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Zwischen den Stühlen – Der Historiker Götz Aly 
Götz Aly
Welche ungeschriebenen Gesetze sind es, die über Wohl und Wehe in der Wissenschaft entscheiden? Der deutsche Historiker und Publizist Götz Aly ist einer jener Querschläger, die trotz innovativer Forschungen vom akademischen Establishment nie richtig akzeptiert wurden. An ihm und seinen Thesen zur Holocaust-Forschung scheiden sich die Geister. Und ausgerechnet er bekam nun Rückendeckung von höchster Stelle.

Zunächst klingt alles wie eine ganz normale Wissenschaftskarriere: Nach dem Schulabschluss absolviert der 1947 in Heidelberg geborene Götz Aly eine Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Danach geht er nach Berlin, um Geschichte und Politische Wissenschaften zu studieren. Nach seinem Studium 1973 fährt er mehrgleisig: Eine Promotion behält er zwar im Auge, nimmt aber neben publizistischen Tätigkeiten – u. a. für die linksalternative taz – auch eine Stelle als Heimleiter in Berlin-Spandau an. Außerdem engagiert er sich in der linksradikalen Gruppe Rote Hilfe. Besonders Letzteres führt 1976 zum ersten Bruch: Aufgrund seiner politischen Positionen wird Aly im Zuge des so genannten "Radikalenerlasses" von seiner Arbeit als Heimleiter für eine Jahr suspendiert. Zwar promoviert er 1978 noch mit einer politikwissenschaftlichen Forschungsarbeit, doch eine Kluft zwischen ihm und dem "normalen" akademischen Leben ist von jetzt an unübersehbar. Daran ändert auch seine spätere Habilitation nichts, ebenso wenig die Auszeichnungen für seine geschichtswissenschaftlichen Arbeiten: der Heinrich-Mann-Preis im Jahr 2002 und der Marion-Samuel-Preis 2003. Eine ordentliche Professur ist ihm bis heute verwehrt geblieben.

"Weil man nur Dinge weiß, für die man sich auch interessiert."

Götz Aly erschreibt sich seine Anerkennung als freier Autor außerhalb des Universitätsbetriebes. Es sind neue Fragestellungen an eine bekannte Vergangenheit, für die er selbst bekannt werden soll. Obwohl er sagt, dass es "kein Thema des 20. Jahrhunderts [gibt], das differenzierter erforscht ist als der Mord an den europäischen Juden während des Zweiten Weltkrieges" (aus: Der Spiegel, 20.01.2006), ist es doch genau dieses Thema, dem er sich zuwendet.

In Vordenker der Vernichtung (1991) untersucht er die Rolle wissenschaftlicher Experten im Dienste der Nazis. In Endlösung (1999) arbeitet er den direkten Zusammenhang zwischen der Judenvernichtung und den "Völkerverschiebungen" der Nazis heraus. Das letzte Kapitel (2002) behandelt den Holocaust in Ungarn und weist nach, wie eng der nationalsozialistische Massenmord mit ungarischen Verwaltungsstrukturen verwoben war. 2005 dann erregt Götz Aly mit Hitlers Volksstaat großes Aufsehen – in der Historiker-Zunft ebenso wie in der internationalen Öffentlichkeit. Wer gedacht hatte, das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte sei nun wirklich bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet, wurde eines Besseren belehrt. Aly richtet sein Augenmerk auf den wohlfahrtstaatlichen Aspekt des Nationalsozialismus. Das NS-Regime, so Aly, sei eben nicht hinreichend erklärt, wenn man die Frage, wie der staatlich organisierte Massenmord möglich sein konnte, nur mit den autoritären Aspekten und einem geschürten Massenhass zu beantworten versucht. Vielmehr habe die große Masse geduldet und weggeschaut, weil sie systematisch korrumpiert worden sei. Aly: "Der Mensch ist so angelegt, dass er Dinge, die er lieber verdrängt, eben dann auch nicht wissen will und sie daher auch nicht weiß." (aus: ORF, 21.04.2005)

Die "Gefälligkeitsdiktatur"

Das Hitler-Regime sei von Anfang an gezielt darauf bedacht gewesen, das deutsche Volk bei Laune zu halten. Die weit reichenden Umverteilungsprozesse zugunsten der sozial schwachen Bevölkerungsschichten sieht Aly als Beleg: Familienlastenausgleich, Ehestandsdarlehen, Erhöhung des steuerfreien Grundbetrags etc. Belastet wurden im Gegenzug die Besserverdienenden. Der Durchschnittsdeutsche aber profitierte materiell vom NS-Regime. Und dies nicht nur innenpolitisch in den Anfangsjahren. Laut Aly kamen die umfangreichen Enteignungen des Eroberungskrieges nach 1939 direkt dem deutschen Kleinbürger zugute. Aly sieht das gesamte deutsche Volk als Profiteur der nationalsozialistischen Vertreibungs- und Vernichtungspolitik. In Anspielung auf Horkheimer verdichtet Aly seine Auffassung in dem Satz: "Wer von den Vorteilen für die Millionen einfacher Deutscher nicht reden will, der sollte vom Nationalsozialismus und vom Holocaust schweigen."(aus: Hitlers Volksstaat, 2005).

Alys Kritiker halten ihm vor, mit seiner These von der Gefälligkeitsdiktatur lediglich die viel ältere These von der Kollektivschuld aller Deutschen wiederzubeleben. Und Aly hat namhafte Kritiker!

Beistand von ganz oben

Daniel Goldhagens zentrales Argument, wonach der gesamtgesellschaftliche Antisemitismus in Deutschland eine wesentliche Triebkraft des Holocaust dargestellt habe, findet bei Aly keine Beachtung. Die Bedeutung der charismatischen Figur des "Führers", die u. a. Ian Kershaw so hervorhob, spielt bei Aly ebenfalls keine Rolle. Und Hans-Ulrich Wehler nannte Hitlers Volksstaat das Ergebnis eines "anachronistischen Vulgärmaterialismus" (aus: Die Welt, 06.05.2005) und einen Rückschritt hinter den aktuellen Forschungsstand. Harte Worte sind das, zumal aus dem Munde des Nestors der deutschen Sozialgeschichte.

Einer ließ sich von diesen Attacken nicht beeindrucken, bildete sich sein eigenes Urteil und kam zu anderen Schlüssen: Bundespräsident Horst Köhler, der Götz Aly kürzlich in den Stiftungsrat des Jüdischen Museums Berlin berief. Auf unser Nachfragen hin bestätigte das Bundespräsidialamt, dass die Berufung im Sinne einer bewussten Auszeichnung zu verstehen sei. Es habe einen persönlichen Kontakt gegeben, Köhler habe sich mit den Positionen Alys auseinander gesetzt und seine Wahl gezielt getroffen. Die Rückendeckung für einen, der es gewohnt ist, zwischen allen Stühlen zu sitzen, sei vollauf beabsichtigt.

Bibliographie – Auswahl

Volkes Stimme. Skepsis und Führervertrauen im Nationalsozialismus, Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2006

Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2005

Im Tunnel. Das kurze Leben der Marion Samuel 1931-1943, Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2004

Rasse und Klasse. Nachforschungen zum deutschen Wesen, Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2003

Macht, Geist, Wahn. Kontinuitäten deutschen Denkens, Frankfurt am Main, Fischer Verlag, 1999

Endlösung. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1999

Vordenker der Vernichtung (mit Susanne Heim), Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1991


Volker Maria Neumann
Nach seinem Studium der Philosophie arbeitet er als freiberuflicher Publizist mit den Schwerpunkten Philosophie, Literatur, Geschichte

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Dezember 2006

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Links zum Thema

  • Jüdisches Museum Berlin  deutschenglish
  • http://www.juedisches-museum-berlin.de/site/DE/homepage.php

  • Fritz-Bauer-Institut (Gastprofessur Götz Aly WS 04/05 - SS 06)  deutsch
  • http://www.fritz-bauer-institut.de/

  • Marion-Samuel-Preis (vergeben an Götz Aly 2003)  deutsch
  • http://www.gegen-vergessen.de/gegenvergessen/aly072003_1.html

  • Rezension Hitlers Volksstaat, in: Die Zeit, 10.03.2005  deutsch
  • http://www.zeit.de/2005/11/P-Aly?page=all

  • Kurz-Rezension Hitler Volksstaat, in: Webseite des Goethe-Instituts  deutsch
  • http://www.goethe.de/kue/lit/prj/lit/arc/kul/aly/deindex.htm

  • Interview mit Götz Aly, Spiegel, 20.01.2006  deutsch
  • http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,395954,00.html

  • Interview mit Götz Aly, ORF, 21.04.2005  deutsch
  • http://oe1.orf.at/highlights/35579.html

  • Götz Aly im Verlag S.Fischer, Frankfurt  deutsch
  • http://www.fischerverlage.de/autor/Götz_Aly/88?_navi_area=fv_ver
    t2&_navi_item=02.00.00.00&_letter=A