Richard Beer Hofmann: Das Kind (in: Novellen. Werke. Bd. 2. Hg. und mit einem Nachwort von Günter Helmes. Igel Verlag Literatur. Padeborn 1993) MZK – Rakouská knihovna, B-104 früher: 03 403 B Motto: Sind wir ein Spiel von jedem Druck der Luft? Goethe, Faust I, Vers 2724 I. 9 Es wollte nicht Abend werden. Nur langsam verschwamm das kalte, matte Blau des Frühlingshimmels in ein wäßriges Lichtgrün; der Tag war klar und sonnig gewesen, und nun schien es, als zögere die Nacht hereinzubrechen. Paul schritt ungeduldig längs des Heinrichshofes auf und ab; (stydí se za dívku, s níž má schůzku, ona stojí před operou a on čeká na setmění) Ohne Schleier, die, die gestülpte wie schnuppernd in die Höhe gereckt Aufzählung der „Verfolgungsmittel“: erst ein kurzer Brief, dann ein längerer mit Vorwürfen, dann pneumatische Karten, dann der Dienstmann, der auf Antwort zu warten hat, dann der Dienstmann mit der kurzen Nachricht, das Fräulein wartet unten, und endlich – sie wußte wie zuwider ihm das war/…/ ob sie herein kommen solle? 10 Diesmal hatte er schon bei der pneumatischen Karte[1] nachgegeben. Seit mehr als einem Jahr rang er, um sie von sich abzuschütteln; wochenlang schob er die Rendevous hinuas, und dann traf er sie doch wieder, und er wußte im vorhinein, wie diese Begegnungen endeten; Vorwürfe, Drohungen, böse, haßerfüllte Blicke, und endlich immer wieder, … die Versöhnung; - und selbst währendder halblaut geflüsterten Beschuldigungen, der brutal ihr ins Gesicht geschleuderten endgültigen #absagen/…/ - schritten sie schon – mechanisch, faßt unbewußt, der Vorstadt zu, - den kürzesten Weg – zum Hotel. 11 Und grad schreib´ich Dir, und Du mußt kommen, weil Du so bist, weil´s Du glaubst, Du hast ein Tschapperl[2] vor Dir, mit dem´s tun kannst was D´willst – überhaupt will ich meinen Zettel haben [3] wie ein lästiger Köter, der sich ihm bellend an die Fersen heftet, vor dem erhobenne Stocke zurückweicht, um im nächsten Momente wieder wütend hinter einem her zu kläffen. „Wie ein lästiger Köter!“ Und mitten in seinem verbissenen Zorn kam es über ihn wie Befriedigung über den zutreffenden Vergleich und er ward ruhiger. 14 Juli: Ich seh´s jaein, daß das zu nix führt, - so dumm bin ich ja nit – aber weil du mich so niederträchtig behandelst; wenns D´mich auf der Gassen siehst beim Tag, grüßt Du mich nicht einmal, und schaust weg, und wenn ich Dir nei der Nacht gut genug war, kann ich´s Dir bei Tag auch sein; 15 er war ruhiger geworden, als er sie so weinen sah; Juli. Vergessen werd´ich Dich nie; denn wenn Du, wenn einer der Erste gewesen ist, das vergißt man nicht!“ Er war ungeduldig geworden; die ganze Lächerlichkeit der Szene kam ihm beim gequälten Hochdeutsch der letzten Worte, die sie wie eine feststehende Formel sprach, zum Bewußtsein; aber ihre Stimmung mußte er ausnützen (Du versprichst mir aber, daß Du mich nicht mehr mit den Briefen quälen wirst – gut) 16 J: „Du, das sagst du immer; nur nachtmahlen!“ P: „Nein wirklich“ – versicherte er, „auf mein Wort.“ Es war nicht das erste Mal, daß er ihr sein Wort verpfändete, nur um es sich von ihr zurückgeben zu lassen: vielleicht anfangs ehrlich gemeint, war es mit der Zeit für ihn ein bloßes Raffinement geworden, und als der Reiz der Neuheit zu erlöschen begann, war es dies Selbstverbot, daß sie ihm von neuem begehrenswert erscheinen ließ. Nicht nur seine Sinnlichkeit, auch seine Eitelkeit war jetzt im Spiele. Fast „Ehrensache“ wares ihm geworden, sie dahin zu bringen, daß sie ihn seines Wortes entband, ohne daß er es von ihr verlangt hätte. Er ampfand eine Art künstlerisches Behagen daran, diese Szene zu spielen, und, anfangs selbst noch kalt und beobachtend, mit geflüsterten Worten, scheinbar zufälligen Berührungen beginnend, ihre Sinnlichkeit langsam 17 zu entfachen. Und dan nein gutgespieltes Zögern, wenn er sich an sein gegebenes Wort erinnerte, ein Abwehren ihrer Liebkosungen, als fürchte er der Versuchung zu unterliegen und sein Wort zu brechen, und schließlich endlose Küsse, als übermanneihn die Leidenschaft, - bis sie halb sinnlos, stammelnd ihn seines Wortes entband, und ihre Hingabe fast wie ein Nehmen erschien. 17 J: Weil ich Dich viel lieber hab´als Du mich, viel lieber; schau, ich kann kein Geheimnis vor Dir haben, ich muß Dir gleich alles sagen“; sie zögerte einen Augenblick, dan kam es leise, wie verlegen, über ihre Lippen: „Ich hab´gestern Brief g´habt; - es is´g´storben!“ Sie log nicht; er sah es an ihren Augen. Er ließ ihren Arm frei und blieb an der Straßenkreuzung stehen; ein offener Fiaker fuhr langsam knapp an ihnen vorüber. Er sah die Nummer der erleuchteten Wagenlaterne: 277. Im Fond lehnte mit überschlagenen Beinen ein junger Mann, /../ auf dem leeren Sitz neben ihm lagen, in weißes Seidenpapier gehüllt, Blumen, - Rosen und weißer Flieder; der Duft schlug Paul ins Gesicht, und zugleich spürte er, wie ein winziges Stückchen Straßenkot von den Rädern her ihm ins Gesicht spritzte, dann war der Wagen vorüber und er hörte hart an seinem Ohr eine fremde Stimme, die seltsam gepreßt klang: „Also gestorben ist es.“ 18 J: Ja – Auszehrung hat´s gehabt! Dann versuchte er sich es klar zu machen. Tot, er trachtete das Wortbild zu erfassen, er stellte es sich vor in deutschen, in lateinischen Lettern, er holte die einzelnen Buchstaben aus dem Alphabete und setzte sie zusammen, - aber kein Empfinden rührte sich in ihm. Er war nicht ergriffen, nicht erfreut, in einer erstwunten Betäubung schritt er weiter. Sein Betrug mit dem angeblich vergessenen Geld: er geht mit ihr nicht mehr ins Hotel 21 „Auszehrung und Wasserkopf.“ Er schob den Brief peinlich berührt in die Tasche; wie häßlich das klang: Auszehrung und Wasserkopf. Er verband nur unklare Begriffe damit, aber sie reichten hin – um ihm fast den Appetit zum Nachtmahl zu verderben, Rückblende: Findelhaus, Zahlabteilung, sieh Anm. Nr. 3 23 Roztrhaný „Zettel“: Er stäubte das Papierfetzchen, das der Wind zu ihm zurückgetrieben, von seinem Überrock, und schritt üpber die Schwelle des Resraurants. „Fertig!“seine Stimme klang energisch, triumphierend, und hallte im Korridor wider, daß der kleine blonde Kellner, der aus dem Speisesaal kam, erschrocken zusammenfuhr. II. Erleichterung: für die „Schreckensbilder“ von gestern hatte er nur noch mitleidiges Lächeln. - Seine Hochzeit, bei der Juli mit ihrem halbwüchsigen Kind erscheint und ihm „das traditionelle Elender entgegenschleudert“ - sein Sohn verliebt sich in eine „Unwürdige“, eigentlich seine Stiefschwester 24 Und Paul lachte hell auf; dann schämte er sich. Ihm, gerade ihm, dem abgesagten Feind jeder großen Pose mußte es passieren, daß seine Phatasien sich in den Formen abgeschmackter Boulvarddramen bewegten; aber daran war doch nur sie schuld /…/ die ihn /…/ nach und nach auf ihr Niveau heran gezerrt haben würde; auf ein Kammerjungferniveau! Rückblende: Er und eine Kammerjungfer! Wie ´s nur gekomen war? Nur den Anfang hätte er sich erklären mögen, denn alles andere erklärte sein indolentes, träges Temperament Unterwegs von seiner alternden reichen Geliebten in Dornbach : Der Einundzwanzigjährige, für sie, die vollblütige, fast vierzigjährige Frau, /…/ rangierte er nicht gar am Ende nur ein klein wenig vor ihrer Masseuse? Die Sehnsucht nach etwas Jungem, Frischem, Knospendem Knattern steifgestärkter Kattunröcke – Knistern und Rauschen ihrer Dessous aus Seide und Spitze Waldmeistergeruch Eifersucht, als sie mit einem Kellner im Fasching auf einen Maskenball gegangen war. 27 Er hatte sie damals geprügelt; er erinnerte sich daran mit der ganzen Befriedingung eines weichen empfindsamen Naturells, das stolz ist, einmal auch brutal gewesen zu sein, - ganz ordentlich geprügelt. Freilich, als er sie dann am Boden liegen sah, schluchzend und stumm, war er neben ihr niedergekniet, hatte sie um Verzeihung gebeten, sie mit Küssen bedeckt, ihre Hand, ihren Mund, alles mußte er sich mit vergewaltigender Zärtlichkeit neu erobern, und als sich dann über sie hinwarf, und sie sich ihm endlich gab, fühlte er es, wie aus diesem biegsamen Mädchenleib, der ihn umschlang, Flammen auf ihn überströmten, - heißer und versengender als je zuvor – währen noch die Lippen in Zorn und Schmerz bebten und ihre Tränen seine wangen feuchteten. Und zwei Wochen später wußte er, daß sie sich Mutter fühlte. /…/ Wie eklig, wie gemein und traurig das war!/…/ das kleine Kabinett, das er weit draußen in der Taborstraße für sie gemietet / und täglich besuchte er sie dort/ III. 31 er sehnte sich jetzt endlich nach einer „großen Liebe“, die ihn blind und toll und glücklich machen würde 32 eine Art postumer Vaterstolz wurde in ihm wach, den er mühsam verbarg seitdem es tot war, zweifelte er auch keinen Augenblick daran, daß es sein Kind gewesen war 33 War diese Liebe zu den Kindern nicht zusammengesetzt aus Schöpferfreude, aus dem vagen Empfinden, das sie eine Art Fortdauer nach dem eigenen Tode waren, aus Pflichtgefühl, und vor alem aus Gewohnheit, die die Liebe erstehen ließ, festigte, und überstark machte? Glaubte man nicht bloß sie zu lieben, ehe sie noch da waren, - eben weil man wußte, daß man sie später lieben würde? Und hätte er nicht dieses Kind, das nun tot war, geiebt, wenn er es gekannt, wenn es neben ihm aufgewachsen wäre, wenn er später vielleicht unr ein wenig von sich selbst, in ihm entdeckt hätte? IV 34 Die Neugier danach, wie das Kind aussah, treibt ihn in das Haus, wo sie als Dienstmädchen arbeitet. 35 Schließlich fand er auch wirklich nichts dabei, einmal mit Juli von dem Kinde zu sprechen. Sie würde ihm sagen, so und so habe es ausgesehen /…/ -- nun und damit würde er dann seine Marotte befriedigt haben, - denn es war ja nur eine Marotte – dumm und zwecklos! Sie versucht seine Eifersucht zu erwecken, indem sie über den 15jähigen Poldi und seine Annäherungsversuche spricht (36: so putz´ich jetzt die Kleider, und wie ich vorgestern in der Früh sie holen will, springt er Dir nicht aus´a Bett heraus , - so wie er is – und packt mich bei der Hand, und will mich hinziehen - no ich hab´aber geschaut, daß ich aus´a Zimer komm´ V 39 unerträgliche Schwüle über der Stadt – Zufluch in Heiligenkreuzer Hof gesucht, wo er ein Zimmer gemietet hat, falls er sich verlieben sollte. Gespräch mit Frau Wagner, der Wirtin, Mutter eines erwachsenen Behinderten (Carletto), der zu Hause stickt Eine Konservatoristin, die er in der Oper kennengelernt hat, geht über den Tor: Der graziös nachlässig wiegende Gang (sie sagte damals zu ihm: Ich wußte nicht, daß sie auch gescheit sind /…/ ich hab´sie früher für dumm gehalten, -weil sie so hübsch sind!) 47 Briefe der Pflegeeltern an Juli, in denen sie eine „Beilage“ verlangen – noch nach dem Tode (Auszehrung und Wasserkopf) wollen sie Geld für die das Begräbnis. VI 53 Paul ist in der Nacht erwacht, neben ihm schläft Juli: Wie ruhig sie schlief! /…/ nichts on Unruhe und Zweifel und Reue ar in ihr gewesen, als er mit ihr von dem Kinde sprach; 54 Was hatten siee mit einander den gemein gehabt, er und sie in all der Zeit, da sie sich kannten? Ein heißes, rasches Aufwallen des Blutes und ein wollüstiges Schaudern! Unzählige Male hatte er es sich gesagt /…/ aber heute lag darin eine Abwehr gegen die Zärtlichkeit, die er jetzt für sie empfand, und die ihn erschreckte. /…/ jezt fühlte er, wie aus seinen spät erwachten Gefühlen für das Kind, die nun nichts mehr fanden, an das sie sich hätten schmiegen könne, ein wenig traurige, sehnsüchtige Zärtlichkeit auf sie selbst überströmte. 56 Sein Schuldbewußtsein – ihr ruhiger Schlaf Wenn in ihr etwas aufgedämmert war, wie Schuldbewußtsein, wenn sie sich sündig fühlte, - war sie in die Kirche getreten und ihr kindisch-verworrenes empfinden hatte sie ausgeschüttet vor dem Heiland am Kreuze; dem Mittler zwischen ihr und ihrem Gotte hatte sie im Beichtstuhle ihre reuige Selbstanklage anvertraut. /…/ Beneidenswert! Wenn er beten, glauben könnte, wie sie! 57/…/ Er bagann leise die Worte des [/Kinder-/]Gebetes vor sich hinzusprechen: Vater dort oben im Sternenzelt, In süßem Schlummer ruht die Welt Du siehst auf - - Er brach ab; so würde die Andacht nie kommen, wenn er die worte nur vor sich hin sprach, ohne irgend etwas zu empfinden, ohne Vorstellungen damit zu verbinden, er begann von neuem. Aber er brachte es nur dazu, die worte des Gebetes in Druckbuchstaben vor sich zu sehen, mit großen verschlungen Intialen; er ward ungeduldig, - so ging es nicht! Vgl. S. 18: Dann versuchte er sich es klar zu machen. Tot, er trachtete das Wortbild zu erfassen, er stellte es sich vor in deutschen, in lateinischen Lettern, er holte die einzelnen Buchstaben aus dem Alphabete und setzte sie zusammen, - aber kein Empfinden rührte sich in ihm. Er war nicht ergriffen, nicht erfreut, in einer erstwunten Betäubung schritt er weiter. 58 Er begann von neuem; aber erflüsterte die Worte nicht mehr, halblaut kam es über seine Lippen, in hastigem Eifer, der ihm den Atem versetzte, in Ungeduld nach der Andacht, die ihn überkommen sollte: Vater dort oben im Sternenzelt, In süßem Schlummer ruht die Welt Du siehst auf uns, Deine Auge wacht Für alle Menschen in stiller Nacht. Vater und 59 Vater und Mutter behüte Du Und stärke sie durch sanfte Ruh. 61 Juli schläft noch immer: Er wollte die Pflegeeltern kennen lernen, mit ihnen sprechen, - vielleicht waren es brave, ehrliche Leute, die nicht dem Zerrbild glichen, das seine Phantasie sich von ihnne ausgemalt, und dann: das Grab wollte er sehen /…/ vielleicht könnte er dann von Herzen wieder weinen, nicht mehr in schmerzender Reue wie gestern, sondern in stiller, fügsamer Trauer. /…/ Jetzt, wo er nur daran dachte, fühlte er, wie er ruhiger wurde, und es schien ihm, als würde es ihm dann leichter werden, mit ihr zu brechen, oder nein, nicht brechen, das Verhältnis zu lösen; er wrde unmehr milde abgeklärte Teilnahme für sie empfinden, gleich weit entfernt von dem früheren Widerwillen und der dumen neuerwachten Zärtlichkeit von heute. Er zog vorsichtig den Arm unter ihr hervor und zündete die Kerze an; sie erwachte und dehnte sich schlaftrunken: Wie spät is´denn? VII 64 Im niederösterreichischen Ort findet er die Pflegeeltern nicht mehr – sei sind nach Ungarn weggezogen, das Grab – nur mit einer Nummer versehen - kann er nicht identifizieren. Warten auf den nächsten Zug zurück. 67/68 die Leute weggezogen, und der Friedhof sagte ihm nichjts; nicht Friede, nicht Trauert ward in ihm wach, nur Unbehagen, und das würde nicht weichen, auch wenn er wüßte, welches der drei Gräber das seines Kindes sei. 71 Er bestellt was Kaltes, hat aber keinen Appetit und füttert damit ein Hündin 72 Er stand auf und pflückte eine blaßrote Blüte eines Oleanders, der neben ihm in einem Kübel wuchs; dann setzt4 er sich wieder und betrachtet scharf und aufmerksam die Dinge, die ihn umgaben, als mú=te er sie sich einpr§gen fúr ewige Zeiten. Nicht daran denken! Er wollte sein Schauen durchtränken mit form und Farbe, und auf die leisen Laute horchen, die durch die leise Stille kamen, und die Düfte einatmen, die aus dem Garten und da drüben von der Wiese und dem Waldsaum herüberstrichen, und durch die Pforten der Sinne wollte er sein Empfinden nach außen hin jagen, daß es endlich abfließe von dem einen Gedanken, der in seinem Innern zu Tode gehetzt blutet! Und er sh vor sich hin: (eine etwas verworrene, dabei aber etwas aufgesetzt symbolträchtige Aufzählung): eine tote Ratte unter dem Rest des Schulheftes, Ameisen, Totengröber 74 Und wiederum dachte er daran! Wohin er auch sein denken lockte, - - von jedem Punkte fand es wieder den Weg zurück zu dem einen Gedanken, der ihn quälte. Das Kind! /…/ nicht bloß gegen die Moral der Welt, und die eigene, innere, tiefere gehandelt! An den Gesetzen der Natur hatte er sich versündigt; 75 Ein Fiaker stand da. /…/ Als er Paul sah, grüßte er. Ob der gnädige Herr mit ihm fahren wolle, er habe einen Herrn auf s´Gut geführt und fahre nun leer zurück, in vier Stunden könne er in Wien sein. Wie eine Erlösung erschien es Paul. 76 Als er erwachte war es Abend; er fuhr auf breiter staubiger Straße. /…/ Er dehnte sich und breitete die Arme weit aus, dann nahm er den Hut ab. Ihm war so wohl, wie lange nicht; er fühlte sich frisch, ausgeschlafen, sonnig durchwärmt; so mußte der Frucht sein, dachte er [etwas gewaltsam verbunden], wenn sie in der Sonne sich reifen fühlte. Eintagsfliegen , - er sprach das Wort vor sich hin, so befremdlich klang es ihm plötzlich. Eintagsfliegen! Wie seltsam es doch war, ein Wesen nach der Dauer seines Lebens zu benennen! Und doch – der Name war gut: mit einem Worte sagte er das Schicksal. Und wie viel darinnen lag in dem Wort: Der Stolz und das geringschätzende Bedauern des Menschen, die so viele, viele tausend Tage leben konnten, gegenüber diesen Eintagsfliegen, und Verwunderung, daß es solche Wesemn gab, die nichts erleben konnten, - dieaus dem Wasser aufstiegen, - zeugten und sterbend wieder hinabsanken. 77 und er erinnerte sich an die beiden weißen Falter, die er im Hofe des Wirtshauses sah /../ und er sah den Hof wieder, im Sonnelicht, und dann die Wirtsstube, und den Dorfplatz – und die Dorfstraße – aber das alles wie zusammengedrängt in ein Bild; klar, deutlich, greifbar vor Augen, - und doch anders! Nicht bloß Form und Frabe hatten die Dinge, - hinter ihnen war ein geheimer Sinn, der sie durchleuchtete, sie standen nicht mehr fremd nebeneinander, - ein Gedanke schlang ein Band um sie! /…/ und überal Gelb, warmes, sonniges Gelb, Goldgelb, Kürbisblüten, die Gelbwogende Wiese /…/die fruchtbare Sonne des Frühsommers, dottergelb in weißen Wolken! Und da, da hatte er ihre Stimme nicht vernommen, - /…/ die „Stimme der Natur!?“ Die Natur! Wußte er es denn jetzt erst, daß sie immer von neuem brünstig und zeugend und trächtig und gebärend war, und vernichtend, was sie geboren,- und Stumm blieb auf alle unsere Fragen? Und die „Stimme“ liehen wir ihr nur, weil uns vor ihrem Schweigen graute! /er fühlt sich nicht mehr schuldig wegen des Kindes/ 78 Wenn es Sünde war, um die man leiden mußte, was litt dann sie, die Natur, die große Sünderin, die alle in die Welt setzte, und alle elend, hilflos umkommen ließ, die uns zuerst schuldlos zum Leben verdammte, und dann zum Tode begnadigte? Und wenn sie uns, wie wir den Eintagsfliegen, einen Namen gab, nach der kkurzen Dauer unseres Lebens, - wie nannte sie uns, -sie, die ewig war /…/ Größenwahn war es, daß wir meinten, wir könnten uns gegen sie, die Natur, versündigen. Eine „Freudianische Landschaftsbeschreibung“: 79 Wie weich, wei weiblich die Formen dieser Landschaft waren; nichts hartes, Eckiges, Schroffes! 80 steif umporgereckt gegen Himmel, ein riesiger Rauchfang. 81/82 Und er breitete die Arme aus und ballte die Hände, als wollte er es festhalten, fest, eh´es entglitte: Sonne und Blumenduft und Liebe und Jugend! Da! – Die Gestalt kannte er; das dunkle Haar und der nachlässig wiegende Gang, - die Konservatoristin aus der Oper /…/ nein, - er täuschte sich, - oder doch? Gleichviel! Der Blick zweier dunkler Augen traf ihn. „Halten!“ Er rief es dem Kutscher zu; aber eher der noch die Pferde zurückgerissen, war er abgesprungen und in der Menge /der in die Stadt Zurückkehrenden/ verschwunden. - ________________________________ [1] Potrubní pošta zřízena ve Vídni r. 1873, v r. 1896 měla 35,46 km potrubí. V Berlíne v téže době 66 km (5+ stanic, ročně 5,5 mil. zásilek) [2] uneholfenner, tapsiger (ungeschickt und dabei drollig wirkender) junger Mensch [3] vgl. S. 22 – ein Schein über die Aufnahme des Kindes in das Findelhaus, das außer dem Namen, dem man ihm willkürlich wählen konnte, noch eine Nummer erhielt - wie ein Schirm in einer Garderobe. Das war der „Zettel“, den er Juli einmal abgeschmeichelt hatte, und den sie – so oft sie böse wurde – zornig von ihm verlangte; sie wußte es: Mit dem Scheine konnte sie jederzeit das Kind zurückverlangen und hatte eine Waffe gegen Paul in der Hand;