Das heliozentrische Weltbild unter den Händen, das Zukünftige hat nie angefangen, das Allerbeständigste fällt, das Allergo stärkste zerbricht, und das Allerewigstc nimmt ein End; also, daß du ein Toter bist unter den Toten, und in hundert fahren läßt du uns nicht eine Stunde leben, Dannhero weinet, seufzet, jammert, klaget und verdirbt jedermann/und jedermann nimmt ein End; bei dir siehet und lernet man nichts als einander hassen bis zum Würgen, reden bis zum Lügen, lieben bis zum Verzweifeln, und sündigen bis zum Sterben. -55 Behüt dich Gott, Welt, denn mich verdrießt deine Konversation; das Leben, so du uns gibst, ist eine elende Pilgerfahrt, ein unbeständiges, ungewisses, hartes, rauhes, hinflüchtiges und unreines Leben, voll Armseligkeit und Irrtum, in welchem wir all Augenblick sterben durch viel Gebrechen der Unbeständigkeit und durch mancherlei Weg des Todes! Du gibst aus dem güldenen Kelch, den du in deiner Hand hast, Bitterkeit und Falschheit zu trinken und machst 40 uns blind, taub, toll, voll und sinnlos. Du machest aus uns einen finslern Abgrund, ein elendes Erdreich, ein Kind des Zorns, ein stinkendes Aas; denn wenn du uns lang mit Schmeicheln, Liebkosen, Dräuen, Schlagen, Plagen, Martern und Peinigen umgezogen und gequält hast, so überantwortest du den ausgemergelten Körper dem Grab. Wehe aber alsdann der armen Seele, welche dir, o Welt, hat gedienet und gehorsamt!" -45 Hier klappte Zündel - sichdich erschöpft - das Buch zu, und obwohl bis zum Läuten noch zwanzig Minuten fehlten, stand er auf und sagte: Soviel für heute. - Er nahm die Mappe und ging langsam hinaus. Der erste „Zeuge" ist der französische Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal (1623 - 1662; aus: „GEDANKEN", posthum). Darin schlagt sich nieder, daß sich in der Barockzeit (gegen den Widerstand der Kirche) allmählich das heliozentrische Wehbild (die Sonne ist das Zentrum der Erd- und Planetenumlaufbahnen) eines Nikolaus Kopernikus (1473 - 1543) und Galileo Galilei (1564 - 1642) durchsetzte. Nach dem geozentrischen Weltbild des Mittelalters war die Erde als Zentrum des Kosmos angenommen worden. Die neuartige Weltsicht bedeutete zugleich eine empfindliche Abwertung der Stellung des Menschen im Universum. Den zweiten „Zeugen" kennen wir schon. Die zitierten Passagen stammen aus dem Schlußteil von Grimmelshausens „SIMPLICISSIMUS" - bekanntlich zieht sich der pika-reske Held des Romans in typisch barocker Weltflucht in die Einsiedelei zurück. 19 Was bezweckt der Lehrer mit der Wahl seiner beiden „Zeugen"? Setzen Sie ihre Aussagen zu unserer Gegenwart in Beziehung! 64 Zusammenfassende Stichworte ■ Geschichte: Dreißigjähriger Krieg zwischen Katholizismus und Protestantismus. Gegenreformation. Absolutismus der Fürsten. ■ Antithetisches Lebensgefühl: Höfischer Prunk und Vanitasgedanken. Lebensgier und Todesgegenwart. Üppigkeit des Stils (Häufung, Bildhaftigkeit) und Formstrenge (Sonett). Lehrbarkeit der Poesie, Einfluß der Rhetorik. ■ Gründung von Sprachgesellschaften gegen Fremdwörterei. Höfische Sphäre als Träger der Literatur. ■ Autoren: Andreas Gryphius, Christian Hofmann von Hofmannswaldau, Angelus Silesius, Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen. Tips zum Weiterlesen Conrad Ferdinand Meyer: „Gustavs Adolfs Page" (Novelle aus dem Dreißigjährigen Krieg) Gunter Grass: „Das Treffen in Telgte" {Roman über ein fiktives Dichtertreffen) Wolfgang Lohmeyer: „Das Kölner Tribunal" (Hexenverfolgungen im Dreißigjährigen Krieg) Lösung zu Aufgabe 8; Es sind die weiblichen Brüste. Das Zeitalter der Aufklärung Vorspiel: Der Sieg des Lichts Beispiel 1: Aus der Oper „DIE ZAUBERFLÖTE" (1791) von Emanuel Schikaneder (1751-1812), Musik von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) l DIE DREI KNABEN: Bald prangt, den Morgen zu verkünden, Die Sonn' auf goldner Bahn. Bald soll der Aberglaube schwinden, 5 Bald siegt der weise Mann. 0 holde Ruhe, steig hernieder, Kehr in der Menschen Herzen wieder; Dann ist die Erd' ein Himmelreich Und Sterbliche den Göttern gleich. So beginnt das Finale der Oper, in deren Verlauf Tamino und Pamina, ein ideales Menschenpaar, nach zahlreichen Prüfungen in eine der Tugend, Weisheit und Menschenliebe verpflichtete Ordensgemeinschaft aufgenommen werden. Diese trägt deutlich Züge der Freimaurer, eines übernationalen Geheimbunds, der wesentlich an der Verbreitung aufklärerischer Ideale beteiligt war. Bemerkenswert ist jedoch vor allem, daß die beiden Hauptpersonen zu Beginn der Sphäre des Nächtlichen angehören, ehe sie sich endgültig für die Welt des Lichts entscheiden: Paminas Mutter ist die Königin der Nacht, die Tamino ausgeschickt hat, um ihre von dem Oberpriester Sarastro geraubte Tochter zurückzuholen. Mozarts Oper gestaltet damit die zentrale Metaphorik der gesamten Epoche: den Sieg des Lichts über die Finsternis. Zuletzt „verwandelt sich das ganze Theater in eine Sonne". Die Königin der Nacht versinkt mit ihren Helfern: „zerschmettert, zernichtet ist unsere Macht, / Wir alle gestürzet in ewige Nacht." 1 SARASTRO: Die Strahlen der Sonne vertreiben die Nacht. Zernichten der Heuchler erschlichene Macht. CHOR VON PRIESTERN: 5 Heil sei euch Geweihten! Ihr dränget durch Nacht. Dank sei dir, Osiris, Dank dir, Isis, gebracht!1 Es siegte die Stärke io Und krönet zum Lohn Die Schönheit und Weisheit Mit ewiger Krön'! Freimaurersymbol \3iim (gtílťnraalt: B i t tut «rtk Cta k a IH>, M «Mtfl e#f**fi IT""; i : ta : SSL Ei — : ! ft *a hIAh — lfm .»1 li 1 Die Freimaurer 1 Isis und Osiris: altägyptische Gottheiten Programmzeltel vom 10. 9. 1791: Die Zauberflöte 65 Früh- und Hochaufklärung Beispiel 2: " — — Aus „BEANTWORTUNG DER FRAGE: WAS IST AUFKLÄRUNG?" (1784) von Immanuel Kant (1724 - 1804) 1 Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Lei- 5 tung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen (naturaliter majorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vörie mündem aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. [...] Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit außer dem, daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja 15 keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. [...] Welche Einschränkung aber ist der Aufklärung hinderlich? welche nicht, sondern ihr wohl gar beförderlich? Ich antworte: der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter den Menschen zustande bringen; der Privatge-20 brauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern. Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den Jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte von seiner Vernunft machen 25 darf. [...] So würde es sehr verderblich sein, wenn ein Offizier, dem von seinem Oberen etwas anbefohlen wird, im Dienste über die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit dieses Befehls laut vernünfteln wollte; er muß gehorchen. Es kann ihm aber billigermaßen nicht verwehrt werden, als Gelehrter über die Fehler im Kriegsdienste Anmerkungen zu machen, und diese seinem Publikum zur Beurteilung vorzulegen. 1 Wie definiert Kant die Aufklärung? Welche Ursachen für „Unmündigkeit" nennt er? Welcher Zwiespalt ergibt sich im Lauf des Textes? (Die hier ausgesprochene Unterscheidung zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre ist für die bürgerliche Aufklärung charakteristisch!) - Gibt es Ihrer Meinung nach auch heute Instanzen, welche die Rolle der Vormünder Kants übernommen haben? ' Beispiel 3: Aus „NATHAN DER WEISE" (1779) von Gotthold Ephraim Lessing (1729 -1781) Der reiche Jude Nathan antwortet auf die Frage nach der wahren Religion, mit der ihn der mohammedanische Sultan Saladin einschüchtern will (er möchte von ihm Geld leihen), mit einem Gleichnis: Er erzählt von einem Ring, der die Wunderkraft besitzt, den „Träger vor Gott und Menschen angenehm zu machen". Darum wird er vom Vater stets dem liebsten seiner Söhne vererbt, der dadurch zugleich das Haupt der Familie wird. Zu diesem Ring läßt nun ein Vater, der keinen seiner Söhne enterben will, zwei gleiche anfertigen: i NATHAN; [...] Kaum war der Vater tot, so kommt ein jeder Mit seinem Ring, und jeder will der Fürst Des Hauses sein. Man untersucht, man zankt, - Man klagt. Umsonst; der rechte Ring war nicht 5 Erweislich; - (Nach einer Pause, in welcher er des Sultans Antwort erwartet) Fast so unerweislich, als Uns jetzt - der rechte Glaube. [...] lfl Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte? Geschrieben oder überliefert! - Und Geschichte muß doch wohl allein auf Treu Und Glauben angenommen werden? - Nicht? - Und wessen Treu und Glauben zieht man denn 15 Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen? Doch deren Blut wir sind? Doch deren, die Von Kindheit an uns Proben ihrer Liebe Gegeben? Die uns nie getäuscht, als wo Getäuscht zu werden uns heilsamer war? -20 Wie kann ich meinen Vätem weniger Als du den deinen glauben? Oder umgekehrt. Kann ich von dir verlangen, daß du deine Vorfahren Lügen strafst, um meinen nicht Zu widersprechen? Oder umgekehrt. 25 Das nämliche gilt von den Christen. Nicht? - Ein kluger Richter weiß einen Ausweg: NATHAN: [...] Ich höre ja, der rechte Ring 30 Besitzt die Wunderkraft, beliebt zu machen, Vor Gott und Menschen angenehm. Das muß Entscheiden! Denn die falschen Ringe werden Doch das nicht können! - Nun, wen lieben zwei Von euch am meisten? - Macht, sagt an! Ihr schweigt? 35 Die Ringe wirken nur zurück? Und nicht Nach außen? Jeder liebt sich selber nur Am meisten? - O so seid ihr alle drei Betrogene Betrüger! Eure Ringe Sind alle drei nicht echt. Der echte Ring 40 Vermutlich ging verloren, [...] Wohlan! Es eifre jeder seiner unbestochnen Von Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe von euch jeder um die Wette, Die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag 45 Zu legen, komme dieser Kraft mit Sanftmut, Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, Mit innigster Ergebenheit in Gott, Zu Hilf! Und wenn sich dann der Steine Kräfte Bei euem Kindeskindem äußern: 50 So lad ich über tausend tausend Jahre Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen Als ich; und sprechen. Geht! - So sagte der Bescheidne Richter. Wir nennen eine solche Geschichte, die über sich hinaus auf eine zweite Bedeutungsebe- Die Parabel ne verweist, eine Parabel. Die Anregung zu dem Stück bot der Streit Lessings mit Pastor Goeze nach Lessings Herausgabe von Schriften des Deisten Reimarus, wobei es um die Frage nach der wahren Religion und ihrem Wesen ging. (Der Deismus glaubte, Gott habe zwar die Welt geschaf- Der Deismus fen, greife aber dann nicht mehr in sie ein.) Für Lessing war die christliche Offenbarung nur ein Mittel zur Durchsetzung einer allgemeinen Vernunftreligion. Außerdem bezwei- 67 Lessings Wahrheitsbegriff 1 Stadt nordwestlich von Jerusalem Der Blankvers 68 feite er den Besitz absoluter Wahrheit durch eine religiöse Lehre - wichtiger sei das ehrliche Streben nach der Wahrheit im Bewußtsein ihrer Unerreichbarkeit (eine typisch aufklärerische Maxirae). Als Lessing die Weiterführung des Disputs untersagt wurde, antwortete er auf dem Feld der Literatur. 2 Was bedeutet Nathans Ringparabel hinsichtlich der Weltreligionen? Wozu fordert sie grundsätzlich auf? Lessings Parabel steht im Kontext einer dazupassenden Handlung. Nathan hat ein christliches Baby - Recha - in sein Haus aufgenommen und es zu einer über allen Konfessionen stehenden Religiosität erzogen. Wahrend einer Geschäftsreise ihres Vaters wird Recha von einem jungen Tempelherrn, dem Sultan Seclodin erstaunlicherweise eben erst das Leben geschenkt hat, aus den Flammen gerettet. Am Ende erweist sich der Tempelherr als Rechas Bruder und Saladin als der Onkel von beiden - die durch Konfessionen scheinbar Getrennten sind also in Wahrheit Mitglieder einer Familie. Nathans Rettungstat hat aber eine weitere Dimension, wie er einem befreundeten Klosterbruder erklärt: i NATHAN: Ihr traft mich mit dem Kinde zu Darun. Ihr wißt wohl aber nicht, daß, wenig Tage Zuvor, in Gath1 die Christen alle Juden Mit Weib und Kind ermordet hatten; wißt 5 Wohl nicht, daß unter diesen meine Frau Mit sieben hoffnungsvollen Söhnen sich Befunden, die in meines Bruders Hause, Zu dem ich sie geflüchtet, insgesamt Verbrennen müssen. io KLOSTERBRUDER: Allgerechter! NATHAN; Als Ihr kamt, hatt ich drei Tag und Nacht in Asch Und Staub vor Gott gelegen und geweint. - Geweint? Beiher mit Gott auch wohl gerechtet, 15 Gezürnt, getobt, mich und die Welt verwünscht; Der Christenheit den unversöhnlichsten Haß zugeschworen -KLOSTERBRUDER: Ach! Ich glaub's Euch wohl' NATHAN: 20 Doch nun kam die Vernunft allmählich wieder, Sie sprach mit sanfter Stimm: „Und doch ist Gott! Doch war auch Gottes Ratschluß das! Wohlan! Komm! Übe, was du längst begriffen hast, Was sicherlich zu üben schwerer nicht, 25 Als zu begreifen ist, wenn du nur willst. Steh auf!" - Ich stand und rief zu Gott; Ich will! Willst du nur, daß ich will! 3 Mit Hilfe welcher menschlichen Fähigkeit gelingt Nathans Selbstüberwindung? -Das „dramatische Gedicht" ist im sogenannten Blankvers geschrieben, der damit zur prägenden Versform des klassischen Dramas wurde. Analysieren Sie ihn nach Hebungszahl und Verstakt! Historische Hintergründe Die Aufklärung war eine europaweite Bewegung, die ursprünglich von England ausging. Sie bildete sich nicht zuletzt als Folge der soziokulturellen und politischen Veränderungen des Jahrhunderts. Die Ausbildung einer bürgerlichen Aufklärungskultur ging in Deutschland von den großen Handelsstädten aus (Leipzig, Hamburg, Halle, Zürich). Sie litt allerdings unter der Zersplitterung des Landes in unzählige Territorialstaalen als Folge des Dreißigjährigen Krieges. Aufgrund des herrschenden Kleinstaatdespotismus erlangte die Aufklärung hier nie jene Wirksamkeit wie in England und Frankreich, wo ein zentralistischer Vcrwaltungsstaat die wirtschaftliche Entwicklung gefördert und damit die Position des Bürgertums gestärkt hatte. Ziel der Aufklärung im deutschsprachigen Raum war also nicht die Abschaffung des herrschenden Absolutismus, sondern der sogenannte „aufgeklärte Absolutismus", in dem der Herrscher zum ersten Staatsdiener wurde. Vor allem der österreichische Kaiser Joseph II. (1741 -1790) war ein Vertreter dieser Rcgicrungsform; seine Liberalisierungsbestrebungen konnten sich jedoch nicht auf Dauer durchsetzen. Natürlich hatten die Reformen dieser Zeit (Toleranzedikte etc.) vor allem die Funktion, wirtschaftliche Rückstände der absolutistischen Staaten zur Zeit der sich ausbreitenden kapitalistischen Handelsformen aufzuholen. Die Staaten wurden zentralisiert und ihre Verwaltungsapparate ausgebaut. Vor allem in einer Anfangsphase wurden dafür auch Bürgerliche gebraucht, später wurden jedoch auch diese Ämter wieder mit Aristokraten besetzt. Der völlige Ausschluß von der politischen Macht bewirkte eine Abwendung des Bürgertums von der unerreichbaren Sphäre der Politik. Im Namen der Moral versuchte man, sich ein positives Selbstverständnis aufzubauen; die Moral als Gegenbegriff zur negativ (= „unmoralisch") gesehenen Politik wurde neben der Bildung bzw. der Erziehung zum zentralen Begriff der Aufklärung. Auffällig ist, wie oft in der Literatur dieser Zeit die bürgerliche Familie den Schauplatz des Geschehens bildete. Darin schlug sich die vielleicht wichtigste Umwälzung der letzten Jahrhunderte im Zusammenleben der Menschen nieder. An die Stelle der alteuropäischen Großfamilie, in der Eltern, Kinder und das Gesinde zusammenlebten und so eine weitgehend selbständige Produktionseinheit ausmachten (vgl. traditionelle bäuerliche Familien), trat zunehmend die bürgerliche „Kernfamilic" (Vater-Mutter-Kind) als neue Lebensform. Der Arbeitsbereich wurde mehr und mehr von der Privatsphäre getrennt, die Beziehungen innerhalb dieser Privatsphäre waren dagegen jetzt wesentlich intensiver und emotionsbeladener als zuvor. Von nun an prägte der kleine Kosmos der Familie immer wieder, als Geborgenheit stiftender Wunschraum oder aber als beengender Zwangsbezirk, die Literatur der folgenden Epochen - selbst wenn sie nicht ausdrücklich von der Familie handelte. Seitenblicke Für die Philosophie der Aufklärung waren zwei Strömungen bestimmend, der Rationalismus und der Empirismus. Der Empirismus, der die Gewinnung von Erfahrung durch Beobachtung und Experiment betonte, hatte seine Vorläufer in den englischen Philosophen Francis Bačou (1561 -1626) und John Locke (1632 - 1704), David Hume (1711 - 1776) und George Berkeley (1684 -1753) führten ihn weiter. Die Ausbildung der Aufklärungsbewegung Der aufgeklärte Absolutismus Bürgerliche Moral, Bildung und Erziehung Die bürgerliche Familie als Ideal Philosophie 69 Der Rationalismus Oer Pietismus Die Empfindsamkeit Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung 70 Der Rationalismus, begründet von dem Mathematiker und Philosophen René Descartes (1596 -1650), bezog seine Erkenntnisse aus logischen Deduktionen (= Ableitung des Besonderen aus allgemeinen Sätzen). Er ging vom Bewußtsein des Subjekts aus („cogito ergo sum"): nur das denkende Ich garantiere die Gewißheit des Seins. Beiden Richtungen war somit die selbstbewußte Skepsis des vernunftbegabten Einzel menschen gegenüber Vorurteilen und Glaubenssätzen gemeinsam. Erwähnt werden müssen aber auch zwei weitere Philosophen der späten Barockzeit. Der Deutsche Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 - 1716) beschrieb zwar das Universum noch als von Gott zentral gelenktes Gebilde (ähnlich wie der irdische Absolutismus), von ihm stammt aber auch das Modell für die Einzigartigkeit des Individuums: Er teilte die Welt nämlich in voneinander abgeschlossene Einheiten (sogenannte „Monaden") ein, die Gott nach „prästabilierter Harmonie" in Gang gesetzt habe. Der Niederländer Baruch de Spinoza (1632 - 1677) setzte in seiner „Ethik" Gott und All (die Natur, alles Existierende) gleich {„Pantheismus"). Seine Philosophie markiert damit den Übergang zur absoluten Verweltlichung der Weltsicht. Das Haupt der französischen Aufklärungsphilosophen war Voltaire (= Francoise-Marie Arouet, 1694 - 1778), dessen Kampf gegen Voreingenommenheiten, Aberglauben und Dummheit ihn mehrfach zwang, vor drohender Einkerkerung zu fliehen. Immanuel Kant (1724 - 1804) aus Königsberg wurde vor allem mit seiner kritischen Hinterfra-gung dessen, was wir wissen können, aber auch mit seiner Ethik und Ästhetik zum wohl bedeutendsten deutschen Philosophen. In seiner „Kritik der reinen Vernunft" (1781) versuchte er zu zeigen, daß wir über die „Dinge an sich" nichts wissen können außer dem, wofür unser Verstand Kategorien (= logische Gruppicrungsordnungen) besitzt, ein Gedanke, der bis in unser Jahrhundert weitergewirkt hat. i Vom Rationalismus zur Empfindsamkeit In der frühesten Phase der Aufklärung vertrat man einen strikten Rationalismus. Die absolute Regulierung aller Lebensäußerungen nach den Prinzipien der Vernunft galt als Ideal, die perfekte rationale Ordnung der Gesellschaft sollte den Menschen die in allen theoretischen Überlegungen dieser Zeit angesprochene „Glückseligkeit" bringen. Im Zusammenhang mit der Tätigkeit bürgerlicher Kreise im Absolutismus (Verwaltungsbereich) bedeutete Rationalismus oft auch die Ausbildung vernünftiger Vcrhaltensregeln für das Leben im Bereich der Politik: Der „homo politicus" war jener Mensch, der sein Tun rational zu kalkulieren und zu planen verstand. Vor allem aber stand dahinter die bürgerliche Ziclvorstellung von rational gesteuerter Erwerbstätigkeit und disziplinierter Lebensführung. Gegen die unbedingte Betonung des Verstandes und die damit verbundene Vernachlässigung des Gefühlslebens stand bereits im frühen 18. Jahrhundert der Einfluß des Pietismus (Begründer: Philipp Spener, 1635 - 1705, und Graf Zinzendorf, 1700 - 1760). Diese religiöse Erneuerungsbewegung forderte eine verinncriiehte Gläubigkeit und ein praktisch ausgerichtetes Christentum. Die (gegen kirchliche Orthodoxie gerichtete) Betonung des individuellen Glaubenserlebnisses führte zu einer ausgeprägten Kultur der Selbstbeobachtung. Zahlreiche pietistischc Bekenntnisschriften ermöglichten die Ausbildung einer differenzierten Sprache der Gefühle, deren spätere Verweltlichung die Stilhaltung der Empfindsamkeit erzeugte. Man wandte sich nun, anders als im reinen Rationalismus der Frühaufklärung, ausdrücklich auch dem Irrationalen, der Emotion zu, allerdings weiterhin geleitet durch die reflektierende Vernunft. Das menschliche Gefühlsleben wurde also keineswegs verabsolutiert, wie später bei den Dichtern des Slurm und Drang und der Romantik. Die neue bürgerliche Gefühlskultur drängte natürlich nach literarischem Ausdruck. Briefe, Tagebücher und Autobiographien wurden zu bevorzugten Sehreibformen, deren Beliebtheit auch über die Epoche hinaus anhalten sollte. Aufklärung und Literatur In der Aufklärung kam es vorerst nicht so sehr zur politischen Emanzipation des wirtschaftlich erstarkten Bürgertums, sondern vor allem zur Loslösung der Literatur aus höfischer Gebundenheit. Während Literatur bei Hofe im wesentlichen Repräsentationsfunktion gehabt hatte, diente die neue Literatur der Verbreitung bürgerlicher Moralvorstellungen und der Selbstfindung des Bürgertums. Durch die in England entstandenen „Moralischen Wochenschriften", das wichtigste Ausdrucksmedium der Aufklärung, bildete sich erstmals eine breite literarische Öffentlichkeit, ein Zusammenhang von Schriftsteller und Publikum. Die Leserschaft wuchs (vor allem im Zuge der gewaltigen Steigerung der Buch- und Presseproduktion) beträchtlich an. Durch die Ausweitung des Schulwesens ging das Analphabetentum zurück. Bildung galt dem Bürgertum als Voraussetzung für wirtschaftliehen und sozialen Aufstieg. Vor allem aber bildete sich ein neues Leseverhalten heraus: An die Stelle des „intensiven" Lesens in wenigen gleichbleibenden Büchern (Bibel, Erbauungsbücher) trat das „extensive" Lesen einer sich stets erweiternden Zahl von neuen Büchern. Dadurch entstanden auch die Voraussetzungen für die allmähliche Loslösung des Dichters aus der höfischen Abhängigkeit. (Lessing und Klopstock waren die ersten freien Schriftsteller im deutschen Sprachraum.) Als wichtigste erzählende Gattung des Bürgertums setzte sich zu dieser Zeit der immer populärer werdende Roman durch. Allerdings wurde noch in der Goethezeit das Epos als dichterisch höherwertig angesehen. Vor allem aber erkannte die Aufklärung im Theater ein wichtiges Medium der moralischen Erziehung. So verdrängte das literarische Drama allmählich das Stegreifspiel, die bisherigen Wandertruppen etablierten sich in den immer größer werdenden Städten als feste Theater und wurden später zu Nationaltheatern. Dichtungstheorien Das Postulat der Vernunft in allen Lebensbereichen erzwang zu dieser Zeit auch die strenge Befolgung von Normen in der Dichtung. Der Leipziger Johann Christoph Gottsched (1700-1766) unternahm es in seinem „VERSUCH EINER KRITISCHEN DICHTKUNST VOR (= für) DIE DEUTSCHEN", Grundsätze für die Dichtkunst aufzustellen, um die deutsche Literatur als Kunstform aufzuwerten. Er bezog deshalb seine Prinzipien aus der damals anerkannten französischen Regelpoetik (von Boileau), die allerdings noch höfischen Ursprungs war. Vieldiskutiert waren in der Folge vor allem Gottscheds Forderung nach einer strengen Einhaltung der drei Einheiten(dzs Ortes, der Zeit und der Handlung) im Drama sowie seine Ständeklausel: Die Personen der Tragödie mußten vornehmen Standes, also Könige oder zumindest Adelige sein, bürgerliches Personal blieb auf die Komödie beschränkt. Die Dichtung stand bei Gottsched unter der Vorherrschaft des Verstandes und mußte innerhalb des Realen und Wahrscheinlichen verbleiben (aristotelische Mimesistheorie: Naturnachahmung). Funktion der Dichtung sei einzig die Belehrung; bezeichnend seine Anweisung für Dramatiker, sich zuerst einen moralischen Lehrsatz als Ausgangspunkt zu suchen und ihn dann durch eine Theaterhandlung zu illustrieren. Die beiden Zürcher Johann Jakob Bodmer (1698-1783) und Johann Jakob Breitinger (1701-1776) räumten hingegen in ihren kritischen Beiträgen der Phantasie und Kreati- Die moralischen Wochenschriften Die Ausweitung der Lektüre Rationalistische Poetik 71 Aufwertung der literarischen Phantasie Die Theodizee 1 'weder. noch... 72 vität des Dichters größeren Platz ein. Die dichterische Einbildungskraft und das Wunderbare wurden aufgewertet. Vorbild sollte die englische Dichtung sein, vor allem John Mil-ton (1608-1674) mit seinem Bilderreichturnfvgl. „Das verlorene Paradies", eine epische Feier der göttlichen Schöpfung). Belehrende Gattungen: Versuche einer Besserung der Zustände Die Aufklärung als Bewegung der allgemeinen Bildung des lesenden Bürgertums bevorzugte naturgemäß Dichtungsformen, die belehrende Funktion hatten. So wurden etwa das Lehrgedicht und die Fabel zum Medium bürgerlicher Selbstverständigung. Sie dienten aber auch der Selbstversicherung in einer sich merklich verändernden Welt, deren traditionelle Erklärungsmuster sich nicht zuletzt als Resultat der Aufklärung allmählich aufzulösen begannen. Das Lehrgedicht Beispiel 4: Aus „ÜBER DEN URSPRUNG DES ÜBELS" (1732/33) von Albrecht von Haller (1708-1777) Hallcr, einer der bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit, befaßt sich hier mit einer der meistdiskutierten Fragen seiner Epoche, der sogenannten „Theodizee": Warum läßt ein allmächtiger, allgütiger Gott das Übermaß an Elend zu, das in der Welt existiert? Der Philosoph Leibniz hatte aus der Vollkommenheit Gottes geschlossen, wir lebten in der besten aller möglichen Welten, das Böse stamme von den Menschen. Voltaire antwortete mit seinem Roman „CANDIDE", in dem er die Übel der Welt besonders schonungslos aufzeigte. l Erbarmens-voller Gott! in einer dunkeln Stille Regiert der Welten Kreis dein unerforschter Wille, Dein Ratschluß ist zu hoch, sein Siegel ist zu fest, Er liegt verwahrt in dir, wer hat ihn aufgelöst? 5 Dies weiß ich nur von dir, dein Wesen selbst ist Güte, Von Gnad und Langmut wallt dein liebendes Gemiite; Du Sonne wirfest ja, mit gleichem Vater-Sinn, Den holden Lebens-Strahl auf alle Wesen hin! [...] io Indessen ist die Welt, die Gott zu seinem Ruhm Und unserm Glücke schuf, des Übels Eigentum: In allen Arten ist das Los des Guten kleiner, Wo tausend gehn zur Qual, entrinnt zur Wohlfahrt einer, Und für ein zeitlich Glück, das keiner rein genießt, 15 Folgt ein unendlich Weh, das keine Ruh beschließt. 0 Gott voll Gnad und Recht, darf ein Geschöpfe fragen: Wie kann mit deiner Huld sich unsre Qual vertragen? Vergnügt, o Vater, dich der Kinder Ungemach? War deine Lieb erschöpft? ist dann die Allmacht schwach? 20 [...] Nein, deine Huld, o Gott, ist allzu offenbar! Die ganze Schöpfung legt dein liebend Wesen dar: Die Huld, die Raben nährt, wird Menschen nicht verstoßen, Im Kleinen ist er groß, unendlich groß im Großen. 25 Wer zweifelt dann daran? Ein undankbarer Knecht! Drum werde, was du willst, dein Wollen ist gerecht! Noch Unrecht, noch Versehn1 kann vom Allweisen kommen, Du bist an Macht, an Gnad, an Weisheit ja vollkommen! 4 Wie beantwortet Haller die Theodizee-Frage? Die Fabel Eine Fabel ist eine lehrhafte Dichtung, in der am Beispiel von Tieren menschliche Verhaltensweisen vorgeführt werden. Beispiel 5: „DER TANZBÄR" von Christian Fürchtegott Geliert (1715 -1769) und Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) Der Ausgangspunkt ist jeweils die Rückkehr eines Tanzbären zu seinen Artgenossen im Wald. Geliert (Schluß): Die Brüder, die ihn tanzen sahn, Bewunderten die Wendung seiner Glieder, Und gleich versuchten es die Brüder; Allein anstatt wie er zu gehn, So konnten sie kaum aufrecht stehn, Und Mancher fiel die Länge lang darnieder. Um desto mehr ließ sich der Tänzer sehn; Doch seine Kunst verdroß den ganzen Haufen. Fort, schrieen Alle, fort mit dir! Du Narr willst klüger sein, als wir? Man zwang den Petz, davon zu laufen. Sei nicht geschickt, man wird dich wenig hassen, Weil dir dann Jeder ähnlich ist; Doch je geschickter du vor vielen Andern bist, Je mehr nimm dich in Acht, dich prahlend sehn zu lassen. Wahr ist's, man wird auf kurze Zeit Von deinen Künsten rühmlich sprechen; Doch traue nicht, bald folgt der Neid Und macht aus der Geschicklichkeit Ein unvergebliches Verbrechen. 20 Lessing: Ein Tanzbär war der Kett entrissen, Kam wieder in den Wald zurück Und tanzte seiner Schar ein Meisterstück Auf den gewohnten Hinterfüßen. „Seht", schrie er, „das ist Kunst; das lernt man in der Welt! Tut mir es nach, wenn's euch gefällt Und wenn ihr könnt!" - „Geh", brummt ein alter Bär, „Dergleichen Kunst, sie sei so schwer, Sie sei so rar sie sei, Zeigt deinen niedem Geist und deine Sklaverei!" Ein großer Hofmann sein, Ein Mann, dem Schmeichelei und List Statt Witz und Tugend ist, Der durch Kabalen1 steigt, des Fürsten Gunst erstiehlt, Mit Wort und Schwur als Komplimenten spielt, Ein solcher Mann, ein großer Hofmann sein, Schließt das Lob oder Tadel ein? Geliert war vor allem mit seiner Fabelsammlung der populärste Dichter seiner Zeit. Er orientierte sich dabei an dem französischen Fabeldichter Jean de La Fontaine (1621-1695) und verfolgte die Ideale des protestantischen Kleinbürgertums. Lessing knüpfte an die kritischere Form des Griechen Äsop (6. Jh, v. Chr.) an und verlangte von der Fabel Kürze und präzise Faßlichkeit, um den zentralen moralischen Leitsatz oder die soziale Lehre klar und wirksam aussprechen zu können. 5 Vergleichen Sie die Botschaft der beiden Fabeln! Verbinden Sie Lessings abschließende Moral mit der historischen Situation der Zeit! Die Physikotheologie 74 Die Entwicklung der Lyrik (am Beispiel der Naturdarstellung) Vergleichen Sie die beiden folgenden Beispiele hinsichtlich der Form, des Stils und der Funktion der dargestellten Natur im Gedicht! - Vergleichen Sie auch die beiden Weltbilder, die darin zum Ausdruck kommen! Beispiel 6: Aus „IRDISCHES VERGNÜGEN IN GOTT" (1721 -1747) von Barthold Heinrich Brockes (1680 -1747) BETRACHTUNG VERSCHIEDENER ZU UNSEREM VERGNÜGEN BELEBTEN INSEKTEN i Man siehet jetzt fast überall mit Haufen Viel bunte Käferdien, gefärbte kleine Fliegen Zu unsrer Augcnlust ein Leben kriegen Und in dem Gras, auf Kraut, auf Laub und Blumen laufen. 5 Mein Gott, wenn ich die bunte Meng erwäge Und ihrer Farben und Figur Bewundernswerte Zierlichkeit, Bewundernswerten Unterscheid 10 In stiller Muß erwäg und überlege, Wie schnell sie hüpfen, fliegen, rennen, Wie fertig sie sich regen können, Ergetzet mich die spielende Natur. Ich freue mich, denn ich kann deutlich sehn, 15 Da sie so mancherlei, so zierlich und so schön, Daß die Natur sie dazu bilden wollen, Daß wir des Schöpfers Wundermacht Auch in derselben Farbenpracht In unsrer Lust betrachten sollen. 20 Wer wird der Farben Meng und ihre Schönheit nennen, Erzählen und beschreiben können, Mit welcher die Natur die kleinen Tierchen schmückt? Wie mancherlei hab ich mit innigem Vergnügen 25 Nur bloß an Fliegen einst erblickt! Wotan die Farben sich recht wunderbarlich fügen, Braun, gelblich, röiüch, schwarz und grau, Grün, rot, gelb, hell- und dunkelblau, Bald gold mit grün, bald gold mit rot gemenget; 30 Bald ist der Flügel künstlichs Paar Wie ein Kristall so weiß, so klar; Bald sind auch die gefärbt und bunt gesprenget. Bald scheinet sich in ihrer Flügel Glanz Der bunten Iris halber Kranz 35 In schön gemischten Schmuck zu bilden. Bei diesem ist der Leib, bei dem die Flügel gülden. [...] Die umfangreiche Gedichtsammlung ist ein typisches Beispiel für die sogenannte „Physi-kotheologie", mit der man die traditionelle christliche Weltauslegung und die neue naturwissenschaftliche Analyse des empirisch Wahrnehmbaren noch einmal zu verbinden trachtete: die gesetzmäßig funktionierende Natur wurde zum Beweis für Gottes vernünftiges Wirken in der Welt. Beispiel 7: Aus der Ode „DIE FRÜHLINGSFEIER" (1759) von Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803): Anfang und Schluß Eine Ode ist eine strophisch gegliederte Lyrikform, inhaltlich meist geprägt durch Feierlichkeit und Gefühlstiefe. Nicht in den Ozean der Welten alle Will ich mich stürzen! schweben nicht, Wo die ersten Erschaffnen, die Jubelchöre der Söhne des Lichts, Anbeten, tief anbeten! und in Entzückung vergehn! Nur um den Tropfen am Eimer, Um die Erde nur, will ich schweben, und anbeten! Halleluja! Halleluja! Der Tropfen am Eimer Rann aus der Hand des Allmächtigen auch! Als der Hand des Allmächtigen Die größeren Erden entquollen! Die Ströme des Lichts rauschten, und Siebengestirne wurden, Da entrannst du, Tropfen! der Hand des Allmächtigen! Als ein Strom des Lichts rauscht', und unsre Sonne wurde! Ein Wogensturz sich stürzte wie vom Felsen Der Wölk herab, und Orion1 gürtete, Da entrannst du, Tropfen! der Hand des Allmächtigen! Wer sind die tausendmal tausend, Wer die Myriaden2 alle, Welche den Tropfen bewohnen, und bewohnten? Und wer bin ich? Halleluja dem Schaffenden! Mehr, wie die Erden, die quollen! Mehr, wie die Siebengestirne, Die aus Strahlen zusammen strömten! m Die Ode 1 riesenhafter mythischer Jäger; Sternbild 2 imSg.: 10 000, nur im PI.: Unzahl Ein Gewitter bezeugt die Macht Gottes: Seht ihr den neuen Zeugen des Nahen, den fliegenden Strahl? Hört ihr hoch in der Wolke den Donner des Herrn? Er ruft: Jehova! Jehova! Jehova3! Und der geschmetterte Wald dampft! Aber nicht unsre Hütte! Unser Vater gebot Seinem Verderber, Vor unsrer Hütte vorüberzugehn! Ach! schon rauscht, schon rauscht Himmel und Erde vom gnädigen Regen! Nun ist, wie dürstete sie! die Erd erquickt, Und der Himmel der Segensfüll' entlastet! Siehe, nun kommt Jehova nicht mehr im Wetter, In stillem, sanftem Säuseln Kömmt lehova, Und unter ihm neigt sich der Bogen des Friedens!4 Klopstock war der Begründer der neueren deutschen Lyrik. Mit seiner Vorstellung vom Dichter als Genie und Priester schuf er die Basis eines neuartigen Selbstbewußtseins des lyrischen Schriftstellers. Zukunftsweisend war vor allem die Kühnheit seiner Wortwahl und seiner Satzstrukturen. Er forderte - anders als die rational ausgerichtete Frühaufklärung- eine radikale Gefühlsbezogenheit des Schreibens, eine, „herzrührende" Schreib- 3 alte, aber unrichtige Lesung Für Jahwe (Name Gottes im Alten Testament) 4 Regenbogen, Zeichen der Versöhnung Gottes mit Noah nach der Sintflut Klopstocks Bedeutung 75 Lessings Milleids-poerik 1 (1733- 1811), bedeutender Aufklärer Identifikation als Wirkungsbasis Der gemischte Charakter weise: „Das Wesen der Poesie besteht darin, daß sie, durch die Hülfe der Sprache, eine gewisse Anzahl von Gegenständen, die wir kennen oder deren Dasein wir vermuten, von einer Seite zeigt, welche die vornehmsten Kräfte unserer Seele in einem so hohen Grade beschäftigt, daß eine auf die andere wirkt und dadurch die ganze Seele in Bewegung setzt." („GEDANKEN ÜBER DIE NATUR DER POESIE", 1759) Das Drama: Lessings Neuerungen Gotthold Ephraim Lessing (1729 -1781) war vorübergehend freier Schriftsteller in Berlin, ehe er als Sekretär eines Generals in Breslau und als Bibliothekar in Wolfen-büttcl wieder bürgerliche Berufe annehmen mußte. Vor allem in seinen „Literaturbriefen" und in der während einer einjährigen Tätigkeit als Dramaturg am Hamburger Nationaltheater entstandenen „Hamburger Dramaturgie" (1767 - 1769) bekämpfte er die Poetik Gottscheds und empfahl gegen das höfische Theater Cor-neilles und Racines Shakespeare als Vorbild. Vor allem wandelte er die aristotelische Bestimmung der Tragödie zur Katharsis (einer Reinigung der Seele durch Erregung von Furcht und Mitleid) ab: Sie soll uns nicht bloß lehren, gegen diesen oder jenen Unglücklichen Mitleid zu fühlen, sondern sie soll uns so weit fühlbar machen, daß uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß. [...] Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste. (Brief an Friedrich Nicolai 16. 2. 1759) Lessing wollte sein Publikum nicht mehr nur durch Unterdrückung von Gefühlen und Trieben (vgl. den barocken Stoizimus!), sondern durch das ästhetische Einspielen von Gefühlen bessern. Die Menschen sollten sich mit den Helden identifizieren und sie dadurch nachahmen - eine zukunftsweisende Wirkungstheorie, deren Gültigkeit bis heute aufrecht geblieben ist. (Denken Sie an die Vermittlung von Leitbildern durch die Identifikation etwa mit Film- und Fernsehhelden!) Statt des stoischen Heroismus des französischen Klassizismus forderte er deshalb den „gemischten" Charakter, mit dessen Vorzügen und Schwächen sich der Zuschauer besser identifizieren konnte als mit den idealisierten Figuren des herkömmlichen Theaters. Das Lustspiel Beispiel 8: Aus „MINNA VON BARNHELM ODER DAS SOLDATENGLÜCK" (1767) von Gotthold Ephraim Lessing Major von Teilheim hat als Besatzungsoffizier während des Siebenjährigen Krieges den sächsischen Ständen Geld vorgeschossen, was ihm bei seiner Dienstentlassung als Bestechlichkeit 76 ausgelegt wird. In seiner Ehre schwer gekränkt, ist er fest entschlossen, seine Braut Minna nicht an sein Unglück zu binden. Diese hat sich jedoch gerade seiner großmütigen Handlung wegen in ihn verliebt und akzeptiert seinen Rückzug nicht. 1 TELLHEIM: [...] Seitdem mir Vernunft und Notwendigkeit befehlen, Minna von Barnhelm zu vergessen; was für Mühe habe ich angewandt! Eben wollte ich anfangen zu hoffen, daß diese Mühe nicht ewig vergebens sein würde: - und Sie erscheinen, mein Fräulein! -DAS FRÄULEIN: Versteh ich Sie recht? - Halten Sie, mein Herr; lassen Sie sehen, wo wir sind, 5 ehe wir uns weiter verirren! - Wollen Sie mir die einzige Frage beantworten? TELLHEIM; Jede, mein Fräulein - [...] DAS FRÄULEIN: [...] Sie müssen wissen, was in Ihrem Herzen vorgeht. - Lieben Sie mich noch, Tellhcim? - Ja oder nein. TELLHEIM: Wenn mein Herz -10 DAS FRÄULEIN: Ja oder nein! TELLHEIM: Nun, ja! DAS FRÄULEIN: Ja? TELLHEIM: Ja, ja!-Allein- DAS FRÄULEIN: Geduld! - Sie lieben mich noch: genug für mich. [...] Eine Vernunft, eine 15 Notwendigkeit, die Ihnen mich zu vergessen befiehlt? - Ich bin eine große Liebhaberin von Vernunft, ich habe sehr viel Ehrerbietung für die Notwendigkeit. - Aber lassen Sie doch hören, wie vernünftig diese Vernunft, wie notwendig diese Notwendigkeit ist. TELLHEIM: Wohl denn, so hören Sie, mein Fräulein. - Sic nennen mich Tellhcim, der Name trifft ein. - Aber Sie meinen, ich sei der Tellheim, den Sie in Ihrem Vaterlande gekannt 20 haben, der blühende Mann, voller Ansprüche, voller Ruhmbegierde; der seines ganzen Körpers, seiner ganzen Seele mächtig war; vor dem die Schranken der Ehre und des Glücks eröffnet standen; der Ihres Herzens und Ihrer Hand, wenn er schon Ihrer nicht würdig war, täglich würdiger zu werden hoffen durfte. - Dieser Tellheim bin ich ebensowenig - als ich mein Vater bin. Beide sind gewesen. - Ich bin Tellheim, der verabschiedete, der an seiner 25 Ehre gekränkt, der Krüppel, der Bettler. Jenem, mein Fräulein, versprachen Sie sich: wollen Sie diesem Worte halten? DAS FRÄULEIN: Das klingt sehr tragisch! - Doch, mein Herr, bis ich jenen wieder finde, - in die Teilheims bin ich nun einmal vernarrt, - dieser wird mir schon aus der Not helfen müssen. - Deine Hand, lieber Bettler! 30 Teilheims Ehrbegriff ist für Minna nicht nachvollziehbar: DAS FRÄULEIN: [...] Oh, über die wilden, unbiegsamen Männer, die nur immer ihr stieres Auge auf das Gespenst der Ehre heften, für alles andere Gefühl sich verhärten! - Hierher Ihr 35 Auge! Auf mich, Tellheim! (Der indes vertieft und unbeweglich mit starren Augen immer auf eine Stelle gesehen) Woran denken Sie? Sie hören mich nicht? [...] TELLHEIM: Ich brauche keine Gnade, ich will Gerechtigkeit. Meine Ehre - DAS FRÄULEIN: Die Ehre eines Mannes wie Sie - TELLHEIM (hitzig): Nein, mein Fräulein, Sie werden von allen Dingen recht gut urteilen kön-40 nen, nur hierüber nicht. Die Ehre ist nicht die Stimme unseres Gewissens, nicht das Zeugnis weniger Rechtschaffenen -DAS FRÄULEIN: Nein, nein, ich weiß wohl. - Die Ehre ist - die Ehre. Indem sie ihre eigene Enterbung vortäuscht, gewinnt Minna Tellheim, der am Ende auch rehabilitiert wird, endgültig für sich. Lessing schuf mit diesem Stück das erste bedeutende deutsche Lustspiel. 7 Welche Argumente setzt Minna Tellheim entgegen? (Unterstreichen Sie die wichtigsten Wörter!) 1 Selbstlosigkeit, Rücksicht auf andere 1 Der Prinz will Emilia dort unterbringen Das bürgerliche Trauerspiel Das deutschsprachige bürgerliche Drama knüpfte wie so vieles in der Aufklärung wiederum an ausländische Vorbilder an: etwa an „THE LONDON MERCHANT" (1731) des Londoner Juweliers George Lillo (1693 - 1739) und an den Franzosen Denis Diderot (1713 - 1784), der auch als Herausgeber eines das Wissen seiner Zeit zusammenfassenden „Encyclopedie"-Projekts bedeutsam wurde. Die allmähliche Durchbrechung des aristokratischen Monopols auf die Tragödie (Ständeklausel) erfolgte vor allem mithilfe einer Aufwertung der Komödie. So entstand das sogenannte „Rührende Lustspiel" (Vertreter: Christian Fürchtegott Geliert), in dem der Bürger erstmals als seriöse Figur auftrat, weil jetzt nachahmenswerte Gefühle (z.B. Altruismus Mitleid) vorgeführt wurden (und nicht mehr verbesserungsbedürftige Charakterfehler wie in der herkömmlichen Verlachkomödie). Die folgenden Beispiele liefern eine Art Längsschnitt durch die Geschichte des bürgerlichen Trauerspiels. Beispiel 9: Aus „EM1LIA GALOTTI" (1772) von Gotthold Ephraim Lessing Prinz Gonzaga, der die bürgerliche Emilia Galotti liebt, läßt ihren Brautzug überfallen, wobei ihr Bräutigam Appiani getötet wird. Emilia wird auf das Schloß des Prinzen gebracht, der vorgibt, sie gerettet zu haben. Emilia sieht keine Möglichkeit, sich zu befreien, und bittet ihren Vater um seinen Dolch - einen Mann, den seine Ehefrau so beschreibt: „Welch ein. Mann! -Oh, der rauhen Tugend - wenn anders sie diesen Namen verdient! - Alles scheint ihr verdächtig, alles strafbar!" l odoardo: Kind, es ist keine Haarnadel. EMILIA: So werde die Haarnadel zum Dolche! - Gleichviel. ODOARDO: Was? Dahin war es gekommen? Nicht doch; nicht doch! Besinne dich. - Auch du hast nur ein Leben zu verlieren. 5 EMILIA: Und nur eine Unschuld. odoardo: Die über alle Gewalt erhaben ist. - EMILIA: Aber nicht über alle Verführung. - Gewalt! Gewalt! Wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt. - Ich habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes Blut, als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe für io nichts. Ich bin für nichts gut. Ich kenne das Haus der GrimaldiEs ist das Haus der Freude. Eine Stunde da, unter den Augen meiner Mutter, - und es erhob sich so mancher Tumult in meiner Seele, den die strengsten Übungen der Religion kaum in Wochen besänftigen konnten. - Der Religion! Und welcher Religion! - Nichts Schummers zu vermeiden, sprangen lausende in die Fluten und sind Heilige! - Geben Sie mir, mein Vater, geben Sie mir diesen 15 Dolch. [...] odoardo: Wenn ich dir ihn nun gebe - da! (gibt ihr ihn) EMILIA: Und da! (Im Begriffe, sich damit zu durchstoßen, reißt der Vater ihr ihn wieder aus der Hand) 20 odoardo: Sieh, wie rasch! - Nein, das ist nicht für deine Hand. EMILIA: Es ist wahr, mit einer Haarnadel soll ich - (Sie fährt mit der Hand nach dem Haare, eine zu suchen, und bekommt die Rose zu fassen) Du noch hier? - Herunter mit dir, du gehörst nicht in das Haar einer - wie mein Vater will, daß ich werden soll! [...] 25 (In einem bitteren Tone, während sie die Rose zerpflückte) Ehedem wohl gab es einen Vater, der seine Tochter von der Schande zu retten, ihr den ersten, den besten Stahl in das Herz senkte - ihr zum zweiten Male das Leben gab. Aber alle solche Taten sind von ehedem! Solcher Väter gibt es keinen mehr! odoardo: Doch, meine Tochter, doch! (Indem er sie durchstiehl) Gott, was hab ich getan! 30 (Sie will sinken und er faßt sie in seine Arme) EMILIA: Eine Rose gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert, se väterliche Hand. - Lassen Sie mich sie küssen, die- Emilia spielt hier auf den Fall des römischen Plebejers Virginias an, der seine Tochter Virginia ebenfalls durch ihre Tötung vor den Nachstellungen eines Decemvirn 1 bewahrte, worauf ein Volksaufsiand ausbrach. Wie kein anderes Stück bezeugt „EMILIA GALOTTI" die bürgerliche Hochschätzung der Moral und der Tugend als obersten Wert, mit deren Hilfe man die von der Aristokratie dominierte Sphäre der Politik ins Unrecht setzen wollte. Daß Emilias Bräutigam ein Landadeliger ist (der sich also bezeichnenderweise selbst aus der Sphäre des Hofes zurückgezogen hat), ist ein Beleg dafür, daß „Bürgerlichkeit" hier durchaus noch weniger eine Standesbezeichnung als ein Gesinnungsbegriff ist, der auch von Aristokraten übernommen werden konnte (und sollte). 8 Skizzieren Sie das Verhältnis von Vater und Tochter! Inwiefern zeigt das Stück deutlich die politischen Grenzen der bürgerlichen Position (Moral, Tugend) gegenüber dem Adel? Vergleichen Sie dazu auch die skizzierte altrömische Vorlage! Beispiel 10: Aus „KABALE UND LIEBE" (1783) von Friedrich Schiller (1759 - 1805) 78 Ferdinand, der Sohn des ehrgeizigen und skrupellosen Präsidenten Walter, liebt das Bürgermädchen Luise, die Tochter des Stadtmusikers Miller. Sein Vater will ihn jedoch aus machtpolitischen Gründen mit der Geliebten des Herzogs verheiraten. Als sich Ferdinand weigert, fädelt Walters Sekretär Wurm, der Luise selbst heiraten will, eine Intrige ein: Luise muß unter Zwang einen Liebesbrief an einen Höfling schreiben, der Brief wird Ferdinand in die Hände gespielt. In blinder Wut vergiftet er sich und Luise. Die folgenden drei Szenenausschnitte deuten jeweils einen Konflikt zwischen zwei Lebenseinstellungen bzw. Weltanschauungen an. Benennen Sie die betreffenden Unterschiede! Aufweichen allgemeingesellschaftlichen Konflikt dieser Zeit verweist die Gegenüberstellung von „Kabale" (= Intrige) und „Liebe" im Titel? Die Eltern Luises: FRAU: Sieh doch nur erst die prächtigen Bücher an, die der Herr Major ins Haus geschafft haben. Deine Tochter betet auch immer draus. MILLER (pfeift): Hui da! Betel! Du hast den Witz davon. Die rohen Kraftbrühen der Natur sind lhro Gnaden zartem Makronenmagen noch zu hart - er muß sie erst in der höllischen Pestilenzküche der Belletristen künstlich aufkochen lassen. Ins Feuer mit dem Quark! Das saugt mir das Mädel - weiß Gott, was als für überhimmlische Alfanzereien1 ein; das läuft dann wie spanische Mucken ins Blut und wirft mir die 1 landvoll Christentum noch gar auseinander, die der Vater mit knapper Not soso noch zusammenhielt. Ins Feuer, sag ich! Das Mädel setzt sich alles Teufelszeug in den Kopf; über all dem Herumschwänzen in der Schla-raffenwelt findet's zuletzt seine Heimat nicht mehr, vergißt, schämt sich, daß sein Vater Miller der Geiget ist, und verschlägt mir am End einen wackern, ehrbaren Schwiegersohn, der sich so warm in meine Kundschaft hineingesetzt hätte. Vater und Sohn Walter: PRÄSIDENT: Ferdinand! Wem zulieb hab ich die gefährliche Bahn zum Herzen des Fürsten betreten? Wem zulieb bin ich auf ewig mit meinem Gewissen und dem Himmel zerfallen? -Höre, Ferdinand - ich spreche mit meinem Sohn -, wem hab ich durch die Hinwegräumung meines Vorgängers Platz gemacht? [...] FERDINAND (streckt die recht Hand gen Himmel): Feierlich entsag ich hier einem Erbe, das mich nur an einen abscheulichen Vater erinnert. Decemvir: Mitglied des Decern virats, das war das altromische Zehnmanner-kollegium M 1 PossenreiBerei, leichter Betrug 79 PRÄSIDENT: Höre, junger Mensch, bringe mich nicht auf! - Wenn es nach deinem Kopf . ginge, du kröchest dein lebelang im Staube. FERDINAND: Oh, immennoch besser, Vater, als ich kroch um den Thron herum. PRÄSIDENT (verbeißt seinen Zorn): [...] Die ebene Straße zunächst nach dem Throne - zum Throne selbst, wenn anders die Gewalt so viel wert ist als ihre Zeichen. - Das begeistert dich nicht? FERDINAND: Weil meine Begriffe von Größe und Glück nicht ganz die Ihrigen sind. - Ihre Glückseligkeit macht sich nur selten anders als durch Verderben bekannt. Neid, Furcht, Verwünschung sind die traurigen Spiegel, worin sieb die Hoheit eines Herrschers belächelt-Tränen, Flüche, Verzweiflung die entsetzliche Mahlzeit, woran diese gepriesenen Glücklichen schwelgen, von der sie betrunken aufstehen und so in die Ewigkeit vor den Thron Gottes taumeln. - Mein Ideal von Glück zieht sich genügsamer in mich selbst zurück! In meinem Herzen liegen alle meine Wünsche begraben. - PRÄSIDENT: Meisterhaft! Unverbesserlich! Herrlich! Nach dreißig lahren die erste Vorlesung wieder! Der Adel und das Bürgertum: WURM: Wir setzen also in aller Stille den Musikus fest - die Not um so dringender zu machen, könnte man auch die Mutter mitnehmen -, sprechen von peinlicher Anklage, von Schafott, von ewiger Festung und machen den Brief der Tochter zur einzigen Bedingnis seiner Befreiung. PRÄSIDENT: Gut! Gut! Ich verstehe. WURM: Sie liebt ihren Vater - bis zur Leidenschaft, möcht ich sagen. Die Gefahr seines Lebens - seiner Freiheit zum mindesten - die Vorwürfe ihres Gewissens, den Anlaß dazu gegeben zu haben - die Unmöglichkeit, den Major zu besitzen - endlich die Betäubung ihres Kopfs, die ich auf mich nehme - es kann nicht fehlen - sie muß in die Falle gehn. PRÄSIDENT: Aber mein Sohn? Wird der nicht auf der Stelle Wind davon haben? Wird er nicht wütender werden? WURM: Das lassen Sie meine Sorge sein, gnädiger Herr. - Vater und Mutter werden nicht eher freigelassen, bis die ganze Familie einen körperlichen Eid darauf abgelegt, den ganzen Vorgang geheimzuhalten und den Betrug zu bestätigen. PRÄSIDENT: Einen Eid? Was wird ein Eid fruchten, Dummkopf? WURM: Nichts bei uns, gnädiger Herr! Bei dieser Menschenart alles. Beispiel 11: Aus „MARIA MAGDALENA" > 1844) von Friedrich Hebbel (1813-1863) Wieder ist eine Vaterfigur eine der Hauptpersonen: Der Tischlermeister Anton erklärt seine abweisende und ruppige Art im Gespräch mit Leonhard, dem Bräutigam seiner Tochter Klara: l MEISTER ANTON: Mir ging's in jungen Jahren schlecht. Ich bin sowenig wie Er als ein borstiger Igel zur Welt gekommen, aber ich bin nach und nach einer geworden. Erst waren all die Stacheln bei mir nach innen gerichtet, da kniffen und drückten sie alle zu ihrem Spaß auf meiner nachgiebigen glatten Haut herum und freuten sich, wenn ich zusammenfuhr, weil die 5 Spitzen mir in Herz und Eingeweide drangen. Aber das Ding gefiel mir nicht, ich kehrte meine Haut um, nun fuhren ihnen die Borsten in die Finger, und ich hatte Frieden. Anton muß erleben, daß sein Sohn Karl als Dieb verhaftet wird. Er ist unschuldig, aber die kranke Mutter stirbt vor Schreck. Da läßt der Vater Klara schwören, ihm keilte Schande zu io machen: MEISTER ANTON: Faß die Hand der Toten und schwöre mir, daß du bist, was du sein sollst! KLARA: Ich - schwöre - dir - daß - ich - dir - nie - Schande - machen - will! MEISTER ANTON: Gut! (Er setzt seinen Hut auf) Es ist schönes Wetter! Wir wollen Spießru-15 ten laufen, straßauf, straßab! (Ab.) Auch weiterhin setzt er Klara unter Druck: MEISTER ANTON: Werde du ein Weib, wie deine Mutter war, dann wird man sprechen: an 80 20 den Eltern hat's nicht gelegen, daß der Bube abseits ging, denn die Tochter wandelt den rechten Weg und ist allen andern vorauf. (Mit schrecklicher Kälte.) Und ich will das Meinige dazu tun, ich will dir die Sache leichter machen als den übrigen. In dem Augenblick, wo ich bemerke, daß man auch auf dich mit Fingern zeigt, werd ich - (mit einer Bewegung an den Hals) mich rasieren, und dann, das schwör ich dir zu, rasier ich den ganzen Kerl weg, du 25 kannst sagen, es sei aus Schreck geschehen, weil auf der Straße ein Pferd durchging, oder weil die Katze auf dem Boden einen Stuhl umwarf, oder weil mir eine Maus an den Beinen hinauflief. Wer mich kennt, wird freilich den Kopf dazu schütteln, denn ich bin nicht sonderlich schreckhaft, aber was tut's? Ich kann's in einer Welt nicht aushalten, wo die Leute mitleidig sein müßten, wenn sie nicht vor mir ausspucken sollen. 30 KLARA: Barmherziger Gott, was soll ich tun! Klara erwartet nämlich von dem Mitgiftjäger Leonhard, der sich dadurch ihrer versichern wollte, schon ein Kind. Als Leonhard erfährt, daß die Mitgift aufgrund von Antons Gutmütigkeit verlorengegangen ist, benützt er Karls Verhaftung als Vorwand, die Verlobung zu lösen. Vergeb-35 lieh beschwört Klara Leonhard: KLARA: Wär's um mich allein - ich wollt's ja tragen, ich wollt's geduldig hinnehmen, als verdiente Strafe für, ich weiß nicht was, wenn die Welt in meinem Elend mich mit Füßen träte, statt mir beizustehen; ich wollte mein Kind, und wenn's auch die Züge dieses Menschen trü-40 ge, lieben, ach, und ich wollte vor der armen Unschuld so viel weinen, daß es, wenn's älter und klüger würde, seine Mutter gewiß nicht verachten, noch ihr fluchen sollte. Aber ich bin's nicht allein, und leichter find ich am Jüngsten Tag noch eine Antwort auf des Richters Frage: warum hast du dich selbst umgebracht? als auf die: warum hast du deinen Vater so weit getrieben? 45 LEONHARD; Du sprichst, als ob du die erste und letzte wärst! Tausende haben das vor dir durchgemacht, und sie ergaben sich darein. Tausende werden nach dir in den Fall kommen und sich in ihr Schicksal finden. Klaras Jugendfreund, ein Sekretär, kann sich über ihre Schwangerschaft nicht hinwegsetzen. Verzweifelt begeht sie Selbstmord. Das Stück endet mit Antons Satz: „Ich verstehe die Welt nicht mehr." 10 Beschreiben Sie das Erziehungsprinzip Meister Antons und die Beziehung zwischen Vater und Tochter! - Worauf basiert die Liebe innerhalb der Familie? - Welche Hallung kennzeichnet den Bürger Anton? - Worauf spielt der (biblische) Name im Titel an? 11 Vergleichen Sie die drei bürgerlichen Trauerspiele vor allem hinsichtlich der handelnden Personen und der dargestellten Problematik! Der Roman Auch im Roman vollzog sich der entscheidende Durchbruch im Ausland. Seitenblick Eines der europaweit erfolgreichsten Bücher dieser Zeit war der „Robinson Crusoe" des Engländers Daniel Defoe (ca. 1660 - 1731). Durch die Schilderung eines längeren Inselaufenthalts des schiffbrüchigen Robinson demonstrierte der Autor seinen Lesern, wie die unzivilisierte Natur durch rational geplantes Vorgehen erfolgreich in Dienst genommen werden kann. Das Motiv des Lebens auf einer Insel als Modell für eine bessere Welt wurde charakteristisch für die damals überaus populäre Gattung der „Utopie" (vom griechischen Wort für „kein Ort", „nirgendwo", z.b. „Die Englische Literatur Die Utopie 81 Der auktoriale Erzähler 82 Insel Felsenburg" von Johann Gottfried Schnabel, 1692 -1752). Eine wesentlich pessimistischere Weltsicht als Defoe entwickelte hingegen der Ire Jonathan Swift (1667 - 1745) in seinem satirischen Roman „Gullivers Reisen"; ---------...... Besondere Bedeutung für die Weiterentwicklung des Romans erlangten zwei weitere englischsprachige Autoren. Samuel Richardson (1689 -1761) schuf den empfindsamen Familienroman, in dem er vor allem das neue bürgerliche Tugendideal verherrlichte. In dem Briefroman „Pamela oder die belohnte Tugend" widersteht die Heldin den Verführungsversuchen eines jungen Mannes. Sic bekehrt ihn durch ihre Tugendhaftigkeit zum Guten, und die beiden heiraten. Henry Fielding (1707 - 1754) begründete dagegen theoretisch und praktisch („Tom Jones") den bürgerlichen Roman als „komisches Epos in Prosa", das auf realistische Weise eine individualistische Charakterschilderung nach einer klar zielgerichteten Handlungsstruktur (statt einer losen Folge von Episoden) enthält. Beispiel 12: Aus „GESCHICHTE DES AGATIJON" (1767 bzw. 1794) von Christoph Martin Wieland (1733-1813) Einige der zukunftsweisenden Neuerungen von Wielands Roman benennt sein Erzähler in einer Reihe von kommentierenden Bemerkungen. Im sogenannten „Vorbericht" schreibt er: l Die Wahrheit, welche von einem Werke, wie dasjenige, so wir den Liebhabern hiemit vorlegen, gefordert werden kann und soll, bestehet darin, daß alles mit dem Lauf der Welt übereinstimme, daß die Character nicht willkürlich, und bloß nach der Phantasie, oder den Absichten des Verfassers gebildet, sondern aus dem unerschöpflichen Vorrat der Natur selbst herge- 5 nommen; in der Entwicklung derselben so wohl die innere als die relative Möglichkeit, die Beschaffenheit des menschlichen Herzens, die Natur einer jeden Leidenschaft,, mit allen den besondern Farben und Schattierungen, welche sie durch den Individual-Character und die Umstände einer jeden Person bekommen, aufs genaueste beibehalten; daneben auch der eigene Character des Landes, des Orts, der Zeit, in welche die Geschichte gesetzt wird, niemal io aus den Augen gesetzt; und also alles so gedichtet sei, daß kein hinlänglicher Grund angegeben werden könne, warum es nicht eben so wie es erzählt wird, hätte geschehen können, oder noch einmal wirklich geschehen werde. Später bemerkt er über seinen Helden: l Es ist unmöglich, daß indem alles um uns her sich verändert, wir allein unveränderlich sein sollten; und wenn es auch nicht unmöglich wäre, so war' es unschicklich. Andre Zeiten erfordern andre Sitten: andre Umstände, andre Bestimmungen und Wendungen unsers Verhaltens. In moralischen Romanen finden wir freilich Helden, welche sich immer in allem gleich blei- 5 ben -- und darum zu loben sind -- [...] Aber im Leben finden wir es anders. Die eigentümliche Distanzierung eines Romanautors von „erfundenen" Romanen dient natürlich der Aufwertung seines eigenen Buches (damals hatten Romane noch keinen guten Ruf). Der Schreiber des Vorworts tritt deshalb auch als „Herausgeber" einer Lebensgeschichte auf. - Allgemein sagt er über die Menschen: Es ist eine so unbeständige Sache um die Begriffe, Meinungen und Urteile eines Menschen! Die Umstände, der besondere Gesichts-Punct, in den sie uns stellen, die Gesellschaft worin wir leben, tausend kleine Einflüsse, die wir einzeln nicht gewahr werden, haben soviel Gewalt über dieses unerklärbare, launische, widersinnische Ding, unsre Seele! 12 Was fordert der „Vorbericht" also von Romanen? Wodurch unterscheiden sich die von Wieland geforderten Romanhelden von denen des traditionellen Romans? Wie sieht der Erzähler das Verhältnis zwischen Mensch und Umwell? Man nennt einen Erzähler dieser Art, der immer wieder in den Vordergrund tritt, sich an den Leser wendet, das Geschehen kommentiert und scheinbar allwissend über alle Figuren und Handlungen verfügt, einen „auktorialen" Erzähler (im Gegensatz zum „neutra- len" Berichterstatter vieler modemer Romane, der das Geschehen kommentarlos wiedergibt und selbst nie als Individualität erkennbar wird, und zum „personalen" Erzähler, der die Perspektive einer der handelnden Figuren einnimmt). Das immer wiederkehrende Thema Wielands ist der Zusammenstoß eines realitätsfernen Menschen mit der Wirklichkeit, wodurch ihm seine Illusionen geraubt werden. Wieland war selbst anfangs ein pietistischer1 Schwärmer, ehe er nach einer lebensfrohen Zeit als gräflicher Kanzleidirektor zuletzt als Prinzenerzieher nach Weimar berufen wurde. Auch Agathon ist ein schwärmerischer Jüngling, dessen von Illusionen verstelltes Bewußtsein im Verlauf der Handlung mehrmals schmerzlich korrigiert wird: Wielands Buch ist vor allem ein Desillusionsroman. Zunächst begegnet der Idealist Agathon Hippias, der dem absoluten Lebensgenuß verhaftet ist. Eine Kostprobe seiner Philosophie ist die folgende Beschreibung eines bedingungslosen Opportunisten als des höchsten Weisen: l Er weiß, daß die Menschen von nichts überzeugter sind, als von ihren Irrtümern, und nichts zärtlicher lieben als ihre Fehler; und daß es kein gewisseres Mittel gibt sich ihren Abscheu zuzuziehen, als wenn man ihnen eine Wahrheit entdeckt, die sie nicht wissen wollen. [...] Diese Art mit den Menschen umzugehen, [...] ist das gewisseste Mittel, zu den höchsten Stu- 5 fen des Glücks empor zu steigen. Meinest du, daß es allein die größten Talente, die vorzüglichsten Verdienste seien, die einen Archonten2, einen Heerführer, einen Satrapen3, oder den Günstling eines Fürsten machen? Sieh dich in den Republiken um; du wirst Finden, daß dieser sein Ansehen der lächelnden Mine zu danken hat, womit er die Bürger grüßt; ein andrer der emphatischen4 Peripherie5 seines Wanstes; ein dritter der Schönheit seiner Gemahlin, io und ein vierter seiner brüllenden Stimme. Gehe an die Höfe, du wirst Leute finden, welche das Glück, worin sie schimmern, der Empfehlung eines Kammerdieners, der Gunst einer Dame, die sich für ihre Talente verbürgt hat, oder der Gabe des Schlafs schuldig sind, womit sie befallen werden, wenn der Vezier6 mit ihren Weibern scherzt. 15 Auch am Hof des Tyrannen Dionysos wird Agathon enttäuscht: Wie zuvor schon der Philosoph Piaton scheitert auch er mit seinen Verbesserungsversuchen. So zweifelt der ironische Skeptiker Wieland an der Realisierbarkeit allzu hochfliegender Konzepte von einer besseren Welt mit besseren Menschen: 20 In der Tat hat man zu allen Zeiten gesehen, daß es den speculativen Geistern nicht geglückt hat, wenn sie sich aus ihrer philosophischen Sphäre heraus und auf irgend einen großen Schauplatz des würksamen Lebens gewaget haben. Und wie hätte es anders sein können, da sie gewohnt waren, in ihren Utopien und Atlaniden7 zuerst die Gesetzgebung zu erfinden, 25 und erst wenn sie damit fertig waren, sich so genannte Menschen zu schnitzeln, welche eben so richtig nach diesen Gesetzen handeln mußten, wie ein Uhrwerk durch den innerlichen Zwang seines Mechanismus die Bewegung macht, welche der Künstler haben will. Es war leicht genug zu sehen (und doch sahen es diese Herren nicht), daß es in der würklichen Welt gerade umgekehrt ist. Die Menschen in derselben sind nun einmal wie sie sind: und der große 30 Punct ist, diejenige die man vor sich hat, nach allen Umständen und Verhältnissen so lange zu studieren, bis man so genau als möglich weiß, wie sie sind. Sobald ihr das wißt, so gehen sich die Regeln, wornach ihr sie behandeln müßt, wenn ihr euern Zweck erhalten wollt, von sich selbst; dann ist es Zeit moralische Projecte zu machen — aber wenn, ihr großen Lichter unsers alleraufgeklärtesten Jahrhunderts, wenn glaubt ihr, daß diese Zeit für das Menschen-Geschlecht kommen werde? Seinen Roman beschließt Wieland dennoch mit einem optimistischen Ausblick: Er versetzt seinen Helden in eine ausgesprochene Tugendrepublik - nicht ohne zuvor den Leser angesichts der UnWahrscheinlichkeit dieses Ausgangs geradezu um Entschuldigung zu bitten. 13 Sind Wielands Beispiel und seine allgemeine Skepsis auch auf unsere Zeit zu übertragen? Die Desillusionierung des Schwärmers 1 . S. 70! 2 Einer der neun obersten Beamten in Athen (befristet gewählt, aus der Aristokratie bzw. dem Geldadel) 3 Statthalter im antiken Persien 4 stark, eindringlich 5 Umfangsiinie 6 Wesir: Minister in islamischen Staaten 7 Beschreibung der sagenhaften Insel Atlantis 83 Bildende Kunst Francisco Goya, aus: „Die Schrecknisse des Krieges", veröffentlicht erst 1865, 55 Jahre nach seinem Tod Musik Seitenblicke In der bildenden Kunst wurde das pompöse Barock zu dieser Zeit vom zierlichen Rokoko abgelöst. Ein Maler von europaweiter Bedeutung war der Spanier Francisco de Goya (1746-1828). Er stellte dem lebensfrohen Dasein des Hofes die Grausamkeit der menschlichen Natur gegenüber. In seinen Radierungen gestaltete er die Greuel des Krieges und die Schrecken menschlicher Alpträume während des „Schlafes der Vernunft". Die Musiker Johann Sebastian Bach (1685-1750) und Georg Friedrich Händel (1685-1759) gelten aufgrund ihrer geistigen Konzeption noch immer als Barockkomponisten, obwohl ein guter Teil ihres Wirkens schon in die Zeit der Aufklärung fiel. Die neuen Tendenzen setzten sich erst bei Bachs Söhnen durch. Von Carl Philipp Emanuel Bach (1714-1788) führt eine direkte Linie zu [oseph Haydn (1732-1809), dem Schöpfer des Streichquartetts und der ausgebildeten Sonatcn-hauptsatzform, dessen Oratorien „Die Schöpfung" und „Die Jahreszeiten" auch heute noch vielfach aufgeführt werden, Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) vollzog die für die gesamte spätere Musikgeschichte entscheidende Wende vom Rokokokomponisten zum vielschichtigen Ausdrucksmusiker und einfühlsamen Menschengestalter (vgl. die Opern „Die Hochzeit des Figaro", „Don Giovanni", „Cosi fan tutte"). Nach seinem Bruch mit dem Salzburger Fürsterzbischof führte er in Wien erstmals die mühevolle Existenz eines freien Komponisten. \ Ludwig van Beethoven (1770-1827), der überzeugte Sympathisant der Französischen Revolution, war der erste große bürgerliche Komponist. In seiner neunten Symphonie sprengte er die Grenzen zwischen Vokal- und Instrumentalmusik, indem er Schillers „Ode an die Freude" vertonte. Mit seiner Oper „Fidelio" (1805), in der ein politischer Gefangener durch seine mutige Ehefrau befreit wird, wandte er sich leidenschaftlich gegen Tyrannei und Unterdrückung. Zusammenfassende Stichworte ■ Historische Situation: seit dem Dreißigjährigen Krieg Deutschland in Territorialstaaten zerfallen (Absolutismus bzw. aufgeklärter Absolutismus). ■ Ausbreitung einer bürgerlichen Aufldärungskultur: Vernunft als oberster Begriff, Fortschritt und Toleranz, Mündigkeit und Freiheit des Individuums als Ziele. ■ Anfänglich ausgeprägter Rationalismus, daneben bereits der Pietismus mit seiner Betonung des individuellen (religiösen) Gefühls; später „Aufklärung der Gefühle": Empfindsamkeit. ■ Bürgerliche Moral als auf die ganze Menschheit bezogener Gegenbegriff zur Politik (Adel), aus der das Bürgertum ausgegrenzt ist. ■ Erziehung als Mittel zur bürgerlichen Emanzipation, daher große Bedeutung der Lehrdichtung (Fabeln, Parabeln) und der Dramen (u. a. bürgerliches Trauerspiel). ■ Autoren: Christian Fürchtegott Geliert, Friedrich Gottlieb Klopstock, Gotthold Ephraim Lessing, Christoph Martin Wieland. Tips zum Weiterlesen Denis Diderot: „Jacques der Fatalist und sein Herr" (philosophischer Roman), „Ramcaus Neffe' (philos.-satir. Dialog) Dieter Hildebrandt: „Lessing. Biographie einer Emanzipation" Franz Xaver Kroetz: „Maria Magdalena" (moderne Neufassung) 84 Die Spätaufklärung und der Sturm und Drang Beispiel 13; Aus „ÜBER DIE FÜLLE DES HERZENS" (1777) von Friedrich Leopold GrafzuStolberg(1750-1819) Der programmatische Text geht von der Frage aus, was einem neugeborenen Kind am meisten zu wünschen wäre. i Nicht Reichtum würd' ich, nicht langes Leben ihm wünschen, auch nicht Wissenschaft; für solche Wünsche wäre mir der Augenblick zu teuer. Vater, würd' ich denken, Vater, der dem Hirsche Schnelligkeit, Stärke dem Löwen und dem Adler Flügel gab, gib diesem Menschen, der schwach und doch dein Ebenbild ist, gib ihm die menschlichste Aller Gaben, die Eine 5 göttliche Gabe, gib ihm Fülle des Herzens! [...] Gott hat alles getan, um diese Fülle des Herzens im Menschen zu erhalten und zu vermehren. Von seiner Geburt an sieht er Eltern, die ihn lieben, die er lieben muß; Geschwister, deren Liebe vielleicht das reinste Band in der Natur ist. Bald öffnet sich sein Herz der Wonne der Liebe und ihrer Wehmut. [...] Wie wird durch den Umgang der Freunde das Herz io genährt, gestärkt, belebt! Die Starkempfindenden werden durch die stärkste Sympathie aneinandergezogen, denn ein volles Herz kann sich nur in ein Herz von weitem Umfange der Empfindung ausschütten. [...] Aus deiner Fülle möcht ich nun schöpfen, o du, die ich als Mutter ehre, die ich liebe als Braut; Natur, Natur, an deren Brüsten ich allein ungestörte reine Wollust atmen kann! [...] 0 Natur! Natur! Gott rief dir zu, als du in bräutlicher Schönheit 15 aus dem Schöße der Schöpfung hervorgingst: sei schön! verkünde meine Herrlichkeit und bilde des Menschen Herz! 14 Unterstreichen Sie die Kernworte dieser Sätze! Vergleichen Sie Stolbergs Äußerungen mit den rationalistischen Prinzipien der frühen Aufklärung! Welche geistige Bewegung, die sich bereits in den vorangegangenen Jahrzehnten ausgebildet hatte, wird hier weitergedacht und radikalisiert? Seitenblick In der Hochschätzung des unverbildeten, natürlichen Gefühls artikulierte sich eine geistige Strömung, die ihren wichtigsten Vertreter in dem Philosophen und Schriftsteller Jean Jacques Rousseau (1712 - 1778) hatte, einem der einflußreichsten Denker dieser Zeit. Rousseau wandte sich gegen die rationalistische Fortschrittsvorstellung der Aufklärung und pries stattdessen die Vorzüge einfacher, naturbelassener, ländlicher Verhältnisse. Den Mißständen der zeitgenössischen Gesellschaft setzte er das Leben von Menschen entgegen, die sich vom Naturzustand nicht weit entfernt haben. Der Mensch sei von Natur aus gut; erst die Entfernung von der Natur durch die Zivilisation habe ihn verdorben. In seinem Briefroman „Die neue Heloise", einer tragischen Liebesgeschichte, verteidigte er die Rechte der Leidenschaft gegen die Gesellschaft. In seinen „Bekenntnissen" setzte er durch eine schonungslose Selbstanalyse bisher undenkbare Maßstäbe für die in der Folgezeit aufblühende autobiographische Literatur. In seinem Werk „Über den Gesellschaftsvcrtrag" findet sich aber auch bereits Gedankengut, das die Französische Revolution mit vorbereitete: demnach schuldet der König als nicht absolutes Staatsoberhaupt dem Volk, das ihn erwählt hat, Rechenschaft. Der sogenannte „Sturm und Drang", dessen Ausgangspunkte in Stolbergs Schrift eine charakteristische Formulierung gefunden haben, war eine kurze literarische Jugendbewegung in den beiden Jahrzehnten vor der Französischen Revolution. Sie umfaßte den Kreis um Herder und Goethe in Straßburg und Frankfurt, eine weitere Gruppe in Göttingen (den „Göttinger Hainbund", u.a. die Grafen Stolberg, Bürger) sowie einen schwäbischen Kreis (u.a. Schiller). Rousseaus Philosophie Der Sturm und Drang 85