GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS Naturalismus (1880-1900) Grundzüge der Epoche Die Naturalisten wenden sich gegen alle Konventionen, gegen die bestehende gesellschaftliche Ordnung, gegen das kapitalistische Bürgertum, gegen die etablierten Schriftsteller der Gründerzeit, gegen soziale Missstände und gegen eine idealisierende und poctisierende Darstellung der Wirklichkeit (Ende des Idealismus). Die soziale Frage Durch Wirtschaftskrisen und Verstädterung wird die soziale Frage immer brennender. In den städtischen Ballungsgebieten (z.B. Berlin) sind die Einkommensunterschiede besonders groß. Erste Arbeitervereine werden gegründet, und junge Schriftsteller ziehen in die Arbeiterviertel, um das Elend des vierten Standes zu studieren und zu beschreiben. Die Schriftsteller und ihre Themen Themen sind die objektive, uneingeschränkte, fotografisch genaue Wiedergabe der Wirklichkeit und die Schattenseiten menschlichen Daseins (Elend des Proletariats ...). Alles Metaphysische und Transzendente und die Beschreibung der Sonnenseiten menschlicher Existenz werden abgelehnt. Beeinflusst sind die Dichter durch die materialistische Philosophie von Ludwig Feuerbach, durch die sozialen Theorien von Karl Marx und Friedrich Engels (Manifest der kommunistischen Partei), durch die Abstammungslehre und die Vererbungslehre von Charles Darwin bzw. Gregor Mendel und durch den Gedanken der Determination (Festlegung) des menschlichen Handelns durch Vererbung, Rasse und soziales Milieu. Weitere Grundlagen des Naturalismus sind die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften, besonders der Soziologie, und die Gedanken des Positivismus (Philosophie, d ie ihre Forschung auf das tatsächlich Erlebbare beschränkt). Wichtige naturalistische Autoren sind Heinrich und Julius Hart, Hermann Conradi, Arno Holz, Johannes Schlaf, Gerhart Hauptmann, Hermann Bahr, Michael Georg Conrad. Zu den literarischen Vorbildern zählen Emile Zola, Henrik Ibsen, Leo Tolstoi und Fjodor Dostojewskij. Lyrik Die meisten naturalistischen Lyriker schreiben politisch-revolutionäre Gedichte in einer eher konventionellen Form. Viele Gedichte weisen auch schon auf den Impressionismus hin (Lautmalerei, Ausdrucksbilder). Nur Arno Holz versucht eine „Revolution der Lyrik" (Phantasus), indem er dem Rhythmus einen~wichfigeren Stellenwert zuschreibt als z. B. dem Reim "oder" der Stropheneinteilung. Bekannte Lyriker neben Arno Holz sind Detlev von Liliencron und Richard Dehmel. Epik Wichtige epische Texte sind Papa Hamlet von Arno Holz und Johannes Schlaf (mit den Prosa-Neuerungen des Sekundenstils und des „Dialogs mit Regieanweisungen") und Bahnwärter Thiel von Gerhart Hauptmann. Dramatik Ein Vorläufer des naturalistischen Dramas ist Ludwig Anzengruber mit Das vierte Gebot, Der Meineidbauer; der wichtigste Vertreter ist Gerhart Hauptmann (Vor Sonnenaufgang, Die Weber, Der Biberpelz, Fuhrmann Henschel, Die Rattenj. Gegen- und Parallelströmungen zum Naturalismus (1890-1920) > Um 1890, also zur Blütezeit des Naturalismus, erscheinen die ersten Veröffentlichungen von Stefan George, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler und Frank Wedekind, nur etwas später die von Rainer Maria Rilke. Diese Schriftsteller vertreten die Gegenströmungen zum Naturalismus - eigentlich sind es zum Großteil Parallelströmungen, die immer zumin- ' dest einen Aspekt mit dem Naturalismus gemeinsam haben. Wien und München entwickeln sich neben Berlin zu wichtigen kulturellen Zentren. Die Autoren stammen fast durchwegs aus der gehobenen bürgerlichen Schicht, verurteilen aber deren Lebensstil. Manche leben bewusst als Künstler; aber sie können dies nur aufgrund ihrer finanziellen Absicherung tun, t wie George in München oder Hof mannsthal in Wien. Gegen Naturwissenschaften, Technisierung und Industrialisierung Die künstlerischen Verfahrensweisen des Naturalismus sind von wissenschaftlichen Grundsätzen geprägt. Die Vertreter der Parallelströmungen sind Gegner der Naturwissenschaften, l der fortschreitenden Technisierung und Industrialisierung, sie wenden sich gegen Verstäd- terung und die damit verbundene Vermassung. Sie wehren sich gegen wirtschaftliche und politische Expansion und fühlen sich eng verbunden mit ihrer Geschichte und Tradition: Stefan George, Hugo von Hoimannsthal und Rainer Maria Rilke greifen auf antike und ( romanische Stoffe und Formen zurück; die Romantik wird in der sogenannten Neuromantik wieder belebt. Die meisten Autoren kritisieren den „Fortschrittsglauben" und reagieren unterschiedlich auf ihn: • durch den Weltschmerz des „Fin de Siěcle"1 (Hofmannsthal) 1 • durch die psychische Analyse des Wiener Adels (Schnitzicr, beeinflusst von Sigmund Freud) • durch den Rückzug in das „Innere" (Rilke aufgrund seiner Russlandreise) • durch Propagierung des herrscherlichen Menschen, der sich bewusst gegen den Massen-i menschen wendet (George; Gedanken, die der Nationalsozialismus für sich auszunützen weiß) • durch den Rückgriff auf die christliche Religiosität des Mittelalters und des Barock, durch Neubelebung des Mysterienspiels und des Welttheaters (später Hofmannsthal) i Sprachskepsis Zweifel an den Kommunikationsmöglichkeiten der Sprache l Auffallend ist bei vielen Autoren und Philosophen der immer stärker werdende Zweifel an der Fähigkeit, die Wirklichkeit überhaupt zu erkennen und sie mithilfe von Sprache darzustellen; man nennt dieses Phänomen Sprachskepsis. Tm Gegensatz zu den Naturalisten meint man, Wahrheit könne nur durch innere Erfahrung erfühlt werden. Die traditionelle Aufgabe der Sprache, wahre Aussagen zu machen und zur Kommunikation zu dienen, wird fragwür- 1 dig. Diese Problematik wird besonders bei den Dichtern des Jungen Wien zum Thema vieler 1 Finde siede, frz.: Ende des Jahrhunderts 272 273 GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS GEGENSTRÖMUNG EN ZUM NATURALISMUS Werke. Rilke und George gehen sogar so weit, dass sie behaupten, allein durch eine poetische Sprache könne eine „höhere Wahrheit" ausgedrückt werden. Der Alltagssprache stehen sie skeptisch gegenüber, sie entziehen sich der Politik, der Geschichte, der sozialen Verantwortung und schaffen sich, isoliert von der Gesellschaft, eine Gegenwelt. George gelingt diese Gegenwelt in seinem Kreis perfekt. Hofmannsthal fühlt sich als reiner Künstler und Ästhet schuldig, da er sich gesellschaftlichen und menschlichen Beziehungen verweigert. Immer wieder formuliert er - in „Zwischentönen" - Kritik am eigenen Ästhetizismus. Seine Skepsis der poetischen Sprache gegenüber führt nach Abfassung des Lord-Chandos-Briefes dazu, dass er nach 1899 kein einziges Gedicht mehr schreibt. Der Zweifel bleibt, und er wird in seinem Drama Der Schwierige wiederum thematisiert. • Welche Folgen hat es für die Leserinnen, wenn sich ein Dichter eine ei gene, nur für ihn verständliche poetische Sprache erfindet, eine eigene Welt schafft, wenn er sich von der Gesellschaft isoliert? Sigmund Freud und die Psychoanalyse Der Arzt und Psychologe Sigmund Freud (1856-1939) liefert durch die Methode der Psychoanalyse neue Möglichkeiten der Menschendarstellung. Die Vorstellung des Menschen als einheitliche Persönlichkeit gerät ins Wanken. Freud unterscheidet in der menschlichen Psyche das Es (Sammelbecken für unbewusste Triebe), das Überich (Gebote, Gewissen, Moral, die Kontrollinstanz für das Es) und das Ich (die Vermittlerin zwischen beiden). Aus der Diskrepanz des Uber-Ichs und des Es ergeben sich psychische Störungen, ja sogar Krankheiten, die sich auch körperlich zeigen, sogenannte Neurosen. Mithilfe der Psychoanalyse, des therapeutischen Gesprächs, soll Heilung erzielt werden. Mit dem Gespräch versucht man ins Unbewusste hinabzusteigen, in die Kindheit zurückzugehen und dort die Wurzeln für seelische Krankheiten zu finden. Sehr oft liegen die Gründe im sexuellen Bereich, der tabuisiert wird. Daher werden Freuds bahnbrechende Werke wie die Traumdeutung als Angriff auf die herrschende Moral und Ordnung aufgefasst. Suggestion2, Hypnose, Somnambulismus3, Traumdeutung werden für Künstler und Wissenschaftler interessant. Die Krise des Individuums, dessen Geschlossenheit und Einhei tauf einmal zu zerfallen drohen, steht in Zusammenhang mit der Krise der Wirklichkeitserfahrung und der Sprache. Sie bekommt noch zusätzlich Impulse aus der „Decadence", einer Strömung, die eine Vorliebe für Geheimnisvolles, Abartiges, Triebhaftes hat, die Unsicherheiten auskostet. Stilkonglomerat Um 1900 gibt es ein nahezu unüberschaubares Stilkonglomerat, viele Bezeichnungen, die alle sehr vage und unbestimmt sind. Oft kann man die Grenzen der einzelnen Strömungen gar Suggestion: Beeinflussung des Seelischen unter Ausschaltung der klaren Einsicht Somnambulismus: Schlafwandeln, Mondsüchtigkeit Sigmund Freud nicht ziehen: Symbolismus, Neuromantik, Jung-Wien, Decadence, Satanismus, Fin de Siěcle, Jugendstil, Impressionismus, Nervenkunst. Allen gemeinsam ist, dass die Realität nicht mehr als verbindliches Muster dient, reine Natur-und Wirklichkeitsnachahmung wird abgelehnt. Eine eindeutige Zuweisung eines Autors zu einer der Strömungen ist schwierig. Oft ordnen die Literarhistoriker ein und denselben Dichter verschiedenen Richtungen zu, auch ein und dasselbe Werk wird von unterschiedlichen Strömungen beansprucht. Schlüssige Beweise liegen für jede Zuweisung vor. Der Symbolismus Der Symbolismus hat seine Wurzeln in Frankreich, besonders bei Charles Baudelaire (1821-1867). Sein Gedicht Correspondances (Entsprechungen) gilt als Schlüsselwerk des Symbolismus. -■I Charles Baudelaire (1861) Correspondances Die Natur ist ein Tempel, wo lebendige Pfeiler Manchmal wirre Worte aus sich entlassen; Der Mensch geht dort durch Wälder von Symbolen, Die ihn mit vertrauten Blicken betrachten. 5 Wie lange Echos, die sich in der Ferne vermischen In einer dunklen und tiefen Einheit, Weit wie die Nacht und wie die Helligkeit, Antworten sich die Düfte, die Farben und die Töne. Es sind Düfte frisch wie Kinderfleisch, 10 Sanft wie Oboen, grün wie Wiesen, - Und andere, faulig, reich und triumphierend, Die die Ausdehnung der unendlichen Dinge haben. Wie das Ambra, der Moschus, das Benzoe und der Weihrauch, Die die Verzückungen des Geistes und der Sinne singen. • Welche Realitätsbruchstücke können Sie entdecken? • Was geschieht mit den Kategorien Raum und Zeit? • Was halten Sie für Tra u mbilder? Welchen Eindruck macht das Gedicht auf Sie? Assoziationen realer Gegenstände werden zum Teil getilgt, es entsteht reine Poesie (poesie pure), Sprachmagie, Selbstverständlich verlieren die Ged ich te jede Zweckhaftigkeit, sie sind nicht kritisch in politischer oder moralischer Hinsicht, sie wirken auch nicht appellativ in sozialer oder weltanschaulicher Sicht. Klangliche und rhythmische Mittel werden oft mit mathematischer Genauigkeit eingesetzt: Reim, Assonanzen4, Lautmalereien, Synästhesie5, Färb- und Lautsymbolik. Man schafft eine Lyrik der Musikalität. Teils werden strikte Formen beibehalten, teils werden auch sie in freie Rhythmen aufgelöst. 4 Assonanz: Gleiehklang zwischen Wörtern, der sich auf die Vokale beschränkt (Halbreim), z. B. sagen -haben 5 Synästhesie (griech. = Zusammenempfindung): Stilmittel, das aus Vermischung von Reizen, die unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen oder-Organen zugeordnet sind, entsteht, z. B. schreiendes Rot (akustisch-visuell), goldene Töne, klirrende Kälte 274 275 GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS Die Autoren ziehen sich bewusst von der Wirklichkeit zurück. Sie schaffen eine Welt der Schönheit, die aus einzelnen Teilen montiert wird. Die magisch-mystischen, nie erklärten Zusammenhänge zwischen den Dingen sollen erfühlbar werden, indem der Dichter Elemente aus der Wirklichkeit in Form von Symbolen ausdrückt. Im deutschsprachigen Bereich gelten Stefan George, Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke mit einem Teil ihrer Werke als Symbolisten. Hugo von Hofmannsthal Hofmannsthal (1874-1929) schreibt bereits als 17-Jähriger Gedichte von Rang. Er verkörpert die großbürgerliche Luxuswelt, hat aber auch ein starkes Gefühl für dichterische Traditionen und seine Aufnahmefähigkeit für Kunst j eglicher Art ist enorm. Im Gegensatz zu George gibt Hofmannsthal sich keinem grenzenlosen Schönheitskult hin und isoliert sich auch nicht, eine Mitarbeit im George-Kreis lehnt er ab. Den gesellschaftlichen Forderungen fühlt sich I Iofmannsthal verpflichtet, und er kann sich menschlichen Beziehungen nicht verweigern. Den zeitgemäßen Schünheitskult nimmt Hofmannsthal auch als Anlass zur Kritik; nur wenige seiner Gedichte lässt er gelten. In kunstvoller Sprache zeichnen sich diese durch eine Bandbreite von Bildern aus, sie kreisen um Fremdes, Rätselhaftes, handeln von der Monotonie des Lebens, schildern meist melancholische Stimmungen. Hugo von Hofmannsthal Sich auf einen Baum, auf ein Feld, auf die Gnade eines Abends zu beziehen, kam mir eigenmächtig und unwahr vor, denn was wusste der Baum, das Feld, die Abendlandschaft von diesem unseligen, verheerenden, tötenden Menschen? Dinggedichte In den Dinggedichten zeigt sich Rilkes virtuose Reimkunst: Blaue Hortensie Sowie das letzte Grün in Farbentiegeln sind diese Blätter, trocken, stumpf und rau, hinter den Blütendolden, die ein Blau nicht auf sich tragen, nur von ferne spiegeln. 5 Sie spiegeln es verweint und ungenau, als wollten sie es wiederum verlieren, und wie in alten blauen Briefpapieren ist Gelb in ihnen, Violett und Grau; Verwaschnes wie an einer Kinderschürze, 10 Nichtmehrgetragene5, dem nichts mehr geschieht: wie fühlt man eines kleinen Lebens Kürze. Doch plötzlich scheint das Blau sich zu verneuen in einer von den Dolden, und man sieht ein rührend Blaues sich vor Grünem freuen. Rainer Maria Rilke Rilkes (1875-1926) Werk ist stark mit persönlichen Erlebnissen und Problemen verbunden. Auf seinen Russlandreisen, die einen tiefen Eindruck auf ihn machen, befindet er sich auf Identitätssuche. Durch den Aufenthalt in der Künstlerkolonie Worpswede und durch die Tätigkeit als Sekretär bei dem Bildhauer Rodin bekommt er ein inniges Verhältnis zu den Dingen: Alltagserfahrungen werden zu poetischen Impulsen. Sie erhalten Eigenwert, sie werden zu Symbolen, sie stehen als einzelne Gegenstände im Mittelpunkt von Gedichten (z. B. eine Kathedrale, eine antike Statue, die Leichen in der Morgue6, ein Karussell, Tiere im Käfig). Die Beziehung zu den Dingen wird festgestellt, in Wie-Vergleichen ausgedrückt. Nach Rilkes Meinung wendet sich der Dichter ab von der menschlichen Gesellschaft, die für ihn nicht mehr befriedigend ist. Das menschliche Verstehen, seine Fähigkeit nachzuempfinden, die er gegenüber dem Ding und dem Tier gestal tet, sol I d ie emotionale Brücke sein, auf der die Mitmenschen aus ihrer Alltagssituation herausfinden sollen. Rilke gibt sich zwar betont unpolitisch - er ist der Überzeugung, dass jede politische Tätigkeit für einen Dichter nur von Schaden sein kann -, ist sich aber der Probleme durchaus bewusst. So schreibt er in einem Brief aus dem Jahr 1919, der Krieg habe ihn von der Natur als Motiv seiner Dichtung entfernt: Morgue: Leichenschauhaus Rainer Maria Rilke (1906) • Wie erscheint diese an sich eher bescheidene Blume bei Rilke? Welchen Vorgang symbolisiert sie? • Welchen menschlichen Bereichen wird sie zugeordnet? • Betrachten Sie die Farbabstufungen, welche Intensität haben sie? • Welchen Ausblick erlaubt die letzte Strophe? • Welche Wirkung haben die Vergleiche? • Welches Gefühl hat der Dichter gegenüber der Pflanze? Wo spürt man den Dichter durch? Die Wiener Moderne Kulturelles Leben Wien spielt eine exklusive kulturelle Rolle, baulich geprägt von den Prunkbauten der Ringstraße. Nach 1900 hat es bereits zwei Millionen Einwohner, also mehr als heute; 1914 sind etwa 9% davon Jud en. Kulturelles Leben wäre ohne jüdische Intellektuelle in Wien nur schwer vorstellbar: Kraus, Schnitzler, Freud, Mahler, Schönberg, Polgar und viele andere. Jüdische Intellektuelle und Kaufleutc sind liberal gesinnt und assimiliert, sie legen auf die Pflege jüdischer Bräuche kaum Wert. Die „Judenfrage" ergibt sich aus der Hetze repressiver Politik, die Juden werden als Sündenböcke für den Kapitalismus in der Wirtschaft hingestellt. Das literarische Leben ist in Wien schwierig, die meisten jungen Autoren veröffentlichen in Deutschland. Größere Bedeutung haben die Theater, hier sind die Dichter allerdings oft Ein-gri ffen der Zensur unterworfen. 276 277 GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS Café Griensteidl Das Kaffeehaus Das Kaffeehaus wird in Wien zur kulturellen Institution. Es erinnert an die Salons der Romantik, nur treffen sich hier Leute aller Klassen, um zu lesen, zu träumen oder Konversation zu betreiben. Darüber hinaus bietet das Kaffeehaus sämtliche Tageszeitungen, Karten- und Schachspiel sowie Wahiveranstaltungen. Die literarische Form, die diesem Leben entspricht, ist das Feuilleton: ein Text über jedes beliebige Thema. Ein Feuilletonist definiert es einmal so: „Über nichts etwas schreiben." Die Wiener Schriftsteller hängen sehr von ihren Begegnungen im Cafe Griensteidl und später im Cafe Central ab. Für fast alle Intellektuellen bedeutet der Kaffeehausbesuch eine Flucht vor dem Müßiggang, zu dem sie vielleicht ihre finanzielle Absicherung geführt hätte. Sich in Gelegenheitskunst zu versuchen ist ein Zeitvertreib, der keine Konsequenzen hat. Mentor der Kaffeehausintellektuellen ist Hermann Bahr. Eigentlich Impressionist, versucht er die Werke anderer ins rechte Licht zu rücken. Einer, der förmlich von der „Kaffeehaussucht" befallen ist, ist Peter Altenberg (1859-1919), dessen impressionistische Studien des Wiener Lebens sowohl Karl Kraus als auch Thomas Mann bewundern: flüchtige Begegnungen, kurze Eindrücke, zufällig mitgehörte Gespräche. Die Fragmente Altenbergs, die er als „Extrakte des Lebens" empfindet, zeigen ihn als Bohemien, der die Tage verbringt, indem er von einem Kaffeehaus zum anderen pilgert. Das Ende der Donaumonarchie Um 1890 befindet sich die habsburgische Donaumonarchie, die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, in ihrer Endphase, ist in einer Zeit nationalistischer Tendenzen unzeitgemäß. Ihre Grundstruktur ist noch immer feudalistisch; sie besteht hauptsächlich aus Agrarland, adeliger und kirchlicher Grundbesitz überwiegen. Obwohl es in Wien, Linz, in der Steiermark, in Nordböhmen und Mähren Industrie gibt, schreitet die Industrialisierung langsamer fort als im Deutschen Reich. Konzerne bilden sich kaum, der Kleinbetrieb ist die vorherrschende Form; die chemischen Betriebe arbeiten mit deutschem Kapital oder sind überhaupt in deutscher Hand. Der wirtschaftliche Fortschritt vertieft die Kluft zwischen den einzelnen Ländern noch mehr, so sind etwa die Alpenländer gegenüber Wien und Prag benachteiligt. Besonders die Randgebiete der Monarchie, Galizien, die Bukowina, das kroatische Küstengebiet und Bosnien-Herzegowina, sind von der wirtschaftlichen Entwicklung praktisch ausgeschlossen. Nationale Spannungen Die nationalen Spannungen, aber auch die zwischen den Klassen werden größer. Gerade in Wirtschafts- und Verwaltungsfragen spielt das Nationalitätenproblem, das in dem Vielvölkerstaat ungelöst bleibt, eine große Rolle. Durch den wirtschaftlichen Aufstieg nicht deutscher bürgerlicher Schichten fühlt sich das deutsch-österreichische Bürgertum, das beinahe den gesamten Beamtenapparat stellt, in Peter Altenberg im Café Central (1907) seiner Stellung bedroht. Einerseits wird zwar durch die Sprachverordnung von Ministerpräsident Kasimir Badeni der Gebrauch der jeweiligen Amtssprache neben dem Deutschen geregelt, andererseits arbeitet man politische Programme gegen die „Überfremd ung" aus, die den Deutschnationalen in die Hände spielen. Auch die Idee eines rein deutschen Österreichs wird häufig vertreten. Insbesondere in der nationalen Problematik kann die Sozialdemokratie als Gegenpartei, als einzige übernationale Partei gelten. Victor Adler gründet sie 1888 als „Internationale sozialdemokratische Arbeiterpartei". Ihre politische Wirksamkeit wird durch na tionale Spannungen geschmälert. Unter denbürgerlichen Parteien dominiert die christlichsoziale, antiliberale Partei unter dem späteren Wiener Bürgermeister Karl Lueger. Sie spricht krisenanfällige Bevölkerungsschichten an: Kleingewerbe, Kleinhandel, den bürgerlichen Mittelstand, der auch für antisemitische Parolen sehr zugänglich ist. Hinwendung zur inneren Realität Die Situation der österreichisch-ungarischen Monarchie bringt keine realistisch engagierte Literatur hervor, sondern eine, die gekennzeichnet ist von einer Hinwendung zur inneren, psychischen Realität. In Wien kann der Naturalismus nie Fuß fassen. Die Wendung der Wiener Schriftsteller zur Kunst als Ersatzwirklichkeit interpretieren viele Literaturwissenschaftler als Resignation des Bürgertums, das ja einziger Produzent und Träger der Literatur der Wiener Moderne ist. Arthur Schnitzler Arthur Schnitzler (1862-1931) stammt aus einer jüdischen Familie. Bereits sein Vater ist Arzt, und so steht die Berufswahl für ihn von vornherein fest, denn der Beruf des Arztes genießt hohes soziales Ansehen in der Habsburgermonarchie. Schnitzler fühlt sich in Wien als Jude halb zugehörig, halb fremd; mit dem stärker werdenden Antisemitismus bekommt er allerdings das Gefühl, sogar ein Feind zu sein. Für sein literarisches Werk ist die naturwissenschaftliche Ausbildung ebenso bedeutend wie seine praktische Erfahrung als Arzt. Mit Sigmund Freud teilt er das Interesse für psychische Erkrankungen und die damals gerade aufkommenden unkonventionellen Behandlungsmethoden; der Psychoanalyse steht er positiv gegenüber. So macht er die Hypnose zum Thema in Die Trage an das Schicksal aus dem Anatol-Zyk\us oder die Traumdeutung Freuds in Die Tra umnovelle. Schnitzler wendet sich später vom Arztberuf ab. Nach dem Tod des Vaters sucht Schnitzler Anschluss an andere Schriftsteller. Im Cafe Griensteidl entsteht die Gruppe Jung-Wien, zu deren Mitgliedern Richard Beer-Hofmann und Hugo von Hofmannsthal er engere Beziehungen pflegt. Problematisch sind zeit seines Lebens die Beziehungen zu Frauen und zur Ehe. Er eilt von einer Beziehung zur anderen, leidet unter extremer Bindungsangst. Erst als 42-Jähriger heiratet er äußert widerwillig Olga Gussmann. Die Ehe scheint jedoch von Anfang an zum Scheitern verurteilt zu sein, sie wird 1921 geschieden. Die Beziehungen zwischen Mann und Frau sind auch das immer wieder variierte Hauptthema seines Werkes. Schon früh entwickelt er eine starke Beziehung zur Bühne, zur Welt des Scheins und der Verstellung, der Maske. Schnitzlers Vorliebe für Einakter ist ein Beitrag zur „Zertrümmerung" der traditionellen Dramenformen, sie ebnet den Weg zum epischen und absurden Theater. Arthur Schnitzler 278 279 GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS Das dramatische Geschehen tritt zurück, der Schwerpunkt liegt nicht auf der Handlung, sondern auf der Situation, die im Wesentlichen durch Konversation gestaltet wird. Die Schilderung von Bewusstseinszuständen, Stimmungen, seelischen Entwicklungen, des Milieus ersetzen die dramatische „Action", das epische Element überwiegt das dramatische. Meist ausgehend von einem Ereignis in der Vergangenheit, geraten die wenigen Protagonisten in Grenzsituationen. Zur Lösung der Konflikte kommt es selten, alles wird in Schwebe und Unsicherheit gelassen. Neben dem Zyklus Anatol (thematisch durch dieselben Hauptpersonen verknüpft) und neben den zehn zu einer Einheit verbundenen Dialogen, dem Reigen, gibt es eine Fülle von Einaktern, die sich zu Theaterabenden kombinieren lassen. Reigen In einem Brief schreibt Schnitzler: Geschrieben hab ich den ganzen Winter über nichts als eine Scenenreihe, die vollkommen undruckbar ist, literarisch auch nicht viel heißt, aber, nach ein paar hundert Jahren ausgegraben, einen Theil unsrer Cultur eigentümlich beleuchten würde. Zunächst ist der Reigen gar nicht für die Bühne gedacht. 1900 verschenkt Schnitzler 200 Exemplare an seine Freunde, aber bereits 1903 werden 40000 Exemplare gedruckt. Nach der Uraufführung 1920 in Berlin müssen Schauspieler wegen Unzucht und Erregung öffentlichen Ärgernisses vor Gericht. Nach organisierten Krawallen deutschnationaler, katholischer und antisemitischer Kreise lässt Schnitzler alle Aufführungen bis zum Tod seiner Erben verbieten. Die zehn Dialoge sind durch das jeweils gleiche Geschehen verbunden. Zehn Paare finden sich im Geschlechtsakt, der nur durch Gedankenstriche dargestellt wird: Dirne - Soldat, Soldat - Stubenmädchen, Stubenmädchen - junger Herr, junger Herr - junge Frau, junge Frau - Ehemann, Ehemann - süßes Mädel, süßes Mädel - Dichter, Dichter -Schauspielerin, Schauspielerin - Graf, Graf - Dirne. Schnitzler spiegelt den Zustand der Gesellschaft, deren moralische Grundfesten in der Ehe lie gen, im Innenleben der Personen. Sie sind keine ausgeprägten Individuen, sondern repräsentative Vertreter ihrer sozialen Schicht, sowohl in ihrem Verhal ten als auch in ihrer Sprache. Sie spielen nur Rollen und haben bezeichnenderweise keine Namen. Die Dialoge vor und nach der geschlechtlichen Vereinigung werden vorgeführt. Sie charakterisieren die Unmöglichkeit gemeinsamen Glücks. Im Moment körperlicher Vereinigung wird die Frau vom Mann, die sozial Schwächere vom Reicheren, der Erfolglose von der Erfolgreicheren ausgenutzt und benutzt. Der Umgang mit Sexualität wird in all seinen Facetten sichtbar. Das eigentlich Erotische bleibt ausgespart; darum geht es Schnitzler auch nich t i n erster Linie. Ihm ist es um die Unsicherheit, die Ängste, die Lügen, die Scheinmoral des Bürgertums und des Adels zu tun, um die Entlarvung der Sexualmoral einer ganzen Gesellschaft. Hugo von Hof mannsthal: Der Schwierige Im Mittelpunkt dieser Konversationskomödie steht die Beziehungslosigkeit der Menschen untereinander, die sich in Form der üblichen Konversation artikuliert. Eine wirkliche, tiefe Beziehung besteht zwischen den Leuten, die miteinander schweigen können. Titelblatt des Reigen (1903; Buchschmuck von Bertold Löffler) GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS Kari, Baron von Bühl, wird durch eine Soiree7 aus seiner gewollten Einsamkeit gerissen. Ihm, der einmal im Krieg verschüttet worden ist und der seit damals jede hohle und oberflächliche Unterhaltung als widerlich empfindet und der durch dieses Erlebnis eine neue Sichtweise des Lebens gefunden hat, begegnet während des Abends Helene Altenwyl "wieder. In ihr findet er eine verwandte Seele; mit ihr will er endlich zu einem erfüllten Leben finden. Konversation behindert Beziehungen Die Sprechweise der gehobenen Wiener Kreise, mit eingefügten französischen Sätzen, dient zur Darstellung feinster Regungen menschlicher Beziehungen und zur Charakterisierung der einzelnen Personen. Gerade in dieser Form von Sprache zeigt sich eine seltsame Distanz, etwa wenn das „ich" durch „man" ersetzt wird: „Stört man dichfragt die Schwester Kari. In der Konversation einiger oberflächlicher und egoistischer Personen zeigt sich bereits die Kraftlosigkeit einer Gesellschaft, die unfähig sein wird, ihre Zukunft zu gestalten, die bereits das Ende der Donaumonarchie signalisiert. Im Gegensatz zu ihnen stehen Helene und Kari, für die Schweigen erst Wahrhaftigkeit bedeutet. Sie finden sich daher in einer der stillsten Liebesszenen der Literaturgeschichte. Im Schwierigen spürt man deutlich die Ambivalenz: Hofmannsthal (1874-1929) hängt an der Habsburgermonarchie, ist sich aber klar bewusst, dass ihre Blütezeit bereits vergangen ist. Ein Grundzug der Wiener Moderne, die Beziehung zur Tradition und das Bewusstsein der Endphase, wird hier thematisiert. • Besorgen Sie sich aus einer Bibliothek eine Ausgabe von Der Schwierigel • Lesen Sie die berühmte Liebesszene: 3. Akt, 8. Szene! • Wer ist der „aktive" Teil der Liebesszene? • Wie reagiert Kari auf direkte Fragen? Können Sie sich seine Unsicherheit erklären? • Charakterisieren Sie Helene! Von welchen Prinzipien lässt sie sich leiten? Der Impressionismus Der Begriff Impressionismus ist aus der Malerei entlehnt und wird auf Literatur und Musik übertragen. Der Impressionismus setzt sich zunächst Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich und später in ganz Europa durch. Er verkörpert die ästhetische Grundhaltung, die vom dauernden Wechsel der Perspektiven lebt, Seine wichtigsten Merkmale sind Abkehr vom Naturalismus, Abwendung von der Politik, verbunden mit dem Rückzug auf Subjektivismus und Individualismus. Vom Sekunden- Impression, aufgehende S;mne (Claude Monet, 1872) Soiree: Abendveranstaltung 280 281 GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS Stil8 der Naturalisten übernehmen die Impressionisten die Detailtreue, im Mittelpunkt steht aber der sinnlich-subjektive Eindruck, der einmalig-unverwechselbare Augenblick, der nur flüchtige Reiz. Die äußere Handlung tritt zurück. Die Dichter zeichnen sich durch gesteigerte Sensibilität und verfeinerte Wahrnehmungs- und Reizempfindlichkeit aus. Der Augenblick zählt Hermann Bahr glaubt, dass Ernst Mach (1838-1916) der Philosoph des Impressionismus sei. Mach meint, dass es das menschliche Ich nicht gebe, dass es nur eine Hypothese sei, ein Komplex, dem relative Beständigkeit zukomme. Das Bewusstsein bestehe aus Empfindungen, Erinnerungen, Stimmungen, Gefühlen und Erfahrungen, die in einem geordneten kontinuierlichen Strom aufträten. Die „Persönlichkeit" eines Menschen sei nur eine scheinbare Einheit, in Wirklichkeit bestehe das Ich aus wechselnden Verbindungen von Merkmalen. Eme Erinnerung bestehe im Wiedererwecken früherer Empfindungskonstellati onen. Der Empfin-dungsapparat verzerre das Wahrgenommene, daher fehle ein Kriterium zur Unterscheidung von Eindruck und Realität. - Ist das, was ich sehe, tatsächlich in Wirklichkeit so oder ist das nur mein Eindruck; man denke daran, dass wechselnde Lichtverhältnisse Dinge ganz anders erscheinen lassen; dass wechselnde Stimmungen Situationen ganz anders einschätzen lassen. - Machs berühmtester Satz „Das Ich ist unrettbar" bedeutet, dass die Geschlossenheit der Persönlichkeit verlorengegangen ist. Man pflegt in der populären Denk- und Redeweise der Wirklichkeit den Schein gegenüberzustellen. Einen Bleistift, den wir in der Luft vor uns halten, sehen wir gerade; tauchen wir denselben schief ins Wasser, so sehen wir ihn geknickt. Man sagt nun in letzterem Falle: Der Bleistift scheint geknickt, ist aber in Wirklichkeit gerade. Was berechtigt uns aber, eine Tatsache der 5 andern gegenüber für Wirklichkeit zu erklären und die andere zum Schein herabzudrücken? [.-] Eine helle Fläche ist neben einer dunklen heller als neben einer noch helleren. Das beobachtende, empfindende, auf Reize reagierende Ich ist demgemäß auch Wahrnehmungsinstanz für Texte. Dieses punktuelle Daseinsgefühl führt zu Augenblicken besonderer Intensität, die sich in Stimmungen äußert. Der innere Monolog Der „innere Monolog" gilt als Errungenschaft des literarischen Impressionismus. Trotz seiner Gegnerschaft zum Naturalismus geht der Impressionismus hier mit ihm konform. Die Sprache wird zum Instrument genauer Nachahmung der Wirklichkeit in Form der Wiedergabe des Bewusstseinsstroms einer Person: Andeutungen, Gedankenfetzen, Zwischentöne, Empfindungen, Gesprächsteile soll die Leserin/der Leser assoziativ verbinden. Der „innere Monolog" ist vielleicht sogar die konsequente Vollendung des Naturalismus. Zu wahrer Meisterschaft hat Arthur Schnitzler diese Darstellungsform im Leutnant Custl gebracht. Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl Der innere Monolog ist eine der erlebten Rede verwandte Darstellungsform: ei n stummer Monolog ohne Hörer, in Ichform und im Präsens. Der Bewusstseinsstrom einer Person wird über eine bestimmte Zeit hin lückenlos wiedergegeben. Die Syntax lockert sich manchmal bis zur Auflösung. Fremde Stimmen erscheinen in direkter Rede, als ob sie von außen ans Ohr dringen würden. Der Autor tritt völlig zurück, er zieht sich ins Ich der Person zurück. Er will kein geschlossenes Weltbild entwerfen, sondern die Welt als Reflexion im Innern eines Individuums, seiner Figur. Dieses Eintauchen in eine andere Identität, auch wenn sie vom Autor selbst erfunden ist, hängt zusammen mit dem immer größer werdenden Zweifel an der Geschlossenheit der Persönlichkeit, beeinflusst von der Psychoanalyse Freuds und der Philosophie Machs. Der k.u.k, Leutnant Custl glaubt, er müsse Selbstmord begehen, weil der Bäckermeister, der ihn nach einer Theatervorstellung beleidigt hat, nicht satisfaktionsfähig'' ist. Er irrt nun herum, lässt seine Gedanken schweifen und will noch einmal frühstücken, als er erfährt, dass der Bäckermeister an einem Herzinfarkt gestorben ist. Daraufhin führt er sein Leben wie bisher weiter, die Nähe des Todes hat ihn nicht verändert. ■LIEUTENANT GUSTL- 10 - JLLLMKIkT Einbendzeichnung von Leutnant Custl (Illustration von Moritz Coschcll) Der Text ist eine „unendliche Analyse", die der Psychoanalyse nahesteht, die Erforschung einer Psyche, die sich erst im Akt der Analyse ergibt. Leutnant Gustl ist zur Gänze ein Geflecht aus Worten, Gedanken, Verdrängungen, Vorurteilen, die sich die Leserin/der Leser erst zur Person zusammensetzen muss. Wie ein Mosaik oder wie ein Puzzle wird er Stück für Stück zu einem Ganzen. Die Objektivität, mit der Custl geschildert wird, gerät zur Anklage. Assoziativ durchwandert er sein bisheriges Leben und entlarvt sein mangelndes Selbstwertgefühl, die persönlichen Hintergründe seines Antisemitismus, die Oberflächlichkeit seiner Beziehungen zu Frauen, seine Unfähigkeit zu lieben. Die Verwandtschaft des inneren Monologs mit dem psychoanalytischen Diskurs gibt Schnitzler die Möglichkeit, einen hohlen Ehrbegriff, eine oberflächliche Moralvorstellung ohne Einschaltung des Erzählers zu entlarven. Wie ein Analytiker legt Schnitzler das Innenleben des Leutnants frei. Dass ihm das gelungen ist, beweisen die empörten Reaktionen deutschnationaler und an tisemitischer Kreise; Schnitzler verliert seinen Reserveoffiziersrang. Die folgenden Textausschnitte charakterisieren Gustl. • Äußerungen über Frauen: Ob ich heuer im Sommer wieder zum Onkel fahren soll auf vierzehn Tag'? Eigentlich langweilt man sich dort zum Sterben ... Wenn ich die ... wie hat sie nur geheißen? ... Es ist merkwürdig, ich kann mir keinen Namen merken! ...Ah, ja: Etelka!... Kein Wort deutsch hat sie verstanden, aber das war auch nicht notwendig ... hab' gar nichts reden brauchen!... Ja, es wird ganz gut sein, vierzehn Tage Landluft und vierzehn Mächt' Etelka oder sonstwer... Wie kann man überhaupt nur eifersüchtig sein? ... Mein Lebtag hab' ich so was nicht gekannt ... Die Steffi ist jetzt gemütlich in der Gartenbaugesellschaft; dann geht sie mit „ihm" nach Haus... Nichts liegt mir dran, gar nichts! Ja, das war doch was anders gewesen als die Steffi, dieses Mensch ... Ja, so eine anständige Frau, das war' halt was g'wesen. Ob so ein Mensch Steffi oder Kunigunde heißt, bleibt sich gleich. 8 Sekundenstil: wirklichkeitskopierende Technik des Naturalismus; Art Vorwegnahme der Zeitlupe -die kleinsten Bewegungen, Gesten usw. werden angeführt. Satisfaktion: Genugtuung für eine Beleidigung in Form eines Duells 2S3 GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS • Über Beziehungen: 0 Gott, o Gott, o Gott! Ich möcht' einen Menschen haben, mit dem ich ein Wort reden könnt vorher! • Über sich selbst: Aber was wissen sie denn von mir?... Daß mich manchmal selber vor mir graust, das hab' ich ihnen ja doch nicht geschrieben-na, mir scheint, ich hab'sauch selber gar nicht recht gewußt-... • Über den Tod: Abschied nehmen? - Ja, zum Teufel hinein, das ist doch deutlich genug, wenn man sich totschießt! ist eh' nicht schad um mich... Und was hab' ich denn vom ganzen Leben gehabt? -Etwas hätt' ich gern noch mitgemacht: einen Krieg - aber da hätt' ich lang' warten können ... Ich glaub'so froh bin ich in meinem ganzen Leben nicht gewesen ... Tot ist er-tot ist er! Keiner weiß was und nichts ist g'scheh'n! - Und das Mordsglück, daß ich in das Kaffeehaus gegangen bin ... sonst hätt' ich mich ja ganz umsonst erschossen - ... • Über das Militär: Wenn ich mich so erinner', wie ich das erste Mal den Rock angehabt hab', so was erlebt eben nicht ein jeder ... Im vorigen Jahr bei den Manövern - ich hätt was drum gegeben, wenn's plötzlich Ernst gewesen war'... • Über Juden: Muß übrigens ein Jud'sein! Freilich, in einer Bank ist er, und der schwarze Schnurrbart... Reserveleutnant soll er auch sein! Na, in mein Regiment sollt' er nicht zur Waffenübung kommen! Überhaupt, daß sie immer noch soviel Juden zu Offizieren machen - Die da ist nett ... Wie sie mich anschaut! ... O, die Nase! - Jüdin ... noch eine ... Es ist doch fabelhaft, da sind auch die Hälfte Juden ... Nicht einmal ein Oratorium kann man mehr in Ruhe genießen... • Verfassen Sie eine Charakteristik Gustls! Verwenden Sie dazu seine Bemerkungen über Menschen und wichtige Lebensbereichc! Der Jugendstil Der Begriff ist wie der des Impressionismus der bildenden Kunst entlehnt. Das Ornament steht hier im Vordergrund, überwuchert den Inhalt, der sich dem Ornament unterwirft. Meist sind florale Motive vorherrschend, trotzdem bedeutet das keine Naturnähe, sondern der Stil ist eher „gegennatürlich", Blumen werden zum Beispiel in ein bereits vorhandenes ornamentales Muster eingepasst. Es gibt im Ganzen nur wenige Motive: Charakteristisch sind die Linie, die Schlangenlinie, alles Fließende, Pflanzen, bewegtes Wasser, Schwan, Haare, die starr, leblos, steril zu einem abstrakten Ornament werden. Es ist eine Flächenkunst, zweidimensional, ohne jede Raumillusion. Als elitärer und luxuriöser Stil des wohlhabenden Bürgertums vollbringt der Jugendstil die größten Leistungen auf dem Gebiet der angewandten Kunst, des Kunstgewerbes und der Dekoration. Der 1 iterarische Jugendstil bedeutet eine Abkehr von der Eindruckskunst, s timmungs volle De- GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS ,. i '; - I tails und der Zerfall in Teilchen oder Punkte entfallen. Man strebt nach einem kunstvoll gestalteten Ganzen, die Teilchen erhalten wieder Kontur. Der Dichter lässt die Natur nicht mehr auf sich wirken, sondern er greift in sie ein, formt, deformiert sie, die Naturgegenstände werden umstilisiert, bekommen Konturen. Es entsteht keine „natürliche Landschaft", sondern Naturkulissen, schwüle Atmosphäre. Seltenes, Exotisches, Märchenhaftes, Orientalisches, Ungewöhnliches, alles, was fern vom Alltag ist, bedeutet für die Künstler eine Möglichkeit, sich gegen die Angriffe und Anforderungen der Industrialisierung zu wehren. Als ein Stil der gesellschaftlichen Umbruchzeit zeigt der Jugendstil Ambivalenz: Einerseits vertritt man einen vitalen Lebensbegriff, ein Programm der Lebensfreude und des Genusses, macht Stimmung gegen Resignation, Endzeitstimmung. Andererseits kultiviert man gerade die Lust am Verfall, genießt den Luxus und auch die Neurosen, Morbides und Dekadentes. Als Jugendstilautoren gel ten (mit einem Teil ihres Werks) Stefan George, Rainer Maria Rilke, Richard Dehmel, Theodor Däubler, Hugo von Hofmannsthal, Ernst Stadler und Gerhart Hauptmann. Einer außerhalb der Strömungen: Hermann Hesse Adele Bloch-Bauer I (Gustav Klimt, 1907) Hermann Hesses (1877-1962) Werke sind auch heute noch in Japan und den USA sehr beliebt. Den Hippies der 1970er-Jahre gelten besonders Siddharta und Der Steppenwolf als Kultbücher. Peter Ca-menzind, das erste größere Werk Hesses, propagiert die Rückkehr aus der Bürgerwelt zur Natur. Die Schweizer Gebirgslandschaft umrahmt den Naturmythos. In Italien findet Camenzind die Harmonie zwischen Kultur und Natur. Unterm Rad thematisiert das Scheitern eines sensiblen Jugendlichen. Die Schuld am Scheitern liegt in der Umwelt, denn individuelle Begabung wird meist der Norm geopfert. Leistungsdruck, Unverständnis und Teilnahmslosigkeit führen zum Tod. Hermann Hesse Der Steppenwolf In Der Steppenwolf sucht der Held Harry Haller verzweifelt nach einem Ausweg aus der Le-benskrisc. Er ist schwer identitätsgestört. Er fühlt sich in zwei Hälften aufgespaltet - in eine menschliche und eine wölfische die den Dualismus zwischen Triebhaftigkeit und Geisrig-kei t verkörpern. Die Ursachen der Gestörtheit vermutet Haller in der repressiven Erziehung. Ausbrüche, in denen sich seine Wolfsnatur in sinnlichen Exzessen auslebt, bringen auch nicht die ersehnte Alternative zur bürgerlichen Welt, Harry Haller bleibt ein Zerrissener. In Der Steppenwolf variiert Hesse eines seiner Grundthemen: Wie kann sich ein Individuum, besonders ein schöpferisches, in einer entpersönlichten Gesellschaft behaupten? 284 285 GEGEN STRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS ZUSAMMENFASSUNG Im Folgenden ein Ausschnitt aus dem Tractatvom Steppenwolf: Der Steppenwolf hatte also zwei Naturen, eine menschliche und eine wölfische, dies war sein Schicksal, und es mag wohl sein, daß dies Schicksal kein so besonderes und seltenes war. Es sollen schon viele Menschen gesehen worden sein, welche viel vom Hund oder vom Fuchs, vom Fisch oder von der Schlange in sich hatten, ohne daß sie darum besondre Schwierigkeiten gehabt hätten. Bei diesen Menschen lebten eben der Mensch und der Fuchs, der Mensch und der Fisch nebeneinander her, und keiner tat dem anderen weh, einer half sogar dem andern, und in manchem Manne, der es weit gebracht hat und der beneidet wird, war es mehr der Fuchs oder der Affe als der Mensch, der sein Glück gemacht hat. Bei Harry hingegen war es anders, in ihm liefen Mensch und Wolf nicht nebeneinander her, und noch viel weniger halfen sie einander, sondern sie lagen in ständiger Todfeindschaft gegeneinander, und einer lebte dem anderen lediglich zu Leide, und wenn Zwei in Einem Blut und Einer Seele miteinander todfeind sind, dann ist das übles Leben. Nun, jeder hat sein Los, und leicht ist keines. [...] Wenn Harry als Mensch einen schönen Gedanken hatte, eine feine, edle Empfindung fühlte oder eine sogenannte gute Tat verrichtete, dann bleckte der Wolf in ihm die Zähne und lachte und zeigte ihm mit blutigem Hohn, wie lächerlich dieses ganze edle Theater einem Steppentier zu Gesicht stehe, einem Wolf, der ja in seinem Herzen ganz genau darüber Bescheid wußte, was ihm behage, nämlich einsam durch Steppen zu traben, zuzeiten Blut zu saufen oder eine Wölfin zu jagen, und, vom Wolf aus gesehen, wurde dann jede menschliche Handlung schauerlich komisch und verlegen, dumm und eitel. • Welche Bereiche des Lebens würden Sie der menschlichen, welche der wöl fischen Natur des Menschen zuordnen? Gegenströmungen zum Naturalismus (1890-1920) Bereits zur Blütezei t des Naturalismus gibt es Gegenströmungen. Wien, München und Berlin entwickeln sich zu Kulturzentren. Die Autoren stammen aus dem bürgerlichen Milieu, verurteilen aber dessen Lebensstil. Die Vertreter der Gegenströmungen sind Gegner der Verfahrensweisen des Naturalismus: Sie wehren sich gegen Verstädterung, wirtschaftliche und politische Expansion und fühlen sich eng mit Geschichte und Tradition verbunden. Die Autoren reagieren unterschiedlich auf den „Fortschrittsglauben": mit dem Weltschmerz des „Fin de siěcle", mit der Psychoanalyse, mit dem Rückzug aus dem Alltagsleben, mit der Propagierung des Herrenmenschen oder dem Rückgriff auf Traditionen des Mittelalters. Sprachskepsis Die Autoren und Philosophen zweifeln immer mehr an der Fähigkeit, die Wirklichkeit zu erkennen und sie mithilfc der Sprache darzustellen. Die traditionelle Aufgabe der Sprache, wahre Aussagen zu machen und zur Kommunikation zu dienen, wird fragwürdig, dies gilt besonders für die Alltagssprache. Dieses Phänomen ist besonders bei Dichtern des Jungen Wien das Thema ihrer Werke (vgl. Hugo von I lof mannsthal Der Lord-Chandos-Brief und Der Schwierige). Sigmund Freud und die Psychoanalyse Durch die Methode der Psychoanalyse gibt es neue Möglichkeiten der Menschendarstellung. Die Vorstellung vom Menschen als einheitliches Wesen wird angezweifelt. Freud unterscheidet in der menschlichen Seele das Über-Ich (Gebote, Gewissen, Moral; die Kontrollinstanz des Menschen), das Es (Gesamtheit der unbewussten Triebe) und das Ich (die Vermittlerin zwischen beiden). Aus der Diskrepanz zwischen Über-Ich und Es ergeben sich psychische Störungen und Neurosen. Mithilfe der Psychoanalyse, einer Art Gesprächstherapie, die viele Bereiche der menschlichen Psyche zu klären versucht, soll Heilung erzielt werden. Freuds Erkenntnisse werden besonders von Arthur Schnitzler in Literatur umgesetzt. Der Symbolismus Diese Strömung hat ihre Wurzeln in Frankreich, besonders bei Charles Baudelaire. In seinen Gedichten, die reine Poesie darstellen, werden Assoziationen zu realen Gegenständen und Geschehnissen getilgt. Die Gedichte leben von Rhythmus, Reim, Assonanzen, Färb- und Lau tsymbolik. Sie zeigen eine enge Verwandtschaft zur Musik. Die Autoren des Symbolismus ziehen sich bewusst aus der Wirklichkeit zurück. Vertreter des Symbolismus im deutschsprachigen Bereich sind z. B. Stefan George, Hugo von Hof mannsthal und Rainer Maria Rilke. Die Wiener Moderne Wien mit den Prunkbauten der Ringstraße ist zum kulturellen Zentrum geworden. 9% der Bevölkerung sind Juden; sie stellen einen Großteil der Intellektuellen. Bereits jetzt werden sie als Sündenböcke für den Kapitalismus in der Wirtschaft hingestellt. Die jungen Autoren veröffentlichen meist in Deutschland. Das Kaffeehaus (z. B. Café Griensteidl) wird zu einer kulturellen Institution; hier treffen sich Leute aller Klassen, um zu lesen oder Konversation zu treiben. Die Form des Feuilletons entspricht dem Leben im Kaffeehaus. Ein Vertreter der sogenannten Kaffeehauslitcraten ist Peter Altenberg. 286 287 GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS ZUSAMMENFASSUNG Das Ende der Donaumonarchie Um 1890 befindet sich die Donaumonarchie in ihrer Endphase. Nationale Spannungen werden größer. Das deutsch-österreichische Bürgertum fühlt sich durch den wirtschaftlichen Aufstieg nichtdeutscher bürgerlicher Schichten in seiner Stellung bedroht. Programme gegen Überfremdung werden ausgearbeitet. Arthur Schnitzler Von Beruf Arzt, fühlt er sich als Jude in Wien nicht ganz heimisch. Seine naturwissenschaftliche Ausbildung und seine praktische Erfahrung als Arzt prägen sein literarisches Werk. Er steht der Psychoanalyse positiv gegenüber und interessiert sich für psychische Erkrankungen und unkonventionelle Behandlungsmethoden. Schwierig gestalten sich seine Beziehungen zu Frauen, sein Hauptthema ist daher auch die Beziehung zwischen Mann und Frau in vielen Varianten. Einakter und Dramenzyklen (Anatol, Der Reigen) sind die bevorzugten Dramenformen. Das dramatische Geschehen tritt zurück, das Hauptaugenmerk liegt auf der Konversation; Konflikte werden in Schwebe gelassen. Der Impressionismus Der Begriff stammt aus der Malerei und wird auf Musik und Literatur übertragen. Er verkörpert die ästhetische Grundhaltung, die vom Wechsel der Perspektiven lebt. Im Mittelpunkt steht der sinnlich-subjektive Eindruck, der einmalige Augenblick, der flüchtige Reiz. Der innere Monolog gilt als Errungenschaft des literarischen Impressionismus. Der Bewusstseinsstrom einer Person wird wiedergeben, aus Erinnerungen, I Iof fnungen, Gedanken, Assoziationen, optischen und akustischen Eindrücken, Fetzen von Gesprächen entsteht das Bild einer Person. Schnitzler gilt als Meister dieser Darstcllungsform {Leutnant Gustl und Fräulein Else). Der Jugendstil Auch dieser Begriff ist der bildenden Kunst entlehnt. Das Ornament steht im Vordergrund. Obwohl florale Motive vorherrschen, ist es dennoch keine realistische Darstellung. Literarisch strebt der Jugendstil nach einem kunstvoll gestalteten Ganzen, die Details erhalten Kontur. Der literarische Jugendstil vertritt einerseits einen vitalen Lebensbegriff, andererseits aber auch Lust am Verfall, an Neurosen, Dekadentem und Morbidem. Vertreter des Jugendstils mit einem Teil ihres Werkes sind z. B. Rilke, George, Hofmannsthal, Hauptmann. EXPRESSIONISMUS Expressionismus (1910-1920) Jakob van Hoddis (1887-1942?) wird Opfer der Euthanasie, aus einer Pflegeanstalt deportiert und ermordet. Weltende Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, In allen Lüften hallt es wie Geschrei, Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei. Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut. Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken. Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. Die Eisenbahnen fallen von den Brücken. Jakob van Hoddis (Zeichnung von Ludwig Meidner, 1913) Sein Gedicht Weitende erscheint 1911. Es zeigt den Beginn einer neuen Art, Lyrik zu schreiben, die zunächst unter der Bezeichnung „Aktionslyrik" bekannt wird. Aktion bedeutet Darstellung einer in vielen Einzelhandlungen auscinanderstrebenden Welt. Weltende behandelt ein Grundmotiv des Expressionismus, die Apokalypse1. • Können Sie sich vorstellen, warum dieses Gedicht eine solche Wirkimg auf die Zeitgenossinnen hatte? • Stellen Sie das Versmaß und die Reimbindung des Gedichts fest! Was fällt Ihnen am Satzbau auf? • Halten Sie das Formale für revolutionär? • Welche Erwartungshaltung löst der Titel aus? Werden die Erwartungen erfüllt? • Wie stellen Sie sich den Weltuntergang vor? Schreiben Sie einige Gedanken dazu auf! • Welche Befürchtungen haben Sie, woran könnte die Welt Ih rer Meinung nach zugrunde gehen? Was ist Expressionismus? Theodor Däubler, selbst ein Expressionist, definiert ihn so: Der Volksmund sagt: Wenn einer gehängt wird, so erlebt er im letzten Augenblick sein ganzes Leben nochmals. Das kann nur Expressionismus sein! Schnelligkeit, Simultanität, höchste Anspannung um die Ineinandergehörigkeit des Geschauten sind die Vorbedingungen für den Stil. Er selbst ist Ausdruck der Idee. 1905 tritt die expressionistische Malerei in Dresden an die Öffentlichkeit. Der Begriff wird nun oft synonym mit „Moderne" verwendet, vor allem während des Ersten Weltkriegs. Um etwa 1 Apokalypse: biblische Vision vom Weltuntergang 288