NATURALISMUS Naturalismus (1880-1900) Der Schriftsteller und Kritiker Maximilian Hardert (1861-1927) beschreibt 1887 die Intentionen des Naturalismus, einer in den 80er-Jahren neu einsetzenden literarischen Bewegung. Was will der Naturalismus? [...] Er fordert Abwendung von aller Konvention, Umkehr zur rücksichtslosesten Wahrheit ohne jeden Kompromiss, er will ein Stück Natur schildern, wie es sich in seinem Temperament zeigt, ohne das Bild mit dem Firnis der Schönheitsfärberei zu überpinseln. Wie die Wissenschaft zur analytischen Experimentalperiode, die Geschichtsfor-5 schung zum Quellenstudium zurückkehrt, ebenso soll die Literatur „menschliche Dokumente" sammeln, um den Menschen als Resultat seiner Lebensbedingungen und Umgebung, nicht als Zufallsprodukt schönheitsdurstiger Phantasie erscheinen zu lassen. Menschen von festem Knochenbau, vom Dichtergeschaut, in Verhältnisse, Konflikte, Leidenschäften verwickelt, wie sie das tägliche Leben jedes Einzelnen mit sich bringt, das ist der vornehmste Glaubenssatz im 10 naturalistischen Evangelium. • Inwiefern grenzt Harden den Naturalismus gegenüber dem Programm des poetischen Realismus ab? Perspektiven des Begriffs Die Naturalisten, sie nennen sich in ihren Anfängen die „Modernen" oder „Jüngstdeutsche", wenden sich gegen die etablierten Schriftsteller der Gründerzeit (z. B. Felix Dahn, Paul Heyse, Emanuel Geibel) und deren Repräsentationskunst. Sie verachten das Wirtschaftswunder der Bismarck-Ära, welches das Großbürgertum vermögend macht, das Proletariat aber verarmen lässt, und kämpfen gegen Philistertum1 und die in ihren Augen verlogene öffentliche Moral. Die soziale Frage Verstädterung Durch erste Wirtschaftskrisen in den 70er-Jahren wird die „soziale Frage" immer brennender. Dies zeigt sich am anschaulichsten in der Verstädterung Deutschlands. Um 1870 wohnen 36 % der Deutschen in Städten, 1910 schon 60 %. An der Spitze dieser En twicklung liegt Berlin; 1870 hat die Stadt rund 800 000, im Jahre 1900 schon etwa drei Millionen Einwohnerinnen. Um die Jahrhundertwende leben in Berlin ca. 250 000 Arbeiter unter dem Existenzminimum, 400 000 Menschen verdienen gerade das Nötigste zum Leben. Die großen Städte sind gekennzeichnet durch das „getrennte Nebeneinander von Prunkvillenvierteln und Arbeiterkasernen, von rauschhafter Luxuswelt und erzwungener Bedürfnisarmut" (Kurt Sollmann). Das führt einerseits zur Bildung von Arbeitervereinen (1875 wird die „Soziale Deutsche Arbeiterpartei" gegründet), andererseits zur Auseinandersetzung von jungen Literaten mit dem Milieu der unteren Schichten. Viele von ihnen ziehen aus der Provinz in die Städte, vornehmlich Berlin und München, wo sie das bisher nicht gekannte Elend in den Arbeitervierteln am eigenen Leibe erfahren, wissenschaftlich studieren und beschreiben wollen. NATURALISMUS Berliner Arbcitcrwormuiig Die Schriftsteller, die Themen Schattenseiten menschlicher Existenz Die naturalistischen Schriftsteller fühlen sich als Rebellen gegen die bestehende gesellschaftliche Ordnung und beschäftigen sich mit den Schattenseiten menschlicher Existenzen, im Gegensatz zu den Realisten, die eher von den Sonnenseiten des Lebens erzählen. Als konkrete Themen für ihre literarischen Arbeiten wählen die Naturalisten die Darstellung der Armut, der Verwahrlosung, des Kinderelends, unglücklicher Ehen und des Ehebruchs, der Situation unehelicher Kinder, der Ausbeutung von Arbeitern, des Alkoholismus, der Brutalität und des Verbrechens. Diese „Rebellion der Literatur" ruft natürlich Gegner auf den Plan, die diese neue Kunst als „Asphaltliteratur", „Rinnsteinkunst", „reinsten Schmutz", „Affentheater" oder „absolut stinkende Schweinerei" bezeichnen. Die „modernen" Schriftsteller, die alles Metaphysische2 und Transzendente3 ablehnen (Einfluss der Philosophen Feuerbach und Marx), wollen mit ihrer objektiven Wiedergabe dieser Zeitfragen das Gewissen der Bürgerlichen aufrütteln und so eine Veränderung der sozialen Zustände erreichen. Fast ausschließlich aus eben diesem bürgerlichen Umfeld kommen die Natural isten, die sich in den 80er-Jahren in Berlin und München zu literarischen und gesellschaftspolitischen Gruppen zusammenschließen: Heinrich (1855-1906) und Julius Hart (1859-1930), Hermann Con-radi (1862-1890), Arno Holz (1863-1929), Johannes Schlaf (1862-1941), Gerhart Hauptmann (1862-1946), der Österreicher Hermann Bahr (1863-1934), der später der Sprecher des „Jungen Wien" ist, oder Michael Georg Conrad (1846-1927), der ab 1885 die programmatische Münchner Monatsschrift Die Gesellsdwß herausgibt. Literarische Vorbilder Zola, Ibsen, Leo Tolstoi, eine Welt liegt in den Worten, eine, die noch nicht verfault, eine, die noch kerngesund ist! 5 Klammert euch, ihr lieben Leutchen, Klammert euch nur an die Schürze einer längst verlotterten, längst abgetakelten Ästhetik: unsre Welt ist nicht mehr klassisch 10 unsre Welt ist nicht romantisch, unsre Welt ist nur modern!4 • Wogegen richtet sich dieser lyrische Text von Arno Holz? Welche sprachlichen Mittel setzt er ein? Welches Selbstverständnis wird der Dichter haben? Philister, hier abwertend: kleinbürgerlich-engstirniger Mensch, Spießbürger 2 Metaphysik: Bezeichnung für eine philosophische Disziplin, deren Erkenritnisinteresse über die Natur hinausgeht (z. B. Gott, Seele, Unsterblichkeit, Freiheit) 3 transzendent: übersinnlich, übernatürlich 4 aus: Arno Holz, Buch der Zeit 262 263 NATURALISMUS Emile Zola (1890) Der Naturalismus als literarische Bewegung schafft in Deutschland erst später den Durchbruch als in anderen europäischen Ländern. Daher greifen die jungen Literaten auf literarische Vorbilder im Ausland zurück. Vererbung und Milieu Der Franzose Emile Zola (1840-1902) legt in seiner literaturtheo-retischen Schrift Lc vornan experimental (Der Experimentairoman) dar, dass die Menschen und deren Schicksale durch Vererbung, Rasse und soziales Milieu determiniert5 sind. Besonderen Ein fl uss auf Zola und die deutschen Na turalisten ha t in diesem Zusammenhang der britische Naturforscher Charles Darwin (1809-1882) durch seine Studie Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl (1871). Darwin will nachweisen, dass die Evolution6 der Lebewesen - also auch des Menschen- einer strengen Auslese der „Besten" unterliege und durch Anpassung an die sich dauernd verändernden Umweltbedingungen erfolge. Wissenschaftliche Grundlagen Emile Zola verl angt von den Romanautoren, d ie Wirklichkeit wie ein Forscher zu begreifen, sie fotografisch genau und ohne persönliche Anteilnahrae zu beschreiben. Dies soll mit streng wissenschaftlichen Methoden erfolgen, deren Grundlagen die Soziologie, Medizin und die Naturwissenschaften sind. Zolas Roman Germinal (1885), in dem er einen Bergarbeiterstreik zum Thema macht, fasziniert die sozial engagierten deutschen Naturalisten nicht zuletzt wegen der ungeschminkten und genauen Schilderung von Armut, Brutalität und Grausamkeit. Blick auf Europa Neben Zola übt der Norweger Henrik Ibsen (1828-1906) die nachhaltigste Wirkung auf die naturalistische Dichtung Deutschlands aus. Sein Drama Gespenster (1881) ist das erste Stück auf dem Spielplan der „Freien Bühne" in Berlin, eines Privattheaters, das aus Opposition gegen den staatlichen und kommerziellen Thealerbetrieb 1889 gegründet wird. Ibsen, der sich zwischen 1868 und 1891 oft in München und Dresden aufhält, zeigt in seinen Theaterstücken Nora oder Ein Puppenheim (1879), Ein Volksfeind (1882) oder Die Wildente (1884) mittels der analytischen Technik7 eine schonungslose Zustandsanalyse der bürgerlichen Gesellschaft und entlarvt so private und öffentliche „Lebenslügen". Bei Leo Tolstoj (1828-1910) und Fjodor Dostojewskij (1821-1881) bewundem die deutschen Naturalisten den krassen Realismus und die genaue psychologische Durchleuchtung persönlicher und gesellschaftlicher Konflikte. Gerhart Hauptmann lässt sich bei seinem Drama Vor Sonnenaufgang von Tolstois Tragödie Macht der Finsternis anregen, in der eine ungehemmte, alles zerstörende Sexualität zum beherrschenden Thema wird. In den Romanen Dostojewskijs, Raskolnikov oder Schuld und Sühne, Die Dämonen und Der Idiot, sind unterdrückte und an der Gesellschaft zerbrechende Menschen die Helden. NATURALISMUS ' determiniert: vorherbestimmt 6 Evolution: Entwicklung 7 analytische Technik: Die eigentliche Handlung und das Problem liegen vor dem Beginn und werden im Laufe des Spiels langsam enthüllt. Lyrik In der Lyrik lassen sich Theorie und Programm des Naturalismus schwerer als in epischen oder dramatischen Texten verwirklichen. Die meisten naturalistischen Lyriker schreiben politische Gedichte in der Tradition der Jungdeutschen und Vormärzdichter. Der lyrische Text Das bejahrte Freudenmädchen (1888) von Karl Henckell (1864-1929) ist hier in seiner ersten Fassung als Prosa text abgedruckt. Für eine spätere Ausgabe arbeitet ihn der Dichter in Verszcilen um. Das bejahrte Freudenmädchen Schleiche auf dunklem Flur. Schleppe grauen Gram. Bin ja, bin ja nur eine alte Hur'; habt mich für Geld. Kenne auf der Welt keine Scham-ein Tier! War doch auch ein Kind, rein wie ihr, las in dem Angebind, dem Samtbrevier: Herr Gott, dich loben wir. - bin wie ihr gesprungen zu Spiel und Tanz, habe so hell gesungen auf sonniger 5 Heide: Wir winden dir den Jungfernkranz-Jungfernkranz! - mit veilchenblauer Seide... Schleiche auf dunklem Flur, häßliche, alte Hur', gehorsamer Diener! gehorsamer Diener! -Gott!! — Mütterchen, was sagt der liebe Gott? „Beten, beten." Heißa, heißa hopsassa! La la la ... hopsassa! Schöner grüner, schöner grüner Jungfernkranz! — mir wird schlecht.-Hunger-Brot! Brot! Liebst für'n Lumpengeld, ist doch'ne elende Welt! 10 -O lag'ich tot! ... • Formen Sie den Text i n Versform um, die Reimwörter werden Ihnen dabei helfen! • Inwiefern entspricht das Gedicht in Sprache und Inhalt dem Programm der Naturalisten? Lyrische Revolte Arno Holz versucht eine „Revolution der Lyrik". Für ihn ist der Rhythmus wichtiger als der Reim: Als formal letztes in jeder Lyrik, das überhaupt uneliminierbar ist, bleibt für alle Ewigkeit der Rhythmus. Reim, Strophe, Parallelismus, Alliteration und Assonanz8 - man könnte noch beliebig fortfahren - waren nur akzessorisch9 und mußten daher mit der Zeit als „Systeme" notgedrungen abwirtschaften. Weiter mein t Holz: Ich schreibe als Prosaiker einen ausgezeichneten Satz nieder, wenn ich schreibe: „Der Mond steigt hinter blühenden Apfelbaumzweigen auf." Aber ich würde über ihn stolpern, wenn man ihn mir für den Anfang eines Gedichtes ausgäbe. Er wird zu einem solchen erst, wenn ich ihn forme: „Hinter blühenden Apfelbaumzweigen steigt der Mond auf." Der erste Satz refe-5 riert nur, der zweite stellt dar. Erst jetzt, fühle ich, ist der Klang eins mit dem Inhalt. Und um diese Einheit bereits deutlich nach außen zu geben, schreibe ich: Hinter blühenden Apfelbaumzweigen steigt der Mond auf. Das ist meine ganze „Revolution der Lyrik". Assonanz: vokalischer Gleichklang im unvollständigen Reim (Halbreim), z.B. klagen - laben akzessorisch: nebensächlich 264 265 10 NATURALISMUS Diesen Gedanken entsprechen die Gedichte des Großstadtzyklus Phantasus (1898), die alle um eine imaginäre Mittelachse angeordnet sind. Die Gestalt des Phantasus ist ein armer Dachstubenpoet, der sich, umgeben vom Elend der Mietskasernen, immer wieder in eine bunte „Traumwelt flüchtet". Damit greift Holz einerseits auf Traditionen der Romantik zurück, seine Gedichte zeigen andererseits deutliche Bezüge zum Symbolismus. Im Thiergarten, auf einer Bank, sitz ich und rauche: und freue mich über die schöne Vormittagssonne. Vor mir, glitzernd, der Kanal: den Himmel spiegelnd, beide Ufer leise schaukelnd. Über die Brücke, langsam Schritt, reitet ein Leutnant Linter ihm zwischen den dunklen, schwimmenden Kastanienkronen propfenzieherartig ins Wasser gedreht, — den Kragen siegellackrot — sein Spiegelbild. Ein Kuckuck ruft. Arno Holz - Phantasus (erstesHeft, Titelblatt, 1898) • Schreiben Sie diesen lyrischen Text in die Prosaform um! Welche U mstellungen in der Wortfolge unternimmt Holz? Was leisten diese in Bezug auf die „Poetisierung der Welt"? (Beachten Sie Rhythmus, Pausen und formale Gliederung!) • Geben Sie den Inhalt der fünf Abschnitte wieder! • Wie wird der Leutnant beschrieben? Welche Assoziationen verbinden Sie mit dieser Figur? Welche Wörter verweisen in diesem Abschnitt auf den Bereich der Erotik? • Welche symbolische Funktion könnte der „Kuckuck" in diesem Zusammenhang haben? • Schreiben Sic einen lyrischen Text über ein Ihnen entsprechendes Thema, der um eine gedachte Mittelachse angeordnet ist! Epik Arno Holz/Johannes Schlaf: Papa Hamlet Die Freunde Arno Holz und Johannes Schlaf, beide sind an Romanprojekten gescheitert, schreiben 1889 gemeinsam Prosastücke (Skizzen) im Stil des „konsequenten" Naturalismus, z. B. Papa Hamlet, Ein Tod oder Der erste Schultag. Die Titelfigiir in der Erzählung Papa Hamlet, Niels Thien-wiebel, ist ein alter stellungsloser Schauspieler, der mit seiner Familie in einer Dachwohnung unter ärmlichsten Verhältnissen lebt. Streitereien, Alkoholexzesse und wirt- Amo Holz in seiner Wohn- und Arbeitsstube (1910) NATURALISMUS schriftliches Elend bestimmen das Leben des Ehepaares. In der Nacht vor der verlangten Räumung der Wohnung erwürgt Niels seinen kleinen Sohn, weil dieser nicht aufliört, vor Schmerz zu schreien. Seiner Frau kommt die Ruhe im Zimmer des Kindes unheimlich vor. „Ach, nich doch, Niels! Nich doch! Das Kind-ist ja schon wieder auf! Das-Kind schreit ja! Das -Kind, Niels!... Geh doch mal hin! Um Gottes willen!!" Ihre Ellbogen hinten hatte sie jetzt fest in die Kissen gestemmt, ihre Nachtjacke vorn stand weit auf. Durch das dumpfe Gegurgel drüben war es jetzt wie ein dünnes, heisres Gebell gebrochen. Aus 5 den Lappen her wühlte es, der ganze Korb war in ein Knacken geraten. „Sieh doch mal nach!!" „Natürlich! Das hat auch grade noch gefehlt! Wenn das Balg doch der Deuwel holte!..." Er war jetzt wieder in die Pantoffeln gefahren. „Nicht mal die Nacht mehr hat man Ruhe! Nicht mal die Nacht mehr!!" 10 Das Geschirr auf dem Tisch hatte wieder zu klirren begonnen, die Schatten oben über die Wand hin schaukelten. - „Na? Du!! Was gibt's denn nu schon wieder? Na? ... Wo ist er denn?... Ae, Schweinerei!" Er hatte den Lutschpropfen gefunden und wischte ihn sich nun an den Unterhosen ab. „So'ne Kälte! Na? Wird's nu bald? Na? Nimm's doch, Kamel! Nimm's doch! Na?!" 15 Der kleine Fortinbras jappte! Sein Köpfchen hatte sich ihm hinten ins Genick gekrampft, er bohrte es jetzt verzweifelt nach allen Seiten. „Na?Willstdu nu oder nich?! — Bestie!!" „Aber-Niels! Um Gottes willen! Er hat ja wieder den - Anfall!" 20 „Achwas! Anfall! —Da! Friß!!" „Herrgott, Niels..." „Friß!!!" - - „Niels!" „Na? Bist du - nu still? Na? - Bist du -nu still? Na?! Na?!" 25 „Ach Gott! Ach Gott, Niels, was, was-machst du denn bloß?! Er, er-schreit ja gar nicht mehr! Er... Niels!!" Sie war unwillkürlich zurückgeprallt. Seine ganze Gestalt war vornüber geduckt, seine knackenden Finger hatten sich krumm in den Korbrand gekrallt. Er stierte sie an Sein Gesicht war aschfahl. 30 „Die ... L-ampe! Die ... L-ampe! Die ... L-ampe!" „Niels!!!" Sie war rücklings vor ihm gegen die Wand getaumelt. „Still! Still!! K-Iopft da nicht wer?" Ihre beiden Hände hinten hatten sich platt über die Tapete gespreizt, ihre Knie schlotterten. 35 „K-Iopft da nicht wer?" Er hatte sich jetzt noch tiefer geduckt. Sein Schatten über ihm pendelte, seine Augen sahen jetzt plötzlich weiß aus. Eine Diele knackte, das Öl knisterte, draußen auf die Dachrinne tropfte das Tauwetter. Tipp..................... 40 ...............Tipp....... .......Tipp............... ....................Tipp.. 266 267 NATURALISMUS NATURALISMUS Eine Wache später erfriert der am Leben gescheiterte ThienwieM betrunken im Hafen, während seine Frau lungenkrank im Bett liegt. Neben der Thematik schockiert die Zeitgenossen vor allem die Sprache des Textes. Die Autoren setzen Ausrufezeichen, Gedankenstriche und Punkte ganz gezielt ein, versuchen, Atempausen, Nebengeräusche, Stammeln oder hervorgestoßene Satzbrocken konkret wiederzugeben. Außerdem losen sie die Prosa durch szenische Darstellung und direkte Rede auf. (Man kann dieTexte von Holz und Schlaf auch als Dialoge mit Regieanweisungen lesen.) • Weisen Sie die angeführten stilistischen Merkmale am Text nach! Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel :(~ Novellistische Studie 1887 erscheint Gerhart Hauptmanns bekanntestes episches Werk, BahnwärterThiel. Novellistische Studieaus dem Märkischen Kiefernforst. Der Untertitel verweist auf die inhaltliche und formale Zwischenstellung des Textes zwischen der Novellentradition des Realismus und den naturalistischen Stud ien von Holz und Schlaf. Bahnwärter Thiel, pfliclitbewusst, äußerlich robust und etwas schwerfällig, heiratet nach dem Tod seiner ersten Trau Minna um seines Sohnes Tobias' willen die ihn erotisch beherrschende, derb-sinnliche Lene. in seiner sexuellen Abhängigkeit muss er wehrlos mitansehen, wie. Lene sein erstes Kind im Gegensatz zum gemeinsamen Kind seelisch vernachlässigt und körperlich züchtigt. Als Tobias - Lene lässt ihn aus Unachtsamkeit auf die Bahngeleise laufen - von einem Schnellzug überfahren wird, erschlägt der Bahnwärter in beginnendem Wahnsinn seine Frau und schneidet dem gemeinsamen Kind die Kehle durch. Thiel wird ins Irrenhaus eingeliefert. Als Metapher für eine schicksalshafte Übermacht, die in Thiels Leben so grausam eingreift, erscheint die Eisenbahn, die die Ruhe der Natur und damit das kleine und arme Leben sowohl von Tobias als auch von Thiel zerstört. Die folgende Textstelle ist eine Vorwegnahme der persönlichen Katastrophe des Bahnwärters und verweist durch ihre Symbolik bereits auf die Neben- und Gegenströmungen des Naturalismus. Die Sonne, welche soeben unter dem Rande mächtiger Wolken herabhing, um in das schwarzgrüne Wipfelmeer zu versinken, goss Ströme von Purpur über den Forst. Die Säulenarkaden der Kiefernstämme jenseits des Dammes entzündeten sich gleichsam von innen heraus und glühten wie Eisen. 5 Auch die Geleise begannen zu glühen, feurigen Schlangen gleich, aber sie erloschen zuerst; und nun stieg die Glut langsam vom Erdboden in die Höhe, erst die Schäfte der Kiefern, weiter den größten Teil ihrer Kronen in kaltem Verwesungslichte zurücklassend, zuletzt nur noch den äußersten Rand der Wipfel mit einem rötlichen Schimmer streifend. Lautlos und feierlich vollzog sich das erhabene Schauspiel. Der Wärterstand noch immer regungslos an der Barriere. 10 Endlich trat er einen Schritt vor. Ein dunkler Punkt am Horizonte, da wo die Geleise sich trafen. Gerhart Hauptmann (1930) vergrößerte sich. Von Sekunde zu Sekunde wachsend, schien er doch auf einer Stelle zu stehen. Plötzlich bekam er Bewegung und näherte sich. Durch die Geleise ging ein Vibrieren und Summen, ein rhythmisches Geklirr, ein dumpfes Getöse, das, lauter und lauter werdend, zuletzt den Hufschlägen eines heranbrausenden Reitergeschwaders nicht unähnlich war. 15 Ein Keuchen und Brausen schwoll stoßweise fernher durch die Luft. Dann plötzlich zerriss die Stille. Ein rasendes Tosen und Toben erfüllte den Raum, die Geleise bogen sich, die Erde zitterte -ein starker Luttdruck-eine Wolke von Staub, Dampf und Qualm, und das schwarze, schnaubende Ungetüm war vorüber. So wie sie anwuchsen, starben nach und nach die Geräusche. Der Dunst verzog sich. Zum Punkte eingeschrumpft, schwand der Zug in der Ferne, und das alte 20 heil'ge Schweigen schlug über dem Waldwinkel zusammen. • Welche Metaphern und Symbole können Sie erkennen? • Versuchen Sie, diese auf die Lebenssituation Thiels zu übertragen! • Welche Bedeutung hat die Eisenbahn am Ende des 19. Jahrhunderts, wie erlebt sie der Bahnwärter? Drama Der wichtigste Vorläufer des naturalistischen Dramas ist der Österreicher Ludwig Anzengruber (1839-1889), der jedoch imGegensatz zu den Naturalisten den freien Willen des Menschen nicht leugnet, den Menschen also nicht durch die Verhältnisse determiniert sieht. Mit den „modernen" Dichtern verbindet ihn die Absicht, die Wirklichkeit möglichst genau zu schildern, wobei er eine für seine Zeit ungewöhnliche Offenheit gegenüber erotischen Problemen zeigt. Weiters nimmt er, ebenso wie die späteren naturalistischen Dramatiker, die Personen seiner Stücke aus den unteren Schichten. Anzengruber vertritt schon zu dieser Zeit die Meinung, dass dramatische Texte im Sinn einer gesellschaftspolitischen Änderung erzieherisch wirken sollten. Besonders das Großstadtdrama D«s vierte Gebot lässt Anzengruber als „kräftigsten Vorkämpfer des Naturalismus" (O. Brahms) erscheinen. Gerhart Hauptmann: Vor Sonnenaufgang Soziales Drama Der durch die Novelle Bahnwärter Thiel schon sehr bekannte Gerhart Hauptmann schreibt 1889 das soziale Drama Vor Sonnenaufgang und löst damit, bei der Uraufführung, die in einer geschlossenen Matinee der „Freien Bühne" stattfindet einen Theaterskandal aus. Das Theaterstück thematisiert neben den sozialen Verhältnissen im Kohlerevier Schlesiens (Spekulan-tentum, Ausbeutung der Bergarbeiter) den moralisclten Verfall einer durch Grundverkauf reich gewordenen Bauernfamilie. Der Bauer Krause, jetzt Millionär, wird zum exzessiven Säufer, der gegenüber seiner Toch ter zudringlich wird. Seine zweite Frau betrügt ihn und will die jüngere Tochter, Helene, mit ihrem eigenen Liebhaber verkuppeln. Die andere Tochter Krauses, Martin, ist ebenfalls Alkoholikerin und bringt ein totes Kind zur Vielt; ihr Mann, der Ingenieur Hoffmann, ist ein skrupelloser Geschäftemacher und stellt Helene nach. Ludwig Anzengruber 268 269 NATURALISMUS NATjJRAJJSMUi In diese Familie kommt der Sozialreformer und Gesundheitsfanatiker Alfred Loth als intellektueller Außenseiter und kritisiert - hier im Sinne des Autors - die sozialen Missstände und die moralische Verdorbenheit der Familie Krause. Er verliebt sich in Helene, die als Einzige ihrer Umgebung nicht sittlich verkommen ist und sich gegen die Lasterhaftigkeit ihrer Familie wehrt, und will sie heiraten. Als er jedoch die gesamte Wahrheit über ihre Familie, erführt, verlässt er Helene aus Furcht vor möglichen Erbschäden seiner Nachkommen. Darauf nimmt sich die Verlassene das Leben. Loth, ein Lebensreformer - er trinkt nicht, raucht nicht, er schwört auf die „Erbgesundheit" - versagt als Mensch. Der anfängliche Held entlarvt sich im Laufe des Stücks als ein „bloßer Verkünder deterministischer Vererbungstheorie" (Kurt Rothmann). süctein §jreie -Sulmc. SúmliJg, brn 15. ©Itpttr jííg. Vor- Sonnenoufgang. Prqgrammzettel ERSTER AKT Das Zimmer ist niedrig; der Fußboden mit guten Teppichen belegt. Moderner Luxus auf bäuerische Dürftigkeit gepfropft. An der Wand hinter dem Eßtisch ein Gemälde, darstellend einen vierspännigen Frachtwagen, von einem Fuhrknecht in blauer Bluse geleitet. Miele, eine robuste Bauernmagd mit rotem, etwas stumpfsinnigem Gesicht; sie öffnet die 5 Mitteltür und läßt Alfred Loth eintreten. Loth ist mittelgroß, breitschultrig, untersetzt, in seinen Bewegungen bestimmt, doch ein wenig ungelenk; er hat blondes Haar, blaue Augen und ein dünnes lichtblondes Schnurrbärtchen, sein ganzes Gesicht ist knochig und hat einen gleichmäßig ernsten Ausdruck. Er ist ordentlich, jedoch nichts weniger als modern gekleidet. Sommerpaletot, Umhängetäschchen, Stock. 10 Miele: Bitte! Ich werde den Herrn Inschinnär glei ruffen. Wollen Sie nich Platz nehmen?! Die Glastür zum Wintergarten wird heftig aufgestoßen; ein Bauernweib, im Gesicht blaurot vor Wut, stürzt herein. Sie ist nicht viel besser als eine Waschfrau gekleidet. Nackte, rote Arme, blauer Kattunrock und Mieder, rotes punktiertes Brusttuch. Alter Anfang Vierzig - Gesicht hart, sinnlich, bösartig. Die ganze Gestalt sonst gut konserviert. 15 Frau Krause schreit: Ihr Madelü ... Richtig!! ... Doas Loster vu Froovulk! ... naus! mir gahn ni- scht!... Halb zu Miele, halb zu Loth: A koan orbeita, o hoot Oarme. naus! hier gibbt's nischt! Loth: Aber Frau ... Sie werden doch ... ich ... ich heiße Loth, bin ... wünsche zu ... habe auch nicht die Ab... Miele: A wull ock a Herr Inschinnär sprechen. 1 20 Frau Krause: Beim Schwiegersuhne batteln:doas kenn merschunn.-Ahootau nischt, a hoot's au ock vu ins, nischt iis seine! Die Tür rechts wird aufgemacht Hoff mann steckt den Kopf heraus. Hoffmann: Schwiegermama!-Ich mußdoch bitten... Er tritt heraus, wendet sich an Loth:\Nas steht zu ... Alfred! Kerl! Wahrhaftig'n Gott, du!? Das ist aber mal... nein das ist doch mal'n 25 Gedanke! Hoffmann ist etwa dreiundreißig Jahre alt, schlank, groß, hager. Er kleidet sich nach der neuesten Mode, ist elegant frisiert, trägt kostbare Ringe, Brillantknöpfe im Vorhemd und Berloquesw an der Uhrkette. Kopfhaar und Schnurrbart schwarz, der Letztere sehr üppig, äußerstsorgfältig gepflegt. Gesicht spitz, vogelartig. Ausdruck verschwommen, Augen schwarz, 30 lebhaft, zuweilen unruhig. sonen und des Handlungsortes. ^^^^^^ZJ^ Charakter, CharaktensierenSieauf^^^ mimischen Spiels Loth, Frau Krause und Hoffmann! Karikatur anlässlich der Uraufführung •(ff "' 8!j-«ane= ,-on Vor Sonnev.aufgang (1889) Szenenfoto: Aufführung in Düsseldorf (1954) ' Berlocke: kleiner Schmuck an (Uhr-)Ketten 270 271 naturalis]M:u sZUSMdMEN FA S 5 U N G GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS Naturalismus (1880-1900) Grundzüge der Epoche Die Naturalisten wenden sich gegen alle Konventionen, gegen die bestehende gesellschaftliche Ordnung, gegen das kapitalistische Bürgertum, gegen die etablierten Schriftsteller der Cründerzeit, gegen _spziaJe_Miss.ständeund gegen eine idealisierende und poetisierende Darstellung der Wirklichkeit (Ende des Idealismus). Die soziale Frage ~ ~ ~ Durch Wirtschaftskrisen und Verstädterung wird die soziale Frage immer brennender. In den städtischen Ballungsgebieten (z. B. Berlin) sind die Einkummensunterschiede besonders groß. Erste Arbeitervereine werden gegründet, und junge Schriftsteller ziehen in die Arbeiterviertel, um das Elend des vierten Standes zu studieren und zu beschreiben. Die Schriftsteller und ihre Themen X Themen sind die objektive, uneingeschränkte, fotografisch genaue Wiedergabe der Wirklichkeit und die Schattenseiten menschlichen Daseins (Elend des Proletariats ...), Alles Metaphysische und Transzendenteund die Beschreibung derSo_nnensciten_menschlichcr. Existenz werden abgelehnt. _Beeinflusst sind die Dichter durch die materialistische Philosophie von Ludwig Feuerbach, durch die sozialen Theorien von Karl Marx und^Friedrich Engels (Manifest der kommunistischen Partei), durch die Abstammungslehre und die Vererbungslehre von Charles Darwin bzw. Gregor Mendel und durch den Gedanken der Determination (Festlegung) des menschlichen Handelns durch Vererbung, Rasse und soziales Milieu. Weitere Grundlagen des Naturalismus sind die Erkenntnisse der modernenNatuwisserischaften^besonders deF " Soziologie, und die Gedanken des Positivismus (PJti)osophjg, die ihre.Forschung auf das tatsächlich Erlebbare beschränkt). Wichtige naturalistische Autoren sind Heinrich und Julius Hart, Hermann Conradi, Arno Holz, lohannes Schlaf, Gerhart Hauptmann, Hermann Bahr, Michael Georg Conrad. Zu den.IüerarischenJö)rbildem-zählen Emile Zola^TTenrik Ibsen^Leo.Tolstoi und Fjodor Dostojewski). Lyrik Die meisten naturalistischen Lyriker schreiben politisch-revolutionäre Gedichte in einer eher konventionellen Form. VieleGedichte weisen auch schon auf den Impressionismus hin (Lautmalerei, Ausdrucksbilder). Nur Arno Holz versucht eine „Revolution der Lyrik" {Phantasien), indem er dem Rhythmus einen wichtigeren Stellenwert zuschreibt als z. B. dem Keim oder der Stropheneinteilung. Bekannte Lyriker neben Arno Holz sind Detlev von Liliencron und Richard Dehmel. Epik Wichtige epische Texte sind PaVa_Hamid von Arno Holz undjohannes Schlaf (mit den Prosa-Neuerungen des Sekundenstils und des „Dialogs mit Regieanweisungen"fund Bahnwärter Thiel von Gerhart Hauptmann. ------— ..__ Dramatik Ein Vorläufer des naturalistischen Dramas ist Ludwig Anzengruber mit Das vierte Gebot Der Meineidbauer; der wichtigste Vertreterist Gerhart Hauptmann (Vor Sonnenaufgang, Die Weber Der Biberpelz, Fuhrmann Henschel, Die Ratten). Gegen- und Parallelströmungen zum Naturalismus (1890-1920) Um 1890, also zur Blütezeit des Naturalismus, erscheinen die ersten Veröffentlichungen von Stefan George, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler und Frank Wedekind, nur etwas später die von Rainer Maria Rilke. Diese Schriftsteller vertreten die Gegenströmungen zum Naturalismus - eigentlich sind es zum Großteil Parallelströmungen, die immer zumindest einen Aspekt mit dem Naturalismus gemeinsam haben. Wien und München entwickeln sich neben Berlin zu wichtigen kulturellen Zentren. Die Autoren stammen fast durchwegs aus der gehobenen bürgerlichen Schicht, verurteilen aber deren Lebensstil. Manche leben bewusst als Künstler; aber sie können dies nur aufgrund ihrer finanziellen Absicherung tun, wie George in München oder Hofmannsthal in Wien. Gegen Naturwissenschaften, Tech irisierung und Industrialisierung Die künstlerischen Verfahrensweisen des Naturalismus sind von wissenschaftlichen Grundsätzen geprägt. Die Vertreter der Parallelströmungen sind Gegner der Naturwissenschaften, der fortschreitenden Technisierung und Industrialisierung, sie wenden sich gegen Verstädterung und die damit verbundene Vermassung. Sie wehren sich gegen wirtschaftliche und politische Expansion und fühlen sich eng verbunden mit ihrer Geschichte und Tradition: Stefan George, Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke greifen auf antike und romanische Stoffe und Formen zurück; die Romantik wird in der sogenannten Neuromantik wieder belebt. Die meisten Autoren kritisieren den „Fortschrittsglauben" und reagieren unterschiedlich auf ihn: • durch den Weltschmerz des „Fin de Siede"1 (Hofmannsthal) • durch die psychische. Analyse des Wiener Adels (Schnitzler, beeinflusst von Sigmund Freud) • durch den Rückzug iřv das „Innere" (Rilke aufgrund seiner Russlandreise) • durch Propagierung des herrscherlichen Menschen, der sich bewusst gegen den Massenmenschen wendet (George; Gedanken, die der Nationalsozialismus für sich auszunützen weiß) • durch den Rückgriff auf die christliche Religiosität des Mittelalters und des Barock, durch Neubelebung des Mysterienspiels und des Welttheaters (später Hofmannsthal) Sprachskepsis Zweifel an den Kommunikationsmöglichkeiten der Sprache Auffallend ist bei vielen Autoren und Philosophen der immer stärker werdende Zweifel an der Fähigkeit, die Wirklichkeit überhaupt zu erkennen und sie mithilfe von Sprache darzustellen; man nennt dieses Phänomen Sprachskepsis, Im Gegensatz zu den Naturalisten meint man, Wahrheit könne nur durch innere Erfahrung erfühlt werden. Die traditionelle Aufgabe der Sprache, wahre Aussagen zu machen und zur Kommunikation zu dienen, wird fragwürdig. Diese Problematik wird besonders bei den Dichtern des Jungen Wien zum Thema vieler 1 Fin de siede, frz.: Ende des Jahrhunderts 272 273 GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS Werke. Rilke und George gehen sogar so weit, dass sie behaupten, allein durch eine poetische Sprache könne eine „höhere Wahrheit" ausgedrückt werden. Der Alltagssprache stehen sie skeptisch gegenüber, sie entziehen sich der Politik, der Geschichte, der sozialen Verantwortung und schaffen sich, isoliert von der Gesellschaft, eine Gegenwelt. George gelingt diese Gegenwelt in seinem Kreis perfekt. Hofmannsthal fühlt sich als reiner Künstler und Ästhet schuldig, da er sich gesellschaftlichen und menschlichen Beziehungen verweigert. Immer wieder formuliert er - in „Zwischentönen" - Kritik am eigenen Äslhetizismus. Seine Skepsis der poetischen Sprache gegenüber führt nach Abfassung des Lord-Chandos-Briefes dazu, dass er nach 1899 kein einziges Gedicht mehr schreibt. Der Zweifel bleibt, und er wird in seinem Drama Der Schwierige wiederum thematisiert. • Welche Folgen hat es für die Leserinnen, wenn sich ein Dichter eine eigene, nur für ihn verständliche poetische Sprache erfindet, eine eigene Welt schafft, wenn er sich von der Gesellschaft isoliert? Sigmund Freud und die Psychoanalyse Der Arzt und Psychologe Sigmund Freud (1856-1939) liefert durch dieMethode der Psychoanalyse neue Möglichkeiten der Menschendarstellung. Die Vorstellung des Menschen als einheitliche Persönlichkeit gerät ins Wanken. Freud unterscheidet in der menschlichen Psyche das Es (Sammelbecken für unbewusste Triebe), das Uber-Ich (Gebote, Gewissen, Moral, die Kontrollinstanz für das Es) und das Ich (die Vermittlerin zwischen beiden). Aus der Diskrepanz des Über-Ichs und des Es ergeben sich psychische Störungen, ja sogar Krankheiten, die sich auch körperlich zeigen, sogenannte Neurosen. Mithilfe der Psychoanalyse, des therapeutischen Gesprächs, soll Heilung erzielt werden. Mit dem Gespräch versucht man ins Unbewusste hinabzusteigen, in die Kindheit zurückzugehen und dort die Wurzeln für seelische Krankheilen zu finden. Sehr oft liegen die Gründe im sexuellen Bereich, der tabuisiert wird. Daher werden Freuds bahnbrechende Werke wie die Traumdeutung als Angriff auf die herrschende Moral und Ordnung aufgefasst. Suggestion2, Hypnose, Somnambulismus3, Traumdeutung werden für Künstler und Wissenschaftler interessant. Die Krise des Individuums, dessen Geschlossenheit und Einheit auf einmal zu zerfallen drohen, steht in Zusammenhang mit der Krise der Wirklichkeitserfahrung und der Sprache. Sie bekommt noch zusätzlich Impulse aus der „Decadence", einer Strömung, die eine Vorliebe für Geheimnisvolles, Abartiges, Triebhaftes hat, die Unsicherheiten auskos let. Stilkonglomerat Um 1900 gibt es ein nahezu unüberschaubares Stilkonglomerat, viele Bezeichnungen, die alle sehr vage und unbestimmt sind. Oft kann man die Grenzen der einzelnen Strömungen gar Sigmund Freud nicht ziehen: Symbolismus, Neuromantik, Jung-Wien, Decadence, Satanismus, Fin de Siěcle, Jugendstil, Impressionismus, Nervenkunst. Allen gemeinsam ist, dass die Realität nicht mehr als verbindliches Muster d ienl, reine Na tur-und Wirklichkeitsnachahmung wird abgelehnt. Eine eindeutige Zuweisung eines Autors zu einer der Strömungen ist schwierig. Oft ordnen die Literarhistoriker ein und denselben Dichter verschiedenen Richtungen zu, auch ein und dasselbe Werk wird von unterschiedlichen Strömungen beansprucht. Schlüssige Beweise liegen für jede Zuweisung vor. Der Symbolismus Der Symbolismus hat seine Wurzeln in Frankreich, besonders bei Charles Baudelaire (1821-1867). Sein Gedicht Correspondances (Entsprechungen) gilt als Schlüsselwerk des Symbolismus. Charles Baudelaire (1861) Correspondances Die Natur ist ein Tempel, wo lebendige Pfeiler Manchmal wirre Worte aus sich entlassen; Der Mensch geht dort durch Wälder von Symbolen, Die ihn mit vertrauten Blicken betrachten. 5 Wie lange Echos, die sich in der Ferne vermischen In einer dunklen und tiefen Einheit, Weit wie die Nacht und wie die Helligkeit, Antworten sich die Düfte, die Farben und die Töne. Es sind Düfte frisch wie Kinderfleisch, 10 Sanft wie Oboen, grün wie Wiesen, -Und andere, faulig, reich und triumphierend, Die die Ausdehnung der unendlichen Dinge haben. Wie das Ambra, der Moschus, das ßenzoe und der Weihrauch, Die die Verzückungen des Geistes und der Sinne singen. • Welche Realitätsbruchstücke können Sie entdecken? • Was geschieht mit den Kategorien Raum und Zeit? • Was halten Sie für Traumbilder? Welchen Eindruck macht das Gedicht auf Sie? Assoziationen realer Gegenstände werden zum Teil getilgt, es entsteht reine Poesie (poesie pure), Sprachmagie. Selbstverständlich verlieren die Gedichte jede Zweckhaf tigkeit, sie sind nicht kritisch in politischer oder moralischer Hinsicht, sie wirken auch nicht appellativ in sozialer oder weltanschaulicher Sicht. Klangliche und rhythmische Mittel werden oft mit mathematischer Genauigkeit eingesetzt: Reim, Assonanzen4, Lautmalereien, Synästhesie5, Färb- und Lautsymbolik. Man schafft eine Lyrik der Musikalität. Teils werden strikte Formen beibehalten, teils werden auch sie in freie Rhythmen aufgelöst. Suggestion: Beeinflussung des Seelischen unter Ausschaltung der klaren Einsicht Somnambulismus: Schlafwandeln, Mondsüchtigkeit Assonanz: Gleichklang zwischen Wörtern, der sich auf die Vokale beschrankt (Halbreim), z. B. sagen -haben Synästhesie (griech. = Zusammenempfindung): Stilmittel, das aus Vermischung von Reizen, die unterschiedlichen Sinneswahrnelimungen oder -Organen zugeordnet sind, entsteht, z.B. schreiendes Rot (akustisch-visuell), goldene Töne, klirrende Kälte 274 275 GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS GEGENSTRÖMUNGFM 71)M NATURALISMUS Hugo von Hufmannsthal Die Autoren ziehen sich bewusst von der Wirklichkeit zurück. Sie schaffen eine Welt der Schönheit, die aus einzelnen Teilen montiert wird. Die magisch-mystischen, nie erklärten Zusammenhänge zwischen den Dingen sollen erfühlbar werden, indem der Dichter Elemente aus der Wirklichkeit in Form von Symbolen ausdrückt. Im deutschsprachigen Bereich gelten Stefan George, Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke mit einem Teil ihrer Werke als Symbolisten. Hugo von Hofmannsthal Hofmannsthal (1874-1929) schreibt bereits als 17-Jähriger Gedichte von Rang. Er verkörpert die großbürgerliche Luxuswelt, hat aber auch ein starkes Gefühl für dichterische Traditionen und seine Aufnahmefähigkeit für Kunst jeglicher Art ist enorm. Im Gegensatz zu George gibt Hofmannsthal sich keinem grenzenlosen Schönheitskult hin und isoliert sich auch nicht, eine Mitarbeit im George-Kreis lehnt er ab. Den gesellschaftlichen Forderungen fühlt sich Hofmannsthal verpflichtet, und er kann sich menschlichen Beziehungen nicht verweigern. Den zeitgemäßen Schönheitskult nimmt Hofmannsthal auch a 1s Anlass zur Kritik; nur wenige seiner Gedichte lässt er gelten. In kunstvoller Sprache zeichnen sich diese durch eine Bandbreite von Bildern aus, sie kreisen um Fremdes, Rätselhaftes, handeln von der Monotonie des Lebens, schildern meist melancholische Stimmungen. Rainer Maria Rilke Rilkes (1875-1926) Werk ist stark mit persönlichen Erlebnissen und Problemen verbunden. Auf seinen Russlandreisen, die einen tiefen Eindruck auf ihn machen, befindet er sich auf Identitätssuche. Durch den Aufenthalt in der Künstlerkolonic Worpswede und durch die Tätigkeit als Sekretär bei dem Bildhauer Rodin bekommt er ein inniges Verhältnis zu den Dingen: Alltagserfahrungen werden zu poetischen Impulsen. Sie erhalten Eigenwert, sie werden zu Symbolen, sie stehen als einzelne Gegenstände im Mittelpunkt von Gedichten (z. B. eine Kathedrale, eine antike Statue, die Leichen in der Morgue6, ein Karussell, Tiere im Käfig). Die Beziehung zu den Dingen wird festgestellt, in Wie-Vergleichen ausgedrückt. Nach Rilkes Meinung wendet sich der Dichter ab von der menschlichen Gesellschaft, die für ihn nicht mehr befriedigend ist. Das mensdüiche Verstehen, seine Fähigkeit nachzuempfinden, die er gegenüber dem Ding und dem Tier gestaltet, soll die emotionale Brücke sein, auf der die Mitmenschen aus ihrer Alltagssituation herausfinden sollen. Rilke gibt sich zwar betont unpolitisch - er ist der Oberzeugung, dass jede politische Tätigkeit für einen Dichter nur von Schaden sein kann -, ist sich aber der Probleme durchaus bewusst. So schreibt er in einem Brief aus dem Jahr 1919, der Krieg habe ihn von der Natur als Motiv seiner Dichtung entfernt: Rainer Maria Rilke (1906) Morgue: Leichenschauhau Sich auf einen Baum, auf ein Feld, auf die Gnade eines Abends zu beziehen, kam mir eigenmächtig und unwahr vor, denn was wusste der Baum, das Feld, die Abendlandschaft von diesem unseligen, verheerenden, tötenden Menschen? Dinggedichte In den Dinggedichten zeigt sich Rilkes vi rtuose Reimkunst: Blaue Hortensie Sowie das letzte Grün in Farbentiegeln sind diese Blätter, trocken, stumpf und rau, hinter den Blütendolden, die ein Blau nicht auf sich tragen, nur von ferne spiegeln. 5 Sie spiegeln es verweint und ungenau, als wollten sie es wiederum verlieren, und wie in alten blauen Briefpapieren ist Gelb in ihnen, Violett und Grau; Verwaschnes wie an einer Kinderschürze, 10 Nichtrnehrgetragenes, dem nichts mehr geschieht: wie fühlt man eines kleinen Lebens Kürze. Doch plötzlich scheint das Blau sich zu verneuen in einer von den Dolden, und man sieht ein rührend Blaues sich vor Grünem freuen. • Wie erscheint diese an sich eher bescheidene Blume bei Rilke? Welchen Vorgang symbolisiert sie? — • Welchen menschlichen Bereichen wird sie zugeordnet? • Betrachten Sie die Farbabstufungen, welche Intensität haben sie? • Welchen Ausblickerlaubt die letzte Strophe? • Welche Wirkung haben die Vergleiche? • Welches Gefühl hat der Dichter gegenüber der Pflanze? Wo spürt man den Dichter durch? Die Wiener Moderne Kulturelles Leben Wien spielt eine exklusive kulturelle Rolle, baulich geprägt von den Prunkbauten der Ringstraße. Nach 1900 hat esbereits zwei Millionen Einwohner, also mehr als heute; 1914 sind etwa 9% davon Juden. Kulturelles Leben wäre ohne jüdische Intellektuelle in Wien nur schwer vorstellbar: Kraus, Schnitzler, Freud, Mahler, Schönberg, Polgar und viele andere. Jüdische Intellektuelle und Kaufleute sind liberal gesinnt und assimiliert, sie legen auf die Pflege jüdischer Bräuche kaum Wert. Die „Judenfrage" ergibt sich aus der Hetze repressiver Politik, die Juden werden als Sündenböcke für den Kapitalism us in der Wirtschaft hingestellt. Das literarische Leben ist in Wien schwierig, die meisten jungen Autoren veröffentlichen in Deutschland. Größere Bedeutung haben die Theater, hier sind die Dichter allerdings oft Eingriffen der Zensur unterworfen. 277 276 GEG E N STRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS Das Kaffeehaus Das Kaffeehaus wird in Wien zur kulturellen Institution. Es erinnert an die Salons der Romantik, nur treffen sich hier Leute aller Klassen, um zu lesen, zu träumen oder Konversation zu betreiben. Darüber hinaus bietet das Kaffeehaus sämtliche Tageszeitungen, Karten- und Schachspiel sowie Wahlveranstaltungcn. Die literarische Form, die diesem Leben entspricht, ist das Feuilleton: ein Text über jedes beliebige Thema. Ein Feuilletonist definiert es einmal so: „Über nichts etwas schreiben." Die Wiener Schriftsteller hängen sehr von ihren Begegnungen im Cafe Griensteidl und später im Cafe Central ab. Für fast alle Intellektuellen bedeutet der Kaffeehausbesuch eine Flucht vor dem Müßiggang, zu dem sie vielleicht ihre finanzielle Absicherung geführt hätte. Sich in Gelegenheitskunst zu versuchen ist ein Zeitvertreib, der keine Konsequenzen hat. Mentor der Kaffeehausintellektuellen ist Hermann Bahr. Eigentlich Impressionist, versucht er die Werke anderer ins rechte Licht zu rücken. Einer, der förmlich von der „Kaffeehaussucht" befallen ist, ist Peter Altenberg (1859-1919), dessen impressionistische Studien des Wiener Lebens sowohl Karl Kraus als auch Thomas Mann bewundern: flüchtige Begegnungen, kurze Eindrücke, zufällig mitgehörte Gespräche. Die Fragmente Altenbergs, die er als „Extrakte des Lebens" empfindet, zeigen ihn als Bohemien, der die Tage verbringt, indem er von einem Kaffeehaus zum anderen pilgert, Cafe Griensteidl \.!m Peter Altenberg im Café Central (1907) Das Ende der Donaumonarchie Um 1890 befindet sich die habsburgische Donaumonarchie, die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, in ihrer Endphase, ist in einer Zeit nationalistischer Tendenzen unzeitgemäß. Ihre Grundstruktur ist noch immer feudalistisch; sie besteht hauptsächlich aus Agrarland, adeliger und kirchlicher Grundbesitz überwiegen. Obwohl es in Wien, Linz, in der Steiermark, in Nordböhmen und Mäliren Industrie gibt, schreitet die Industrialisierung langsamer fort als im Deutschen Reich. Konzerne bilden sich kaum, der Kleinbetrieb ist die vorherrschende Form; die chemischen Betriebe arbeiten mit deutschem Kapital oder sind überhaupt in deutscher Hand. Der wirtschaftliche Fortschritt vertieft die Kluft zwischen den einzelnen Ländern noch mehr, so sind etwa die Alpenländer gegenüber Wien und Prag benachteiligt. Besonders die Randgebiete der Monarchie, Galizien, die Bukowina, das kroatische Küstengebiet und Bosnien-I Ierzegowina, sind von der wirtschaftlichen Entwicklung praktisch ausgeschlossen. Nationale Spannungen Die nationalen Spannungen, aber auch die zwischen den Klassen werden größer. Gerade in Wirtschafts- und Verwaltungsfragen spielt das Nationalitätenproblcm, das in dem Vielvölkerstaat ungelöst bleibt, eine große Rolle. Durch den wirtschaftlichen Aufstieg nicht deutscher bürgerlicher Schichten fühlt sich das deutsch-österreichische Bürgertum, das beinahe den gesamten Beamlenapparat stellt, in seiner Stellung bedroht. Einerseits wird zwar durch die Sprachverordnung von Ministerpräsident Kasimir Badeni der Gebrauch der jeweiligen Amtssprache neben dem Deutschen geregelt, andererseits arbeitet man politische Programme gegen die „Überfremdung" aus, die den Deutschnationalen in die Hände spielen. Auch die Idee eines rein deutschen Österreichs wird häufig vertreten. Insbesondere in der nationalen Problematik kann die Sozialdemokratie als Gegenpartei, als einzige übernationale Partei gelten. Victor Adler gründet sie 1888 als „Internationale sozialdemokratische Arbeiterpartei". Ihre politische Wirksamkeit wird durch nationale Spann ungen geschmälert. Unter den bürgerlichen Parteien dominiert die christlichsoziale, antiliberale Partei unter dem späteren Wiener Bürgermeister Karl Lueger. Sie spricht krisenanfällige Bevölkerungsschichten an: Kleingewerbe, Kleinhandel, den bürgerlichen Mittelsta nd, der auch für antisemitische Parolen sehr zugänglich ist. Hinwendung zur inneren Realität Die Situation der österreichisch-ungarischen Monarchie bringt keine realistisch engagierte Literatur hervor, sondern eine, die gekennzeichnet ist von einer Hinwendung zur inneren, psychischen Realität. In Wien kann der Naturalismus nie Fuß fassen. Die Wendung der Wiener Schriftsteller zur Kunst als Ersatzwirklichkeit interpretieren viele Literaturwissenschaftler als Resignation des Bürgertums, das ja einziger Produzent und Träger der Literatur der Wiener Moderne ist, Arthur Schnitzler Arthur Schnitzler (1862-1931) stammt aus einer jüdischen Familie. Bereits sein Vater ist Arzt, und so steht die Berufswahl für ihn von vornherein fest, denn der Beruf des Arztes genießt hohes soziales Ansehen in der Habsburgermonarchie. Schnitzler fühlt sich in Wien als Jude halb zugehörig, halb fremd; mit dem stärker werdenden Antisemitismus bekommt er allerdings das Gefühl, sogar ein Feind zu sein. __ Für sein literarisches Werk ist die naturwissenschaftliche Ausbildung ebenso bedeutend wie seine praktische Erfahrung als Arzt. Mit Sigmund Freud teilt er das Interesse für psychische Erkrankungen und die damals gerade aufkommenden unkonventionellen Behandlungsmethoden; der Psychoanalyse steht er positiv gegenüber. So macht er die Hypnose zum Thema in Die Frage an das Schicksal aus dem Anatol-Zyklus oder die Traumdeutung Freuds in Die Traumnovelle. Schnitzler wendet sich später vom Arztberuf ab. Nach dem Tod des Vaters sucht Schnitzler Anschluss an andere Schriftsteller. Im Cafe Griensteidl entsteht die Gruppe Jung-Wien, zu deren Mitgliedern Richard Beer-Hofmann und Hugo von Hofmannsthal er engere Beziehungen pflegt. Problematisch sind zeit seines Lebens die Beziehungen zu Frauen und zur Ehe. Er eilt von einer Beziehung zur anderen, leidet unter extremer Bindungsangst. Erst als 42-Jähriger heiratet er äußert widerwillig Olga Gussmann. Die Ehe scheint jedoch von Anfang an zum Scheitern verurteilt zu sein, sie wird 1921 geschieden. Die Beziehungen zwischen Mann und Frau sind auch das immer wieder variierte Hauptthema seines Werkes. Schon früh entwickelt er eine starke Beziehung zur Bühne, zur Welt des Scheins und der Verstellung, der Maske. Schnitzlers Vorliebe für Einakter ist ein Beitrag zur „Zertrümmerung" der traditionellen Dramenformen, sie ebnet den Weg zum epischen und absurden Theater. Arthur Schnitzler 278 279 GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS GEGENSTRÖJViyNGEN_ZJJMNATUJiAU Das dramatische Geschehen tritt zurück, der Schwerpunkt liegt nicht auf der Handlung, sondern auf der Situation, die im Wesentlichen durch Konversation gestaltet wird. Die Schilderung von Bewusstseinszuständen, Stimmungen, seelischen Entwicklungen, des Milieus ersetzen die dramatische „Action", das epische Element überwiegt das dramatische. Meist ausgehend von einem Ereignis in der Vergangenheit, geraten die wenigen Protagonisten in Grenzsituationen. Zur Lösung der Konflikte kommt es selten, alles wird in Schwebe und Unsicherheit gelassen. Neben dem Zyklus Anatol (thematisch durch dieselben Hauptpersonen verknüpft) und neben den zehn zu einer Einheit verbundenen Dialogen, dem Reigen, gibt es eine Fülle von Einaktern, die sich zu Theaterabenden kombinieren lassen. Reigen In einem Brief schreibt Schnitzler: _,S Geschrieben hab ich den ganzen Winter über nichts als eineScenenreihe, die vollkommen undruckbar ist, literarisch auch nicht viel heißt, aber, nach ein paar hundert Jahren ausgegraben, einen Theil unsrer Cultur eigentümlich beleuchten würde. Zunächst ist der Reigen gar nicht für die Bühne gedacht. 1900 verschenkt Schnitzler 200 Exemplare an seine Freunde, aber bereits 1903 werden 40000 Exemplare gedruckt. Nach der Uraufführung 1920 in Berlin müssen Schauspieler wegen Unzucht und Erregung öffentlichen Ärgernisses vor Gericht. Nach organisierten Krawallen deutschnationaler, katholischer und antisemitischer Kreise lässt Schnitzicr alle Aufführungen bis zum Tod seiner Erben verbieten. Die zehn Dialoge sind durch das jeweils gleiche Geschehen verbunden. Zehn Paare finden sich im Geschlechtsakt, der nur durch Gedankenstriche dargestellt wird: Dirne - Soldat, Soldat - Stubenmädchen, Stubenmädchen - junger Herr, junger Herr - junge Frau, junge Frau - Ehemann, Ehemann - süßes Mädel, süßes Mädel - Dichter, Dichter -Schauspielerin, Schauspielerin - Graf, Graf - Dirne. Schnitzler spiegelt den Zustand der Gesellschaft, deren moralische Grundfesten in der Ehe liegen, im Innenleben der Personen. Sie sind keine ausgeprägten Individuen, sondern repräsentative Vertreter ihrer sozialen Schicht, sowohl in ihrem Verhalten als auch in ihrer Sprache. Sie spielen nur Rollen und haben bezeichnenderweise keine Namen. Die Dialoge vor und nach der geschlechtlichen Vereinigung werden vorgeführt. Sie charakterisieren die Unmöglichkeit gemeinsamen Glücks. Im Moment körperlicher Vereinigung wird die Frau vom Mann, die sozial Schwächere vom Reicheren, der Erfolglose von der Erfolgreicheren ausgenutzt und benutzt. Der Umgang mit Sexualität wird in all seinen Facetten sichtbar. Das eigentlich Erotische bleibt ausgespart; darum geht es Schnitzler auch nicht in erster Linie. Ihm ist es um die Unsicherheit, die Ängste, die Lügen, die Scheinmoral des Bürgertums und des Adels zu tun, um die Entlarvung der Sexualmoral einer ganzen Gesellschaft. Hugo von Hof mannsthal: Der Schwierige Im Mittelpunkt dieser Konversationskomödie steht die Beziehungslosigkeit der Menschen untereinander, die sich in Form der üblichen Konversation artikuliert. Eine wirkliche, tiefe Beziehung besteht zwischen den Leuten, die miteinander schweigen können. Titelblatt des Reigen (1903; Buchschmuck von Bertold Löffler) Kari, Baron van Bühl, wird durch eine Soiree7 aus seiner gewollten Einsamkeit gerissen. Ihm, der einmal im Krieg verschüttet worden ist und der seit damals jede hohle und oberflächliche Unterhaltung als widerlich empfindet und der durch dieses Erlebnis eine neue Sichtweise des Lebens gefunden hat, begegnet während des Abends Helene Altenwyl wieder. In ihr findet er eine verwandte Seele; mit ihr will er endlich zu einem erflülten Leben finden. Konversation behindert Beziehungen Die Sprechweise der gehobenen Wiener Kreise, mit eingefügten französischen Sätzen, dient zur Darstellung feinster Regungen menschlicher Beziehungen und zur Charakterisierung der einzelnen Personen. Gerade in dieser Form von Sprache zeigt sich eine seltsame Distanz, etwa wenn das „ich" durch „man" ersetzt wird: „Stört man dichfragt die Schwester Kari. In der Konversation einiger oberflächlicher und egoistischer Personen zeigt sich bereits die Kraftlosigkeit einer Gesellschaft, die unfähig sein wird, ihre Zukunft zu gestalten, die bereits das Ende der Donaumonarchie signalisiert. Im Gegensatz zu ihnen stehen Helene und Kari, für die Schweigen erst Wahrhaftigkeit bedeutet. Sie finden sich daher in einer der stillsten Liebesszenen der Literaturgeschichte. Im Schwierigen spürt man deutlich die Ambivalenz: Hofmannsthal (1874-1929) hängt an der Habsburgermonarchie, ist sich aber klar bewusst, dass ihre Blütezeit bereits vergangen ist. Em Grundzug der Wiener Moderne, die Beziehung zur Tradition und das Bewusstsein der Endphase, wird hier thematisiert. • Besorgen Sie sich aus einer Bibliothek eine Ausgabe von Der Schwierige'. • Lesen Sie die berühmte Liebesszene: 3. Akt, 8. Szene! • Wer ist der „aktive" Teil der Liebesszene? • Wie reagiert Kari auf direkte Fragen? Können Sie sich seine Unsicherheit erklären? • CharakterisierenSie Helene! Von weichen Prinzipien lässt sie sich leiten? Der Impressionismus Der Begriff Impressionismus ist aus der Malerei entlehnt und wird auf Literatur und Musik übertragen. Der Impressionismus setzt sich zunächst Ende des W.Jahrhunderts in Frankreich und später in ganz Europa durch. Er verkörpert die ästhetische Grundhaltu ng, die vom dauernden Wechsel der Perspektiven lebt. Seine wichtigsten Merkmale sind Abkehr vom Naturalismus, Abwendung von der Politik, verbunden mit dem Rückzug auf Subjektivismus und Individualismus. Vom Sekunden- i .; CS»ni* *v, -*«<■ ''«■»ävH Impression, aufgehende Sonne (Claude Monet, 1872) Soiree: Abendveranstaltung 281 280 GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS stits der Naturalisten übernehmen die Impressionisten die Detailtreue, im Mittelpunkt steht aber der sinnlich-subjektive Eindruck, der einmalig-unverwechselbare Augenblick, der nur flüchtige Reiz. Die äußere Handlung tritt zurück. Die Dichter zeichnen sich durch gesteigerte Sensibilität und verfeinerte Wahmehmungs- und Reizempfindlichkeit aus. Der Augenblick zählt Hermann Bahr glaubt, dass Ernst Mach (1838-1916) der Philosoph des Impressionismus sei. Mach meint, dass es das menschliche Ich nicht gebe, dass es nur eine Hypothese sei, ein Komplex, dem relative Beständigkeit zukomme. Das Bewusstsein bestehe aus Empfindungen, Erinnerungen, Stimmungen, Gefühlen und Erfahrungen, die in einem geordneten kontinuierlichen Strom aufträten. Die „Persönlichkeit" eines Menschen sei nur eine scheinbare Einheit, in Wirklichkeit bestehe das Ich aus w-echselnden Verbindungen von Merkmalen. Eine Erinnerung bestehe im Wiedererwecken früherer Empfindungskonstellationen. Der Empfindungsapparat verzerre das Wahrgenommene, daher fehle ein Kriteri um zur Unterscheidung von Eindruck und Realität. - Ist das, was ich sehe, tatsächlich in Wirklichkeit so oder ist das nur mein Eindruck; man denke daran, dass wechselnde Lichtverhältnisse Dinge ganz anders erscheinen lassen; dass wechselnde Stimmungen Situationen ganz anders einschätzen lassen. - Machs berühmtester Satz „Das Ich ist unrettbar" bedeutet, dass die Geschlossenheit der Persönlichkeit verlorengegangen ist. Man pflegt in der populären Denk- und Redeweise der Wirklichkeit den Schein gegenüberzustellen. Einen Bleistift, den wir in der Luft vor uns halten, sehen wir gerade; tauchen wir denselben schief ins Wasser, so sehen wir ihn geknickt. Man sagt nun in letzterem Falle: Der Bleistift scheint geknickt, ist aber in Wirklichkeit gerade. Was berechtigt uns aber, eine Tatsache der 5 andern gegenüber für Wirklichkeit zu erklären und die andere zum Schein herabzudrücken? [...] Eine helle Fläche ist neben einer dunklen heller als neben einer noch helleren. Das beobachtende, empfindende, auf Reize reagierende Ich ist demgemäß auch Wahrnehmungsinstanz für Texte. Dieses punktuelle Daseinsgefühl führt zu Augenblicken besonderer Intensität, die sich in Stimmungen äußert. Der innere Monolog Der „innere Monolog" gilt als Errungenschaft des literarischen Impressionismus. Trotz seiner Gegnerschaft zum Naturalismus geht der Impressionismus hier mit ihm konform. Die Sprache wird zum Instrument genauer Nachahmung der Wirklichkeit in Form der Wiedergabe des Bewusstseinsstroms einer Person: Andeutungen, Gedankenfetzen, Zwischen töne, Empfindungen, Gesprächsteile soll die Leserin/der Leser assoziativ verbinden. Der „innere Monolog" ist vielleicht sogar die konsequente Vollendung des Naturalismus. Zu wahrer Meisterschaft hat Arthur Schnitzler diese Darstellungsform im Leutnant Gustl gebracht. Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl DerinnereMonologisteinedererlebtenRedeverwandteDarstellungsform:einstummerMo-nolog ohne Hörer, in Ichform und im Präsens. Der Bewusstseinsstrom einer Person wird über eine bestimmte Zeithin lückenlos wiedergegeben. Die Syntax lockert sich manchmal bis zur 8 Sekundenstil: wirklichkeitskopierende Technik des Naturalismus; Art Vorwegnahme der Zeitlupe'-die kleinsten Bewegungen, Gesten usw. werden angeführt. 282 Einbandzeichnung von Leutnant Gustl (Illustration von Moritz Coschell) Auflösung. Fremde Stimmen erscheinen in direkter Rede, als ob sie Lieutenant gustl-von außen ans Ohr dringen würden. Der Autor tritt völlig zurück, er zieht sich ins Ich der Person zurück. Er will kein geschlossenes Weltbild entwerfen, sondern die Welt als Reflexion im Innern eines Individuums, seiner Figu r. Dieses Eintauchen in eine andere Id enti-tät, auch wenn sie vom Autor selbst erfunden ist, hängt zusammen mit dem immer größer werdenden Zweifel an der Geschlossenheit der Persönlichkeit, beeinflusst von der Psychoanalyse Freuds und der Philosophie Machs. Der k.u.k. Leutnant Gustl glaubt, er müsse Selbstmord begehen, weil der Bäckermeister, der ihn nach einer Theatervorstellung beleidigt hat, nicht satisfaktionsfähig9 ist. Er irrt nun herum, lässt seine Gedanken schweifen und-wül noch einmal frühstücken, ah er erfährt, dass der Bäckermeister an einem Herzinfarkt gestorben ist. Daraufhin führt er sein Leben wie bisher weiter, die Nahe des Todes hat ihn nicht verändert. Der Text ist eine „unendliche Analyse", die der Psychoanalyse nahesteht, die Erforschimg einer Psyche, die sich erst im Akt der Analyse ergibt. Leutnant Gustl ist zur Gänze ein Geflecht aus Worten, Gedanken, Verdrängungen, Vorurteilen, die sich die Leserin/der Leser erst zur Person zusammensetzen muss. Wie ein Mosaik oder wie ein Puzzle wird er Stück für Stück zu einem Ganzen. Die Objektivität, mit der Gustl geschildert wird, gerät zur Anklage. Assoziativ durchwandert er sein bisheriges Leben und entlarvt sein mangelndes Selbstwertgefühl, die persönlichen Hintergründe seines Antisemitismus, die Oberflächlichkeit seiner Beziehungen zu Frauen, seine Unfähigkeit zu lieben. Die Verwandtschaft des inneren Monologs mit dem psychoanalytischen Diskurs gibt Schnitzler die Möglichkeit, einen hohlen Ehrbegriff, eine oberflächliche Moralvorstellung ohne Einschaltung des Erzählers zu entlarven. Wie ein Analytiker legt Schnitzler das Innenleben des Leutnants frei. Dass ihm das gelungen ist, beweisen die empörten Reaktionen deutschnationaler und antisemitischer Kreise; Schnitzler verliert seinen Reserveoffiziersrang. Die folgenden Textausschnitte charakterisieren Gustl. 10 • Äußerungen über Frauen: Ob ich heuer im Sommer wieder zum Onkel fahren soll auf vierzehn Tag'? Eigentlich langweilt man sich dort zum Sterben ... Wenn ich die ... wie hat sie nur geheißen? ... Es ist merkwürdig, ich kann mir keinen Namen merken!... Ah, ja: Etelka!... Kein Wort deutsch hat sie verstanden, aber das war auch nicht notwendig ... hab' gar nichts reden brauchen!... Ja, es wird ganz gut sein, vierzehn Tage Landluft und vierzehn Nacht' Etelka oder sonstwer... Wie kann man überhaupt nur eifersüchtig sein? ... Mein Lebtag hab' ich so was nicht gekannt ... Die Steffi ist jetzt gemütlich in der Gartenbaugesellschaft; dann geht sie mit „ihm" nach Haus ... Nichts liegt mir dran, gar nichts! Ja, das war doch was anders gewesen als die Steffi, dieses Mensch ... Ja, so eine anständige Frau, das war' halt was g'wesen. Ob so ein Mensch Steffi oder Kunigunde heißt, bleibt sich gleich. Satisfaktion: Genugtuung für eine Beleidigung in Form eines Duells 283 GEGENSTRÖM.U!^E^ GEGENSTRÖMUNGEN ZUjyjriATUMLI^US • Über Beziehungen: O Gott, o Gott, o Gott! Ich möcht' einen Menschen haben, mit dem ich ein Wort reden könnt vorher! • Über sich selbst: Aber was wissen sie denn von mir?... Daß mich manchmal selber vor mir graust, das hab' ich ihnen ja doch nicht geschrieben - na, mir scheint, ich hab's auch selber gar nicht recht gewußt -... • Über den Tod: Abschied nehmen? - Ja, zum Teufel hinein, das ist doch deutlich genug, wenn man sich totschießt! ist eh' nicht schad um mich... Und was hab' ich denn vom ganzen Leben gehabt? -Etwas hätt' ich gern noch mitgemacht: einen Krieg - aber da hätt' ich lang' warten können ... Ich glaub' so froh bin ich in meinem ganzen Leben nicht gewesen ...Tot ist er-tot ist er! Keiner weiß was und nichts ist g'scheh'n! - Und das Mordsglück, daß ich in das Kaffeehaus gegangen bin ... sonst hätt' ich mich ja ganz umsonst erschossen -... • Über das Militär: Wenn ich mich so erinner', wie ich das erste Mal den Rock angehabt hab', so was erlebt eben nicht ein jeder ... Im vorigen Jahr bei den Manövern - ich hätt was drum gegeben, wenn's plötzlich Ernst gewesen war' ... • Überluden: Muß übrigens ein Jud'sein! Freilich, in einer Bank ist er, und der schwarze Schnurrbart... Reserveleutnant soll er auch sein! Na, in mein Regiment sollt' er nicht zur Waffenübung kommen! Überhaupt, daß sie immer noch soviel Juden zu Offizieren machen -... Die da ist nett ... Wie sie mich anschaut! ... O, die Nase! - Jüdin ... noch eine ... Es ist doch fabelhaft, da sind auch die Hälfte Juden... Nicht einmal ein Oratorium kann man mehr in Ruhe genießen... « Verfassen Sie eine Charakteristik Gustls! Verwenden Sie dazu seine Bemerkungen über Menschen und wichtige Lebensbereiche! Der Jugendstil Der Begriff ist wie der des Impressionismus der bildenden Kunst entlehnt. Das Ornament Steht hier im Vordergrund, überwuchert den Inhalt, der sich dem Ornament unterwirft. Meist sind florale Motive vorherrschend, trotzdem bedeutet das keine Naturnähe, sondern der Stil ist eher „gegennatürlich", Blumen werden zum Beispiel in ein bereits vorhandenes ornamentales Muster eingepasst. Es gibt im Ganzen nur wenige Motive: Charakteristisch sind die Linie, die Schlangenlinie, alles Fließende, Pflanzen, bewegtes Wasser, Schwan, Haare, die starr, leblos, steril zu einem abstrakten Ornament werden. Es ist eine Flächenkunst, zweidimensional, ohne jede Raumillusion. Als elitärer und luxuriöser Stil des wohlhabenden Bürgertums vollbringt der Jugendstil die größten Leistungen auf dem Gebiet der angewandten Kunst, des Kunstgewerbes und der Dekoration. Der literarische Jugendstil bedeuteteme Abkehr vonder Eindruckskunst, stimmungsvolle De- , ■ Jrr\i-aff, Adele Block-Bauer I (GustavKlimt, 1907) tails und der Zerfall in Teilchen oder Punkte entfallen Man strebt nach einem kunstvoll gestalteten Ganzen die Teilchen erhalten wieder Kontur. Der Dichter lässt die Natur nichtmehr auf sich wirken, sondern er greift in sie ein, formt, deformiert sie, die Naturgegenstände werden umstilisiert, bekommen Konturen. Es entsteht keine „natürliche Landschaft", sondern Naturkulissen, schwüle Atmosphäre. Seltenes, Exotisches, Märchenhaftes, Orientalisches, Ungewöhnliches, alles, was fern vom Alltag ist, bedeutet für die Künstler eine Möglichkeit, sich gegen die Angriffe und Anforderungen der Industrialisierung zu wehren. Als ein Stil der gesellschaftlichen Umbruchzeit zeigt der Jugendstil Ambivalenz: Einerseits vertritt man einen vitalen Lebensbegriff, ein Programm der Lebensfreude und des Genusses, macht Stimmung gegen Resignation, Endzeitstimmung. Andererseits kultiviert man gerade die Lust am Verfall, genießt den Luxus und auch die Neurosen, Morbides und Dekadentes. Als Jugendstilautoren gelten (mit einem Teil ihres Werks) Stefan George, Rainer Maria Rilke, Richard Dehmel, Theodor Däubler, Hugo von Hofmannsthal, Ernst Stadler und Gerhart Hauptmann. Einer außerhalb der Strömungen: Hermann Hesse Hermann Hesses (1877-1962) Werke sind auch heute noch in Japan und den USA sehr beliebt. Den Hippies der 1970er-Jahre gelten besonders Siddharta und Der Steppenwolf als Kultbücher. Peter Ca-menzind, das erste größere Werk Hesses, propagiert die Rückkehr aus der Bürgerwelt zur Natur. Die Schweizer Gebirgslandschaft umralunt den Naturmythos. In Italien findet Camenzind die Harmonie zwischen Kultur und Natur. Unterm Rad thematisiert das Scheitern eines sensiblen Jugendlichen. Die Schuld am Scheitern liegt in der Umwelt, denn individuelle Begabung wird meist der Norm geopfert, Leistungsdruck; Unverständnis und Teilnahmslosigkeit führen zum Tod. Oer S teppenw o lf In Der Steppenwolf sucht der I leid Harry Haller verzweifelt nach einem Ausweg aus der Lebenskrise. Er ist schwer identitätsgestört. Er fühlt sich in zwei Hälften aufgespaltet - in eine menschliche und eine wölfische -, die den Dualismus zwischen Triebhaftigkeit und Geistigkeit verkörpern. Die Ursachen der Gestörtheit vermutet Haller in der repressiven Erziehimg. Ausbrüche, in denen sich seine Wolfsnatur in sinnlichen Exzessen auslebt, bringen auch nicht die ersehnte Alternative zur bürgerlichen Welt, Harry Haller bleibt ein Zerrissener. In Der Steppenwolf variiert Hesse eines seiner Grundthemen: Wie kann sich ein Individuum, besonders ein schöpferisches, in einer entpersönlichten Gesellschaft behaupten? Hermarm Hesse 284 285 JSEGEMSTRÖMUJ^^ZUiyiNATURALISMUS Im Folgenden ein Ausschnitt aus dem Tradol vom Steppenwolf: Der Steppenwolf hatte also zwei Naturen, eine menschliche und eine wölfische, dies war sein Schicksal, und es mag wohl sein, daß dies Schicksal kein so besonderes und seltenes war. Es sollen schon viele Menschen gesehen worden sein, welche viel vom Hund oder vom Fuchs, vom Fisch oder von der Schlange in sich hatten, ohne daß sie darum besondre Schwierigkeiten gehabt hätten. Bei diesen Menschen lebten eben der Mensch und der Fuchs, der Mensch und der Fisch nebeneinander her, und keiner tat dem anderen weh, einer half sogar dem andern, und in manchem Manne, der es weit gebracht hat und der beneidet wird, war es mehr der Fuchs oder der Affe als der Mensch, der sein Glück gemacht hat. Bei Harry hingegen war es anders, in ihm liefen Mensch und Wolf nicht nebeneinanderher, und noch viel weniger halfen sie einander, sondern sie lagen in ständiger Todfeindschaft gegeneinander, und einer lebte dem anderen lediglich zu Leide, und wenn Zwei in Einem Blut und Einer Seele miteinander todfeind sind, dann ist das übles Leben. Nun, jeder hat sein Los, und leicht ist keines. [...] Wenn Harry als Mensch einen schönen Gedanken hatte, eine feine, edle Empfindung fühlte oder eine sogenannte gute Tat verrichtete, dann bleckte der Wolf in ihm die Zähne und lachte und zeigte ihm mit blutigem Hohn, wie lächerlich dieses ganze edle Theater einem Steppentier zu Gesicht stehe, einem Wolf, der ja in seinem Herzen ganz genau darüber Bescheid wußte, was ihm behage, nämlich einsam durch Steppen zu traben, zuzeiten Blut zu saufen oder eine Wölfin zu jagen, und, vom Wolf ausgesehen, wurde dann jede menschliche Handlung schauerlich komisch und verlegen, dumm und eitel. • Welche Bereiche des Lebens würden Sic der menschlichen, welche der wölfischen Natur des Menschen zuordnen? GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS ZUSAMMENFASSUNG Gegenströmungen zum Naturalismus (1890-1920) Bereits zur Blütezeit des Naturalismus gibt es Gegenströmungen.IVien, München und Berlin .entwickeln sich zu Kulturzentren. Die Autoren stammen aus dem bürgerlichen Milieu, verurteilen aber dessen Lebensstil. Die Vertreter der Gegenströmungen sind Gegner der Verl■ah-rensweisen des Naturalismus: Sie wehren sich gegen Verstädterung, wirtschafüichejjnd politische Expansion und fühlen sich eng mit Geschichte und Tradition verbunden..Die Autoren reagieren unterschiedlich auf den „Fortschrittsglauben":.mit dem Weltschmerz des „Fin de „siěcle", mit der Psychoanalyse, mit dem Rückzug aus dem Alltagsleben, mit der Propagierung des. Herrenmenschen oder dem Rückgriff auf Traditionen des Mittelalters. Sprachskepsis Die Autoren und Philosophen zweifeln immer mehr an der Fähigkeit,_die Wirklichkeit zu erkennen und sie mithilfe der Sprache darzustellen. Die traditionelle Aufgabe der Sprache, wahre Aussagen zu machen und zur Kommunikation zu dienen, wird fragwürdig, dies gilt besonders für die Alltagssprache. Dieses Phänomen ist besonders bei Dichtern des Jungen Wien das Thema ihrer Werke (vgl. Hugo von Hofmannsthal Der Lord-Chandos-Brief und Der Schwierige). Sigmund Freud und die Psychoanalyse Durch die Methode der Psychoanalyse gibt es neue Möglichkeiten der Menschendarstellung. Die Vorstellung vom Menschen alseinheitliches VVesen wird angezweifelt. Freud unterscheidet in der menschlichen Seele das Uber-Ich (Gebote, Gewissen, Moral; die Kontrollinslanz des Menschen), das Es (Gesamtheit der unbewussten Triebe) und das Ich (die Vermittlerin zwischen beiden). Aus, der Diskrepanz zwischen ÜberTch und Es ergeben sich psychische Sj»nmgen_und_Nje_urosen einer Art Gesprächstherapie, die viele Bereiche der menschlichen Psyche zu klären versucht, soll Heilung erzielt werden. Freuds Erkenntnisse werden besonders von Arthur Schnitzler in Literatur umgesetzt. Der Symbolismus ____Pjes^Sfr&nung_hat ihre Wurzeln in Frankreich, besonders bei Charles Baudelaire. In seinen Gedichten, die reine Poesie darstellen, werden Assoziationen zu realen Gegenständen und.Geschehnissen getilgt. Die Gedichte leben von Rhythmus, Reim, Assonanzen, Färb- und Lautsymbolik. Sie zeigen eine enge Verwandtschaft zur Musik. Die Autoren des Symbolismus ziehen sich bewusst a^s_der_Wirkl ichkeit zurück. Vertreter des Symbolismus im deutschsprachigen Bereich sind z. B. Stefan George, Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke. Die Wiener Moderne Wien rnit^denj?runkbauten der Ringstraße ist zum. kulturellen Zentrum geworden. 9% der Bevölkerung sind Juden; sie stellen einen Großteil der IntelleJ