Text für den 18.12.2019 Um 1666 malte Jan Vermeer das Bild, das heute „Die Allegorie der Malkunst" oder auch einfach „Die Malkunst" genannt wird. Der Betrachter sieht in einen kleinen Raum hinein, der durch einen geöffneten Vorhang und durch eine oder zwei Stufen vom Raum des Betrachters abgegrenzt wird. Darin steht vor einer großen Wand-Landkarte eine junge Frau in Pose, offenbar als Modell für einen Maler, der zwischen ihr und dem Betrachter vor seiner Staffelei sitzt und die Frau malt. Da er in Rückenansicht zu sehen ist, ist zu erkennen, dass er mit dem blauen Lorbeerkranz auf ihrem Kopf begonnen hat, die übrige Leinwand ist noch leer. Es soll in diesem Text nicht primär um das geheimnisvolle Bild gehen. Vielmehr soll lediglich auf einen Umstand hingewiesen werden, über den es nachzudenken lohnt. Die Betrachtung von Kunstwerken ist eine komplizierte, vielmehr: komplexe Angelegenheit. Man kann sie auf gänzlich unterschiedliche Weise angehen, je nach dem, welchem Zweck die Betrachtung dienen soll. Wer sich an der Kunst vor allem subjektiv erfreuen möchte, wird ein Kunstwerk mit anderen Augen ansehen als jemand, der wissen möchte, was sich der Künstler gedacht hat und wie die zeitgenössischen Betrachter das Werk verstanden haben. Johannes Vermeer van Delft, „Die Malkunst", um 1666/1668, 120 x 100 cm Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie, 9128 Die Werke Vermeers eignen sich in ganz besonderer Weise dazu, dies klarzumachen. Sie haben eine unglaubliche, poetische Ausstrahlung, so dass sie unmittelbar auf den Betrachter wirken und ihn dazu einladen, sich im Genuss dieses Ausdrucks zu verlieren. Aber sie stecken auch voller Geheimnisse, die entschlüsselt werden können und die von zeitgenössischen Betrachtern vor dem Hintergrund ihrer zeitspezifischen Vorkenntnisse zweifellos mühelos verstanden wurden. 1 Dazu ist es notwendig, die vom Künstler verwendeten, künstlerischen Mittel zu erkennen, sie richtig zu „lesen" und sie gegebenenfalls in den Kontext historischer Ereignisse zu stellen. Damit aber sind wir von einer „unmittelbaren" Wirkung auf den Betrachter weit entfernt. Gerade die „Allegorie der Malerei" ist ein solches Bild: Selbstverständlich kann man es einfach und unmittelbar auf sich wirken lassen und wird sich an der beschaulichen Atmosphäre ebenso wie an vielen, akribisch dargestellten Details erfreuen können. Andererseits sind gerade diese Details der Anlass, Bedeutung in jedem einzelnen von ihnen zu suchen (was gerade in der niederländischen Malerei eine lange Tradition hat). Allein der auffällige, vertikale Knick in der Mitte der Landkarte hinter dem Modell — die Karte war zum Zeitpunkt der Herstellung des Gemäldes historisch längst überholt, bildete nicht mehr den aktuellen Stand der politischen Entwicklung der Niederlande ab —, hat lebhafte Debatten unter Fachleuten ausgelöst. Ebenso wie der Messingleuchter an der Decke mit dem habsburgischen Doppeladler und die Gegenstände auf dem Tisch auf der linken Seite des Bilds. Ganz abgesehen von Vorhang und Stuhl im Vordergrund, die zu kunsttheoretischen Debatten herausfordern. Wortschatz: Vorhang (m.): the curtain Staffelei (f.): the easel Rückenansicht (f.): rear view Loorbeerkranz (m.): bay wreat, laurel crown übrig (adj.): left, remaining Leinwand (f.): canvas Geheimnis (n.): secret, mystery lediglich (adv.): merely Umstand (m.): circumstance, case hinweisen (verb): to indicate, allude nachdenken (verb): to reflect, to think Betrachtung (f.): the contemplation Angelegenheit (f.): matter, issue Zweck (m.): purpose, aim zeitgenössisch (adj.): contemporary sich eignen (v.): to be suited, to be proper for klarmachen (v.): to make sth. clear to sb. Ausstrahlung (f.): emanation unmittelbar (adj./adv.): immediate, straight entschlüsseln (v.): decipher, decode Vorkenntnis (f.): background knowledge zweifellos (adv.): without doubt mühelos (adv.): without effort gegebenenfalls (adv.): as appropriate beschauliche (adj.): contemplative akribisch (adj.): meticulous Anlass (m.): occasion, inducement auffällig (adj.): noticeable Knick (m.): buckling Auslösen (v.): to trigger sth. Leuchter (m.): candelabrum Decke (f.): the ceiling Vordergrund (m.): foreground herausfordern (v.): to challenge sb./sth. 2