Naturalismus Welchen Unterschied gibt es zwischen folgenden Ausdrücken: Naturalismus des sog. ›Volksstücks‹ im 20. Jh. und Als herausragender Vertreter des Naturalismus gilt heute Henrik Ibsen ? Naturalismus ist ein systematischer[1] und literarhistorischer Begriff. Naturalismus und Realismus werden allerdings oft auch synonym verwandt; so haben sich die deutschen Naturalisten um 1890 meist selbst als Realisten bezeichnet. Als literarhistorische Epoche wird mit Naturalismus die europ. Literaturbewegung der 70er bis 90er Jahre des 19. Jh. erfaßt, die in Frankreich ihren Ausgang nahm und in Rußland, Skandinavien und Deutschland Zuspruch fand. Als herausragende Vertreter gelten heute Emile Zola[2], Edmond und Jules de Goncourt[3], Henrik Ibsen[4], August Strindberg[5], Leo Tolstoj[6], Gerhart Hauptmann, Arno Holz und Johannes Schlaf. Arno Holz fand 1891 in seinem Werk Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze. eine Gesetzmäßigkeit in allen Geschehen. Von ihm stammt die mathematische Formel "Kunst = Natur - x". Das "x", die Differenz aus Natur und Kunst, müsse dabei so klein wie möglich sein, damit durch die Literatur eine möglichst exakte Abbildung der Realität erfolgt. Welche gesellschaftlichen Umstände haben diesen neuen Stil der Darstellung herausgefordert? Der Naturalismus stellt eine literarisch Reaktion auf die schnelle Entwicklung im 19. Jh. dar. Die industrielle Revolution, die Urbanisierung und die dabei entstehenden kulturellen, politischen, ökonomischen und sozialen Spannungen. Max Kretzer ist es in einem seiner Romane, Meister Timpe (Lpz. 1888), gelungen, eine glaubhafte sozialkritische Studie aus dem Handwerkermilieu zu liefern. Das Vordringen der Mechanisierung und die rücksichtlose Konkurrenz des Fabrikanten Urban treibt den Handwerk in den Ruin und in den Tod. Sein Haus wird durch den Bau der Berliner Stadtbahn entwertet, Timpes Sohn stiehlt dem Vater wichtige neue Muster und überreicht sie an Urban. Timpe stirbt, als er seinen Enkel als Dieb entdeckt. Es fehlt nicht ein maschinenstürmerischer Wahn Timpes, den der Erzähler aber nicht teilt und den Untergang des Handwerks als unvermeidlich schildert. Die Vertreter der Ära gelten allerdings als amoralisch. Franz Timpe, der Sohn, vertritt, die neue Generation der beginnenden Gründerjahre, welche nur danach trachtete, auf leichte Art Geld zu erwerben. Die naturalistische Prosa wurde dann nochmals in der Mitte der 90er Jahre belebt, als z.B. mit Wilhelm von Polenz' Der Büttnerbauer (Lpz. 1895) oder Clara Viebigs Romanen die Welt des Landproletariats entdeckt wurde. Sachlich legt Polenz die Gründe für den Verfall des Büttnerbauerngeschlechts dar: Erbschaftsschwierigkeiten, Familienstolz, eine altmodische Bewirtschaftung des Hofes, Intrigen seines Schwagers und Spekulationen des jüdischen Güterschlächters Samm Harrassowitz führen zur Zwangsversteigerung des Hofs von Lausitzer Großbauern Traugott Büttner. Eine völkische Lesart des Romans möglich. Der älteste Sohn des Bauern verfällt dem Alkoholismus, die tochter gebiert ein uneheliches Kind und ein käufliches Mädchen und der dritte Sohn zieht als Wanderarbeiter in den Westen und lernt die Welt des Proletariats kennen und sieht ein, dass er trotz seiner Abneigung zum Sozialismus sein Leben in der Großstadt führen muss. Wogegen haben die Vertreter des Jüngsten Deutschland protestiert? Der dt. Naturalismus, dessen Hauptphase etwa das Jahrzehnt von 1885 bis 1895 umfaßt, läßt sich in ein grobes Entwicklungsschema einpassen: Zunächst wurde gegen die seichte Unterhaltungsliteratur der Gründerzeitepoche nach 1871 protestiert, in der literar. Historiengemälde und eine beschaulich-frivole Liebeslyrik gepflegt wurden. Mit scharfen Worten geißelten die jungen Naturalisten, die sich in Berlin und München - meist zum Studium - zusammenfanden, die ›Verlogenheit‹ dieser Literatur und setzten sich energisch für eine neue ›Wahrheit‹ ein. Zu den prominenten Vertretern der patriotischen Unterhaltungsliteratur zählte Felix Dahn (1834-1912). Sein Roman Ein Kampf um Rom (1876) popularisierte seine historiographischen Arbeiten: In sieben Büchern umfaßt er den Zeitraum von 526-552 n. Chr., also vom Tod Theoderichs des Großen bis zur letzten Schlacht der Ostgoten. Der (frei erfundene) röm. Antagonist der Goten, Cethegus, sucht sie durch Intrigen zu spalten und die Macht an sich zu reißen. Sieger aber bleibt letztl. der byzantin. Kaiser Justinian, der mit beiden Lagern paktiert und Heere unter Belisar und Narses nach Italien schickt - nicht zuletzt um dort eigene Interessen wahrzunehmen. (bis 1900 30 Auflagen). Neben seiner Fähigkeit zur oberflächlich-spannenden Gestaltung war es gerade Dahns patriotischer und pathetischer Grundton, der seinem Werk in der Zeit nach der Reichsgründung Resonanz verschaffte. Sein rechtshistor. Hauptwerk ist die Darstellung Die Könige der Germanen (12 Bde., Mchn./Würzb./Lpz. 1861-1909). Er schrieb auch Monographien über Themen der Völkerwanderungszeit. Emanuel Geibel (1815-1884) war ein gefeierter Lyriker der deutschen Einigungsbestrebungen unter preußischer Führung; 1852-68 Haupt des Münchner Dichterkreises. Seine Lyrik (z. T. zum Volksgut geworden wie »Der Mai ist gekommen«) erweist ihn formal als virtuosen Epigonen des Klassizismus. Arno Holz erhielt für sein Geibel-Gedenkbuch (Bln./Lpz. 1884) mehr als 200 Beiträge namhafter Literaten. Das Ansehen, in dem Geibels Werk bei einem Großteil der Zeitgenossen stand, wich indes mit Beginn der Moderne zunehmender Ablehnung, bis es nur noch als Symptom einer abgelebten Kunstauffassung registriert wurde. Paul Heyse, (seit 1910 in den Adelsstand erhoben) – (1830-1914) war Mittelpunkt des Münchner Dichterkreises. Bedeutsam für ihn war die klassisch-romant. Bildungsüberlieferung. Er widmete sich literarisch (»Novellen«, darin »L'Arrabbiata«, 1855) und als Theoretiker der Novelle (Falkentheorie von 1871, wobei »Falke« für symbolhaftes Leitmotiv steht: Heyse erläuterte sie am Beispiel jener Boccaccio-Novelle, in der ein verliebter, aber verarmter Jüngling seiner Angebeteten seinen einzigen Besitz, einen Falken, als Essen serviert); Nobelpreis für Literatur 1910. Auf Vermittlung Geibels erreichte den 24jährigen der Ruf des bayerischen Königs Maximilian II. 1854 übersiedelte H. nach München und nahm regelmäßig teil an den »Symposien« des Königs im Dichter- und Gelehrtenkreis um Geibel. Dank Heyses außerordentlichem Talents im gesellschaftl. Umgang und seiner rasch wachsenden, beifällig aufgenommenen literarischen Produktion konnte er sich als Hofpoet und Dichterfürst in der Nachfolge Goethes behaupten. Thomas Mann nannte Heyse »einen fast unanständigen Epigonen« (an Maximilian Harden, 30. 8. 1910). Sein Werk umfaßt etwa 150 Novellen (ges. in 18 Bänden zwischen 1855 und 1886) und Versepen, über 60 Dramen, acht z. T. mehrbändige Romane usw. Naturalisten wandten sich auch gegen die anachronistische Butzenscheiben-Poesie, die romantische Motive als Flucht vor der hektischen Zeit anbot. Zu den populären Vertreter dieser Dichtkunst zählte Rudolf Baumbach (1840-1905) Er war u. a. Lehrer in Graz und Brünn und Hauslehrer in Görz und Triest, wo er 1870-81 die Alpenvereinszeitschrift »Enzian. Ein Gaudeamus für Bergsteiger« herausgab. Seit 1881 lebte er als freier Schriftsteller. 1885 kehrte er in seine Vaterstadt Meiningen zurück, erhielt eine Bibliothekarsstelle. Er war einer der populärsten Autoren der 1880er Jahre; sein Versepos Zlatorog erlebte über 100 Auflagen und Bearbeitungen (u.a. als Oper und Kantate). 1878 veröffentichte er Lieder eines fahrenden Gesellen und 1880 Neue Lieder eines fahrenden Gesellen, in denen er eine zeitenhobene Geselligkeit und romantische Liebe feierte: Die Zither lockt, die Geige klingt, Juchhe, im Dorf ist Tanz! Der Michel seine Lise schwingt, Die Grete schwingt der Hans. Ein Mädel flink zu drehen Ist gar ein gutes Ding. Ich mag nicht müssig stehen Und springe in den Ring. Des reichen Schulzen Katherein Ist hochgemuth und keck; Des Müllers rundes Töchterlein Ist gar ein lieber Schneck. Doch von den Dirnen allen, Die auf dem Plane sind, Will mir zumeist gefallen Des Geigers braunes Kind. Den Silberling nimm, Alter, hin Und spiel' dein schönstes Stück; Gieb mir die Hand, Zigeunerin, Ihr andern, weicht zurück! Nun jubelt auf ihr Geigen, Ihr Pfeifen klingt und gellt! Denk', Mädel, uns zu eigen Ist heut die ganze Welt. Schau' nicht so ängstlich vor dich hin, Schlag' auf die Augen hell! Ich bin, wie du Landfahrerin, Ein fahrender Gesell. Zu mein' und deiner Freude Der Mai die Rosen schuf, Und ich und du, wir beide, Sind besser als unser Ruf. Welche Rolle spielte das Vorbild Zolas? Von 1878 an berichtete Michael Georg Conrad in der Frankfurter Zeitung aus Paris über Zola, der früher nur als Schmutzfink (Gartenlaube) oder als jemand, der nur das Hässliche im Leben sieht und mit Vorliebe in Kot wühle (Blätter für literarische Unterhaltung), bezeichnet wurde. Welche Zeitschriften halfen den Naturalismus zu verbreiten? 1885 eröffnete Michael Georg Conrad, der zur leitenden Figur des Münchner Kreises wurde, seine Zeitschrift »Die Gesellschaft« (1885-1902) mit emphatischen Worten: »Unsere ›Gesellschaft‹ wird keine Anstrengungen scheuen, der herrschenden, jammervollen Verflachung und Verwässerung des litterarischen, künstlerischen und sozialen Geistes starke, mannhafte Leistungen entgegenzusetzen, um die entsittlichende Verlogenheit, die romantische Flunkerei und entnervende Phantasterei durch das positive Gegenteil wirksam zu bekämpfen. Wir künden Fehde dem Verlegenheits-Idealismus des Philistertums, der Moralitäts-Notlüge der alten Parteien- und Cliquenwirtschaft auf allen Gebieten des modernen Lebens.« Die wichtigste Zeitschrift der Berliner Naturalisten hieß Freie Bühne, aus der später die repräsentative Zeitschrift des Fischer-Verlafes Die neue Rundschau hervorgegangen ist. Sie begann 1890 als Wochenschrift zu erscheinen, ihrer erster Redakteur war Regiesseur Otto Brahm, der 1891 von Wilhelm Bölsche, 1893 von Julius Hart und 1894 endgültig von Ocsar Bie abgelöst wurde. Im Programm der Zeitschrift stand: Ein freie Bühne für das moderne Leben schlagen wir auf. im Mittelpunkt unserer Bestrebungen soll die Kunst stehen; die neuen Kunst, die die Wirklichkeit anschaut und das gegenwärtige Dasein. Die Kunst der Heutigen umfasst mit klammernden Organen ales was lebt, Natur und Gesellschaft; darum knüpfen die engsten und die feinsten Wechselwirkungen moderner Kunst und modernes Leben aneinander, und wer jene ergreifen will, muss streben, auch dieses zu durchdringen in seinen tausend Linien, seinen sich kreuzenden und bekämpfenden Daseinstrieben. Die Zeitschrift pries Ibsen und noch mehr Hauptmann, wogegen Holz´ und Schlafs Familie Selicke auf Ablehnung stieß. Die Zeitschrift identifizierte sich nicht mit dem Naturalismus als Gesamtbewegung. Das hat wiederholte Sezessionen zur Folge (Holz, Schlaf, die 1890 hier ihre Prosaskizze Die papierene Passion veröffentlichten, Bahr, zeitweilig auch Brahm). Seit der Redaktion Bies zeigte sie eine überparteiliche Haltung und veröffentlichte – schon als Monatsschrift – bedeutende nicht naturalistische Werke. Politisch hielt sich die Zeitschrift zurück. Wichtig war der Anteil jüdischer Autoren (Stefan Zweig, Arthur Schnitzler, Jakob Wassermann), aber auch der Vertreter der Neuromantik wie H. Hesse oder Richarda Huch. In Berlin ging der erste Impuls von den Brüdern Heinrich und Julius Hart aus, die 1882-1884 ihre »Kritischen Waffengänge« herausgaben. Ihr Verhältnis zu Zola war kritischer als in München. Sie warfen ihm Anhäufung schildernder Details, die Armut an Erfindung und die Überwucherung des Nebensächlichen vor. Sie stellten auch seinem Determinismus einen neuen idealistischen Realismus gegenüber. Die poesiegetränkte Wahrheit suchten sie bei dem jungen Goethe des Sturm und Drang: wird unsere Poesie die rechte Mitte finden zwischen erdfrischem Realismus und hoher Idealität, zwischen kosmopolitischer Humanität und selbstbewusstem Nationalismus, …nur dann wird sie das Höchste erreichen, nämlich aus dem vollen Born der Gegenwart schöpfend ursprüngliche, individuell gefärbte Natur zum Ideal verklären. Auch Wilhelm Bölsche warnt in seinen Naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie (1887) vor dem Sturz in die Detailmasse des exacten Fachwissens. Hermann Conradi (1862-1890) distanziert sich in seinem Vorwort zu den Modernen Dichter-Charakteren (1885) gegen Zolas Internationalismus. Arno Holz, der Zola noch 1887 den Shakespeare des Romans nannte, griff ihn 1890 wegen seiner positiven Einschätzung des Temperaments an. Wie kündigte sie die literarische Bewegung in der zweiten Hälfte der 80er Jahre an? Im 1886 gegründeten Verein »Durch« debattierten die Berliner Naturalisten über Kunst und Literatur, ein ›neues Drama‹, Georg Büchner, die Bedeutung der Naturwissenschaften und über gesellschaftspolit. Themen wie Anarchismus und Sozialismus. Obwohl sich die Naturalisten für Zolas sozialkritische Romane begeisterten, traten sie zunächst mit eigener Lyrik hervor: 1885 erschien in Berlin die Lyrikanthologie Moderne Dichter-Charaktere (Hg. Wilhelm Arent), in der fast alle jungen Naturalisten vertreten waren. Die meisten Gedichte demonstrierten noch eine starke Traditionsbindung, allenfalls in den neuen sozialkritischen und politischen Tönen war das ›Moderne‹ zu fassen. Einzig Arno Holz, dessen Buch der Zeit (Zürich 1886) diesen Eindruck noch verstärkte, zeigte herausragende formale Fähigkeiten und einen selbstsicheren und überzeugenden Umgang mit den ›modernen‹ Themen. Da sich die Lyrik für eine engagierte Sozialkritik als schwierige Gattung erwies und zudem keinen starken Widerhall fand, erprobten die meisten Naturalisten bald eine an Zola ausgerichtete Prosa. Obwohl sie mit der erstarkenden Sozialdemokratie sympathisierten und sich für den Kampf des Proletariats einsetzen wollten, fehlten ihnen oft die Kenntnisse und auch die Kraft, Themen zu gestalten, bei denen die Arbeiter und ihre Probleme im Mittelpunkt standen. Statt dessen zeigten sich die Naturalisten fasziniert von der Halbwelt des Kneipen- und Dirnenmilieus oder des Lumpenproletariats. Sammlungen von Novellen bzw. Kurzgeschichten - z.B. Karl Bleibtreus Schlechte Gesellschaft (Lpz. 1885) oder Hermann Conradis Brutalitäten (Zürich 1886) - stellten sich in eine Tradition, die Elend und Armut, Alkoholismus und Prostitution dem voyeuristischen Blick des Lesers auslieferte. Welche kürzere naturalisitische Prosatexte haben die spätere Literaturentwicklung mitgeprägt? Für die Entwicklung des dt. Naturalismus sind jedoch Hauptmanns »novellistische Studie« Bahnwärter Thiel (in: Die Gesellschaft, 1888) und vor allem die Prosaskizzen Papa Hamlet (Lpz. 1889) von Arno Holz und Johannes Schlaf wichtig. Blieb Hauptmanns novellistische Studie noch in vielem der realistischen Novellentechnik verhaftet, so wiesen Holz' und Schlafs Milieustudien aus dem Kleinbürgertum den Weg zum ›konsequenten Naturalismus‹. In dieser Prosa wurde erstmals in Deutschland jener nüchtern-objektive Darstellungsgestus erprobt, den Zola im Roman expérimental (1880) gefordert hatte. Der Dichter sollte als »Arzt-Experimentator« die »menschliche Maschine« auseinandernehmen und wieder zusammensetzen, um im aufgezeigten Verhalten der Menschen die das Leben bestimmenden Gesetzmäßigkeiten erkennen zu lassen. Für Holz und Schlaf führte diese Maxime zu einer Darstellungstechnik, die einfachsten Gegenständen und scheinbar unwichtigen Handlungen intensive Aufmerksamkeit widmete. Was ist Sekundenstil? Mit Recht ist von Adalbert von Hanstein dafür der Begriff »Sekundenstil« geprägt worden[7]. Er forderte eine annähernd zeitdeckende Erzählung (Erzählzeit = erzählte Zeit) bis hin zum Zeitlupeneffekt (Erzählzeit länger als erzählte Zeit). Er erläutert ihn anhand eines Beispiels eines fallenden Blattes: "Die alte Kunst hat von einem fallenden Blatt weiter nicht zu melden gewußt, als daß es im Wirbel sich drehend zu Boden sinkt. Die neue Kunst schildert diesen Vorgang von Sekunde zu Sekunde; sie schildert, wie das Blatt jetzt auf dieser Stelle, vom Lichte beglänzt, rötlich aufleuchtet, auf der anderen Seite schattengrau erscheint, in der nächsten Sekunde ist die Sache umgekehrt; sie schildert, wie das Blatt erst senkrecht fällt, dann zur Seite getrieben wird [...]. Eine Kette von einzelnen, ausgeführten, minuziösen Zustandsschilderungen, geschildert in einer Prosasprache, die unter Verzicht auf jede rhythmische oder stilistische Wirkung der Wirklichkeit sich fest anzuschmiegen sucht, in treuer Wiedergabe jeden Lauts, jeden Hauchs, jeder Pause - das war es, worauf die neue Technik abzielte." Vor allem aber in der Sprache und der Sprechweise, der Berücksichtigung von Gestik und Mimik, der Nachzeichnung kleiner verräterischer Eigenheiten sollte das jeweils Individuelle faßbar werden. Der Vorwurf, hier würden Phonographie und Photographie zum leitenden Prinzip der Literatur, ist nur z. T. berechtigt, denn dem Naturalismus ging es zwar um eine quasi distanzierte wissenschaftl. Darstellungsweise, aber damit sollte zugleich das ›Seelische‹, der Charakter der Personen, sichtbar gemacht werden. Verständlich wird diese neue literarische Technik nur, wenn man sich vor Augen hält, wie sehr die dt. Naturalisten ihre literarische Tätigkeit - ähnlich wie Zola - wissenschaftlich legitimierten. Welche theoretische Arbeiten enthalten das Programm der Naturalisten? Vor 1892 gab es eine kurze intensive Theoriediskussion, die für die Entwicklung des dt. Naturalismus sehr wichtig war. Karl Bleibtreus Revolution der Literatur (Lpz. 1886), Wilhelm Bölsches Naturwissenschaftliche Grundlagen der Poesie (ebd. 1887), Eugen Wolffs Die jüngste deutsche Litteraturströmung und das Princip der Moderne (Bln. 1888), Conrad Albertis Essaysammlung Natur und Kunst (Lpz. 1890), Hermann Bahrs Zur Kritik der Moderne (Zürich 1890), Arno Holz' Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze (Bln. 1891), Leo Bergs Der Naturalismus. Zur Psychologie der modernen Kunst (Mchn. 1892). Vertreten wurde in diesen Schriften der neue wissenschaftl. Positivismus und Empirismus und ein an den Naturwissenschaften ausgerichtetes Weltbild. Die französischen Soziologen Auguste Comte und Hippolyte Taine, die englischen Empiristen John Stuart Mill und Herbert Spencer, die Zoologen Charles Darwin und Ernst Haeckel wurden als Kronzeugen für diese neue Weltanschauung zitiert, die mit Begriffen wie ›Evolution‹, ›Selektion‹, ›Determinismus‹, ›Kausalität‹, ›Objektivität‹ und vor allem ›Gesetz‹ verbunden wurde. Selbst für die Kunst glaubte Holz ein »Kunstgesetz« formulieren zu können: »Kunst = Natur - x«. Auch wenn es Holz nicht um eine platte Widerspiegelungsästhetik ging, so schwingt in solchen Aussagen doch ein zeittypischer Optimismus mit, für alle Vorgänge in der Welt Erklärungen und Gesetze zu finden. So glaubten die Naturalisten in Anlehnung an die von Taine angebotenen drei ›Hauptkräfte‹ ›race‹ (Abstammung), ›moment‹ (historische Situation) und ›milieu‹ (soziale Umstände) die Antriebe der »menschlichen Maschine« (Zola) gefunden zu haben. Welche Merkmale unterscheiden das naturalistische Drama von der älteren Tradition des 19. Jh.? Den Naturalisten ging es im Drama um Milieustudien aus der sozialen Unterschicht, wobei sie weniger das Proletariat als das Kleinbürgertum beschäftigte. Dieses ›soziale Drama‹ - wie z.B. Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (Bln. 1889) - ist vorrangig Familiendrama. Wie Holz und Schlaf in Die Familie Selicke (ebd. 1890) zeigten auch die anderen Naturalisten gern die Abhängigkeit des Menschen von ökonomischen und sozialen Bedingungen in Familienkonflikten auf. Hauptmann gelingt allerdings in seinem für die Epoche wirkungsvollsten Drama Die Weber (ebd. 1892) eine Verknüpfung von individuellen und sozialökonomischen Faktoren, von Privatem und Öffentlichem. In den meisten anderen Dramen wurde das bürgerliche Publikum durch die Darstellung von trister Kleinbürgerwelt provoziert. Nicht nur die Stoffe schockierten, sondern auch eine neue Dramaturgie und eine naturalistische Sprache, die sich als »Sprache des Lebens« (Holz) ausweisen wollte. Um solche Illusionswirkung zu erzielen, wurde oft eine Orts- und Zeiteinheit hergestellt: Die meisten Dramen sind ›Zimmerstücke‹, in denen der Raum symbolisch Abhängigkeit, Entfremdung und Lebensenge repräsentiert. Dagegen wurde die Handlungseinheit bewußt aufgehoben, da im Interesse der ›Wahrheit‹ eine Art Ausschnitt aus dem Leben inszeniert wurde. Hinter allem mußte das ›Gesetz‹, z.B. die Vererbungs- oder Milieutheorie, aufscheinen. Den Naturalisten ging es weniger um eine traditionelle Handlung als um die Zeichnung von Charakteren, ihre Stücke wollten ›Seelendramen‹ sein, d.h. im Äußeren sollte sich das Innere zu erkennen geben. Was ist ein analytisches Drama? Naturalisten zeigten die hinter einer glatten Oberfläche verborgenen Abgründe in menschlichen Beziehungen u. a. mit der Technik des analytischen Dramas.Das analytische Drama, auch Enthüllungsdrama genannt, ist eine Dramenform, in der entscheidende Ereignisse"vor dem Beginn" der Bühnenhandlung geschehen sind. Die sich anbahnende Katastrophe erscheint als Folge von Tatbeständen, die den Bühnenfiguren nicht oder nicht in voller Tragweite bekannt sind. Als Musterbeispiel des analytischen Dramas gilt "König Ödipus" von Sophokles. Schillers Trauerspiel "Die Braut von Messina", 1803; "Der zerbrochene Krug", 1808 Heinrich von Kleist; "Maria Magdalena", 1843 Friedrich Hebbel, im naturalistischen Drama z.B. "Meister Oelze", 1892 Johannes Schlaf, "Der Biberpelz", 1883 Gerhart Hauptmann oder bei Henrik Ibsen (v.a. "Gespenster" und "Rosmersholm") sind so geschrieben. Veranschaulichen kann man die Bühnenwirksamkeit der Form an Ibsens Drama "Gespenster", norwegisch Gengangere. Personen: Helene Alving, Witwe des Hauptmanns und Kammerherrn Alving. Osvald, ihr Sohn, Maler. Manders, Pastor. Engstrand, Tischler. Regine Engstrand, im Hause der Frau Alving. Frau Helene Alving ist die Witwe des Hauptmanns und Kammerherren Alving auf Rosenvold, eines in seiner Umgebung hochangesehenen Mannes. Für sie war die Ehe unglücklich, aber sie setzte all ihre Kräfte daran, zu verbergen, dass ihr Mann eigentlich Alkoholiker war, und dass er seine wilden Gelüste auf dem Herrenhof auslebte. Alving hatte zwei Kinder, eine Tochter, Regine, mit einem Dienstmädchen im Haus, und einen Sohn, Osvald, mit seiner Frau. Regine, die glaubt der Tischler Engstrand sei ihr Vater, ist nun als Dienstmädchen bei Frau Alving angestellt, während Osvald bereits als Kind von seiner Mutter ins Ausland geschickt wurde, um ihn von den häuslichen Verhältnissen fern zu halten. Regine träumt davon, mit Osvald nach Paris zu reisen. Osvald ist aus Paris, wo er als Maler lebt, nach Hause zurückgekehrt, um der Einweihung des Kinderheims beizuwohnen. Auch der Pastor Manders, der die Finanzen des Kinderheims verwaltet, ist zu Besuch. In ihrer Jugend war Frau Alving in Manders verliebt und wollte von Alving zu ihm fliehen, er aber wies sie ab und schickte sie zu ihrem Mann zurück. In der Nacht vor der Einweihung brennt das Kinderheim, die "Hauptmann-Alving-Stiftung", bis auf die Grundmauern nieder. Osvald erzählt seiner Mutter, dass er an Syphilis leidet, die er sich, wie er glaubt, durch sein Leben als Boheme in Paris zugezogen hat. Er hat Angst davor, ein Pflegefall zu werden, und hofft, Regine wird sich bereit finden, ihm zu helfen, sein Leben mit Morphium zu beenden, wenn die Krankheit in ihr letztes Stadium tritt. Aber als Regine begreift, dass Osvald krank und noch dazu ihr Halbbruder ist, verlässt sie Rosenvold, um sich auf eigene Faust in der Stadt durchzuschlagen. Frau Alving erzählt ihrem Sohn die Wahrheit über seinen Vater, und dass Osvald die Syphilis von ihm geerbt hat. Ihr bleibt nun die Entscheidung überlassen, ob sie ihrem Sohn helfen will, ob Sie also bereit ist, ihm die Morphiumtabletten zu verabreichen. Das Stück endet damit, dass die Sonne aufgeht und Osvalds Krankheit in ihr Endstadium tritt. Quelle: Merete Morken Andersen, Ibsenhåndboken (Ibsenhandbuch), Gyldendal Norsk Forlag, 1995 ________________________________ [1] Wirklichkeitstreue, -nähe in der Darstellung; Seit Schiller, der Anmut und Würde von der Kunst verlangte, galt die Unfähigkeit, sich von den Handlungszwängen der sozialen und politischen Realität wenigstens in seiner Einbildungskraft zu befreien, als mangelnde Freiheit der Gedanken : Anmut ist eine Schönheit, die nicht von der Natur gegeben ist, sondern von dem Subjekte selbst hervorgebracht wird. Der rohe Naturtrieb soll vergeistigt und versittlicht werden. Die Würde erscheint im Leiden (pathos) und ist in die Nähe des Erhabenen gerückt. [2] »Thérèse Raquin« (R., 1867), Vorwort. 1881: Le naturalisme au théâtre; Le roman expérimental: Erfolgreicher als Bühnenautor war war Zolas Gegner Henry Becque mit sienem Stück Les Corbeauy, Krkavci, 1882 [3] Im Vorwort zu »Germinie Lacerteux. Der Roman eines Dienstmädchens« (1864) theoretisch begründet. Ihr Drama Henriette Maréchal, 1863. Die Untersuchung nervös-empfindsamer Gemütsstörungen – etwa in dem Roman La Faustin (1881) – wurde von Karl Bleibtreu, Helen Böhlau und Gabriele Reuter, nicht zuletzt von den Brüdern Mann in ihrem Werk aufgenommen. [4] »Stützen der Gesellschaft« (1877) [5] später, erst in den 80er Jahren naturalistische Dramen »Der Vater« (1887) und »Fräulein Julie« (1888) [6] Sein Drama »Die Macht der Finsterniß« (1886) wurde in Paris von André Antoine aufgeführt (1888) [7] In seiner Schrift Das jüngste Deutschland (1900) im Hinblick auf die Studie Papa Hamlet.