Christian Morgenstern (1871 – 1914) Als Morgenstern 1914 starb, erblickte er den Höhepunkt seines Werkes in der antroposophisch orientierten Lyrik und Aphiristik[1] , nicht in seinen Galgenliedern, die heute viel berühmter sind und vor allem in tschechischer Sprache viele Leser gefunden haben. Dafür ist Morgensterns tschechischen Übersetzern – Josef Hiršal[2], Ludvík Kundera[3], Egon Bondy[4] u. qa. m. zu danken. Seine Galgenlieder errechten eine Gesamtauflage von 1,5 Millionen Exemplaren. Christian Morgenstern wird in München als Sohn des Natur- u. Landschaftsmalers geboren. 1884 zieht zum Vater nach Breslau um, der dort als Professor an der dortigen Königlichen Kunstschule lehrt. 1892 besteht Morgenstern, derschon wegen schlechter Leistungen ein Offizierskarriere erwogen hat, das Abitur und immatrikuliert sich an der Universität in Breslau zum Studium der Volkswirtschaft und der Rechte. 1893wechselt er mit seine Bresslauer Freund Kayssler nach München. Hier erkrankt er an Tuberkulose und kehrt nach Breslau zurück. Wegen des schlechten Gesundheitszustandes kann Morgenstern sein Studium nicht fortsetzen und vertieft sich in die Schriften Nietzsches. 1894 siedelt er nach Berlin über, wo er als freier Schriftsteller, Redakteur und Journalist arbeitet. Er schließt sich dem »Friedrichshagener Kreis« (Friedrich Bölsche, Heinrich u. Julius Hart, Willy Pastor, Bruno Wille) an. 1895 veröffentlicht Morgenstern den Nietzsche gewidmeten Band »In Phantas Schloß. Ein Zyklus humoristisch-phantastischer Dichtungen«. Er bekannte sich mit Zarathustra zum Humor als der »äußersten Freiheit des Geistes«. Zugleich bedeutete für ihn die Hinwendung zum Absurden und Grotesken die Absage an alle Denk- u. Verhaltensregeln seiner Zeit. »Längst Gesagtes wieder sagen, / hab ich endlich gründlich satt«, schrieb er im Prolog zu In Phanta's Schloß. er arbeitet als Übersetzer von Werken Strindbergs, Björnsons und vor allem Ibsens, mit deren Literatur- u. Theaterauffassungen er sich eingehend beschäftigte. Ein Jahr lang hielt er sich in Norwegen auf. Es kam zu mehreren Treffen mit dem 70jährigen Strindberg. 1901 gehörte Morgenstern zur Berliner Boheme. Führer der neuen Richtungen, Przybyszewski, Strindberg, Dehmel waren Mittelpunkt der Boheme im Berliner "Schwarzen Ferkel". Außerdem galt das traditionsreiche "Café des Westens" als Hauptquartier des Berliner literarischen Lebens. Um erzbohemische Persönlichkeiten wie Peter Hille, Paul Scheerbart, O. E. Hartleben. Die Männer im Schwarzen Ferkel wurden am späten abend meistens lauter und fingen an zu singen. Man spielte den "Walkürenritt” von Richard Wagner am Klavier. Stanislaw Przybyszewski, wenn er nicht Chopin spielte, fing mit Richard Dehmel an zu tanzen. Die Stimmung waR feuchtfröhlich: Von Richard Dehmel wußte man schon, daß er zu Ausschweifungen neigte und häufig im "Schwarzen Ferkel” zuviel trank. Wie solche Abende Morgensterns Gesundheitszustand beeinflusste, muss dahingestellt bleiben. Sicher war er von den glimmenden Fenstern des abendlicen Berlins stark angezogen, wie seinem Gedicht "Berlin" zu entnehmen ist: Ich liebe dich bei Nebel und bei Nacht, wenn deine Linien ineinander schwimmen,- zumal bei Nacht, wenn deine Fenster glimmen und Menschheit dein Gestein lebendig macht. Was wüst am Tag, wird rätselvoll im Dunkel; wie Seelenburgen stehn sie mystisch da, die Häuserreihn mit ihrem Lichtgefunkel; und Einheit ahnt, wer sonst nur Vielheit sah. Der letzte Glanz erlischt in blinden Scheiben; in seine Schachteln liegt ein Spiel geräumt; gebändigt ruht ein ungestümes Treiben, und heilig wird, was so voll Schicksal träumt. In diesen Kreisen fand Morgensterns Lyrik ihre Anhänger und gelangte auch auf die Bühne des 1901 entstandenen Kabaretts. 1905 erscheinen die Gedichte im Band Galgenlieder. Morgenstern stellt im Vorwort fest: (1932)12, Die Galgenpoesie ist ein Stück Weltanschauung. Es ist die skrupellose Freiheit des Ausgeschalteten, Entmaterialisierten, die sich in ihr ausspricht. Man weiß, was ein mulus[5] ist. Die beneidenswerte Zwichenstufe zwischen Schulbank und Universität. Nun wohl: ein Galgenbruder ist die beneidenswerte Zwichenstufe zwischen Mensch und Universum. Nichts weiter. Man sieht vom Galgen die Welt anders an und sieht andre Dinge als Andre. Seine Gedichte kann man auch als eine galgenbrüderliche Persiflage[6] der kosmischen Dichtung Dehmels lesen. Kundera polemisiert gegen die Behauptung, Morgensterns Galgenlieder seien ein erratischer Block[7] in der deutschen Literatur. Ihre Wurzeln liegen schon in dem studentischen Ulk. Die humoristischen Lieder und Balladen, die in "Gaudeamus" (Stuttgart 1867) gesammelt erschienen, fanden wegen ihrer geistreichen Frische, ihres kecken studentischen Tons außerordentlichen Beifall. Auch Arno Holz schlug verwandte parodistische Töne an. Anthony T. Wilson[8] macht auf diese Gemeinsamkeiten aufmerksam. Die Blechschmiede (im Insel-Verlage Leipzig 1902) enthält auch Erwähnungen vom Galgenberg und sogar Verse über die Fischlein, die gar sprachen sacht ihr Nachtgebet. Aber manches stammt erst aus einer späteren Fassung des lyrisch-satirischen Dramas. Arno Holz: Makulaturprofessor (aus Die Blechschmiede) Wohin auch meine Zehen treten – disjekte Membra des Poeten. Dies Kunstwerk tut mir wirklich weh, das macht, ihm fehlt die Grundidee! Ähnlichkeiten mit den Galgenliedern weist auch Paul Scheerbarts Katerpoesie (1909) auf. Wie Scheerbart widmete sich wie Morgenstern auch der Kleksographie, der Interpretation von Kleksen, einem optisch fundierten Spiel, das als Parallele mit Morgensterns Neuprägungen gelten könnte. Alfred Liede bezeichnete deshalb Morgenstern als z. T. veredelten Scheerbart, Nietzsche, Mauthner. Einen Wendepunkt in Morgensterns Leben bedeutet das Jahr 1909. Morgenstern hört in Berlin Vorträge des Anthroposophen Rudolf Steiner. Er tritt Steiners Anthroposophischer Gesellschaft bei. Sommer: Morgenstern fährt zu Vorträgen Steiners in Kristiana, Kassel und München und lernt Rudolf Steiner persönlich kennen. Zur Poetik von Morgenstern Galgenliedern 1895 erscheint Morgenstern erste, Nietzsche gewidmete Gedichtsammlung »In Phanta's Schloß. Ein Cyklus humoristisch-phantastischer Dichtungen«. Der Prolog lautet: Längst Gesagtes wieder sagen, Ach! ich hab es gründlich satt. Phanta's Rosse vor den Wagen! Fackeln in die alte Stadt! Wie die Häuser lichterlohen, wie es kracht und raucht und stürzt! Auf, mein Herz! Empor zum frohen Äther, tänzergleich geschürzt! Schönheit-Sonnensegen, Freiheit- Odem, goldfruchtschwere Kraft, ist die heilige Kräftedreiheit, die aus Nichts das Ewige schafft. Im selben Jahr gründet M. mit befreundeten Studenten auf dem Galgenberg in Werder[9] die gleichnamige Vereinigung, deren Mitglieder, die »Galgenbrüder«, einander in der Folgezeit unter dem Vorsitz Morgensterns in Berliner Kneipen »Galgenlieder« (Text C.M., Vertonung Julius Hirschfeld) vortragen. 1901 singen Max Reinhart u. Friedrich Kayssler sie auf ihrer Kleinkunstbühne »Schall und Rauch«; Ernst v. Wolzogens »Überbrettl«, das erste Berliner Kabarett, bringt Szenen u. Gedichte M.s. 1905 erscheinen die »Galgenlieder« in Buchform. Morgenstern folgt Fritz Mauthner, dessen »Beiträge zu einer Kritik der Sprache« (1901) er 1906 las, in der Auffassung, daß Wörter »Entscheidungen«, nicht »Erkenntnisse« seien und Sprache zwar grundsätzlich nicht zur Welterkenntnis, wohl aber zur »Wortkunst« tauge. Der »mystische Kobold« (Mauthner über Morgenstern) fordert die »Umwortung aller Worte«, hält die Sprache zu »entbürgerlichen« für »die vornehmste Aufgabe der Zukunft«. Sein Beitrag dazu ist das humoristische – auch für M. ist der Humor »die Betrachtungsweise des Endlichen vom Standpunkte des Unendlichen aus« u. Ausdruck der »äußersten Freiheit des Menschen« – Spiel mit der Sprache, ihren Bildern, Polysemien, Analogien, Etymologien, Klängen, Rhythmen u. Redewendungen, um seiner selbst willen. Hier ist Sprache in Bewegung, fungiert nicht mehr als mimetisches Zeichensystem. Die »Galgenlieder« konstruieren eine »sprachliche Eigenwelt« außerhalb der »bürgerlichen« Realität, schreibt Christian Schultz-Gerstein[10] und belegt es mit Morgensterns Aphoirismus: Unter bürgerlich verstehe ich das, worin sich der Mensch bisher geborgen gefühlt hat. Bürgerlich ist vor allem unsere Sprache. Sie zu entbürgerlichen die vornehmste Aufgabe der Zukunft. Die Grenzen der Sprache als Grenzen der Dorfschulmeister-Welt zeigt das Gedicht über die Autoritätsgläubigkeit des Werwolfs: Der Werwolf Ein Werwolf eines Nachts entwich von Weib und Kind und sich begab an eines Dorfschullehrers Grab und bat ihn: Bitte, beuge mich! Der Dorfschulmeister stieg hinauf auf seines Blechschilds Messingknauf und sprach zum Wolf, der seine Pfoten geduldig kreuzte vor dem Toten: »Der Werwolf« - sprach der gute Mann, »des Weswolfs, Genitiv sodann, dem Wemwolf, Dativ, wie man's nennt, den Wenwolf, - damit hat's ein End.« Dem Werwolf schmeichelten die Fälle, er rollte seine Augenbälle. Indessen, bat er, füge doch zur Einzahl auch die Mehrzahl noch! Der Dorfschulmeister aber mußte gestehn, daß er von ihr nichts wußte. Zwar Wölfe gäb's in großer Schar, doch »Wer« gäb's nur im Singular. Der Wolf erhob sich tränenblind - er hatte ja doch Weib und Kind!! Doch da er kein Gelehrter eben, so schied er dankend und ergeben. [Morgenstern: Galgenlieder, S. 46 ff. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 73123 (vgl. Morgenstern-AW, S. 275 ff.)] In Morgensterns Versuch einer Einleitung, die unter dem Pseusdonym eines gewissen Jeremias Müller erschienen ist, heißt es über die Entstehung des Werkes. …die Idee, welche eines schönen Tages des hinverflossenen Jahrhundertendes acht junge Männer, festentschlossen, dem feindlichen Moment…die Singspielhalle, sozusagen, ihres Humors entgegenzustellen, zusammenschmiedete. Ein sonderbarer Kult vereinte sie. Zuvörderst wird das Licht verdreht, ein schwarzes Tuch dann aus dem Korb und übern Tisch gezogen, mit Schauderzeichen reich phosphoresziert, und bleich ein einzig Wachs inmitten der Idee des Galgenbergs entnommner freudig-schrecklicher Symbole. Dazu heißt der Erste Schuhu: der hängt zuhöchst und gibt den Klang zum Hauch des Rabonaas, der das Mysterium verwest; der Dritte heißt Verreckerle; der reicht das Henkersmahl; der Vierte Veitstanz, zubenannt der Glöckner: der zieht den Armesünderstrang; der Fünfte Gurgeljochem: der schert den Lebensfaden durch; der Sechste Spinna, das Gespenst: der schlägt zwölf; der Siebente Stummer Hannes, zubenannt der Büchner; der singt Fisches Nachtgesang, und der Achte Faherügghh, mit dem Beinamen der Unselm: der kann das Simmaleins und spricht das große Lalula. Und es wird das Knochenklavier geschaffen und der Gelächtertrab und die Elementarsymphonie und der Huckepackdalbert und der Eulenviertanz und der Galgenschlenkerer und Sophie die Henkersmaid als Symbild von der Weisheit unverweslichem Begriff. Ein modulationsfähiger Keim. Und in der Tat wenn irgendwo, wenn irgendwann mußte gerade damals und gerade bei denjenigen Kräften der Volksseele in denen das Herz der vom Geist der neuen Zeit am wunderlichsten beeindruckten Unvoreingenommenheit des Natürlichen am zukunftswetterschwanger-vollsten pochte ein besonders abwelthafter Rückschlag wider das Gesetz in der Vernunft von seiten mehr excös gerichteter Seelen erfolgen und damit ein Beweisschatten mehr geworfen werden, daß keine Zeit so dunkel sie auch sich und in sich selber sei, indem sie "ihr Herze offenbart" mit all den Widersprüchen Knäueln, Gräueln, Grund- und Kraftsuppen ihres Wesens als Schwan zuletzt mit Rosenfingern über den Horizont ihres eigenen Chaos …emporzusteigen sich zu entbrechen den Mut, was sage ich, die Verruchtheit hat. Es darf daher getrost, was auch von allen, deren Sinne, weil sie unter Sternen, die, wie der Dichter sagt: "dörren, statt zu leuchten", geboren sind, vertrocknet sind, behauptet wird, enthauptet werden, daß hier einem sozumaßen und im Sinne der Zeit, dieselbe im Negativen als Hydra gesehen, hydratherapeutischen Moment ersten Ranges - immer angesichts dessen, daß, wie oben, keine mit Rosenfingern den springenden Punkt ihrer schlechthin unvoreingenommenen Hoffnung auf eine, sagen wir, schwansinnige oder wesentielle Erweiterung des natürlichen Stoffgebietes zusamt mit der Freiheit des Individuums vor dem Gesetz ihrer Volksseele zu verraten sich zu entbrechen den Mut, was sage ich, die Verruchtheit haben wird, einem Moment, wie ihm in Handel, Wandel, Kunst und Wissenschaft allüberall dieselbe Erscheinung, dieselbe Frequenz den Arm bieten, und welches bei allem, ja vielleicht gerade trotz allem, als ein mehr oder minder modulationsfähiger Ausdruck einer ganz bestimmten und im weitesten Verfolge excösen Weltauffasserraumwortkindundkunstanschauung kaum mehr zu unterschlagen versucht werden zu wollen vermag - gegenübergestanden und beigewohnt werden zu dürfen gelten lassen zu müssen sein möchte. Hochachtungsvoll! Jeremias Müller, Lic. Dr. Erschrecken Sie nicht, ich habe keine Fehler beim Abtippen gemacht. Über die unverständliche Syntax schreibt auch Eugenio Coserie in seiner Textlinguistik[11]. Der Rahmen enthält ene fünfache Einbettung eines Nebensatzes. Es darf daher … enthauptet Arden, Was auch von allen … behauptet Word Deren Sinne … vertrocknet sind Weil sie unter Sternen …. geboren sind Die geschaffen sind Zu dörren, statt zu leuchten, wie der Dichter sagt. Das groteske Vokabular karikiert den damaligen wissenschaftlichen Stil. Ebenso exzessiv wie die Syntax, werden auch Komposita gebildet: ohne Rücksicht auf ihre Lesbarkeit, nur aus purer Lust, die gelehrte Sprache nachzuahmen. Dieses Spiel mit der Wortbildung steht auf dem entgegensetzten Pol als das Gedicht über den Zwölf-anten, einem Tier, das durch eine willkürliche Silbentrennung und Sunstituition von Elef durch Zwölef Die Karikatur der geisttötenden Wissenschaft werden schon im Motto der Galgenlieder Ekstasen der befreiten Phantasie gegenübergestellt. Laß die Moleküle rasen, was sie auch zusammenknobeln![12] Laß das Tüfteln, laß das Hobeln, heilig halte die Ekstasen. Viele Gedichte basieren auf einem Wortspiel. aus: Der Gingganz (1919) Die drei Winkel Drei Winkel klappen ihr Dreieckt zusammen wie ein Gestell und wandern nach Hirschmereickt zum Widiwondelquell. Dort fahren sie auf der Gondel hinein in den Quellenwald und bitte die Widiwondel um menschliche Gestalt. Die Windel – ihr Dekorum zu wahren – spricht Latein: „Vincula, vinculorum[13] in vinculis Fleisch und Bein!“ Drauf nimmt sie die lockern Braten und wirft sie in den Teich: - Drei Winkeladvokaten entsteigen ihm sogleich. Drei Advokaten stammen aus dieses Weiher Schoß. Doch zählst du drei zusammen, so sind es zwei rechte bloß. Nur rechte Winkel hätten in Rechtsanwälte verwandelt werden können. Daß drei Winkeladvokaten „zusammengezählt“ „bloß“ zwei Rechtsanwälte (rechte) ergeben, ist nach dieser eigensinnigen Logik völlig plausibel. Morgensterns Gedicht Im Jahre 19000 erinnert an Paul Scheerbarts Text Die gebratene Ameise, der auch den Fleiß, eine der bürgerlichen Tugenden verspottet: Bei den fleißigen Ameisen herrscht eine sonderbare Sitte: Die Ameise, die in acht Tagen an meisten gearbeitet hat, wird am neunten Tage feierlich gebraten und von den Ameisen ihres Stammes gemeinschaftlich verspeist. Die Ameisen glauben, daß durch dieses Gericht der Arbeitsgeist der Fleißigsten auf die Essenden übergehe. Und es ist für eine Ameise eine ganz außerordentliche Ehre, feierlich am neunten Tage gebraten und verspeist zu werden. Aber trotzdem ist es einmal vorgekommen, daß eine der fleißigsten Ameisen kurz vorm Gebratenwerden noch folgende kleine Rede hielt: "Meine lieben Brüder und Schwestern! Es ist mir ja ungemein angenehm, das Ihr mich so ehren wollt! Ich muß Euch aber gestehen, daß es mir noch angenehmer sein würde, wenn ich nicht die Fleißigste gewesen wäre. Man lebt doch nicht bloß, um sich totzuschuften!" "Wozu denn?" schrien die Ameisen ihres Stammes — und sie schmissen die große Rednerin schnell in die Bratpfanne — sonst hätte dieses dumme Tier noch mehr geredet. Sich totschuften ist auch bei Morgenstern kein Lebensziel, aber die Verbindung von Emsen und Gemsen ist um des Reimes willen da. Em|sig|keit, die; -: rastloser Fleiß, unermüdliche Tätigkeit. Im Jahre 19000 Die Ameisen oder Emsen sind so weit jetzt, daß sie Gemsen sich als Sklaven halten (aus Gründen ihres Körperbaus). Da sie selber sehr viel kleiner, so bedienen sie sich einer Gemse oder zweier Gemsen zu Gebirgspartien, die Emsen. Ist sodann ein Adlernest abgesucht bis auf den Rest, gehn sie endlich, zog der Weih[14] schon den Ameisbären bei, wieder ihm aus Horst und Rock -- und besteigen ihren Bock, der sie, wie ein Stein, der springt, heim zu ihrem Hügel bringt. Angepflöckt, so stehn die Gemsen In der Nähe dort der Emsen, bei den Läusen u. s. w. und verwünschen ihre Reiter. Andere Klangähnlichkeit verbindet den Sündfloh und die Sündflut. Der Sündfloh Als schauerlich und grausenvoll die Sündflut um die Berge schwoll, kam noch im siebenten Moment ein junger Floh herzugerennt. Doch da das obligate Paar von Flöhen schon im Kasten war, so mußte Noah ihn bestimmen, ins nasse Grab zurückzuschwimmen. Voll Eifer gleichfalls protestierten die beiden, die bereits logierten, weil - riefen sie (besonders er) - ein dritter nicht gestattet wär. Der Sündfloh (denn er war es) blieb, obschon verborgen wie ein Dieb - und zwar (trotz Jahwen in der Höhe) von einem der zwei beiden Flöhe. Von welchem braucht man nicht zu sagen. Doch ward hierdurch aus Vorzeittagen das Dreieck, von dem Ibsen schreibt, der Neuzeit wieder einverleibt. Der Unterschied zwischen Karikatur und Parodie sollte im Fall von Morgenstern nochmals hervorgehoben werden: Parodie bezeichnet ein Verfahren, das charakteristische Merkmale einer Vorlage (Einzeltext oder Textgruppe) übernimmt, um diese Vorlage lächerlich zu machen. Morgensterns bedeutendster Zeitgenosse, der sich durch Parodien für Cabarets hervorgetan hat, war H. v. Gumppenbergs Das Teutsche Dichterroß in allen Gangarten vorgeritten (Mchn. 1901). Bei der Karikatur rückt der intertextuelle Aspekt in den Hintergrund, sonst ist auch hier die Überbetonung charakteristischer Züger ausschlaggebend. Robert Neumann, definierte die Parodie : 'Parodie ist Karikatur mit den Mitteln des Karikierten,” d. h. es entspricht der Karikatur ist nicht so sehr Verzerrung als vielmehr lustige Übertreibung des Charakteristischen. Christian Morgenstern als Parodieautor Die Parodien stammen aus den Sammlungen "Alle Galgenlieder" (1933) und "Die Schallmühle. Grotesken und Parodien" (1928). Das Gebet Die Rehlein beten zur Nacht, hab acht! Halb neun! Halb zehn! Halb elf! Halb zwölf! Zwölf! Die Rehlein beten zur Nacht, hab acht! Sie falten die kleinen Zehlein, die Rehlein. Blödelparodie auf Friedrich Nietzsches Gedicht "O Mensch! Gib acht!" aus "Also sprach Zarathustra". Friedrich Nietzsche Also sprach Zarathustra Das trunkene Lied (Kap. 12) O Mensch! Gib acht! Was spricht die tiefe Mitternacht? "Ich schlief, ich schlief -, "Aus tiefem Traum bin ich erwacht: - "Die Welt ist tief, "Und tiefer als der Tag gedacht. "Tief ist ihr Weh -, "Lust - tiefer noch als Herzeleid: "Weh spricht: Vergeh! "Doch alle Lust will Ewigkeit -, "- will tiefe, tiefe Ewigkeit!" Noch ein Gesang Walt Whitmans Parodie auf Walt Whitmans (1819 - 1892) lyrisches Hauptwerk "Leaves of Grass" ("Grashalme") . Whitman wurde relativ früh in Deutschland rezipiert und übte vor und nach der Jahrhundertwende einen sehr starken Einfluß auf die moderne Dichtung in Deutschland aus. Knochenfraß Parodie auf das Drama des Naturalismus, vor allem auf die überaus genauen Bühnenanweisungen und die stark vorherrschende Elendsthematik. Die Schallmühle. Grotesken und Parodien. Hrsg. dies., 1928; veränderte Neuausgaben u.d.T.: Böhmischer Jahrmarkt, 1938; Fisches Nachtgesang Das tiefste deutsche Gedicht. Parodie auf Goethes "Wanderers Nachtlied" - erkennbar an dem Genitiv im Titel und der Übereinstimmung zwischen den hier verwendeten Zeichen und den Silben in Goethes Gedicht. Christian Morgenstern Fisches Nachtgesang: das tiefste deutsche Gedicht. Vorlage Ein Gleiches Über allen Gipfeln Ist Ruh, In allen Wipfeln Spürest du Kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur, balde Ruhest du auch. Morgenstern, Die Möven sehen all so aus Möwenlied Die Möwen sehen alle aus, als ob sie Emma hießen. Sie tragen einen weißen Flaus[15] und sind mit Schrot zu schießen. Ich schieße keine Möwe tot, ich laß sie lieber leben - und füttre sie mit Roggenbrot und rötlichen Zibeben. O Mensch, du wirst nie nebenbei der Möwe Flug erreichen. Wofern du Emma heißest, sei zufrieden, ihr zu gleichen. Melancholie, Gedichte.1906; Morgenstern zählt zu den Lieblingsautoren der Studenten. Es gibt leider auch weniger schmeichelhafte Merkmale der Persönlichkeit Morgensterns: Mit emphatischer Zustimmung liest er die »Deutschen Schriften« (1901) des völkischen Chauvinisten u. Antisemiten Paul de Lagarde. Obwohl er die Derbheit u. Brutalität des »bürgerlichen« Antisemitismus ablehnt, unterliegt M. selbst seinen Denkmustern. Als politischer Romantiker tritt er für die Monarchie ein u. setzt gegen den sog. Massenmenschen den »Adel«, den er durch Stolz, Würde, Aufrichtigkeit u. den Kampf gegen Links definiert. 1908 jedoch lernt er Margareta Freiin Gosebruch v. Liechtenstein (1879-1968) kennen, sie heiraten 1910. Ihr Leben u. Arbeiten steht ganz im Zeichen der Anthroposophie. Dem »Menschheitsführer« u. »Sonnengeist« Rudolf Steiner, der ihm die Gestalt Jesu erschließt u. in dessen Vorstellung einer natürlich-harmonischen Weltordnung er die »persönliche Erlösung« (Kretschmer) findet, hat M. sich 1909 vorbehaltlos angeschlossen. Das neue Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft schreibt keine Natur- u. Reisegedichte mehr. Das Wandern ist jetzt Metapher für den »Pfad« der vollkommenen Vergeistigung des Menschen durch die Kraft der Liebe. M. widmet seinen letzten, postum erschienenen Gedichtband »Wir fanden einen Pfad« (1914) R. Steiner. Bei fortwährend bedenklichem Gesundheitszustand ist M. seit 1910 auf die Fürsorge seiner Frau angewiesen. Er stirbt 1914 in Meran, auf der Trauerfeier spricht Steiner die Gedächtnisworte. M.s Urne ist im Goetheanum in Dornach, dem Zentrum der Antroposophen, beigesetzt. Friedrich Stählin, M.s Spiel mit der Sprache, in: Muttersprache 1950, 276-285 W. Kayser, Das Groteske in Malerei und Dichtung, 1960 Alfred Liede, Dichtung als Spiel. Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache. 2 Bde, 1963; F. Rotermund, Die Parodie in der modernen deutschen Lyrik, 1963; Martin Beheim-Schwarzbach, C. M. in Selbstzeugnissen und Dokumenten, 1964 (1990); Friedrich Neumann, C. M.s »Galgenlieder«. Spiel mit der Sprache, in: Wirkendes Wort 14, 1964, H. 5, 332-350; - Hans Magnus Enzensberger, »Fisches Nachtgesang«, in: Frankfurter Anthologie 2, 1977, 92-102 E. Schwarz, C.M.: »Anto Logie«, in: Frankfurter Anthologie 4, 1979, 101-105 Das Groteske in der Dichtung. Hrsg. von Otto Best, 1980 Peter Christian Lang, Literarischer Unsinn im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Systematische Begründung und historische Rekonstruktion, 1982; - Ernst Kretschmer, Die Welt der Galgenlieder C. M.s und der viktorianische Nonsense, 1983; Ders., C.M., 1985; Dies., Greule Golch und Geigerich. Die Nabelschnur zur Sprach-Wirklichkeit in der grotesken Lyrik von C.M., 1983; Christine Palm, C.M.s groteske Phraseologie - ein Beitrag zur Rolle der Phraseologismen im literarischen Text, in: Beiträge zur allgemeinen und germanistischen Phraseologieforschung. Hrsg. von Jarmo Korhonen, 1987, 221-235 Adolf Muschg, Adele odel Isolde. Ein Sado Liedele, in: Akten des 7. Internationalen Germanisten-Kongresses, 1986, I, 134-136; Harald Weinrich, Uhrworte korfisch, in: Akten des 7. Internationalen Germanisten-Kongresses, 1986, I, 129-131 Ein Knie geht einsam durch die Welt. Mein liebstes Morgenstern-Gedicht. Hrsg. von Walter Kempowski, 1989 Spiel mit Morgenstern: http://www.lehrer-online.de/dyn/9.asp?url=311830%2Ehtm Das ästhetische Wiesel Ein Wiesel saß auf einem Kiesel inmitten Bachgeriesel. Wisst ihr, weshalb? Das Mondkalb verriet es mir im Stillen: Das raffinierte Tier tats um des Reimes willen. Das anschließende Unterrichtsgespräch über die Raffinesse des Wiesels ergibt die restlichen Reime (vor allem die Trennung bei "raffinier/ te Tier Christian Morgenstern Das Nasobēm Auf seinen Nasen schreitet einher das Nasobēm, von seinem Kind begleitet. Es steht noch nicht im Brehm. Es steht noch nicht im Meyer. Und auch im Brockhaus nicht. Es trat aus meiner Leyer zum ersten Mal ans Licht. Auf seinen Nasen schreitet ... ... einher das Nasobēm. Lösung Christian Morgenstern Das Nasobēm Auf seinen Nasen schreitet einher das Nasobēm, von seinem Kind begleitet. Es steht noch nicht im Brehm. … Es steht noch nicht im Meyer. Und auch im Brockhaus nicht. Es trat aus meiner Leyer zum ersten Mal ans Licht. Auf seinen Nasen schreitet (wie schon gesagt) seitdem, von seinem Kind begleitet, einher das Nasobēm. Behemoth – hebr. Pl. von behema – Vieh in der Bibel *Hiob, 40, 10 – 19 – wahrscheinlich Flußpferd. Das Wort ist ägyptischen Ursprunges _40,15 Siehe da den Behemot*, den ich geschaffen habe wie auch dich! Er frißt Gras wie ein Rind. *d. i. ein Riesentier, nach der Art des Nilpferds. 40,16 Siehe, welch eine Kraft ist in seinen Lenden und welch eine Stärke in den Muskeln seines Bauchs! 40,17 Sein Schwanz streckt sich wie eine Zeder; die Sehnen seiner Schenkel sind dicht geflochten. 40,18 Seine Knochen sind wie eherne Röhren, seine Gebeine wie eiserne Stäbe. 40,19 Er ist das erste der Werke Gottes; der ihn gemacht hat, gab ihm sein Schwert. 40,20 Die Berge tragen Futter für ihn, und alle wilden Tiere spielen dort. 40,21 Er liegt unter Lotosbüschen, im Rohr und im Schlamm verborgen. 40,22 Lotosbüsche bedecken ihn mit Schatten, und die Bachweiden umgeben ihn. 40,23 Siehe, der Strom schwillt gewaltig an: er dünkt sich sicher, auch wenn ihm der Jordan ins Maul dringt. 40,24 Kann man ihn fangen Auge in Auge und ihm einen Strick durch seine Nase ziehen? _40,25 Kannst du den (a) Leviatan* fangen mit der Angel und seine Zunge mit einer Fangschnur fassen? 40,26 Kannst du ihm ein Binsenseil an die Nase legen und mit einem Haken ihm die Backen durchbohren? 40,27 Meinst du, er wird dich lang um Gnade bitten oder dir süße Worte geben? 40,28 Meinst du, er wird einen Bund mit dir schließen, daß du ihn für immer zum Knecht bekommst? Das große Lalula Kroklokwafzi? Semememi! Seiokrontro - prafriplo: Bifzi, bafzi; hulalemi: quasti basti bo... Lalu lalu lalu lalu la! Hontraruru miromente zasku zes rü rü? Entepente, leiolente klekwapufzi lü? Lalu lalu lalu lalu la! Simarar kos malzipempu silzuzankunkrei (;)! Marjomar dos: Quempu Lempu Siri Suri Sei []! Lalu lalu lalu lalu la! [Morgenstern: Galgenlieder, AW, S. 249)] ________________________________ [1] Chvilky úsměvů / Název originálu: Augenblicke des Lächelns Praha : Vyšehrad,2003, [47] s. Slova k pousmání / Název originálu: Worte des Lächelns Praha : Vyšehrad,2001 Stupně: výklad v aforismech a deníkových zápiscích / Název originálu: Stufen Praha: Vyšehrad, 2002. 174 s. [z německého originálu přeložila Alena Mrázková] [2] Beránek měsíc. Praha: Odeon, 1989. [3] Palström. Praha: Vyšehrad, 2001. [4] Galgenlieder. Praga: Labyrinth, 2000. [5] Mu|lus, der; -, Muli [lat. mulus]: lat. Bez. für Maulesel, -tier. Abiturient vor dem Beginn des Studiums [6] feine, geistreiche Verspottung durch übertreibende od. ironisierende Darstellung bzw. Nachahmung. [7] Ein Findling, auch Erratischer Block genannt, ist ein meist einzeln liegender großer Gesteinsblock, der durch Gletscherströme in den Eiszeiten an die heutige Stelle verdriftet (transportiert und abgelegt) wurde. [8] Wilson, Anthony T.: Über die Galgenlieder Christian Morgensterns, Würzburg: Königshausen und Neumann, 2003. (= Epistemata – Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft, Band ). [9] der Stadt Werder (Havel) im Landkreis Potsdam-Mittelmark in Brandenburg Werder bedeutet: erhöhtes, von Gewässern umgebenes Land [10] Alfred Liede, Dichtung als Spiel - Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache, Berlin / New York 1992 [11] Eugenio Coseriu, Jörn Albrecht: Textlinguistik: Eine Einführung. Tübingen: Gunter Narr Verlag, 2007, S. 102. [12] (ugs.) angestrengt über die Lösung eines Problems nachdenken: wir knobelten, wie man es machen könnte; an Verbesserungen, an einer neuen Methode k.; an diesem Rätsel habe ich lange geknobelt. © Duden - Deutsches Universalwörterbuch, 5. Aufl. Mannheim 2003 [CD-ROM]. [13] Pl. von vinculum – pouto, vazba vincula tori – svazek manželský [14] Wei|he, die; -, -n [mhd. wêe, ahd. wêo, H. u., viell. zu ˛Weide; dann eigtl. = Jäger, Fänger]: schlanker, mittelgroßer Greifvogel mit langen, schmalen Flügeln u. langem Schwanz, der seine Beutetiere aus dem Flug erjagt. luňák (obecný) [15] Flaus, der; -es, -e (veraltet): Flausch;