf dem Bett, es wehte durch die zerbrochenen Scheiben, ich döste so vor mich hin, an den Füßen einen Ziegelstein, in Stunden auf winzigen Gasflämm-chen heiß gemacht. Gegen 20 Uhr klopfre Frau Lehmann: »Kommen Sie herunter, es gibt jetzt keinen Alarm mehr und keine Sirenen. Die anderen sind schon alle unten.« Halsbrecherischer Treppenabstieg. Ich blieb einmal mit dem Absatz an einer Stufenkante hängen. Todesschreck, konnre mich eben noch am Geländer fangen. Weiter, mit weichen Knien. Ich suchte und tastete lange und herzklopfend in dem stockfinsteren Gang herum, bis ich die Hebel der Kellertür fand. Drinnen ein neues Bild. Wer eben kam, hat sich ein Bett aufgeschlagen. Überall Kissen, Deckbetten, Liegestühle. Mühsam würge ich mich zu meinem Sitzplatz durch. Das Radio ist tot, es gibt keine Funkzeichen vom Flughafen mehr. Matt blinzelt die Petroleumlampe. Etliche Bomben fallen, dann ist Ruhe. Siegismund erscheint, hält immer noch die Fahne hoch. Gardinenschmidt murmelt was von Bernau und Zossen, wo nun die Russen stehen sollen: Siegismund verkündet dagegen die nahe Wende. Wir hocken, die Stunden schleichen dahin, Artillerie bollert, mal ferner, mal nah. »Gehen Sie nicht mehr in Ihren vierten Stock«, ermahnt mich die Apothekerswitwe. Und sie bietet mir ein Nachtlager in ihrer Wohnung in der ersten Etage an. Wir klimmen aufwärts auf der hinteren Wendeltreppe. (Früher mal »Aufgang für Dienstboten und Lieferanten«.) Die Treppe ist eine enge Spindel. Es knirscht von Glassplittern unter meinen Füßen, es pfeift durch die offenen Luken. Eine Couch nimmt mich auf, vorn in der Kammer gleich neben der Küche, gönnt mir zwei Stunden Schlaf unter einer fremd riechenden Wolldecke. Bis gegen Mirrernacht Bomben nahebei fielen und wir wieder kellerwärts flüchteten. Elend lange Nachtstunden, bin zu müde, um jetzt hier unten weiterzuschreiben ... Am nächsten Morgen gegen 10 Uhr in der Dachwohnung. Bis gegen 4 Uhr hatten wir im Keller ausgeharrt. Allein klomm ich aufwärts unters Dach, wärmte mir eine Rübensuppe auf dem müden Gas, schälte Kartoffeln, kochte mein letztes Ei, d. h., ich aß es fast flüssig, und sprengte mir dann den letzten Rest Kölnisch Wasser auf den Leib. Komisch, wie viele Dinge man jetzt zum letztenmal tut, das heißt zum letztenmal bis auf weiteres, auf unbegrenzte, sicherlich lange Zeit. Woher sollte mir ein neues Ei kommen? Woher Parfüm? Also führe ich mir diese Genüsse sehr bewußt, sehr andächtig zu Gemüte. Nachher kroch ich angezogen ins Bett, schlief auf Stottern bei unruhigen Träumen. Nun muß ich los, einkaufen ... Wieder unterm Dach, 14 Uhr. Draußen Regengeplad-der, und keine Zeitung mehr. Trotzdem drängte sich das Volk pünktlich zu den aufgerufenen Zuteilungen, zu denen irgendwelche Zettel oder Extrablätter aufgefordert haben sollen. Wir haben jetzt eine Art Mundpost. Alles spricht sich herum. Wir bekommen Vorschüsse, wie es offiziell heißt, und zwar auf Fleisch, Wurst, Nährmittel, Zucker, Konserven und Kaffee-Ersatz. Ich faßte an einem Schtangenschwanz Posten, stand zwei Stunden im Regen und bekam schließlich 250 Gramm Grütze, 250 Gramm Haferflocken, 2 Pfund Zucker, 100 Gramm Kaffee-Ersatz und eine Büchse Kohlrabi. Noch fehlen Fleisch und Wurst und 24 25 Bohnenkaffee. Beim Fleischer am Eckhaus Gewimmel, nach beiden Seiten endlose Schlange in Viererreihen, unter Güssen von Regen. Nee! In meiner Schlange knisterte es von Parolen: Köpenick sei bereits von den Unsrigen aufgegeben, Wünsdorf besetzt, die Russen stünden am Teltowkanal. »Davon« sprach übrigens wie auf Verabredung plötzlich keine einzige Frau mehr. Ich fühle mich nach solchen Schlangengesprächen, bei denen man unwillkürlich in Form und Inhalt seiner Rede hinabsteigt und sich in Massengefühlen badet, immer klebrig und zuwider. Und doch will ich keine Zäune dagegen setzen, will mich dem Massenmenschlichen hingeben, will es miterleben, will dran teilhaben. Zwiespalt zwischen der hochmütigen Vereinzelung, in der mein Privatleben für gewöhnlich abläuft, und dem Trieb, wie die anderen zu sein, zum Volk zu gehören, Geschichte zu erleiden. Was kann ich sonst tun? Ich muß es abwarten. Flak und Artillerie setzen die Akzente über unseren Tag. Manchmal wünsche ich, es wäre schon alles vorbei. Sonderbare Zeit. Man erlebt Geschichte aus erster Hand, Dinge, von denen später zu singen und zu sagen sein wird. Doch in der Nähe lösen sie sich in Bürden und Ängste auf. Geschichte ist sehr lästig. Morgen will ich Brennesseln suchen und Kohle heranschaffen. Vom Hunger trennen uns die neuen kleinen Vorräte. Mir machen sie Sorgen wie dem Reichen sein Geld. Sie könnten verbombt, gestohlen, von Mäusen gefressen, vom Feind geraubt werden. Schließlich verstaute ich den ganzen Krempel in einem weiteren Kellerkarton. Trotzdem kann ich meinen gesamten irdischen Besitz noch bequem treppab und treppauf tragen. Spätabends, bei Dämmerschein. Ich habe wieder einen Besuch bei Frau Golz gemacht. Ihr Mann saß bei ihr, in Mantel und Schal, da es kalt und stürmisch im Zimmer war. Beide stumm und bedrückt. Sie begreifen die Welt nicht mehr. Wir sprachen kaum. Draußen die ganze Zeit blechernes Geknatter. Zwischendurch Prallschläge der Flak, als würden zwischen Himmel und Erde gigantische Teppiche geklopft. Das Echo der Abschüsse fängt sich in den Höfen. Zum ersten Mal erfaßte ich das Wort »Kanonendonner«, das bisher so auf der Linie von »Löwenmut« und »Heldenbrust« für mich lag. Die Vokabel ist aber wirklich gut. Draußen Regenschauer und Stürme. In der Haustür sah ich vorüberziehenden Soldatenhaufen nach. Matt schleppten sie die Füße. Manche hinkten. Stumm, jeder für sich, so trotteten sie ohne Tritt dahin, stadtwärts. Die Gesichter stoppelig und eingefallen, auf dem Rücken schweres Gepäck. »Was ist los?« rufe ich hinüber. »Wo geht's hin?« Keiner antwortet. Einer murrt Unverständliches. Einer spricht deutlich vor sich hin: »Führer befiehl — wir folgen dir in den Tod.« All diese Gestalten sind so armselig, so gar keine Männer mehr. Man kann sie nur bemitleiden. Man erhofft oder erwartet auch gar nichts mehr von ihnen. Schon jetzt wirken sie geschlagen und gefangen. An uns, die wir am Bordstein stehen, schauen sie stumpf und blicklos vorbei. Offenbar sind wir, wir Volk oder Zivilisten oder Berliner oder was wir sind, ihnen gleichgültig, ja lästig. Daß sie sich ihrer äußeren Herabgekommenheit schämen, glaub ich nicht. Die sind zu stumpf und müde dazu. Abgekämpft. Ich mag gar nicht mehr hinsehen. An den Mauern schmierig zerlaufene Kalkbuchstaben, die anscheinend die Truppen zu irgendwelchen Sammelplätzen leiten sollen. Am Ahornbaum gegenüber hängen, mit Heftzwecken festgepinnt, zwei Anschläge. Kartonstücke, mit Rotstift und Blaustift säuberlich handbeschrieben und mit den Worten »Hitler« und »Goeb- 26 27 bels« untermalt. Das eine Schild warnt vor Kapitulation und droht mit Erhängen und Erschießen. Das andere, »Forderungen an die Berliner« betitelt, warnt vot aufsässigen Ausländern und fordert alle Männer auf, zu kämpfen. Die Zettel fallen überhaupt nicht auf. Das Handgekritzel wirkt so kläglich und unernst, so geflüstert. Ja, die Technik hat uns verwöhnt. Daß wir nicht von der Rotationsmaschine oder über die Lautsprecher bedient werden, erscheint uns armselig. Von Hand geschrieben oder aus einem Mund dünn hinausgekreischt - was kann das schon sein? Unsere Technik hat die Wirkung von Rede und Schrift selbst entwertet. Einzelgekreisch, handgemalte Zettel, 90 Thesen an einer Kirchentür in Wittenberg, mit dergleichen wurden früher Volksauf-stande entfesselt. Für uns heute muß es dicker kommen, weitete Kreise ziehen, muß über Apparate multipliziert und potenziert werden, damit es wirkt. Eine Frau, an den Zetteln herumstudierend, faßt das in einem Satz zusammen: »Da sieht man, wie die Brüder auf'n Hund jekommen sind.« Im Keller, 22 Uhr. Nach der Abendsuppe gönnte ich mir oben etwas Bettruhe, trabte dann abwärts. Schon war die Kellergemeinde vollzählig versammelt. Heute wenig Beschuß und, obwohl die Zeit dafür heran ist, bisher kein Luftangriff. Eine netvöse Heiterkeit bricht aus. Allerlei Geschichten kursieren. Frau W. ruft: »Lieber ein Russki aufm Bauch als ein Ami aufm Kopf.« Ein Witz, der schlecht zu ihtem Trauerkrepp paßt. Fräulein Behn kräht durch den Keller: »Nu woll'n wir doch mal ehrlich sein — Jungfern sind wir wohl alle nicht mehr.« Sie bekommt keine Antwort. Ich überlege, wer doch. Wahrscheinlich die jüngere Portierstochter, die erst sechzehn ist und seit dem Fehltritt ihrer älteren Schwester stark bewacht wurde. Und bestimmt, wenn ich mich auf Gesichter junger Mädchen verstehe, das achtzehnjährige S-tinchen, 28 das drüben friedlich schlummert. Zweifelhaft erscheint mir die Sache bei dem jungen Mädchen, das wie ein junger Mann aussieht. Abet das ist wohl ein Sonderfall. Eine Frau ist heute neu im Hauskeller, bisher ging sie stets die sechs Ecken weit zum Öffentlichen Bunker, der für sicher gilt. Sie lebt aliein in ihrer Wohnung, ob verwitwet, verlassen oder geschieden, weiß ich noch nicht. Über ihre linke Wange hinweg ziehr sich ein eirriges Ekzem. Sie berichtet, erst flüsternd, dann laut, daß sie sich ihren Ehering am Gummi ihres Schlüpfers festgezurrt hat. »Wenn die ersr da dran sind, isr mir auch der Ring egal.« Allgemeines Gelächter. Immerhin dürften eitrige Ekzeme im Gesicht vor solchen Erlebnissen schützen. Auch was wert heute. Hontag, 23. April 1945,9 Uhr früh erblüffend ruhige Nacht, kaum Flak. Ein neuer Keller-bürger kreuzte auf, der Mann der ausgebombten Frau aus Adlershof, die hier bei ihrer Mutter unterkroch. Der Mann kam in Uniform und klammheimlich, trug eine Stunde später Räuberzivil. Wieso? Keiner spricht davon, keiner schenkt ihm Beachtung. Abgebrühter Frontsoldat, wirkt noch ziemlich kräftig, ist uns herzlich willkommen. Desertion erscheint plötzlich als selbstverständlich, ja geradezu als erfreulich. Ich muß an die dreihundert Spartaner des Leonidas denken, die in den Thermophylen standhielten und fielen, wie das Gesetz es befahl. Das hat man in der Schule gelernt, man hieß es uns bewundern. Mag sein, daß da und dort dteihundert deutsche Soldaten sich ähnlich verhalten. Drei Millionen tun es nicht. Je größer, je zufälliger der Haufen, desto geringer die Chance für Schulbücher-Heldentum. Von Haus aus haben wir 29 V eine Weile dauert. Kurz, sie haben sich kaum je so hoch gewagt. Wir treten in die Wohnung, auf Zehenspitzen, als kämen wir zu Kranken. Die Rothaarige hockt auf einem Küchenstuhl, stiert vor sich hin. Ihre Füße srehen in einem Eimer voll Wasser. Sie badet ihre Zehen, die, wie der Fabrikant uns sagt, ganz durchgelaufen und blutig sind. Auch des Mannes Füße haben schlimm ausgesehen.; Beide kamen auf Strümpfen quer durch die Front, durch Trümmerstraßen und Ruinen. Die Schuhe hatten ihnen die Russen ausgezogen. Während die Rothaarige, die über dem Unterrock eine viel zu weite, wohl von der Hausfrau geliehene Bluse trägt, ächzend ihre Zehen bewegt, berichtet uns der Mann, daß die Fabrik zwei Tage lang im Kampfgebiet gelegen habe; daß sich anfangs deutsche, sodann russische Truppen an den restlichen Alkoholvorräten gütlich getan hätten. Russen hatten schließlich hinter einem Bretterverschlag beim Stöbern nach Schnaps die Elvira: und den Chef aufgetrieben, dazu eine zweite Ftau, eine Angestellte der Firma, die auch dort unten Schutz ge^. sucht hatte. Und der Mann zuckt die Achseln, mag nicht weiterreden, geht aus der Küche hinaus. »Angestanden haben sie«, erklärt uns im Flüsterton die Likörfabrikantin, während die Rothaarige immer noch schweigt. »Einer hat auf den anderen gewartet. Sie sagt, es sind mindestens zwanzig gewesen, aber genau weiß sie es nicht. Sie hat beinah alles allein abgekriegt. Die andere Frau war nicht wohl.« Ich starre die Elvira an. Aus ihrem käsigen Gesicht hängt der verschwoliene Mund wie eine blaue Pflaume, »Zeig es ihnen mal«, sagt die Hausfrau. Wortlos öffnet die Rothaarige ihre Bluse, zeigt uns ihre zerbissenen, verfärbten Brüste. Kann's kaum hinschreiben, es würgt mich wieder. Wir ließen ihr den Rest Vaseline da. Sagen kann man da nichts. Wir haben auch nichts zu ihr gesagt. Aber sie fing von selbst an zu reden, es war kaum zu verstehen, ihre Lippen waren so verschwollen. »Hab gebetet dabei«, so etwa sagte sie, »immer gebetet: Lieber Gott, ich danke dir, daß ich besoffen bin.« Denn ehe die Burschen sich zur Schlange formten, haben sie die Frau ordentlich vollgefüllt mit dem, was sie an Ort und Stelle fanden, haben ihr auch zwischendurch wieder zu rrinken gegeben. Dies alles verdanken wir dem Führer. Sonst war viel zu tun den Nachmittag über, viel zu wischen und zu waschen, die Zeit ging hin. Ich war ganz erstaunt, als plötzlich der Major im Zimmer stand, die Witwe hatte ihn eingelassen. Diesmal hat er ein nagelneues Kartenspiel mitgebracht, er breitet die Blätter vor Pauli auf dessen Deckbett aus. Die beiden haben offenbar ein Spiel gefunden, auf das sie sich beide verstehen. Ich kenne mich da nicht aus, hab mich in die Küche zur Witwe verkrümelt und schreibe schnell diese Zeilen. Der Major hat sogar »Spielgeld« mitgebracht, deutsche Dreimark- und Fünfmarkstücke, die seit endlosen Zeiten bei uns eingezogen sind. Wie mag er daran gekommen sein? Ich wage ihn nicht zu fragen. Zu trinken hat er uns heute nichts mitgebracht, entschuldigte sich dafür bei jedem einzelnen von uns. Macht nichts, heut ist er unser Gast, wir haben von dem Fabrikanten eine Flasche Likör geerbt. Hontag, den 7. Mai 1945 mmer noch kühl, doch klart es auf, kleiner Sonnenstrahl. Die Nacht wieder ziemlich unruhig, der Major erwachte öfters und weckte mich durch sein Stöhnen. An sich soll das Knie auf dem Wege der Besserung sein. 152 153 Nur wenn er sich daran stößt, tut es ihm weh. Trotzdem gab er mir wenig Ruhe. Übrigens berichtete et mir von den beiden Sauf- und Jubelschwestern, die in die verlassene PG-Wohnung eingerückt sind. Unter den Namen Anja und Lisa sind sie offenbar unter den russischen Offizieren sehr populär. Eine der Schwestern hab ich auf der Treppe gesehen: sehr hübsch, schwarz und weiß, groß und zart. Der Major berichtete achselzuckend und leicht geniert von dem munteren Treiben der beiden Frauen: Man habe ihn heute am hellichten Vormittag in die Wohnung gebeten, wo die Mädchen mit zwei Männern zu Bett gelegen und ihn lachend aufgefordert hätten, sich dazuzulegen - ein Angebot, das den gutbürgerlich denkenden Major noch beim Erzählen schockierte. Ein Anziehungspunkt für die Russen soll auch das sehr niedliche dreijährige Söhnchen der einen Schwester sein — der Major sagt, daß es schon drei Worte Russisch plappert und von den männlichen Besuchern nach Kräften verwöhnt wird. Weiter, der neue Tag. Es ist so sonderbar, ohne Zeitung, ohne Kalender, ohne Uhrzeit und Ultimo zu leben. Die zeitlose Zeit, die wie Wasser dahinrinnt und deren Uhrzeiger für uns einzig die Männer in den fremden Uniformen sind. Manchmal erstaunt es mich selbst, mit welcher Ausdauer ich diese zeitlose Zeit fixiere. Es ist mein zweiter Versuch eines schriftlichen Selbstgesprächs. Den ersten unternahm ich als Schulmädel. Wir waren fünfzehn, sechzehn Jahre alt, trugen weinrote Schülermützen und diskutierten endlos über Gott und die Welt. (Manchmal auch über Jungens, aber sehr herablassend.) Als unser Geschichtsprofessor mitten im Schuljahr einen Schlaganfall erlitt, mußte zu seiner Vertretung eine Anfängerin einspringen. Eine stupsnasige Assessorin, die wie eine Explosion in unsere Klasse platzte. Keck widersprach sie unserem patriotischen Geschichtsbuch. Friedrich den Großen nannte sie einen Hasardeur. Dafür lobte sie den sozialdemokratischen Reichspräsidenten Ebert, den unser verflossener Professor gern als »Sattlergesellen« ironisiert hatte. Nach solchen Verwegenheiten blitzte sie uns schwarzäugig an und rief mit beschwörend erhobenen Händen: »Mädels, ändert die Weit, denn sie braucht es!« Das gefiel uns. Wir mochten die Welt von 1930 auch nicht. Wir lehnten sie höchst energisch ab. Sie war so verworren und für uns junge Menschen so verrammelt. Es gab Millionen Arbeitslose. Täglich bekamen wir zu hören, daß die meisten der von uns erstrebten Berufe aussichtslos seien und daß die Welt keineswegs auf uns warte. Zufällig fanden damals gerade einmal wieder deutsche Reichstagswahlen statt. Jeder Abend brachte Versammlungen der zehn oder fünfzehn größten Parteien. Wir stiefelten hin, grüppchenweise, angestachelt von unserer Assessorin. Wir arbeiteten uns von den Nationalsozialisten über Zentrum und Demokraten zu den Sozialdemokraten und Kommunisten durch, hoben bei den Nazis die Hand zum Hitlergruß und ließen uns bei den Kommunisten »Genossin« titulieren. Damals startete ich mein erstes Tagebuch, aus dem Wunsch heraus, mir eine Meinung zu bilden. Neun Tage lang, glaube ich, schrieb ich getreulich die Kernsätze der Wahlredner nach - meine jugendlichen Widerworte dazu. Am zehnten Tag gab ich es auf, obwohl mein Schreibheft noch viele weiße Blätter aufwies. Ich fand nicht mehr heraus aus dem Gestrüpp der Politik. Meinen Schulfreundinnen erging es ebenso. Jede Partei, so fanden wir, besaß einen Zipfel des Rechts. Aber jede betrieb und erstrebte auch, was wir Kuhhandel nannten: den Schacher, die Ämterjagd, das Geprügel um die Macht. Keine Partei, so fanden wir, war rein. Keine war unbedingt. Heute meine ich, daß wir wohl eine Partei 154 155 der Sechzehnjährigen hätten gründen müssen, um unseren moralischen Ansprüchen zu genügen. Was wächst,, wird schmutzig. Der Montag brachte uns über Mittag Besuch. Nicht aus dem Haus und nicht von nebenan, sondern aus einem zwei Fußstunden weit entfernren Stadtteil im Westen, aus Wilmersdorf. Ein Mädchen namens Frieda, der Witwe vom Hörensagen bekannt. Es hängt eine ganze Geschichte drum herum, die anfängt mit einem Neffen der Witwe, einem jungen Medizinstudenten. Besagter Student hatte eines Nachts in seiner Universität Luftschutzwache. Eine junge Medizinstudentin war gleichzeitig zum Luftschutz eingeteilt. Das Ergebnis dieser gemeinsamen Wache war eine Schwangerschaft und, da des Mädchens Eltern drängten, eine Hals über Kopf geschlossene Ehe - sie neunzehn, er einundzwanzig Jahre alt. Inzwischen hat irgendein General Heldenklau den jungen Mann für die Front geschnappt. Man weiß nicht genau, wo er denn sreckt. Seine junge Gattin aber, nun im achten Monat schwanger, ist mit einer Freundin zusammengezogen, eben jener Frieda, die nun bei uns auf dem Küchenstuhl hockt und Botschaft bringt. Die erste Frage der Witwe: »Haben sie euch auch —?« Nein, Frieda kam heil durch, das heißt, nicht ganz heil, einer hat sie im Kellergang ein bißchen an die Wand gedrückt, mußte aber gleich weiter, Krieg fuhren, so daß er sich nicht zu Ende verlustieren konnte. Uberhaupt sind die Truppen durch den Block, in dem die Mädels hausen, sozusagen im Galopp durchgebraust, kurz vor der Kapitulation, ohne sich irgendwie festzusetzen. Die werdende Mutter hat auf ihr Bäuchlein getippt und »Baby« gesagt — sie hat man gar nicht angerührt. So berichtet die Kleine und sieht uns mit blanken, wie poliert wirkenden Augen an. Ich kenne diese Augen, hab allzuoft meine eigenen Augen so aus dem Spiegel schauen sehen, als ich von Brennesseln und Grütze lebte. Tatsächlich hakt es da bei den Mädeln, und deshalb hat Frieda die mühseligen Fußstunden auf sich genommen, die, wie sie sagt, durch völlig stumme, öde Straßen führten. Sie bittet für die angeheiratete Nichte der Witwe und ihren werdenden Barns um Nahrung. Sie berichtet, daß die junge Frau den ganzen Tag flach auf dem Rücken liege und beim geringsten Versuch, aufzustehen, Schwindel-anfälle habe. Eine Krankenschwester sieht gelegentlich nach ihr und hat ihr erklärt, daß die Frucht, sobald die Mutter sich nicht ausreichend ernähren kann, ihre Werdestoffe aus dem mütterlichen Körper herausholt, schmarotzend an Kalk und Blut und Muskelsubstanz. Die Witwe und ich suchen zusammen, was wir glauben, verschenken zu dürfen: etwas von der Majorsbutter und von seinem Zucker, eine Büchse Milch, ein Brot, ein Stück Speck. Frieda ist selig. Auch sie sieht jammervoll aus, hat Beine wie Stecken, die Knie treten knorrig hervor. Dabei ist sie ganz munter und fürchtet sich nicht vor den zwei Stunden Heimweg. Wir freuen uns über die Botin aus dem fernen Stadtteil, lassen uns ausführlich schildern, welchen Weg sie genommen hat, was sie unterwegs sah. Wir streicheln sie und strahlen sie an, die kälbrige, halb verhungerte Achtzehnjährige, die, wie sie uns erzählt, einmal Gymnastiklehrerin werden wollte. Na, einstweilen dürfte für Gymnastik in unserem Lande kaum Bedarf sein. Wir sind froh um jede Bewegung, die wir nicht zu machen brauchen. Das heißt, die anderen, Hugernden, sind dessen froh. Mich trifft es vorläufig noch nicht, ich bin gut bei Kräften. Die Witwe berührt den neuralgischen Punkt, als sie der Frieda vorschlägt: »Wie ist das, Kindchen, könnten Sie sich nicht irgendeinen halbwegs netten Russen anlachen? Damit der euch ein bißchen Futter bringt?« 156 157 Frieda lächelr töricht und meint, es gebe bei ihnen im Block so gut wie keine Russen mehr, sonst... Und sie kramt die Geschenke zusammen, verstaut sie in der mitgebrachten Einkaufstasche. Uns hat dieser Besuch sehr aufgemöbelt. Wir sind also doch nicht abgeschnitten von aller Weit, könnten eine Fußreise in andere Stadtteile zu Freunden und Bekannten riskieren. Seither planen wir immerzu und überlegen, ob wir es wagen sollen. Herr Pauli ist dagegen. Er sieht uns bereits für irgendwelche Zwangsarbeit aufgegriffen und einkassiert, möglicherweise in Richtung Sibirien. Wir pochen auf Frieda, die es ja auch geschafft hat, bohren weitet. Weiter, dies schreibe ich am späten Nachmittag. Schon habe ich die erste große Reise hinter mir. Es kam ganz überraschend. Ich hockte auf der Fensterbank, obwohl man auf der Straße nur sehen einen Menschen sieht außer Wasserholern und Russen. Da, ein Russe kommt herangeradelt, hält vor unserer Tür - der Major. Ich - sogleich treppab gerannt. Ein blitzblankes, neues deutsches Herrenrad. Ich bitte und bettle: »Darf ich ein Stück fahren ? Bloß fünf Minuten ?« Der Major steht am Bordstein und wiegt das Haupt. Er weiß nicht recht, befürchtet, daß mir das Rad unterwegs gestohlen werden könnte. Schließlich bekam ich ihn herum. Sonne. Im Handumdrehen wird es nun warm. Ich trete die Pedale, so schnell ich kann. Wind braust mir in den Ohren. Ich sause, weil es mich glücklich macht nach all der elenden Seßhaftigkeit - und auch, damit mich keiner festhält und mir das Rad klaut. Vorüber an schwarz verbrannten Ruinen. Hier liegt der Krieg einen Tag länger zurück als bei uns. Man sieht bereits Zivilisten, die den Bürgersteig fegen. Zwei Frauen ziehen und schieben einen völlig ausgeglühten Operationswagen, wohl aus Trümmern geholt. Oben darauf liegt eine Greisin unter einer Wolldecke, mit blutleerem Gesicht; doch sie lebt noch. Je weiter ich südwärts fahre, desto mehr weicht der Krieg zurück. Hier sieht man bereits Deutsche in Gruppen beisammenstehen und schwatzen. An unserer Ecke wagen die Menschen das noch nicht. Sogar Kinder sieht man, hohlwangig und eigentümlich lautlos. In den Schrebergärten buddeln Frauen und Männer. Ganz vereinzelt nur bemerkt man Russen. Vor dem Tunnel ragt noch eine vom Volkssturm errichtete Barrikade. Ich steige ab, schiebe mein Rad durch den freien Spalt an der Seite. Flinter dem Tunnel, auf dem Rasenplatz vor dem S-Bahnhof, wölbt sich kniehoch ein Hügel, mit Grün besteckt, mit drei knalligrot angestrichenen, etwa hüfthohen Holzsäulen geschmückt. An jeder Säule ist eine Tafel befestigt, handbeschriebenes Papier unter Glas, von einem Papierstreifen eingefaßt. Ich lese auf den Tafeln drei russische Namen und dazu die Todesdaten, 26. und 27. April 1945. Ich stand eine ganze Weile. Dies ist meines Wissens das erste Russengrab überhaupt, das ich so nah sehe. Hab drüben auf meiner Durchreise nur flüchtig Totenäcker zu Gesicht bekommen; verwitterte Tafeln, schief stehende Kreuze, Trübsal und Vergessenheir der Dorfarmut. In unseren Zeitungen ist wieder und wieder berichtet worden, daß der Russe seine Kriegstoten verstecke wie eine Schmach, daß er sie in Massengräbern verbuddle und die Erde darüber feststampfe, um den Fleck unkenntlich zu machen. Dies kann nicht stimmen. Solche Holzsäulen und Schilder müssen sie mit sich führen. Das ist Fabrikware, ist nach einem Schema angefertigt, mit einem weißen Holzstern obendrauf - grob, billig, unschön durch und durch, doch ein Mal, rot leuchtend, überdeutlich, schreiend und grell, nicht zu übersehen. Sie werden solche Säulen auch in ihrem Land aufstellen. Demnach betreiben auch sie Gräberkult, ja Heldenverehrung, obwohl doch 158 159 ihr offizielles Dogma nichts von einer Auferstehung des Fleisches weiß. Wenn es sich um eine bloße Markierung der Grabstellen handelte, zwecks späterer Umbettung, so würde ein simples Namen- oder Nummernschild genügen. Da könnten sie sich die viele rote Farbe und Sternschnitzerei sparen. Aber nein, sie umgeben den Soldatentod mit rotem Nimbus, opfern Arbeit und nützliches Holz für eine Gloriole, mag sie noch so armselig sein. Ich trete wieder die Pedale, so schnell ich kann, sehe bereits das Landhaus liegen, in dem zuletzt meine Firma notdürftig untergebracht war. Ob wohl das kleine Würmlein im Erdgeschoß die milchlose Zeit lebend überstand? Kein Kind, keine junge Muttet, niemand mehr da von den Leuten, die im Erdgeschoß hausten. Auf mein Klopfen und Rufen erscheint nach einiger Zeit ein älterer Mann, stopplig, in einem schmutzigen Trikot-Unterhemd. Es dauert eine Weile, bevor ich ihn erkenne. Es ist der gewesene Prokurist unseres gewesenen Verlages, früher tipptopp bis zum Hemdkragen, nun herabgekommen und dreckig. Er erkennt mich, doch ohne Gefühlsregung, sagt mürrisch, daß er mit seiner Frau hier untergekrochen sei, da es seine Wohnung noch am letzten Kriegstag erwischt habe. Im übrigen ist das Landhaus leer, auch von Möbeln - der Prokurist fand es bereits ausgeräumt vor. Er weiß nicht, ob Deutsche oder Russen das Ausräumen besorgten - vermutlich beide. Das Haus ist durchwühlt und versaut, überall stinkt es nach Kot und Urin. Immerhin liegt im Keller noch ein Berg Kohle. Ich suchte mir einen leeren Karton, packte ihn mit Briketts voll, sehr zum Mißvergnügen des Prokuristen; doch ihm gehören die Kohlen ja nicht mehr als mir. Er dachte nicht dran, mir zu helfen. Mühselig schleppte ich meinen Karton zum Rad und band ihn mit meinem Kleidergürtel und einem gefundenen Stück Strippe auf dem Gepäck-, blech fest. Los, zurück, im schnellsten Tempo. Ich raste die Straße hinauf, diesmal vorbei an endlosen Reihen Soldaten, die am Bordstein entlang hockten. Typische Infanterie, Frontschweine, müde, dreckig, verstaubt, mit Stoppelbärten auf den schmutzigen Gesichtern. Solche Russen sah ich noch gar nicht bisher. Es dämmerte mir, daß wir wohl Elitetruppen in den Häusern hatten, Artillerie, Nachrichtentruppen, gewaschene und gutrasierte Leute. Am niedrigsten stand noch det Troß und Train, roch nach Pferden, wirkte aber bei weitem nicht so erschöpft wie dieser Haufen, Die sind viel zu abgekämpft, als daß sie sich um mich oder mein Rad bekümmerten. Sie blickten kaum hoch, haben spürbar einen Gewaltmarsch hinter sich. Schnell, schnell, da ist schon unsere Ecke. Um die gewesene Schupo-Kaserne herum wimmelt es von Autos. Sie fahren mit tiefem, sattem Gebrumm, es riecht nach tichtigem Benzin. So rochen die deutschen Autos nicht. Keuchend und stolz schleppe ich Rad und Brikettlast die Treppe hinauf. Diesmal kommt der Major mir entgegengerannt, ist ganz aufgeregt, wähnte das Rad bereits geklaut und mich werweißwo. Auch der Usbek ist inzwischen eingetrudelt. Die Witwe schickt ihn gleich mit zwei Eimern zur Pumpe, Wasser für uns zu holen. Er isr schon wie ein Stück Familie für uns, trottet gutmütig los. Ich bin ganz sonnetrunken und beseligt von der schnellen Fahrt, fühle mich so froh, so beschwingt wie seit Wochen nicht. Überdies hat der Major Tokaier mitgebracht, fünfbuttig, wir trinken, mir ist katzenwohl. Der Major blieb bis 17 Uhr; als er ging, war mir schon mies. Hab geweint. (Wochen später an den Rand gekritzelt, zur Verwendung für Romanautoren: »Drei Herzschläge lang verschmolz ihr Leib mit dem fremden Leib über ihr. Ihre Nägel krallten sich in das fremde Haar, aus ihrer Kehle brachen Schreie, und sie hörte die fremde Stimme fremde, 160 161 unverständliche Worte flüstern. Eine Viertelstunde später war sie allein. Durch die zerschlagenen Scheiben fiel Sonne in breiten Garben. Sie streckte sich und genoß die Schwere ihrer Glieder. Sie strich sich die zerwühlten Strähnen aus der Stirn. Plötzlich spürte sie mit unheimlicher Deutlichkeit, wie eine andere Hand, wie die Hand des fernen, vielleicht längst toten Freundes sich unter ihr Haar schob. Sie fühlte etwas in sich anschwellen und überwallen. Tränen stürzten ihr aus den Augen. Sie warf sich herum, sie schlug mir Fäusten auf die Polster, sie biß sich in die Hände und Arme, daß blaurote Zahnkränze hervortraten. Sie heulte in die Kissen hinein und wünschte zu sterben.«) Dienstag, 8. Mai 1945, mit Montagsrest Zum Abend waren wir allein, Herr Pauli, die Witwe und ich. Rot ging die Sonne unter. Ein widerliches Bild, es erinnert mich an all die Brände, die ich in den letzten Jahren sah. Zusammen gingen die Witwe und ich zum kleinen Teich, um Schmutzwasser zu schöpfen. (Fürs Trinkwasser von der Pumpe muß man als Deutscher immer noch eine runde Stunde rechnen.) Es mochte acht sein, wir leben ohne Uhr; denn der in ein Handtuch gewickelte, hinten im Schrank versteckte Wecker hat Mucken gekriegt und bleibt stehen, wann er will. Rings um den Teich Stille. Im brackigen Wasser schwimmen Holzstücke, Lumpen, grüne Parkbänke. Wir schöpfen die trübe Brühe in unsere Eimer, stapfen zurück, den dritten Eimer überschwappend zwischen uns. Neben der morschen Holztreppe auf dem Rasenhang liegt etwas. Ein Mensch, ein Mann; er liegt rücklings auf dem Rasen, die Knie hochgezogen. Ein Schläfer? Ja, ein stiller Schläfer, er ist tot. Wir stehen beide da und starren ihn an. Sein Mund ist so weit aufgeklappt, daß man die Faust hineinstecken könnte. Seine Lippen sind blau, die Nasenflügel wächsern und eingekniffen. Ein Mann von etwa fünfzig Jahren, sauber rasiert, Glatze. Er sieht sehr ordentlich aus, trägt einen hellgrauen Anzug und handgestrickte graue Socken in altmodischen, blankgeputzten Schnürschuhen. Ich betaste die Hände, sie liegen neben ihm auf dem Rasen, die Finger sind krallig nach oben gekrümmt. Sie fühlen sich lau an, gar nicht todeskalt. Das sagt aber nichts, mag von der Sonne herrühren, die ihn beschien. Einen Puls hat er nicht, tot ist er. Doch er ist noch nicht gefleddert; in seiner Krawatte steckt eine silbrige Nadel. Wir überlegen, ob wir in seine Weste greifen, nach Papieren suchen, etwaige Angehörige benachrichtigen sollen. Unheimlich ist uns zumute. Wir spähen nach Menschen aus. Niemand ist zu sehen. Ich springe etliche Schritte die Straße hinunter, erblicke in einer Haustür ein Paar, ein junges Mädchen und einen jungen Mann, und bitte die beiden, doch mitzukommen, es liege da einer ... Zögernd folgen sie mir, verharren eine Weile bei dem Toten, fassen aber nichts an und gehen schließlich stumm und achselzuckend wieder fort. Hilflos stehen wir noch eine Zeitlang da, dann gehen auch wir. Uns ist schwer ums Herz. Trotzdem nehmen meine Augen auf dem Rückweg mechanisch jedes Stückchen Holz wahr, und die Hände verstauen es ebenso mechanisch in die eigens dafür mitgeschleppte Umhängetasche. Vor unserem Haus treffen wir unseren alten Gardinen-Schmidt, zusammen mit unserem Soldaten-Deserteur. Ich bin baff darüber, daß diese beiden sich auf die Straße wagen. Wir berichten von dem Toten, die Witwe ahmt seine Mundstellung nach. »Schlaganfall«, murmelt der Exsoldat. Sollen wir zusammen hingehen? »Ach was«. 162 163 sagt Gardinen-Schmidt, »nachher fehlt irgendwas in seinen Taschen, dann sollen wir es gewesen sein.« Und im Nu ist auch für uns der Tote vergessen über der Tarsache, die Gardinen-Schmidt nun verkündet: »Alle Russen sind weg.« Sie haben unser Haus geräumt, sind aus dem ganzen Block abgezogen — während wir das Schmutzwasser holten, sind sie auf Lastwagen abgerollt. Gardinen-Schmidt erzählt, daß sie sich ihre Lastwagen gut gepolstert hätten, mit Matratzenteilen und Sofakissen aus den verlassenen Wohnungen. Weg! Alle weg! Wir können es kaum fassen, blicken unwillkürlich srraßenaufwärts, als müßten von dorther Lastwagen mit neuen Truppen anrollen. Aber nichts, nur Stille, seltsame Stille. Keine Gäule mehr, kein Pferde-wiehern, kein Hahn. Bloß Pferdemist, und den fegt Portiers Jüngste soeben aus dem Hausflur. Ich sehe mir die Sechzehnjährige an, die einzige bisher, von der ich weiß, daß sie ihre Jungfernschaft an Russen verlor. Sie hat dasselbe dumme, selbstzufriedene Gesicht wie immer. Ich versuche mir vorzustellen, wie es wäre, wenn mir dies Erleben zum ersren Mal auf solche Art zuteil geworden wäre. Ich muß den Gedanken abbremsen, sowas ist nicht vorstellbar. Eines ist klar: Wäre an dem Mädel irgendwann in Friedenszeiten durch einen herumstreunenden Kerl die Notzucht verübt worden, wäre hinterher das übliche Friedensbrimborium von Anzeige, Protokoll, Vernehmung, ja von Verhaftung und Gegenüberstellung, Zeitungsbericht und Nachbarngetue gewesen - das Mädel hätte anders reagiert, hätte einen anderen Schock davongetragen. Hier aber handelt es sich um ein Kollektiv-Erlebnis, vorausgewußt, viele Male vorausbefürchtet ~ um etwas, das den Frauen links und rechts und nebenan zustieß, das gewissermaßen dazugehörte. Diese kollektive Massenform der Vergewaltigung wird auch kollektiv überwunden werden. Jede hilft jeder, indem sie darüber spricht, sich Luft macht, der anderen Gelegenheit gibt, sich Luft zu machen, das Erlittene auszuspeien. Was natürlich nicht ausschließt, das feinere Organismen als diese abgebrühte Berliner Göre daran zerbrechen oder doch auf Lebenszeit einen Knacks davontragen. Zum ersten Mal seit dem 27. April wurde am Abend die Haustür wieder verschlossen. Damit beginnt, falls nicht wieder neue Truppen ins Haus gelegt werden, ein neuer Lebensabschnitt für uns alle. Dennoch rief es gegen 21 Uhr draußen nach mir. Mit seiner gequetschten Stimme wiederholte der Usbek viele Male meinen Namen (das heißt die russinzierte Form des Namens, wie sie mir der Major verliehen hat). Als ich hinausschaute, schimpfte und drohte der Usbek zu mir hinauf und wies ganz empört auf die verschlossene Haustür. Tja, mein Dicker, das hilft dir gar nichts. Ich ließ ihn ein, der Major folgte ihm auf dem Fuße, er hinkte beträchtlich. Das Radeln ist ihm schlecht bekommen. Wieder machte die Witwe ihm Kompressen. Das Knie sah gefährlich aus, dick geschwollen, rot. Mir unbegreiflich, wie einer damit radeln, damit tanzen und Treppen steigen kann. Es sind Roßnaturen, da können wir nicht mit. Schlechte Nacht mit dem fiebernden Mann. Seine Hände waren heiß, die Augen trüb, er fand keinen rechten Schlaf, ließ auch mich nicht schlafen. Endlich graute der Morgen. Ich führte den Major und Burschen hinunter, schloß ihnen die Haustür auf, nun wieder unsere Haustür. Hinterher eklige Arbeit: Der Usbek hat eine Art Ruhr, hat Klo und Wand und Fliesen bespritzt. Ich wischte mit etlichen herumliegenden Heften einer NS-Fachzeitschrift für Apotheker auf, machte sauber, so gut ich konnte, verplemperte fast das ganze, gestern abend vom Teich herangeschleppte Spülwasser. Wenn das Herr Pauli wüßte, 164 165 der unentwegte Manikürer und Pedikürer, der so pimplig ist! Weiter, nun der Dienstag. Gegen neun Uhr morgens an der Vordertür der Hausdactylus, den wir nach wie vor benutzen, obwohl kein Russe mehr im Haus ist. Es war die Grindige, Frau Wendt, sie hat das Gerücht vernommen, daß Frieden sei. In Süd und Nord soll der letzte, ungeordnete deutsche Widerstand zerschlagen sein. Wir haben kapituliert. Die Witwe und ich atmen leichter. Gut, daß es so schnell ging. Herr Pauli flucht jetzt noch über den Volks-sturm, die sinnlos Getöteten der letzten Stunde, die Alten und Müden, die hilflos Verbluteten, für die es nicht mal einen Lappen gab, die Wunden zu verbinden. Zersplitterte Knochen, die aus Zivilhosen stachen; schneebleiche Bündel auf Tragen, aus denen es eintönig tropfte; die lauen, glitschigen Blutpfützen überall in den Gängen ... Pauli hat bestimmt Schweres durchgemacht. Gerade deshalb halte ich seine Neuralgie, die ihn seit über einer Woche ans Bett fesselt, zur Hälfte für eine Seelenkrankheit, für eine Zuflucht und Retirade. Manche Männer im Haus haben solche Zuflucht. So der Buchhändler seine Parteizugehörigkeit, so der Deserteur seine Desertion, so etliche andere Figuren ihre Nazi Vergangenheit, für die sie Deportation oder sonst etwas befürchten und hinter der sie sich verschanzen, wenn es Wasser zu holen oder sonst eine Tat zu wagen gilt. Die Frauen tun auch ihr Bestes, das Mannsvolk zu verstecken und es vor dem bösen Feind zu schützen. Denn was können sie uns schon tun? Sie haben uns ja alles getan. Also spannen wir uns vor die Karre. Das ist logisch. Trotzdem bleibt ein Unbehagen. Ich muß jetzt oft daran denken, was für ein Trara ich um durchreisende Urlauber gemacht habe, welche Verwöhnung, wieviel Respekt. Dabei kamen sie zum Teil aus Paris oder Oslo, Städten also, die frontferner waren als das ständig bombardierte Berlin. Oder sie kamen gar aus tiefstem Frieden, aus Prag oder Luxemburg. Selbst wenn sie von der Front kamen, wirkten sie bis gegen 1943 so proper und gutgenährt, wie es heute nur wenige Menschen sind. Und sie erzählten gern Geschichten, in denen sie selbst eine gute Figur machten. Wir dagegen werden fein den Mund halten müssen, werden so tun müssen, als habe es uns, gerade uns ausgespart. Sonst mag uns am Ende kein Mann mehr anrühren. Hätte man wenigstens richtige Seife! Ich habe oft solche Gier danach, meine Haut gründlich abzuschrubben, glaube fest, daß ich mich hernach auch seelisch sauberer fühlen würde. Am Nachmittag gutes Gespräch, ich will es möglichst wörtlich notieren, muß immer noch darüber nachdenken. Unvermutet tauchte der bucklige Doktor aus der Limonadenfabrik wieder auf, ich hatte ihn beinahe vergessen, obwohl ich früher öfters einmal ein paar Worte mit ihm im Luftschutzkeller gewechselt habe. Er hat bis zuletzt in einem unentdeckten Nachbarkeller die Zeit überstanden. Dorthin hat kein Russe gefunden. Freilich bekam der Doktor dafür die brühwarmen Berichte genotzüchtigter Wasserholerinnen ab. Eine, sehr kurzsichtig, hat dabei ihre Brille eingebüßt und tappt nun völlig hilflos herum. Es stellt sich heraus, daß der bucklige Doktor ein »Genosse« ist. Das heißt, er hat bis 1933 der Kommunistischen Partei angehört, hat sogar einmal drei Wochen mit einer Intourist-Gruppe die Sowjetunion bereist und versteht ein paar Worte Russisch. Tatsachen, die er mir im Keller ebensowenig anvertraut hat wie ich ihm meine Reisen und Sprachkenntnisse. Derartige plumpe Vertraulichkeiten hat uns das Dritte Reich abgewöhnt. Trotzdem muß ich mich wundern. »Wieso sind Sie denn nicht vorgetreten und haben sich den Russen als ein Sympathisierender zu erkennen gegeben ?« 166 167 Er sieht mich verlegen an. »Ich hätte es getan«, meint er dann. »Wollte nur die ersten wilden Tage vorübergehen lassen.« Und er fügt hinzu: »Ich werde mich die nächsten Tage auf dem Rathaus melden. Sobald es wieder Behörden gibt, werde ich mich zur Verfügung stellen.« (Was ich glaube, ihm aber nicht sage, ist, daß er sich wegen seines Buckels nicht vorgewagt hat. Bei so viel überschäumender Manneswut hätte er seinen Defekt, der ihn in den Augen dieser starken Barbaren zu einem Halbmann, einem kümmerlichen Etwas gemacht hätte, doppelt bitter empfunden.) Sein Kopf sitzt tief zwischen den Schultern, er bewegt sich nur mühsam. Doch seine Augen sind blank und klug, seine Rede ist flüssig. »Sind Sie nun ernüchtert?« frage ich ihn. »Sind Sie von Ihren Genossen enttäuscht?« »Kaum«, meint er. Und: »Wir wollen das Geschehene nicht allzu klein und persönlich auffassen. Triebe und Instinkte haben sich ausgetobt. Auch Rachsucht war im Spiel; denn schließlich haben wir ihnen einiges angetan drüben in ihrem Land. Umkehr und Selbstbesinnung müssen folgen, bei uns wie auch bei den anderen. Eine Welt von gestern, das ist unser altes Abendland. Es gebärt nun eine neue Welt, die von morgen, und das geschieht unter Schmerzen. Das Slawentum trirt jung und unverbraucht ins Licht der Weltgeschichte. Die Länder Europas werden ihre Grenzen sprengen und zu größeren Räumen verwachsen. Wie Napoleon einst mit den Thrön-chen und Ländchen aufräumte, so räumen jetzt die siegreichen Großmächte mit den Ländern und Nationen auf.« Ich: »Sie glauben also, daß Deutschland künftig ein Bestandteil der Sowjetunion, eine Sowjet-Republik sein wird ?« Er: »Es wäre zu wünschen.« Ich: »Dann wird man uns herumstreuen und uns heimatlos machen, um unser Volkstum zu vernichten.« Er: »Es ist durchaus möglich, daß wir Deutschen, die wir heute leben, nur Opfer und Dünger und Ubergang sind — und vielleicht noch Fachlehrer. Doch meine ich, daß es an uns selber liegt, auch unter neuen Bedingungen ein für uns lebenswertes Dasein zu leben. Ein jeder nimmt sich selbst mit - überallhin.« Ich: »Auch nach Sibirien?« Er: »Ich getraue mich, guten Willen vorausgesetzt, mir auch in Sibitien ein lebenswertes Leben aufzubauen.« Zuzutrauen wäre es dem verkrüppelten Mann. Er hat sich ja auch hier eine gute Stellung geschaffen, war leitender Chemiker eines großen Mineralwasserbetriebes. Aber ob er körperlich aushält, was die Zukunft vielleicht von uns fordert? Ob wir anderen es aushalten? Er zuckt die Achseln. Manchmal glaube ich, daß ich von jetzt an alles auf Erden aushalten könnte, soweit es mir von außen zustößt und nicht aus dem Hinterhalt des eigenen Herzens. Ich fühle mich so durchgeglüht und ausgebrannt, wüßte nicht, was mich heut und morgen noch groß erregen und bewegen könnte. Wenn weiter gelebt werden muß, geht es schließlich auch in Eiswüsten. Der Doktor und ich haben einander die Hände gedrückt, fühlten uns beide gestärkt. Bei alldem umgibt mich hier in der Wohnung ängstlich gehütete Bürgerlichkeit. Die Witwe fühlt sich wieder als Herrin ihrer Räume. Sie wischt und bürstet darin herum, hat mir einen zahnlückigen Kamm in die Hand gedrückt, damit ich die Fransen der Teppiche auskämme. Sie hantiert in der Küche mit Sand und Soda; jammert um eine Meißner Figur, der bei den Plünderungen im Keller Hand und Nase abgeschlagen wurden; klagt um eine Krawattenperle ihres Seligen, deren Versreck sie glattweg vergessen hat. Manchmal sitzt sie ganz tiefsinnig da und spricht plötzlich aus ihren Gedanken heraus: »Vielleicht 168 169 hab Ich sie doch in meinen Nähkasten getan?« Und fängt an, Garnrollen und alre Knöpfe herumzuschmeißen, und findet ihre Perle doch nicht. Dabei sonst eine patente Frau und vor nichts bange. Sie zerklopft Kisten besser als ich, hat den Trick ihrem Lemberg-Polen abgeguckt, dem dank seiner Neigung zu Wutanfällen das Kistenzerklop-fen wohl besonders gut gelang. (Übrigens weiß inzwischen schon das ganze Haus den Unterschied: »Ukrainerfrau - so. Du —so!«) Heute draußen Sonne. Wir schleppten endlos Wasser, haben Bettlaken gewaschen, mein Bett ist frisch bezogen. Es tat not, nach all den gestiefelten Gästen. Unten beim Bäcker drängt sich viel Volk, das Lärmen und Schwatzen hallt durch unsere scheibenlosen Fenster, Dabei gibt es heute noch gar kein Brot, nur Nummern für das Brot von morgen oder übermorgen. Alles hängt von Mehl und Kohle ab, auf die der Bäcker wartet. Mit etlichen Restbriketts hat er bereits ein paar Brote fürs Haus gebacken. Ich bekam meinen guten Anteil. Der Bäcker vergaß mir nicht, daß ich für seine Bäckerin eingetreten bin, als damals die Kerle an ihr zerrten. Verkäuferin Erna aus dem Bäckerladen, dieselbe, die hinter der schrankverstellten Kammertür heil durchgekommen ist, brachte uns die Brote in die Wohnung. Für dies Brot hat das Haus auch was geleistet. Etliche Männer, von Fräulein Behn geführt, haben auf einem kleinen Karren Eimer mit Wasser für den Teig herangerollt. Und etliche Frauen haben, wie Frau Wendt sich grob audrückt, »Scheiße geschippt«. Denn die Russen hatten eine im Laden stehende gepolsterte Bank zur Latrine ernannt, hatten einfach die Bank ein wenig von der Wand abgerückt und sich auf die Lehne gehockt... Die Brote sind also ehrlich verdient. Ein seltsames Geld haben die Russen mitgebracht. Der Bäcker zeigt uns einen Schein über 50 Mark, eine Art von Truppengeld für Deutschland, uns bis dato unbekannt. Für ganze vierzehn Brote hat der Bäcker den Schein von einem russischen Offizier gekriegt. Herausgeben konnte der Meister nicht, der Russe legte auch gar keinen Wert darauf, er hatte, wie der Meister sagt, die Brieftasche gespickt voll von solchen Scheinen. Der Meister weiß gar nicht, was er mit dem Geld tun soll, hätte dem Russen die Brote auch so gegeben. Doch der bestand auf Bezahlung. Vielleicht kehrt so etwas wie Treu und Glauben wieder. Ich nehme an, daß man auch uns dieses Geld geben und unser eigenes, vielleicht bloß zum halben Wert, dafür einziehen wird. Jedenfalls ist die Aussicht auf Brot das erste Zeichen dafür, daß sich oben jemand um uns kümmert, daß für uns gesorgt werden soll. Ein zweites Zeichen klebt unten neben der Haustür: ein Blatt in vervielfältigter Maschinenschrift, ein Aufruf, unterzeichnet von einem Bezirksbürgermeister Dr. Soundso. Der Aufruf fordert zur Rückgabe allen aus Läden und Ämtern gestohlenen Gutes auf, Schreibmaschinen, Büromöbel, Ladenzubehör etcetera -vorerst straffrei. Erst bei späterer Entdeckung solchen Diebesgutes droht Strafe nach Kriegsrecht. Weiter heißt es, daß alle Waffen abgegeben werden müssen. Häusern, in denen Waffen gefunden werden, droht ebenfalls Kollektivstrafe. Und Häusern, in denen einem Russen etwas zustößt, droht der Tod. Ich kann es mir kaum denken, daß die Unsrigen irgendwo mit Waffen liegen und auf Russen lauern. Diese Art Männer ist mir jedenfalls in diesen Tagen nicht begegnet. Wir Deutschen sind kein Partisanenvolk. Wir brauchen Führung und Befehl. Unterwegs in der sowjetischen Eisenbahn, die einen tagelang durch das Land schaukelt, sagte einmal ein Russe zu mir: »Die deutschen Genossen erstürmen einen Bahnhof nur, wenn sie vorher gültige Bahnsteigkarten gelöst haben.« Mit anderen Worten und ohne Spott: Die meisten Deutschen 170 171 haben einen Horror vor der freihändigen Ungesetzlichkeit. Zudem haben unsere Männer jetzt Angst. Der Verstand sagt ihnen, daß sie besiegt sind, daß jedes Aufzucken und Aufmucken nur Leiden schafft und nichts bessert. In unserem Haus sind die Männer jetzt eifrig hinter Waffen her. Wohnung für Wohnung gehen sie ab, ohne daß eine Frau sie begleitet. Überall fragen sie nach Gewehren, ergattern aber nur eine alte Knarre ohne Hahn. Zum ersten Mal seit langem hörte ich wieder deutsche Männer laut sprechen, sah sie sich energisch bewegen. Sie wirkten geradezu männlich — oder doch so wie das, was man früher mit dem Wort männlich zu bezeichnen pflegte. Jetzt müssen wir nach einem neuen, besseren Wort Ausschau halten, das auch bei schlechtem Wetter standhält. Mittwoch, 9, Mai 1945 - ohne Dienstagrest Immer gab es die Nacht nachzutragen. Nun ist nichts, aber auch gar nichts über diese Nacht auszusagen, als daß ich sie allein verbringen durfte. Zum ersten Mal allein zwischen meinen Laken seit dem 27. April. Kein Major, kein Usbek ließ sich blicken. Die Witwe war gleich wieder daseins-ängstlich, sie unkte was von schwindender Butter, und daß es gut wäre, wenn der Major recht bald neue Vorräre brächte. Ich hab bloß gelacht. Der kommt wieder. Lag die Nacht wohlig ausgestreckt zwischen meinem frischgewaschenen Bettzeug, räkelte mich, schlief fest und erwachte sehr vergnügt. Wusch mich mit dem warmen Wasser, das mir die Witwe spendierte, zog saubere Sachen an, pfiff mir eins. So schrieb ich um neun Uhr. Jetzt ist es elf, und alles sieht anders aus. 'i Von draußen rief man uns mit Kehrichtschaufeln auf die Straße. Wir schippten den Dreckhaufen an der Ecke weg, fuhren Trümmer und Pferdemist auf einem Schubkarren zum nahen Ruinengelande. Uralter Kalk und ( Schrott noch von den Luftangriffen her, frische Artillerie- : Trümmer oben darauf, und Lappen und Büchsen und viele leere Flaschen. Ich fand zwei Bromsilber-Ansichtspostkarren, deutsches Fabrikat - und viele Daumenabdrücke auf den photographierten nackten Umarmungen. Mir fällt ein, wie ich mal in einem Moskauer Büro deutsche i und amerikanische Zeitschriften einige Minuten sich selbst überließ. Nahm sie dann wieder an mich und ent- Í deckte erst beim späteren Lesen, daß da und dort ein Stück Seite hastig herausgerissen war - Reklamen für Damen-Unterwäsche, für Hüfthalter und Büstenhalter. Solche Inserate kennen die Russen nicht. Ihre Zeitschriften sind ohne Sexappeal. Wahrscheinlich waren diese albernen Werbephotos, auf die wohl kein westlicher Mann mehr groß hinschaut, für russische Augen tollste Pornographie. Sinn dafür haben sie, den hat jedes Mannsbild. Aber sie kriegen sowas daheim nicht geboten. Vielleicht ein Fehler. Sie könnten dann doch mit dergleichen Idealfiguren ihre Phantasie bevölkern und würden am Ende nicht ■ ! mehr auf jede Alte und Schieche losstürzen. Muß drüber ■ ■- nachdenken. Als ich gegen zehn Uhr auf einen Schluck Malzkaffee i in die Wohnung hinaufging, war der Major da, allein. Er wartete auf mich, kam, um Abschied zu nehmen. Da }■';■ es seinem Knie schlechtgeht, hat er zwei Monate Er- i: holungsurlaub zugeteilt bekommen, die er in einem Sol- datenheim nahe seiner Heimatstadt Leningrad verbringen soll. Schon heute fahrt er ab. I:; Er ist sehr ernst, fast streng, beherrscht sich eisern. Umständlich malt er sich meine Adresse auf einen Zettel, will mir schreiben, will mit mir in Verbindung bleiben. 172 173 Das Photo, um das er bittet, kann ich ihm nicht geben, weil ich keins habe. Meine ganze photographierte Vergangenheit, in einem Album und einem dicken Umschlag gesammelt, ist mit verbombt, ist verbrannt. Zu einem neuen Bildchen bin ich in den Wochen seither nicht gekommen. Lange schaut er mich an, als wollte er mich mit den Augen photographieren. Küßt mich dann russisch auf beide Wangen und stapft, ohne sich nochmals umzublicken, hinkend hinaus. Mir ist ein wenig weh, ein wenig leer zumute. Ich sinne den Lederhandschuhen nach, die er heut zum ersten Mal vorführte. Er hielt sie elegant in der Linken. Einmal fielen sie ihm zu Boden, er hob sie hastig auf, doch sah ich, daß es zwei verschiedene Handschuhe waren - mit Nähten auf dem Handrücken der eine, der andere glatt. Er wurde verlegen, schaute weg. In der Sekunde mochte ich ihn sehr. Wieder hinaus, auf die Straße, ich muß weiterschippen. Nachher wollen wir Holz suchen gehen, brauchen Feuerung für den Flerd, die vielen Erbsensuppen verbrauchen was. Wobei mir einfällt, daß nun niemand mehr Essen, Kerzen und Zigaretten bringen wird. Ich muß es der Witwe schonend beibringen, wenn sie von der Pumpe zurückkommt. Pauli sag ich gar nichts. Ihm kann die Witwe selber den Tatbestand versetzen. Beim Holzsuchen betrat ich zum ersten Mal seit zwei Wochen den Rasenplatz vorm Kino, auf dem man jetzt die Toten unseres Blocks begräbt. Zwischen Trümmerbrocken und Geschoßtrichtern drei Doppeigräber, drei Ehepaare, dreimal Selbstmord. Eine mummelnde Alte, die auf einem Stein kauerte, erzählte mir mit bitterer Befriedigung, immerfort nickend, Näheres über die Toten: Im Grab ganz rechts liegt der Nazi-Ortsgruppenleiter mit seiner Frau (Revolver). Im Mittelgrab, auf dem etliche hineingesteckte Fliederzweige welken, ein Oberstleutnant mit Frau (Gift). Von dem Ehepaar im dritten Grab weiß die Alte nichts; dort hat jemand ein Holzscheit in den Sand gesteckt, auf dem mit Rotstift geschrieben steht »2 Müller«. In einem der Einzelgräber liegt die Frau, die aus dem dritten Stock sprang, als Iwans sie wollten. Eine Art Kreuz steht darauf, aus zwei Stücken einer weißpolierten Türfüllung schief mit Draht zusammengefügt. Es zog mir die Kehle zu. Wieso spricht die Kreuzesform so stark zu uns? Selbst wenn wir uns nicht mehr Christen nennen dürfen? Frühe Kindereindrücke kamen wieder. Ich sah und hörte Fräulein Dreyer, wie sie uns Siebenjährigen mir unendlichen Einzelheiten und tränenden Auges die Heilandspassion schilderte ... Immer hängt für uns christlich erzogene Abendländer ein Gott am Kreuz - mag dies auch bloß aus zwei Stücken Türfüllung und etwas Draht bestehen. Ringsum Dreck und Pferdemist und spielende Kinder. Darf man das Spielen nennen ? Sie drücken sich so herum, blinzeln uns an, flüstern miteinander. Hort man eine laute Stimme, so ist es ein Russe. Einer stapfte daher, Gardinen überm Arm. Er rief uns eine Schweinerei nach. Man sieht sie jetzt nur vereinzelt oder in abmarschierenden Trupps. Rauh und herausfordernd gellen uns ihre Lieder ins Ohr. Hab dem Bäcker 70 Pfennig für die zwei erhaltenen Brote gebracht, kam mir ganz sonderbar vor und hatte das Gefühl, daß ich ihm etwas völlig Wertloses in die Hand drückte, kann mich noch immer nicht entschließen, unser deutsches Geld weiter für richtiges Geld zu halten. Im Haus sammelte die Erna vom Bäcker alle Haushalts-Ausweise ein, notierte auf eine Liste Namen und Kopfzahl der verbliebenen Hausbewohner. Anscheinend sind neue Lebensmittelkarten in Sicht. Erna hatte sich feingemacht, kam im geblümten Sommerkleid daher — ein ungewohnter Anblick, nachdem sich vierzehn Tage hindurch die Frauen nur wie die Schlampen zurechtgemacht 174 175 nach draußen getraut haben. Auch mir ist nach einem neuen Kleide zumute. Man faßt es noch nicht, daß kein Russe mehr an unseren Türen klopft, keiner sich mehr auf Sofa und Sesseln räkelt. Ich habe die Stube gründlich aufgeräumt, fand unter dem Bett einen kleinen Sowjetstern aus rotem Glas und ein Präservativ in Papierhülle. Wer letzteres verlor, ahne ich nicht. Ich wußte gar nicht, daß sie überhaupt sowas kennen. Jedenfalls war es ihnen nicht der Mühe wert, deutschen Frauen gegenüber davon Gebrauch zu machen. Das Grammophon haben sie mitgenommen, auch die Reklameplatte der Textilfirma (»... für die Dame, für das Kind, Jedermann bei uns was findt...«). Dafür blieben uns insgesamt 43 klassische Musikplatten, von Bach bis Pfitzner, und der halbe Lohengrin dabei. Auch der von Anatol zerbrochene Deckel ist zurückgeblieben, dankbar verfeuern wir ihn im Herd. Nun ist schon Abend, Mittwoch, 9. Mai. Schreibend hocke ich auf der Fensrerbank. Draußen Sommer, der Ahorn ist dunkelgrün, die Straße sauber gefegt, leer. Ich nutze den letzten Tagesschein, denn nun heißt es Kerzen sparen. Niemand wird uns neue bringen. Vorbei ist es nun auch mit Schnaps, Zucker, Butter, Fleisch. Könnten wir nur erst an die Kartoffeln heran! Noch getraut sich keiner, die Barrikade vorm Hauskeller niederzulegen. Man weiß ja nicht, ob sie wiederkommen oder ob neue Truppen nachrücken. Die Witwe predigt und predigt, allerdings nicht von den Lilien auf dem Felde, deren Beispiel allein für uns paßte. Sie spinnt bange Zukunftsgedanken, sieht uns alle verhungern, wechselte einen Blick mit Herrn Pauli, als ich um einen zweiten Teller Erbsensuppe bat. Flak knattert in mein Geschreibe hinein. Es heißt, sie üben für eine Siegesparade, zu der auch Amerikaner eintreffen sollen. Schon möglich. Sollen sie feiern, uns geht es nichts an. Wit haben kapituliert. Trotzdem spüre ich Lebenslust. Weiter, dies schreibe ich nachts, bei Kerzenschein, mit einer Kompresse um die Stirn. Gegen acht Uhr abends schlugen Fäuste an unsere Vordertür: »Feuer! Feuer!« Wir - hinaus. Draußen grelle Helle. Flammen züngelten aus dem Ruinenkeller zwei Häuser weiter, leckten schon zur Brandmauer des heilen Nebenhauses empor. Beißender Qualm drang aus einem Loch im Getrümmer, kroch die Straße hinauf. Es wimmelte von Schatten, Zivilisten. Rufe und Geschrei. Was tun? Wasser gibt es nicht. Der Feuerherd lag unten im Keller der Ruine. Glutheiße Luft, Wind kam auf, es war wie in Bombennächten. Deshalb regte sich auch keiner auf. »Ersticken«, hieß es. »Mit Trümmern das Feuer zudecken.« Im Nu hatten sich zwei Ketten formiert. Gesteinsbrocken wanderten von Hand zu Hand. Der Letzte schleuderte sie in die Flammen. Einer rief, daß wir uns beeilen müßten, es sei gleich neun - und um zehn Uhr abends müssen Zivilisten von der Straße verschwunden sein. Von irgendwoher rollten Gestalten ein Faß an, wir schöpften mit Eimern eine stinkige Brühe daraus. Beim Weitergeben der Eimer haute mir eine Frau versehentlich die Zinkkante gegen die Schläfe. Ich sah gleich Funken, taumelte zu einem Steinbrocken auf dem Rasen gegenüber, dem Gräber-Rondell, hockte mich nieder. Eine Frau setzte sich zu mir und berichtete eintönig, daß »die da unten« ein Offiziers-Ehepaar seien, mit Cyankali vergiftet. Das wußte ich schon, ließ aber die Frau reden. »Kein Sarg, gar nichts«, sagte sie. »Die sind bloß in Verdunkelungspapier gewickelt, mit der Strippe drum mm. Die hatten ja nicht mal Laken auf den Betten, waren bloß als Verbombte eingewiesen.« Aber das Gift müssen sie doch parat gehabt haben. 176 177 Mir war schwindlig, ich spürte förmlich, wie die Beule auf der Stirn wuchs. Das Feuer war bald eingekreist und zugedeckt. Ich gesellte mich zu einer schimpfenden Gruppe und erfuhr die Ursache des Brandes: Ein Feinkosthändler, der früher in diesem zerstörten Haus sein Geschäft führte, hatte im teilweise erhaltenen Keller Reste seines Weinlagers belassen. Die Russen hatten es entdeckt, ich möchte sagen, gerochen, und hatten die Regale, Kerzen in Händen, ausgeräumt. Dabei war versehentlich Flaschenstroh ins Glimmen geraten, woraus sich langsam der Brand entwickelt hatte. Ein Mann berichtet: »Stockblau haben die Kerls den Rinnstein lang gelegen. Ich hab selber gesehen, wie einer, der noch aufrecht in seinen Stiefeln stand, an der Reihe langgegangen ist und seinen Genossen die Uhren vom Arm geknöpft hat.« Darob Gelächter. Nun liege ich im Bett, schreibe, kühle meine Beule. Für morgen planen wir eine große Reise quer durch Berlin nach Schöneberg. Donnerstag, 10. Mai 1945 Der Morgen ging hin mit Hausarbeit, Holzzerklopfen, Wasserholen. Die Witwe badete ihre Füße in Sodawasser und probierte Frisuren aus, bei denen sich möglichst viel Grauhaar verstecken läßt. Um drei Uhr nachmittags waren wir endlich startbereit. Unser erster Gang durch die eroberte Stadt. Arme Worte, ihr reicht nicht aus. Wir stiegen über den Friedhof an der Hasenheide, mit den langen, gleichförmigen Gräberreihen im gelben Sand, vom letzten großen Luftangriff im März her. Sommersonne brannte. Der Park lag wüst. Die Unsrigen hatten seinerzeit noch die Bäume gefällt, um das Schußfeld frei- zulegen. Überall Laufgräben, darin verstreut Lumpen, Flaschen, Büchsen, Drähte, Munition. Auf einer Bank hockten zwei Russen mit einem Mädel. Selten bewegt sich draußen ein Russe allein. Zu zweit fühlen sie sich wohl sicherer. Weiter, dutch einstmals dichtbevölkerte Arbeiterstraßen. Jetzt könnte man glauben, daß die zehntausend, die hier lebten, ausgewandert oder tot seien; so stumm sind die Straßen, so verschlossen und verkrochen wirken die Häuser. Kein Lebenslaut von Mensch oder Tier, von Auto, Radio oder Straßenbahn. Nur lastende Stille, in der wir unsere Schritte hören. Wenn uns aus den Häusern jemand nachblickt, so tut er es verstohlen. Wir sehen kein Gesicht hinter den Fenstern. Weiter, hier beginnt der Stadtteil Schöneberg. Gleich wird sich zeigen, ob wir weiterkönnen, ob eine der Brük-ken heil blieb, die über die S-Bahn führen, zum Westen hin. Zum ersten Mal sehen wir an einigen Häusern rote Fahnen, vielmehr Fähnchen - offenbar aus ehemaligen Hakenkreuzfahnen herausgeschnitten; manchmal sieht man noch den dunkleren Kreis, von dem der weiße Stoff mit dem schwarzen Hakenkreuz darauf abgetrennt wurde. Die Fähnchen sind - wie könnte es in unserem Lande anders sein? - von Frauenhand sauber umsäumt. Am Wege überall Hinterbleibsel der Truppen, ausgeweidete Autos, ausgebrannte Panzer, verbogene Lafetten. Hin und wieder ein Schild, ein Plakat in Russisch, das den 1. Mai feiert, Stalin, den Sieg. Auch hier kaum Menschen. Manchmal huscht ein armseliges Geschöpf vorbei, ein Mann in Hemdsärmeln, eine ungekämmte Frau. Keiner beachtet uns groß. »Ja, die Brücke steht noch«, antwortet auf unsere Frage eine barfüßige, verkommene Frau und hastet davon. Barfuß? In Berlin? Hab sowas nie zuvor bei einer Frau gesehen. Auf der Brücke noch eine Barrikade aus Trümmersteinen. Wir schlüpften durch den Spalt, mein Herz klopfte heftig dabei. 178 179 Grelle Sonne. Die Brücke leer. Wir verhielten, blickten auf den Bahndamm hinunter. Ein Gewirr von strohgelben Gleisen, dazwischen metertiefe Krater. Schienenstücke ragen hochgebogen in die Luft. Polster und Fetzen quellen aus zerbombten Schlafwagen und Speisewagen. Die Hitze brütet. Brandgeruch hängt über den Schienen. Rings Öde und Verlassenheit, kein Hauch von Leben. Das ist der Kadaver von Berlin. Weiter nach Schöneberg hinein. Da und dort in der Tür eine Frau, ein Mädel: blicklos das Auge, die Züge schwammig und gedunsen. Ich kann von ihnen ablesen, daß der Krieg hier erst wenige Tage vorbei ist. Die haben sich noch nicht gefangen, sind noch so betäubt, wie wir es vor etlichen Tagen waren. Wir traben die Potsdamer Straße hinunter, vorbei an schwarz ausgebrannten Amtern, leeren Hochhäusern, Schutthaufen. An einer Ecke rührendes Bild: Vor einem Schutthaufen, der sie weit überragte, zwei alte, klapprige Frauen, die etwas Dreck mit einer Kohlenschaufel abkratzten und in ein Kärtchen füllten. Wenn sie so weitermachen, brauchen sie Wochen für den Berg. Sie haben knorrige Hände, vielleicht schaffen sie es. Der Kleistpark ist eine Wüste. Unter den Arkaden lagern Lumpen, Matratzen und herausgerissene Auto-polster. Überall Kothaufen, von Fliegen umsummt. Mittendrin der halbfertige Hochbunker, wie ein Igel von Eisenstacheln umstanden. Vermutlich sollten wir darin im siebten Kriegsjahr Zuflucht vor Bomben suchen. An einem Balkenstapel davor zerren zwei Zivilisten, einer sägt handliche Stücke herunter. Alles gehört allen. Kläglich kratzt die Säge durch all die Stille. Unwillkürlich flüsterten die Witwe und ich miteinander, der Hals war uns trocken, die tote Stadt verschlug uns den Atem. Die Luft im Park war voll Staub, alle Bäume schienen weiß über- pudert, waren von Schüssen durchsiebt und schwer verwundet. Ein deutscher Schatten hastete vorbei, schleppte Bettzeug. Am Ausgang ein Russengrab, mit Draht umzäunt. Wieder grellrote Holzstelen darauf, und dazwischen eine flache Granitplatte, auf die mit Kalk gepinselt steht, daß hier Helden ruhen, fürs Vaterland gefallen. Geroi, so lautet das Wort, Heros, Held. Es klingt so preußisch. Zwanzig Minuten später standen wir vor dem Haus, in dem die Freunde der Witwe wohnen. »Ein Korpsbruder meines Mannes«, so sagt sie - Studienrat, Altphilologe, verheiratet. Das Haus wirkt völlig tot. Die Vordertür ist mit Latten vernagelt. Als wir einen Hintereingang suchen, stoßen wir auf eine Frau, die ihre Röcke gehoben hat und ungeniert vor unseren Augen in einem Hofwinkel ihre Notdurft verrichtet. Auch etwas, das ich zum ersten Mal so öffentlich in Berlin sah. Endlich fanden wir den Aufgang, klommen zwei Treppen hoch, klopften, riefen als Parole den Namen der Witwe ... Drinnen Rumoren, Schritte und Geflüster, bis man begriff, wer draußen steht. Da fliegt die Tür auf, wir umhalsen uns, ich presse mein Gesicht an ein gänzlich fremdes Gesicht; denn ich habe diese Leute nie zuvor gesehen. Es ist die Frau des Studienrats, hinter ihr taucht der Mann auf, streckt uns die Hände entgegen, bittet uns herein. Die Witwe redet wie im Fieber, alles geht ihr durcheinander, auch die andere Frau redet, und keine hört zu. Es dauert eine Weile, bis wir in dem einzig bewohnbaren Raum der schwer durchgeblasenen Wohnung sitzen. Wir kramen die mitgebrachten gebutterten Brotschnitten aus der Tasche, bieten sie an. Da staunen die beiden. Brot hat es hier noch keines gegeben, es ist auch keines von Russen hinterlassen worden. Auf die stereotype Frage »Wie oft haben die...?« erklärt die Dame des Hauses in ostpreußisch breitem Tonfall: »Mich? Bloß einmal, am ersten Tag. Von da ab 180 181 haben wir uns im Luftschutzkeller eingeriegelt, wir hatten unten einen Waschkessel voll Wasser.« Hier kamen die Sieger später und verschwanden früher, alles ging ruck-zuck. Wovon leben die beiden Leute? »Ach, wir haben noch ein Säckchen Grütze und ein paar Kartoffeln. Ach ja, und unser Pferd!« Pferd? Gelächter, und die Hausfrau berichtet mit anschaulichen Gesten: Während noch deutsche Truppen in der Straße lagen, kam jemand in den Keller gerannt mit der frohen Botschaft, draußen sei ein Pferd gefallen. Im Nu war das ganze Kellervolk draußen. Das Tier zuckte noch und verdrehte die Augen, da stachen schon die ersten Brotmesser und Taschenmesser in den Leib — selbstverständlich bei Beschuß. Ein jeder schnitt und wühlte, wo er gerade angefangen hatte. Als die Studienratsfrau hinübergriff, wo gelblich das Fett schimmerte, kriegte sie einen Hieb mit dem Messergriff auf die Finger: »Sie! Bleiben Sie, wo Sie sind!« Ein sechs Pfund schweres Stück konnte die Hausfrau heraussäbeln. »Mit dem Rest haben wir meinen Geburtstag gefeiert«, so sagte sie. »Hat tadellos geschmeckt, ich hatte es in meinem letzten Essig eingelegt.« Wir gratulierten heftig. Eine Flasche Bordeaux kam zum Vorschein. Wir tranken, ließen die Hausfrau leben, die Witwe gab den Vergleich mit der Ukrainerfrau zum besten - wir haben alle kein Maß mehr. Wieder und wieder nahmen wir Abschied. Der Studienrat wühlte im Zimmer herum, suchte nach irgendwas, das er uns schenken, uns für die Brotschnitten geben könnte, fand aber nichts. Weiter, ins Bayerische Viertel hinein, wir wollen noch nach meiner Freundin Gisela schauen. Unendliche Reihen von deutschen Personenautos blockieren die Straße, ausgeweidet fast alle. Drüben hat ein Friseur wieder aufge- macht; ein Zettel vermeldet, daß er Männerhaare schneidet und auch Frauenköpfe wäscht, wenn man ihm warmes Wasser mitbringt. Tatsächlich erspähten wir hinten im Halbdunkel einen Kunden und einen, der mit einer Schere in Händen drum herum sprang. Das erste Lebenszeichen im Stadtkadaver. Treppauf zu Gisela. Ich klopfte und rief, mir war ganz zittrig vor Aufregung. Wieder Gesicht an Gesicht; und dabei haben wir uns früher höchstens die Hand gedrückt. Gisela war nicht allein. Sie hat zwei junge Mädchen bei sich aufgenommen, die irgendein Bekannter ihr geschickt hat. Zwei geflüchtete Studentinnen aus Breslau. Stumm saßen sie in einem fast leeren, scheibenlosen, doch sauberen Zimmer. Nach den ersten aufgeregten Worten und Wechselreden trat Stille ein. Ich spürte: hier herrscht Leid. Die Augen der beiden jungen Mädchen waren schwarz umrändert. Was sie sagten, klang so hoffnungslos, so bitter. Beide sind, wie Gisela mir auf dem Balkon zuflüsterte, auf den sie mich hinauslotste, von den Russen entjungfert worden und haben es viele Male aushalten müssen. Die blonde Hertha, eben zwanzig, hat seitdem ständig Schmerzen und weiß sich nicht zu helfen. Sie weint viel, sagt Gisela. Von ihren Angehörigen weiß Hertha nichts, die sind aus Schlesien in alle Winde zerstreut, falls sie noch leben. Hysterisch klammert das Mädchen sich an Gisela. Die zierliche, erst neunzehnjährige Brigitte wehrt sich mit bösem Zynismus gegen die seelische Verletzung. Sie läuft über von Galle und Haß, findet das Leben dreckig und alle Menschen - sie meint, alle Männer - Schweine. Sie will weg, weit weg, irgendwohin, wo es die Uniform nicht gibt, deren bloßer Anblick ihr Herz aus dem Takt bringt. Gisela selber kam heil davon, mit einem Trick, den ich leider zu spät erfahren habe: Ehe Gisela sich zur Redakteurin entwickelte, hatte sie schauspielerische Ambitio- 182 183 nen gehabt und im Unterricht auch ein bißchen Schminken gelernt. So hat sie sich im Keller eine wunderbare Greisinnenmaske aufs Gesicht gestrichelt und hat ihr Haar unter einem Kopftuch versreckt. Als Russen kamen und sich mit Taschenlampen die beiden jungen Studentinnen herausleuchreten, haben sie Gisela mitsamt ihren Kohle-Runzeln aufs Lager zurückgedrückt: »Du Ba-buschka schlaffen.« Unwillkürlich mußte ich lachen, dämpfte aber sogleich meine Heiterkeit - die beiden Mädels blickten gar zu düster, zu herb drein. Diese Mädchen sind auf immer um die Erstlingsfrüchte der Liebe betrogen. Wer mit dem Letzten begann, und dazu auf so böse Art, kann nicht mehr vor der ersten Berührung erbeben. Paul hieß der, an den ich jetzt denke, er war siebzehn wie ich, als er mich auf der Ulmenstraße in den Schatten eines fremden Haustors drängte. Wir kamen aus einem Schülerkonzert, Schubert, glaube ich, noch warm von der Musik, über die wir doch nichts zu sagen wußten. Unerfahren wir alle beide; Zähne preßten sich gegen Zähne, während ich gläubig auf das Wunderbare wartete, das vom Küssen kommen sollte. Bis ich merkte, daß sich mein Haar gelöst hatte. Die Spange, clie es sonst im Nacken zusammenhielt, war weg. Was für ein Schreck! Ich schüttelte Kleid und Kragen. Paul tastete im Dunklen auf dem Straßenpflaster herum. Ich half ihm suchen, unsere Hände trafen und berührten sich, doch nun ganz kalt. Die Haarspange fanden wir nichr. Ich hatte sie wohl schon unterwegs verloren. Das war sehr ärgerlich. Die Mutter würde es gleich merken, sie würde mich fragen, mich scharf ansehen. Und ob ihr dann mein Gesicht nicht verriet, was Paul und ich im Torweg getan? Wir trennten uns überhastet, in plötzlicher Verlegenheit, und kamen einander später nie mehr nahe. Trotzdem haben jene scheuen Minuten im Torweg für mich einen Silberglanz behalten. Langer Abschied nach einer Stunde. Man trennt sich jetzt so schwer von Freunden, weiß nie, wann und wie man einander wiedersieht. Es kann so vieles geschehen. Immerhin lud ich Gisela für den kommenden Tag zu uns ein. Auch die Wirwe hat ihre Freunde eingeladen. Wir wollen zusehen, daß wir ihnen einen Kanten Brot verschaffen können. Zurück, den gleichen öden, langen, staubigen Weg. Nun wurde es der Witwe doch zuviel, ihre Füße brannten, wir mußten hin und wieder am Bordstein sitzend rasten. Ich schlich wie unter einer Zentnerlast, hatte das Gefühl, daß Berlin nie wieder hochkommen könne, daß wir Trümmerratten bleiben würden unser Leben lang. Zum ersten Mal beschlich mich der Gedanke, diese Stadt zu verlassen, mir anderswo Brot und Obdach zu suchen, wo es noch Luft und Landschaft gibt. Im Park rasteten wir auf einer Bank. Neben uns saß eine junge Frau, die zwei kleine Buben spazierenführte. Ein Russe kam heran, winkte den unvermeidlichen zweiten Russen hinzu, der mit ihm ging, und sagte zu ihm auf russisch: »Komm her, hier sind Kinder, das sind doch die Einzigen, mit denen man hier reden kann.« Die Mutter blickte achselzuckend und ängstlich zu uns herüber. Tatsächlich entspann sich eine Unterhaltung zwischen den Männern und den beiden Knirpsen, die sich ruhig auf die Knie nehmen und zu einem russischen Hoppereiter-Liedchen schaukeln ließen. Dann wandte sich der eine Soldat zu mir und sagte im freundlichsten Ton der Welt auf russisch: »Ist ja ganz egal, wer mit euch schläft. Schwanz ist Schwanz.« (Den Ausdruck lehrte mich Anatol in ländlich-sittlicher Plumpheit.) Ich mußte an mich halten, um das doofe Nichtverstehen zu wahren, mit dem dieser Bursche rechnete. Also lächelte ich bloß, worauf die beiden Kerle schallend loslachten. Bitte sehr! 184 185 Heimzu auf müden Füßen. Herr Pauli hatte sich in seinem Sessel ans Fenster postiert, hatte nach uns ausgespäht. Er wollte gar nicht glauben, daß uns auf den drei Wanderstunden nur die paar zufällig umherstreunenden Russen begegnet waren. Er hatte sich vorgestellt, daß es im Stadtkern von Truppen nur so wimmelte. Nachträglich wunderten wir uns selber darüber und überlegten, wo all die Sieger geblieben sein könnten. Tief atmeten wir die reine Luft an unserer Ecke, dachten mit Schaudern an die Schöneberger Staubwüstenei zurück. Ich schlief nur schwer ein. Trübe Gedanken. Ein trauriger Tag. Freitag, 11, Mai 1945 ausarbeit. Wir weichten Wäsche ein, schälten unsere letzten Kartoffeln vom Küchenvorrat. Fräulein Behn überbrachte uns die neuen Lebensmittelkarten. Sie sind auf Zeitungspapier in deutscher und russischer Sprache gedruckt. Es gibt ein Muster für Erwachsene und eines für Kinder unter 14 Jahren. Ich hab meine Karte neben mir liegen und notiere die Tagesration: 200 Gamm Brot, 400 Gramm Kartoffeln, 10 Gramm Zucker, 10 Gramm Salz, 2 Gramm Malzkaffee, 25 Gramm Fleisch. Kein Fett. Gibt man uns die Sachen wirklich, so ist es doch etwas. Ich bin starr darüber, daß überhaupt schon wieder so viel Ordnung in den Wirrwarr kommt. Als ich unten beim Gemüsehändler eine Schlange sah, stellte ich mich mit an, bekam Rote Rüben und Trockenkartoffeln auf unsete Karten. In der Schlange genau das gleiche Gerede wie an der Pumpe: jeder rückt jetzt von Adolf ab, und keiner ist dabeigewesen. Jeder wurde verfolgt, und keiner hat denunziert. War ich selber dafür? Dagegen? Ich war jedenfalls mittendrin und habe die Luft eingeatmet, die uns umgab und die uns färbte, auch wenn wir es nicht wollten. Paris hat mir das gezeigt oder vielmehr ein junger Student, dem ich im dritten Jahr der Hitler-Ära im Jardin du Luxem-bourg begegnete. Vor einem Regenguß flüchteten wir unter eine Baumkrone. Wir schwatzten französisch und hörten beide gleich heraus, daß wir Ausländer waren. Wo zu Hause? Mit viel Spaß und Neckerei gaben wir uns ans Raten. Meine Haarfarbe ließ ihn auf Schwedin tippen, während ich darauf bestand, ihn einen Monegassen zu nennen, weil ich diese Bezeichnung für die Bürger von Monaco frisch gelernt hatte und lustig fand. Der Regen endete so jäh, wie er begonnen. Wir serzren uns in Gang, und ich machte einen kleinen Wechselschritt, um meinen Tritt dem seinen anzupassen. Er blieb stehen und rief aus: »Ah, une fille du Fuhrer!« - Eine Tochter von Hitler also, eine Deutsche, erkannt in dem Augenblick, da sie bemüht war, im gleichen Schritt und Tritt mit dem Nebenmann zu marschieren. Aus war's mit Spaß und Neckerei. Denn nun stellte sich der junge Mann vor: kein Monegasse, sondern Holländer und Jude. Was sollten wir da noch reden? Wir trennten uns an der nächsten Wegbiegung. Mir hat dies Erlebnis damals bitter geschmeckt, hab lange daran herumgekaut. Mir fiel ein, daß ich seit geraumer Zeit nichts mehr von Herrn und Frau Golz gehört hatte, Flurnachbarn aus meinem abgebrannten früheren Bau und gewesenen Parteigläubigen. Ich ging die paar Häuser weit, fragte aber vergeblich nach ihnen, hörte nur von Nachbarn, die nach endlosem Geklopfe meinerseits die Tür hinter vorgelegter Kette einen Spalt weit öffneten, daß Herr und Frau Golz sich unbemerkt davongemacht hätten - was auch gut sei, so wurde hinzugefügt; denn es hätten neulich schon II H 186 187 Russen nach dem Mann gesucht, der offenbar denunziert worden sei. Am späten Nachmittag klopfte es an unsere Tür und rief nach mir. Zu meinem Erstaunen eine fast vergessene Figur aus unserer Keller-Vergangenheit: Siegismund, der Sieggläubige, der von irgendeiner Seite hat läuten hören, daß ich Beziehungen zu »hohen Russen« hätte. Begehrte von mir zu wissen, ob es Tatsache sei, daß sich alle früheren Parteigenossen freiwillig zur Arbeit melden müßten, andernfalls man sie an die Wand stellen werde. Es gehen so viele Gerüchte um, man kommt gar nicht nach. Ich sagte ihm, daß ich von nichts wüßte und auch nicht glaubte, daß dergleichen geplant sei — er solle abwarten. Der Mann war kaum wiederzuerkennen. Die Hose schlotterte ihm um den abgemagerten Leib, der ganze Mensch wirkte elend und zerknautscht. Die Witwe verabfolgte ihm eine Predigt von wegen harmloser Mitläuferei, und nun sehe er selbst, was dabei herausgekommen sei... Siegismund ~ seinen richtigen Namen weiß ich immer noch nicht - schluckte alles voll Demut, bat um ein Stückchen Brot. Er bekam es auch. Darob nach seinem Weggang Familienkrach. Herr Pauli tobte und schrie, es sei unerhört von der Witwe, diesem Kerl noch was zuzustecken — der allein sei an dem ganzen Schlamassel schuld, dem könne es gar nicht dreckig genug gehen, einbuchten müsse man den, ihm die Lebensmittelkarte entziehen. (Pauli selbst war bestimmt immer dagegen, denn er hat einen Gegen-Charakter — absprechend, negierend, ein »Geist, der stets verneint«. Es gibt, soweit ich bis jetzt sehe, nichts auf Erden, dem er uneingeschränkt zustimmt.) Ja, nun will keiner mehr was von Siegismund wissen. Hier im Hause darf er sich nicht vernehmen lassen, jeder fährt ihm scharf über den Mund, keiner will mit ihm zu tun haben. Und wer in gleicher Lage ist, der hält sich erst recht zurück. Es muß wüst und wirr aussehen in diesem Mann. Auch ich hab ihn scharf abfahren lassen, was mich in diesem Augenblick ärgert. Wie komme ich dazu, alle Pöbelstimmungen mitzumachen? Immer wiederholt sich das »Hosiannah-Crucifige!« Vor einer halben Stunde, in der Abenddämmerung, plötzlich Schüsse. Ein ferner, schriller Frauenschrei: »Hiiilfe!« Wir haben nicht einmal aus dem Fenster geblickt. Wozu auch? Aber ganz gur sowas; es erinnert uns wiedet, macht uns wachsam. Samstag, 12. Hai 1945 Am Vormittag hat die ganze Hausgemeinschaft — man nennt das jetzt offiziell wieder so — gemeinsam im Hintergarten, den ich seinerzeit in meiner Phantasie schon als Friedhof eingerichtet hatte, eine Grube ausgehoben — aber nur für den Müll des Hauses, der sich zu Bergen um die Müllkästen herum türmte. Munterer Arbeitseifer, lustige Redensarten, alle fühlten sich erleichtert, freuten sich des nützlichen Tuns. Es ist so sonderbar, daß keiner mehr »ins Geschäft« gehen muß, daß jeder gewissermaßen Hausurlaub hat, daß die Ehepaare von früh bis spät zusammenstecken. Hernach hab ich im Wohnzimmer aufgewischt, hab Russenspucke und Stiefelwichse und den letzten Krümel Pferdemist von den Dielen gescheuert. Das gab guten Hunger. Noch haben wir Erbsen und Mehl. Die Witwe fettet mit dem Butterschmalz, das sie aus dem ranzig gewordenen Rest von Herrn Paulis Volkssturmbutter gewonnen hat. Die Wohnung blinkte, als unsere Gäste aus Schöneberg eintrafen. Sie hatten sich gemeinsam auf den Weg gemacht, obwohl meine Freundin Gisela die Freunde 188 189 der Witwe bisher nicht gekannt hatte. Alle drei waren gewaschen, ordentlich frisiert, sauber gekleidet. Sie hatten den gleichen Weg genommen wie wir und das gleiche gesehen - kaum Menschen, nur vereinzelte Russen, sonst Öde und Stille. Es gab Kaffeelorke und für jeden drei Fettschnitten - eine üppige Bewirtung! Ich holte mir Gisela zum Palaver ins Wohnzimmer, wollte wissen, wie sie sich das Weiterleben denkt. Sie sieht schwarz. Ihre Welt, die abendländische, die kunst-und kulturgetränkte, die allein ihr wert ist, sieht sie nun versinken. Für einen Neubeginn fühlt sie sich seelisch zu müde. Sie glaubt nicht, daß füt einen differenzierten Menschen Raum zum Atmen oder gar zu geistiger Arbeit bleibt. Nein, auf Veronal und ähnliche Giftkost hat sie keine Lust. Ausharren will sie, wenn auch ohne Mut und Freude. Sie sprach davon, daß sie »das Göttliche« in sich selber suchen, sich mit den eigenen Tiefen versöhnen wolle, von dort her Erlösung erhoffe. Sie ist unterernährt, hat tiefe Schatten unter den Augen und wird weiter hungern müssen mit den beiden jungen Mädchen, die sie aufgenommen hat - und denen sie nach meinem Gefühl noch von ihrem Eigenen zusteckt. Ihr bißchen Vorrat an Hülsenfrüchten und Haferflocken wurde ihr schon vor dem Eindringen der Russen von Deutschen aus dem Keller gestohlen. Homo homini lupus. Zum Abschied gab ich ihr zwei Zigarren mit, hab sie klammheimlich aus der Majorskiste geklaut, die Herr Pauli schon zur Hälfte leer geraucht hat. Schließlich hab ich für diese Gabe hingehalten, nicht er; mein Anteil steht mir zu. Gisela kann sich Eßbares dafür eintauschen. Abends ging ich noch Wasser holen. Unsere Pumpe ist ein tolles Möbel. Der Stamm abgebrochen, der Schwengel, mehrfach herausgebrochen, mit etlichen Metern Strippe und Draht kümmerlich festgezurrt. Dreie müssen immer den Aufbau stützen, wähtend zwei pumpen. Das Kollektivwerk hat sich gut eingespielt, es wird kein Wort dabei geredet. Auf meinen beiden Eimern schwammen nachher Splitter und Späne, von der Pumpe abgespritzt. Wir mußten das Wasser durchseihen. Wieder wundre ich mich darüber, daß »die« zwar Barrikaden bauten, die zu nichts nütze sind, daß sie aber nicht im geringsten daran dachten, für die Belagerung ein paar ordentliche Wasserzapfstellen vorzubereiten. Die haben doch selber Städte belagert, müßten es also wissen. Aber vermutlich wäre jeder führende Mann, der von Pumpenbau gesprochen hätte, als Defaitist und Lumpenhund abgetan worden. Stiller Abend heute. Zum ersten Mai seit drei Wochen habe ich ein Buch aufgeschlagen, Joseph Conrad: Scbat-tmlinie. Ich fand aber nur schwer hinein, bin selber zu voll von Bildern. Sonntag, 13, Mai 1945 Strahlender Sommertag. - Von früh an optimistische Geräusche: Klopfen, Schrubben, Gehämmer. Dabei schwebt über uns die Angst, daß wir unser Haus, unsere Wohnungen für Militär räumen müssen. An der Pumpe ging das Gerücht, daß Truppen in den Block gelegt werden sollten. Nichts gehört uns mehr in diesem Land, nur die Stunde. LJnd die haben wir genossen, als wir zu dritt um einen reichlich gedeckten Frühstückstisch saßen, Herr Pauli noch in seinem Morgenrock, aber schon halbwegs wohlauf. Uber Berlin läuten die Glocken zum Sieg der Alliierten. Irgendwo steigt in dieser Stunde die berühmte Parade, die uns nichts angeht. Es verlautet, daß heute Festtag bei den Russen sei, daß die Mannschaften zur Feier des Sieges Wodka zugeteilt bekämen. An der Pumpe hieß es, Frauen sollten nach Möglichkeit die Häuser nicht 190 191 verlassen. Wir wissen nicht recht, ob wir das glauben sollen. Die Witwe wiegt bedenklich den Kopf. Herr Pauli reibt sich schon wieder das Kreuz, meint, daß er sich legen müsse ... Ich warte es ab. Mittlerweile hatten wir das Thema Alkohol beim Wickel. Herr Pauli hat mal gehört, daß eine Anweisung an die kämpfende deutsche Truppe ergangen sei, Alkoholvorräte niemals zu vernichten, sondern sie dem nachsetzenden Feinde zu überlassen, da erfahrungsgemäß dieser durch Alkohol aufgehalten und in seiner weiteren Kampfkraft beeinträchtigt werde. Das ist so Männerschnack, von Männern für Männer ausgeheckt. Die sollen sich bloß mal zwei Minuten überlegen, daß Schnaps geil macht und den Trieb gewaltig steigert. Ich bin überzeugt, daß ohne den vielen Alkohol, den die Burschen überall bei uns fanden, nur halb so viele Schändungen vorgekommen wären. Casanovas sind diese Männer nicht. Sie müssen sich erst selber zu frechen Taten anstacheln, haben Hemmungen wegzuschwemmen. Das wissen sie oder ahnen es doch; sonst wären sie nicht so heftig hinter Trinkbarem her. Beim nächsten Krieg, der mitten unter Frauen und Kindern geführt wird (zu deren Schutz früher angeblich das Mannsvolk hinauszog), müßte vor Abzug der eigenen Truppen jeder verbliebene Tropfen an aufputschenden Getränken in den Rinnstein gegossen, Weinlager müßten gesprengt, Bierkelier hochgejagt werden. Oder meinetwegen sollen sie vorher für die eigenen Leute schnell noch eine lustige Nacht veranstalten. Bloß weg mit Alkohol, solange Frauen in Greifweite des Feindes sind. Weiter, es ist Abend. Der vielgefürchtete Sonntag ist vorüber. Nichts ist passiert. Es war der friedlichste Sonntag seit dem 3. September 1939- Ich lag auf dem Sofa; draußen Sonne und Gezwitscher. Ich knabberte Kuchen, den die Witwe uns mit sündhaft viel Holz gebacken hat, und dachte über das Leben nach. Hier die Bilanz: Auf der einen Seite stehen die Dinge gut für mich. Ich bin frisch und gesund. Es hat mir physisch nichts geschadet. Hab das Gefühl, als sei ich bestens für das Leben ausgerüstet, als hätte ich Schwimmhäute für den Modder, als sei meine Faser besonders biegsam und zäh. Ich passe in die Welt, bin nicht fein. Meine Großmutter hat Mist gefahren. Auf der anderen Seite stehen lauter Minuszeichen. Ich weiß nichr mehr, was ich noch auf der Welt soll. Ich bin keinem Mitmenschen unentbehrlich, stehe bloß so herum und warte, sehe derzeit weder Ziel noch Aufgabe vor mir. Ich habe lebhaft an ein Gespräch denken müssen, das ich einmal mit einer klugen Schweizerin durchfocht, und bei dem ich, gegen alle Weltverbesserungspläne, auf meinem Satz beharrte: »Die Summe der Tränen bleibt konstant.« Ganz gleich, unter welchen Fahnen und Formeln die Völker leben; ganz gleich, welchen Göttern sie anhängen und welchen Reallohn sie beziehen: die Summe der Tränen, der Schmerzen und Ängste, mit denen ein jeder für sein Dasein zahlt, bleibt konstant. Satte Völker suhlen sich in Neurosen und Überdruß. Den im Übermaß Gequälten kommt, wie jetzt uns, Stumpfheit zu Hilfe. Sonst müßte ich ja von früh bis in die Nacht weinen. Ich tu's so wenig wie die anderen. Es waltet da ein Gesetz. Freilich raugt, wer an die Unveränderlichkeit der irdischen Tränensumme glaubt, schlecht zum Weltverbesserer und überhaupt nicht zu heftiger Tat. Einmal nachzählen: Ich war in zwölf Ländern von Europa, hab unter anderen in Moskau, Paris, London gelebt und Bolschewismus, Parlamentarismus, Faschismus aus der Nähe abbekommen, als einfacher Mensch unter einfachen Menschen. Unterschiede? Ja, beträchtliche sogar. Sie liegen aber, wie mir scheinen will, in der Form und Farbe, in den jeweils gültigen Spielregeln; nicht im größeren oder geringeren Glück der meisten, wie es noch das Anliegen von Candide war. Der kleine, dumpfe, 192 193 untertänige Mensch, der einzig das Sein kennt, in das er ;f,[ hineingeboren wurde, erschien mir in Moskau nicht unglücklicher als in Paris oder in Berlin. Er hat sich den Lebensbedingungen, die er vorfand, seelisch angepaßt. Für mich entscheidet zur Zeit das Allerpersönlichste, vifj i mein Geschmack. In Moskau möchte ich nicht leben. Was mich dort am meisten bedrückte, war die pausen- ■■■ lose ideologische Schulung; sodann die Unmöglichkeit ; M\ für Eingeborene, frei in der weiten Welt um herzureisen; und schließlich das Fehlen jeden erotischen Fluidums. :■%] Das Regime dort liegt mir nicht. In Paris oder London hingegen war ich gern. Doch hab ich dort stets aufs schmerzlichste verspürt, daß ich daneben stand, fremd ;a ( blieb, bloß geduldet, Ausländer. Ich bin freiwillig nach Deutschland zurückgekehrt, obwohl Freunde mir zur Auswanderung rieten. Es war gut, daß ich heimkehrte. In der Ftemde hätte ich nirgends Wurzein schlagen kön- -, vi > nen. Ich fühle mich meinem Volk zugehörig, will sein Schicksal teilen, auch jetzt noch. Aber wie? Zur roten Fahne, die mir in jungen Jahren so leuchtend erschien, führt kein Weg für mich zurück. 1, j Die Summe der Tränen ist auch in Moskau konstant geblieben. Meine fromme Kinderwiege ging mir verloren, Gott und Jenseits wurden zu Symbolen und Abstracta. Fortschritt? Ja, zu größeren Bomben. Das Glück der meisten? Ja, für Petkaund Konsorten. Idylle im Winkel? Ja, für die Teppichfransenkämmer. Besitz, Behagen? Daß ich nicht lache, unbehauster Großstadt-Nomade, der ich j bin. Liebe ? Die liegt zertreten am Boden. Und stünde ;;| j sie wieder auf, so würde ich ständig darum bangen, fände :i ) keine Zuflucht darin, wagte nie mehr, Dauer zu erhoffen. g j Vielleicht die Kunst, die Fron im Dienst der Form? Ja, > j für die Berufenen, zu denen ich nicht zähle. Bin nur ein V;;; I kleiner Handlanger, muß mich bescheiden. Einzig im engen Kreis kann ich wirken und gut Freund sein. Der \ Rest ist Warten auf das Ende. Trorzdem reizt das dunkle und wunderliche Abenteuer des Lebens. Ich bleibe schon aus Neugier dabei; und weil es mich freut, zu atmen und meine gesunden Glieder zu spüren. Hontag, 14. Mai 1945 otorlärm riß mich gestern abend aus dem ersten Schlaf. Draußen Rufe, Gehupe. Ich stolperte ans Fenster. Da stand unten wahrhaftig ein russischer Lastwagen voll Mehl. Kohle hat der Bäckermeister schon, also kann er backen, kann die Karten und Nummern beliefern. Ich hörte ihn jauchzen und sah, wie er dem russischen Fahrer um den Hals fiel. Der strahlte ebenfalls. Sie spielen gern den Weihnachtsmann. In grauer Frühe weckte mich heute die schnatternde Brotschlange. Sie wand sich um den halben Block herum, dauert jetzt am Nachmittag noch an. Viele Frauen haben sich Hocker mitgebracht. Ich höre förmlich die Fama zischeln. Wasser holten wir zum ersten Mal von einem richtigen Hydranten, gar nicht weit weg. Das ist etwas Wunderbares. Eine automatische Pumpe mit drei Hähnen, aus denen das Wasser in dickem Strahl sprudelt. Im Nu ist der Eimer gefüllt. Man braucht nur ein paar Minuten zu warten, bis man dran ist. Das ändert unseren Tag, macht unser Leben leichter. Auf dem Weg zum Hydranten kam ich an vielen Gräbern vorbei. Fast jeder Vorgarten hat die stille Einquartierung. Mal liegt ein deutscher Stahlhelm darauf, mal leuchten grellrot die russischen Einheits-Holzsäulen mit den weißen Sowjetsternen. Sie müssen ganze Wagenladungen von diesen Malern hergeschleppt haben. H 194 195 An den Bordsteinen ragen Holztafeln mit deutschen und russischen Inschriften. Eine besagt mit Stalins Worten, daß die Hitler etcetera verschwinden, daß Deutschland aber bleibe. »Losungi« nennen die Russen mit einem deutschen Fremdwort solche Kernsätze. Neben unserer Haustür kleben jetzt gedruckte »Nachrichten für Deutsche«. Das Wort klingt mir in diesem Zusammenhang so fremd in den Ohren, fast wie ein Schimpfwort. Auf dem Blatt ist der Text unserer bedingungslosen Kapitulation zu lesen, unterzeichnet von Keitel, Stumpff, Friedeburg. Dazu Berichte über Waffenstreckung an allen Fronten. Göring ist gefangen. Eine Frau will über Detektor gehört haben, er habe wie ein Kind geweint bei seiner Festnahme und sei durch Hitler bereits zum Tode verurteilt gewesen. Ein Koloß auf tönernen Füßen. Ein anderer, sehr umlagerter, sehr umstrittener Anschlag meldet, daß die Russen neue und höhere Lebensmittelrationen zur Verfügung stellen, die in fünf Gruppen gestuft an uns ausgegeben werden sollen: Für Schwerarbeiter, Arbeiter, Angestellte, Kinder, Sonsrige Bevölkerung. Bror, Kartoffeln, Nährmittel, Ersatzkaffee, Bohnenkaffee, Zucker, Salz, ja sogar Fett. Im ganzen nicht übel, wenn es stimmt. Zum Teil höhere Rationen als zuletzt unter Adolf. Die Wirkung dieser Neuigkeit ist stark. Ich hörre: »Da sieht man wieder, daß unsere Propaganda uns bloß dumm gemacht hat.« Ja, es stimmt, man hat uns so oft den Hungertod, die völlige physische Auslöschung durch die Feindmächte an die Wand gemalt, daß uns jedes Stück Brot, jede Andeutung, daß auch weiterhin für uns gesorgt werden soll, baß erstaunt. Insofern hat Goebbels den Siegern gut vorgearbeitet. Jede Brotkruste aus deren Hand erscheint uns wie ein Geschenk. Am Nachmittag stand ich nach Fleisch an. Nichts instruktiver als so eine Schlangenstunde. Ich vernahm, daß in Richtung Stettin, Küstrin und Frankfurt/Oder bereits wieder Züge verkehren. Dagegen liegt der Stadtverkehr offenbar noch gänzlich still. Eine Frau erzählte mit Befriedigung, wieso die Russen nach kurzem Durchgang ihr Wohnhaus mieden: Im ersten Stock fanden sie eine Familie vergiftet auf den Betten, im zweiten Stock eine Familie erhängt an den Fensterkreuzen in der Küche. Worauf sie voll Schrecken flohen und nicht wiederkehrten. Man ließ für alle Fälle die Abschreckungsobjekte noch eine Zeitlang an ihrem Platz ... Mein Fleisch bekam ich glatt und gut. Schieres Rindfleisch, es hilft uns weiter. »Um halb fünf LJhr nachmittags trifft sich im Keller die Hausgemeinschaft«, so wurde es von Tür zu Tür durchgesagt. Endlich soll die Kellerbarrikade weggeräumt werden. Gut so; dann wird der Weg zu den restlichen Kartoffeln der Witwe frei. Wir standen in langer Reihe den Gang entlang. Ein Kerzlein, auf einen Stuhl geklebt, gab schwachen Schein. Ziegelsteine, Bretter, Stühle und Matratzenteile wanderten von Hand zu Hand. Im Keller Kraut und Rüben, d.h. wilder Wirrwarr. Kotgeruch. Jeder packte seinen Kram zusammen. Herrenloses Gur sollte im Lichthof niedergelegt werden. (Wobei die Witwe eine seidene Wäschegarnitur, die nicht ihr gehörte, sanft in ihren Sack verschwinden ließ. Sie besann sich allerdings später wieder auf die Zehn Gebote und gab das Stück, auf dessen Eigentümerin ein gesticktes Monogramm hinwies, als »irrtümlich eingesteckt« an die rechte Adresse zurück.) Die Eigentumsbegriffe sind völlig zerrüttet. Jeder bestiehlt jeden, weil jeder bestohlen wurde und jeder alles brauchen kann. So sammelte sich als »herrenlos« schließlich nur Schamott an: verwaschene Unterröcke, Hüte, ein Einzelschuh. Während die Witwe noch verbissen nach der Krawattenperle wühlte, deren Versteck sie vergessen hat, schleppte ich die Kartoffeln 196 197 aufwärts, stellte sie vor Herrn Paulis Bett ab. Als die Witwe nachkam, kündete sie sofort wieder kassandra-gleich von Hungersnöten, die nach Verzehrung dieser letzten Kartoffelknollen über uns hereinbrechen würden. Herr Pauli sekundierte ihr kräftig. Ich habe das Gefühl, daß man in diesem Haushalt anfängt, mich als lästigen Mitesser zu empfinden, daß man mir die Bissen in den Mund zählt und mir jede Kartoffel mißgönnt. Dabei futtert doch auch Pauli von meinem Majorszucker mit. Ich will trotzdem versuchen, wieder auf eigene Futterbeine zu kommen. Nur — wie? Zürnen kann ich den beiden nicht. Zwar hab ich es noch nicht ausprobiert; doch könnte es gut sein, daß ich in ähnlicher Lage auch ungern mein Essen teilen würde. Und ein neuer Major ist nicht am Horizont. Blenstag, 15. Mai 1945 Die übliche Hausarbeit, es ödet einen an. Oben in der Dachwohnung, die ich zum ersten Mal seit dem Russeneinmarsch wieder betrat, kramen zwei Dachdecker herum. Ihren Lohn erhalten sie in Form von Brot und Zigaretten. Kein Russe hat in die Dachwohnung gefunden. Der feine Kalkbelag auf den Dielen, der jeden Fußabdruck verrät, war unberührt, als ich die Dachdecker einließ. Mit genügend Wasser und Mundvorrat hätte ich dort oben vermutlich als unentdecktes Dornröschen verharren können. Aber darüber wäre ich mit Sicherheit verrückt geworden, so allein. Im Rathaus müssen sich mal wieder alle Leute melden. Heute war mein Buchstabe dran. Ungewohnt viele Menschen waren zur Stunde der Registrierung auf der Straße. Im Vorraum war ein Mann dabei, das Adolf-Relief mit Meißel und Hammer wegzuklopfen. Ich sah, wie die Nase absplitterte. Was ist Stein, was sind Denkmäler? Ein Bildersturm ohnegleichen geht in diesen Tagen durch Deutschland. Ob es nach solcher Götterdämmerung wohl jemals wieder eine Auferstehung der Nazigrößen gibt? Unbedingt muß ich, sobald ich den Kopf freier habe, mich mal mit Napoleon befassen, den sie auch seinerzeit verbannt und ausgetilgt, doch dann wiedet hervorgeholt und erhöht haben. Droben im dritten Stock mußten wir Frauen uns anstellen. Stockfinsterer Flur, Gedränge von Frauen, die man hörte, aber nicht sah. Vor mir ging die Rede vom Spargelstechen, zu dem schon etliche Frauen hinausgeschickt worden seien. Das wäre nicht übel. Hinter mir zwei Frauen, der Redeweise nach Damen. Die eine: »Wissen Sie, mir war alles gleich. Ich bin sehr eng, mein Mann hat darauf immer Rücksicht genommen.« Es scheint, daß diese Frau versucht hat, sich nach mehrfacher Vergewaltigung durch Gift das Leben zu nehmen. Aber: »Ich wußte das ja nicht. Man hat es mir hinterher erklärt, daß der Magen dafür angesäuert sein muß. Ich habe das Zeug nicht bei mir behalten können.« »Und jetzt?« fragt leise die andere zurück. »Pah, man lebt eben. Das Schöne ist ohnehin vorbei. Ich bin nur froh, daß mein Mann dies nicht mehr erlebt hat.« Wieder einmal muß ich darüber nachsinnen, was es bedeutet, in Furcht und Elend allein dazustehen. Es erscheint mir leichter, da die Qual des Mitleidens fehlt. Was mag die Mutter eines zerstörten Mädchens empfinden? Was jeder wirklich Liebende, der nicht helfen kann oder nicht zu helfen wagt? Die langjährigen Ehemänner halten es anscheinend noch am besten aus. Man schaut nicht dahinter. Ihre Rechnung kriegen auch sie eines Tages von den Frauen präsentiert. Schlimm muß es 198 199 für Eltern sein. Ich versrehe so gut, daß ganze Familien sich im Tode zusammenkrallen. Drinnen bei der Registrierung ging alles im Handumdrehen. Jeder mußte sagen, welche Fremdsprachen er spricht. Als ich mein bißchen Russisch gestand, bekam ich einen Zettel in die Hand gedrückt, der mich verpflichtet, mich morgen früh bei der russischen Kommandantur zu Dolmerscherdiensten zu melden. Den Abend über präparierte ich russische Vokabeln, empfand das Kümmerliche meiner Sprachbrocken. Ein Besuch treppab bei der Hamburgerin machte den Tagesschluß. Srinchen, die achtzehnjährige Studentin, ist endlich vom Hängeboden herabgestiegen. Die Risse von den Trümmerbrocken auf ihrer Stirn sind ausgeheilt. Sie gab sich ganz als wohlerzogenes höheres Töchterlein, trug die Kanne mit echtem Tee aus der Küche herzu und horchte auf unser Gespräch. Es scheint, daß unser junges Mädchen, das wie ein junger Mann aussieht, auch heil durchgerutscht ist. Ich erwähnte, daß ich gestern abend, im Treppenhaus dieses Mädel gesehen hätte, wie es gerade einen Zank mit einem anderen Mädel durchfocht. Eine bronzebraune Person in weißem Pullover, recht hübsch, aber ordinär und hemmungslos in ihren Schimpfworten. Hier am Teetisch erfuhr ich nun, daß Eifersucht im Spiele war: Die Braune hat sich mehrfach und nachher mit einer gewissen Freiwilligkeit mit einem russischen Offizier eingelassen, hat mit ihm getrunken und Essen angenommen. Das geht der jungen Freundin an den Nerv, sie gehört zu den altruistischen Liebenden, hat im Verlauf der letzten Jahre ohne Ende für die Braune geschenkt und geschleppt. Das alles wurde ruhig und beiläufig beim Bürgertee abgehandelt. Es fiel kein Urteil, keine Wertung. Wir tuscheln nicht mehr. Wir zögern nicht mehr vor gewissen Worten und Dingen. Wir nehmen sie in den Mund, achselzuckend und wie vom Sirius her. 200 Mittwoch, 16. Hai 1945 m sieben Uhr Moskauer Zeit stand ich auf. In den leeren Straßen Morgenstille. Noch sind die Läden leer und die neuen Karren nichr ausgeteilt. Am Gittertor der Kommandantur stand ein uniformiertes Mädchen und wollte mir den Eintritt verwehren; doch ich bestand auf meinem Schein. Schließlich saß ich drinnen im Büro, beim Kommandanten, der zur Zeit Herr über mindestens hunderttausend Seelen ist. Ein schmales Kerlchen, blitzblank, hellblond, spricht auffallend leise. Er kann bloß Russisch, hat aber eine Dolmetscherin zur Seite, die Deutsch und Russisch nur so rasselt, beides akzentfrei. Ein bebrilltes Mädchen in kariertem Kleid, keine Soldatin. Windgeschwind übersetzt sie, was gerade eine spitznasige Kaffeehaus-Inhaberin äußert. Sie will ihren Laden wieder aufmachen? Großartig, das soll sie. Was braucht sie dazu? Mehl, Zucker, Fett, Wurst. Hm, hm. Was hat sie denn noch? Malzkaffee? Gut, so soll sie den ausschenken und, wenn möglich, Musik dazu bieten, vielleicht einen Plattenspieler aufstellen, denn es kommt darauf an, daß sich das Leben recht bald wieder normalisiert. Strom soll sie morgen mit ihrer ganzen Straße wieder bekommen, verspricht der Kommandant. Aus dem Nebenraum tritt, von der Dolmetscherin gerufen, ein Mann, wohl Elektroingenieur, der anhand von Blaupausen nun dem Kommandanten zeigt, wie es mit der Stromversorgung seines Bezirks steht. Ich reckte den Hals; unser Block war aber nicht mit drauf. Es folgten etliche Bittsteller: Ein Mann im blauen Monteurkittel fragt, ob er ein Pferd, das lahm und blutig drüben im Park liegt, heimholen und gesund pflegen darf. Bitte sehr - wenn er sich auf Pferde versteht. Heimlich wundere ich mich, daß dieses Pferd noch nicht in paß- 201