Arie Wilschut Die Reformation in niederländischen Geschichtsschulbüchern Die Niederlande – eine protestantische Nation? Die Reformation ist ein wichtiges und bedeutungsgeladenes Thema für die niederländische Geschichte, insofern als die Entstehung des niederländischen Staates eng mit diesem Thema verbunden ist. Im Jahre 1566 begann ein Aufstand gegen den Herrn der Niederlande – Philipp II., der auch König von Spanien war –, welcher schließlich in die Gründung der Republik der Niederlande mündete, in der die calvinistisch-reformierte Version des Protestantismus dominierte. Da die siegreichen Rebellen fast ausschließlich aus Calvinisten bestanden, gelang es ihnen, ihr Bekenntnis dem Lande als offizielle Religion aufzuerlegen, obwohl ein großer Teil der Bevölkerung römisch-katholisch geblieben war. Allerdings wurden Bekenntnisse außerhalb des reformierten Calvinismus’ mit zugedrücktem Auge geduldet. Protestantische Gruppen wie die Lutheraner und Mennoniten, aber auch Juden, hatten es dabei weniger schwer als die Katholiken, die als subversiv angesehen wurden, weil sie dem selben Glauben anhingen wie der geschlagene spanische Monarch. Anders als Lutheraner, Mennoniten und Juden war es ihnen z.B. während der Periode der Republik der Niederlande (1588–1795) nicht erlaubt, öffentliche Kirchengebäude zu besitzen.1 Der Mythos eines protestantischen Landes wurde aufrechterhalten, auch wenn die Realität eine andere war. Mit der demokratischen Revolution von 1795 wurde die völlige Religionsfreiheit eingeführt und es kam zu einer vollständigen Trennung von Kirche und Staat. Nach der Vereinigung mit Belgien im Jahr 1815 war eine große Mehrheit der niederländischen Bevölkerung katholisch. Dennoch hallte auch in dieser Zeit inoffiziell der Charakter eines protestantischen Landes nach. Der König und seine Vertrauten waren immer protestantisch. Die Wie- 1 Entstehung der Republik z.B. in: Friso Wielenga, Geschichte der Niederlande, Stuttgart: Reclam, 2012, Kap. 1: Opposition und Aufstand, Entstehung und Konsolidierung der Republik der Vereinigten Niederlande (1555–1609), 19–84. Über die Situation der Religionen z.B.: Maarten Prak, The Dutch Republic in the Seventeenth Century, Cambridge u.a.: Cambridge University Press, 2005, Chapter 13: Religious Pluralism, 201–221. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 dereinführung der bischöflichen Hierarchie in den Niederlanden (mittlerweile wieder getrennt vom katholischen Belgien) führte im Jahre 1853 zu einer politischen Krise, weil der damalige König Willem III. sich nicht neutral verhielt, sondern seine Unterstützung für die Protestanten, die sich der Ankunft der Bischöfe entgegensetzten, zu offen zeigte.2 Nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechts im Jahre 1919 entstand die typisch-niederländische Situation einer »versäulten« Gesellschaft: Protestanten und Katholiken lebten zwar friedlich zusammen, aber in völlig getrennten Welten. Daneben entstand eine ähnliche, nicht-religiöse »Säule«, und zwar jene der Sozialdemokraten. Diejenigen, die sich nicht so eindeutig um eine Religion oder Weltanschauung herum organisieren wollten, bildeten eine vierte Restgruppe, die oft mit dem Adjektiv »allgemein« bezeichnet wurde und hauptsächlich aus Liberalen bestand. Das versäulte Gesellschaftssystem wurde bis in die 1960er Jahre aufrechterhalten. Natürlich hatte die Versäulung einen wichtigen Einfluss auf den Unterricht.3 Sie lässt sich zum Teil zurückführen auf einen Schulstreit im 19. Jahrhundert. Da Protestanten und Katholiken damals ihre eigenen Schulen auf konfessioneller Basis einforderten, zusätzlich zu den »öffentlichen« unter Staatsaufsicht stehenden religiös und ideologisch nicht gebundenen Schulen, organisierten sie sich unter anderem in ihren eigenen politischen Parteien.4 Der Schulstreit führte letztendlich zu einer Dreiteilung der niederländischen Unterrichtslandschaft, die weiterhin aus katholischen, protestantischen und öffentlichen Schulen bestand. Wenig erstaunlich ist es, dass auch zwischen den Geschichtsbüchern, die in diesen drei verschieden ausgerichteten Kategorien von Schulen verwendet wurden, erhebliche Unterschiede bestanden. Vor allem ein Thema wie das der Reformation wurde in protestantischen Lehrbüchern ganz anders behandelt als in katholischen oder »allgemeinen« Lehrbüchern. 2 Zu dem protestantischen Charakter der Niederlande: Peter van Dam, »Eine protestantische Nation? Zur Rolle der Religion in der niederländischen Gesellschaft«, in: Friso Wielenga und Markus Wilp (Hg.), Die Niederlande: Ein Länderbericht, Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung, 2015, 141–180. 3 Es geht in diesem Beitrag lediglich um Geschichtsunterricht. Für historische Zusammenhänge im Religionsunterricht ist die Kirchengeschichtsdidaktik zuständig. Im Religionsunterricht scheint die Kirchengeschichte allerdings keine allzugroße Rolle zu spielen. Darauf weist zumindest folgender Beitrag hin: Godehard Ruppert, »Kirchengeschichte, das Stiefkind des Religionsunterrichts. Fünf Thesen gegen den Trend«, in: Hans Mendl und Markus Schiefer Ferrari (Hg.), Tradition – Korrelation – Innovation. Trends der Religionsdidaktik in Vergangenheit und Gegenwart, Donauwörth: Auer 2001, 321–326. Vgl. dazu auch Godehard Ruppert, Harald Schwillus und Konstantin Lindner, Die Kirchengeschichte im Religionsunterricht, Würzburg: Katholische Akademie Domschule, 2008. 4 Zum Schulstreit: Friso Wielenga, Die Niederlande, Politik und politische Kultur im 20. Jahrhundert, Münster u.a.: Waxmann, 2008, 26–34. Arie Wilschut168 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts kam es in den Niederlanden zu einem schnell verlaufenden Prozess der »Entsäulung« und Säkularisierung.5 Nicht nur die Teilung der Gesellschaft in mehrere voneinander getrennt lebende Gruppen ist verschwunden, auch der Einfluss von Religion in der Gesellschaft überhaupt ist sehr klein geworden. Daher stellt sich die Frage: Wie wurde die Reformation in den niederländischen Schulbüchern in der Zeit der Versäulung behandelt und wieviel von diesen Vorstellungen sind in den heute vorliegenden Lehrbüchern noch vorhanden? Um diese Frage beantworten zu können, wird in den folgenden Abschnitten dieses Beitrags zuerst eine weitere Vertiefung des Konzepts »Versäulung« vorgestellt. Dann wird ein Eindruck der Reformationdarstellungen in den Schulbüchern der Versäulungsperiode gegeben. Anschließend folgt eine Analyse der Texte über die Reformation in den heutigen niederländischen Geschichtsbüchern, wonach ein Vergleich zwischen den beiden Perioden angestellt wird. Das Phänomen der Versäulung in den Niederlanden Die Versäulung wurde bezeichnet als »die Aufteilung der niederländischen Öffentlichkeit in gegeneinander abgeschottete Gruppierungen, die ein eigenes Lebens- und Kulturbewusstsein pflegen und zugleich als kalkulierbarer Rückhalt im politischen Entscheidungsprozess fungieren.«6 An anderer Stelle wurde die Versäulung als eine Einteilung der Politik und Gesellschaft in »streng getrennte weltanschauliche Segmente bestehend aus Katholiken, Protestanten und Sozi- aldemokraten«7 bezeichnet. Religion – oder im Fall der Sozialdemokraten ideologische Weltanschauung – waren das Fundament der Versäulung, wodurch die strenge Trennung der Gruppen auch erklärt werden kann: In diesen Bereichen waren Übereinstimmung oder Kompromiss unmöglich. Die Versäulung selbst ist jedoch zu verstehen als ein Kompromiss, welcher der Realität Rechnung trägt, dass keine der Gruppen die Mehrheit der Bevölkerung ausmachte und daher das »Schicksal« der Nation auch nicht ausschließlich von einer der Gruppen bestimmt werden konnte. Wenn schon nicht das Schicksal der Nation, dann wollte man doch das Schicksal der eigenen Gruppe innerhalb der Grenzen 5 Zum Prozess der Entsäulung: Felix Siedhoff, Der Kanon der niederländischen Geschichte, Eine Untersuchung zum Bedürfnis nach Identität, Gemeinschaft und Bürgertum, Münster u.a.: Waxmann, 2011, 46–86. 6 Horst Lademacher, Die Niederlande. Politische Kultur zwischen Individualität und Anpassung, Frankfurt am Main: Propyläen, 1993, 527. 7 Friso Wielenga, »Konsens im Polder? Politik und politische Kultur in den Niederlanden nach 1945«, in: ders. und Ilona Taute (Hg.), Länderbericht Niederlande. Geschichte – Wirtschaft – Gesellschaft, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2004, 13–130, 39. Die Reformation in niederländischen Geschichtsschulbüchern 169 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 einer eigenen, künstlich geschaffenen Welt bestimmen. Der protestantische Politiker Abraham Kuyper (1837–1920) nannte dies »Souveränität im eigenen Kreis«.8 Das hieß, dass der Staat seine Bemühungen bezüglich der Lebensumstände seiner Einwohner auf ein Minimum beschränken solle, um alles Übrige den verschiedenen weltanschaulichen Gruppen selbst zu überlassen. Daher gab es für jede Säule nicht nur eine eigene politische Partei, sondern auch eigene Schulen, Bibliotheken, Gewerkschaften, Sportvereine, Wohnbauorganisationen, Zeitungen, Rundfunkvereinigungen, manchmal auch Krankenhäuser usw. Es existierte auch eine protestantische und eine katholische Universität. In diesen Verhältnissen war es ziemlich einfach, sein Leben so einzurichten, dass man niemals oder äußerst selten einem Mitglied einer der anderen Säulen begegnete. Zwischen den Säulen gab es keinen Diskurs. Ein solcher wäre auch sinnlos gewesen, weil jede Säule davon überzeugt war, dass die eigene Weltanschauung schlichtweg die richtige war. Die eigenen Zeitungen und Rundfunkorganisationen zielten darauf ab, die Leser- und Zuhörerschaft nur mit der eigenen Ideologie zu konfrontieren und sie damit vor »schädlichen«, »fremden« Ideen zu schützen. Schulen und Universitäten hatten die Aufgabe, die Jugendlichen der jeweiligen Säule in der eigenen Lehre zu erziehen. Obwohl seit den 1960iger Jahren eine rasche »Entsäulung« stattgefunden hat, gibt es in den Niederlanden noch immer Überreste dieses Phänomens. Die protestantische und die katholische Universität existieren auch heute noch, obwohl der Einfluss der Religion auf den Inhalt der Kurse, auf die Zusammensetzung des Personals und der Studierenden jetzt minimal ist und die beiden Institutionen sich zu allgemein anerkannten Qualitätseinrichtungen entwickelten. Etwas Ähnliches ist im Fall der Schulen passiert. Auch heute noch ist die Mehrheit der Schulen offiziell konfessionell gebunden (katholisch etwa 34 Prozent, protestantisch etwa 31 Prozent). Seit dem Ende des Schulstreits im Jahre 1917 ist die Freiheit des Unterrichts ein Grundrecht, das im Artikel 23 der niederländischen Verfassung festgelegt wurde. Der Staat finanziert daher nicht nur die allgemeinen öffentlichen Schulen, sondern auch die konfessionellen oder anderweitig »besonderen« Schulen, so lange sie den allgemein geltenden Anforderungen (z.B. für das Abitur) entsprechen. Daher sind heute die Unterschiede zwischen den meisten katholischen, protestantischen und staatlichen Schulen kaum noch spürbar. Auch die Schulbücher sind nicht länger »versäult«. Die meisten Lehrwerke in den Niederlanden werden von drei großen Bildungsverlagen publiziert: Noordhoff in Groningen, Malmberg in ’s-Hertogenbosch und ThiemeMeulenhoff in Amersfoort. Keiner dieser drei bekennt sich explizit zu einer Ideologie. Zusammen beherrschen sie mehr als drei Viertel des Schulbuchmarktes; für Ge- 8 Ebd., 30. Arie Wilschut170 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 schichte ist dieser Anteil wahrscheinlich noch größer. Daher ergibt sich die interessante Frage, inwiefern es dennoch möglicherweise Unterschiede zwischen den Darstellungen der Reformation gibt, die man in den Schulbüchern der drei großen Verlage vorfindet, und ob in diesem Zusammenhang noch Überreste der ehemaligen versäulten Vorstellungen anzutreffen sind. In der Folge soll zuerst ein Eindruck der Narrationen über die Reformation in der Periode der Versäulung gegeben werden. Die Darstellung der Reformation in Geschichtsschulbüchern in der Periode der Versäulung Der versäulte Charakter des Unterrichts spiegelt sich am deutlichsten in den Schulbüchern für den Primarunterricht der Periode von 1920 bis 1960. Beispiele entnehmen wir zwei Büchern, die keine Schulbücher im eigentlichen Sinn waren, sondern Leitfäden für Lehrende, die ihre historischen Erzählungen in den Schulklassen präsentieren sollten, und zwar gemäß jenen Anweisungen, die folgendermaßen von katholischen bzw. protestantischen pädagogischen »Spezialisten« formuliert waren: [Katholisch] Wen hat Christus ernannt, um die Heilige Kirche zu verwalten? Das sind der Papst und die Bischöfe. Was sie über die Lehre Christi sagen, ist mit Sicherheit richtig. Daran dürfen wir nicht zweifeln. Wenn jemand unseren Glauben in einer anderen Weise erklärt, dann irrt er. Solche Menschen gibt es aber zu allen Zeiten und ihre Anhänger sind immer noch da. In unserem Land gibt es viele Anhänger von Calvin. Er legte die Schrift auf seine eigene Weise aus und glaubte der Bibel nur auf jene Weise, wie er sie selbst verstand. Er hörte nicht auf die Lehren der Päpste und Bischöfe. So glaubte er beispielsweise nicht, dass sich Brot und Wein durch die Worte der Wandlung [das eucharistische Hochgebet] in Leib und Blut Christi verwandeln. Er glaubte nicht an die Vergebung der Sünden in der Beichte. Den Papst erkannte er nicht als Haupt der Kirche und Stellvertreter Christi an. Für Calvin selbst war das alles schon schlimm genug. Aber noch schlimmer war es, als er versuchte, andere von seiner Fehlinterpretation zu überzeugen. Bald hatte er viele Anhänger. Sie wurden Calvinisten genannt. Wie nennen wir solche Menschen, welche die Lehre des Glaubens ablehnen?9 [Protestantisch] Wir haben es gesehen, nicht wahr, dass die Kirche kein andächtiges und gehorsames Volk erzogen hat. Das konnte sie nicht, denn sie war von der Wahrheit des Wortes Gottes abgewichen und war ketzerisch geworden. 9 J.J. Doodkorte, C.G. van Grevenbroek und J.H. Werkman, De roep der historie. Volledige methode voor het onderwijs in de vaderlandsche geschiedenis op de katholieke lagere scholen, Utrecht, Amsterdam: St.-Gregoriushuis, R.K. Boekcentrale, 1928, 192 (Übersetzung des Ver- fassers). Die Reformation in niederländischen Geschichtsschulbüchern 171 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 Man erfüllte seine religiösen Pflichten, betrieb »gute Werke«, wie sie die Kirche verstand, und die Priester, die »Geistlichkeit« (!), hatten bei ihrer Förderung der guten Werke zur Erwerbung der Erlösung nicht zuletzt an ihre eigenen Interessen gedacht. Man schenkte der Kirche eine Menge. Warum nicht? Es gab Reichtum genug. Die Kirchen wurden so in Schatzkammern voller Kostbarkeiten verwandelt; die Altäre am reichlichsten geschmückt; die Statuen der »Heiligen« mit kostbaren Kleidern umhüllt, voller Gold und Edelsteine. Die Heiligenverehrung war zum Aberglaube und Götzendienst geworden. Und die Priester und Mönche? In Reichtum und Überfluss lebten die meisten von ihnen, und sie sündigten auf vielfältige Weise. Es ist kein Wunder, Kinder, dass unter den Menschen wenig aufrichtige Frömmigkeit und gottesfürchtiges Leben zu finden war. Wenn man nur seine kirchlichen Aufgaben erfüllt und seine Opfer gegeben hatte, konnte man weltlich weiterleben und es nicht so eng sehen. Die Kirche brachte doch alles in Ordnung. Tatsächlich konnte man Vergebung seiner Sünden, auch die himmlische Seligkeit, für Geld kaufen!10 Besonders auffällig in diesen zwei Abschnitten ist die absolute Priorität der religiösen Dogmen der Katholiken und der Protestanten gegenüber historischen Aspekten der Reformation. Der Zeitabstand spielt überhaupt keine Rolle: Was jetzt Wahrheit ist, ist immer Wahrheit gewesen und wird es auch immer sein. In diesen Leitfäden für den Primarunterricht wurde die Geschichte also ohne Rücksicht der religiösen Erziehung untergeordnet. Es gibt keine kritisch-historische Distanz und es wird kein Versuch unternommen, eine »andere« Periode als die gegenwärtige verständlich zu machen. Es gab auch nicht die Absicht, die zwei Parteien in ihrem jeweils eigenen Recht gegenüberzustellen oder zumindest die Argumente der gegnerischen Seite verständlich zu machen. Die vollständig einseitige Interpretation der Ereignisse unterstützte selbstverständlich die versäulte Realität der Aufteilung der Bevölkerung in sich entgegengesetzte Gruppierungen und könnte daher auch als Gefahr für die nationale Einheit aufgefasst werden, z.B. in der Haltung der Katholiken hinsichtlich des protestantischen Hauses Oranien. Aber dessen waren die katholischen Führer sich offenbar bewusst: Wilhelm von Oranien ist heute einer der Vorfahren unserer Königin, und wenn ihr hört, was nun Wilhelm der Schweiger alles falsch gemacht hat, werden vielleicht einige denken, dass so etwas immer noch eine Schande für die Königin ist. Aber jene, die so denken, irren sich! Von unserer Königin wissen wir nun einmal bis sehr, sehr weit zurück in die alten Zeiten, wer ihre Vorfahren gewesen sind. Aber von uns allen wissen wir das eben nicht so genau. Wer weiß jetzt, ob es unter den Vorfahren des einen oder anderen von uns vor ein paar hundert Jahren keine Leute gegeben hat, die möglicherweise vieles auf dem Kerbholz hatten? Ist ein Junge, der aus jener Zeit einen großen Bösewicht unter seinen Vorfahren hat, darum jetzt weniger wert? Ist sein Vater, sein Großvater oder Urgroßvater darum heute ein schlechter Mensch? Sicherlich wäre es 10 H. Lankamp, Leerplan voor de scholen met den Bijbel, IIA: Geschiedenis des vaderlands, Groningen: Noordhoff, 1928, 139 (Übersetzung des Verfassers). Arie Wilschut172 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 töricht, unserer Königin anzurechnen, was Wilhelm der Schweiger falsch gemacht hat. Fast ebenso ist es mit unseren protestantischen Landsleuten. Wir alle kennen doch gute Menschen, die nicht katholisch sind. Sind diese nun Ketzer? Nein, denn Ketzer sind nach den Katechismus Menschen, die wider besseres Wissen eine oder mehrere Wahrheiten des katholischen Glaubens ablehnen. Unsere protestantischen Landsleute haben ihre Art, Gott zu dienen, von ihren Eltern gelernt. Sie kennen es nicht anders. Insofern als sie ihre Religion richtig leben, sind sie sicherlich in der Lage, in den Himmel zu kommen. Dennoch sollten wir für ihre Bekehrung beten, wie wir es jeden Morgen in unserem Morgengebet tun.11 Die »Souveränität im eigenen Kreis« sollte also niemals eine Bedrohung werden für die nationale Einheit. Deshalb funktionierte das versäulte System auf politischer Ebene ziemlich problemlos. Auch dieser politischen Forderung wurde der Geschichtsunterricht untergeordnet. Nicht nur die richtige Interpretation der Vergangenheit, auch die richtigen Schlussfolgerungen wurden den Schülern als unbezweifelbar vorgestellt. Im Sekundarunterricht wurde im Zusammenhang mit dem Bild der Reformation mehr differenziert als im Primarunterricht und es wurden Versuche unternommen, den Verlauf der Ereignisse wirklich historisch nachzuzeichnen. Die Unterschiede zwischen protestantischen, katholischen und »allgemeinen« Lehrbüchern sind aber in den Details dennoch deutlich sichtbar. Die deutsche Reformation, wie sie mit dem Auftreten von Martin Luther Gestalt annahm, wird nicht in allen Büchern ausführlich erörtert. Der Grund dafür ist, dass es damals in den Niederlanden noch eine ziemlich scharfe Unterscheidung gab zwischen »vaterländischer« und »allgemeiner« Geschichte. Luther gehörte offenbar nur zur allgemeinen Geschichte. Eine Figur, die in allen Bücher erscheint, ist Erasmus, der wegen seiner Geburt in Rotterdam als »Niederländer« gesehen wurde. In der Art und Weise, in der seine Leistung beschrieben wird, sind die verschiedenen Schattierungen zwischen katholischen, protestantischen und »allgemeinen« Büchern für den Sekundarunterricht gut sichtbar. [Katholisch] Erasmus war ein vollkommener Humanist, Prediger eines friedlichen und toleranten Christentums, aller Exzesse und abergläubischen Praktiken entledigt. Streitigkeiten über Dogmen und religiöse Verfolgung waren ihm ein Gräuel. Er stellte das Leben über die Lehre. Sein Leben wurde aber nicht von der Liebe geleitet und beseelt. Deshalb geißelte und verspottete er gnadenlos alle Missstände in der Kirche in seinem Buch Lob der Torheit. Er war und blieb dem bissigen Luther gegenüber abgeneigt, der die ganze Christenheit in Aufruhr brachte und seinen schönen Traum einer friedlichen Reform zerriss. Aber so standhaft er sich weigerte, der Seite des revolutionären Mönches von Wittenberg bei- 11 Doodkorte, van Grevenbroek und Werkman, Roep der historie, 1928, 220–221 (Übersetzung des Verfassers). Die Reformation in niederländischen Geschichtsschulbüchern 173 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 zutreten, so weigerte er sich zunächst auch, den Kampf gegen Luther aufzunehmen. Eine Haltung, die relativ häufig unter den niederländischen Humanisten vorkam und den anhaltenden Drang nach Reformation stark gefördert hat.12 [Protestantisch] Auch der Humanismus hatte seinen Einzug gehalten und diese Richtung kam auch mit ihrer Kritik, die aber hauptsächlich auf der Außenseite der Kirche zu finden war. Für eine Reform war von ihr wenig zu erwarten, weil ihr die Lehre gleichgültig war und weil sie sich mehr auf den Menschen als auf das Evangelium konzen- trierte. Kein Wunder, dass diejenigen, die sich nach einem biblischen Christentum sehnten, in ihr keine Befriedigung fanden. Erst wenn Luther auftrat und in Worte fasste, was sie unbewusst gefühlt hatten, sahen sie den Weg, der befolgt werden musste, um eine Reform zu erreichen.13 [Allgemein] Um 1500 hatten die Ideen der Renaissance und des Humanismus den Antrieb zur Reform gestärkt. Der Aufstieg des Bürgertums hatte ja eine neue Klasse von Menschen geschaffen, die nicht mehr unentwickelt waren. Eine bessere Kenntnis der lateinischen und griechischen Sprachen hatte zusätzlich dazu geführt, dass frühere Ansichten über den Inhalt der Bibel und viele religiösen Schriften als falsch angesehen wurden. Erasmus stellte in seinen Büchern ein vollständiges Reformprogramm vor, und zwar innerhalb der Kirche. Vielleicht wäre im Christentum keine Spaltung entstanden, wenn die Päpste schneller dem Wunsch nach Veränderung stattgegeben hätten. Allerdings richteten viele der Päpste ihre Aufmerksamkeit stärker auf die italienische Politik oder auf die Kunst! Also passierte nichts, und dann standen Leute auf, die sich von der Lehre der Kirche weit entfernt hatten und schließlich nicht davor zurückschreckten, mit der Kirche zu brechen.14 Sowohl die protestantischen als auch die katholischen Autoren warfen Erasmus vor, dass er das Leben über die Lehre stellte, während die »allgemeinen« Autoren ihm bereits ein komplettes Reformprogramm zuschrieben. Erasmus’ Kritik wurde offenbar unterschiedlich eingeschätzt: Der katholische Autor fand sie gnadenlos und unbarmherzig, während der protestantische Schulbuchautor meinte, sie gehe noch nicht weit genug. In ihrer Würdigung Luthers unterschieden sich katholische und protestantische Autoren natürlich klar: Für die Katholiken war er ein Revolutionär und Rebell, mit dem Erasmus sich zum Glück nicht einließ; für die Protestanten war er derjenige, der den wirklichen Gefühlen und Wünschen der Gläubigen entgegenkam, während der Kammergelehrte 12 A.C.J. Commissaris, Leerboek der Nederlandse geschiedenis, ’s-Hertogenbosch: Malmberg, 1935, 72 (Übersetzung des Verfassers). 13 D. Langedijk, Leerboek der vaderlandse geschiedenis, ten gebruike van gymnasia, lycea en hogere burgerscholen, Groningen: Wolters, 1937, 122 (Übersetzung des Verfassers). 14 J. Lukkes und J. Hensems, De golfslag der historie. Leerboek der vaderlandse en algemene geschiedenis voor het voortgezet onderwijs, Groningen: Noordhoff, 1960, 23–24 (Übersetzung des Verfassers). Arie Wilschut174 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 Erasmus versagte. Bemerkenswert ist das relativ große wirklich historische Interesse der »allgemeinen« Autoren: sie beschreiben soziokulturelle und sozioökonomische Hintergründe und zeigen als »Außenseiter«, wie die Kirche vielleicht einen Bruch hätte vermeiden können, wenn sie besser auf die Wünsche der Reformer gehört hatte. Die katholischen und protestantischen Autoren waren sich darüber einig, dass es in der Kirche Missstände gab, aber diese hätten den katholischen Autoren zufolge innerhalb der bestehenden Kirchenordnung liebevoll aufgelöst werden sollen. Die niederländischen Behörden hätten sich aber nicht wirklich für religiöse Angelegenheiten interessiert, weil sie von einem »erasmianischen Geist« angesteckt worden wären: Auch wenn der Erasmianismus den Menschen nicht beikam, waren die Herrscher und Verwalter davon durchdrungen. Es herrschte unter Intellektuellen ein Geist der Verachtung für Kirche und Klerus. Teilweise deswegen konnte die Reformation in den Niederlanden leicht Zustimmung finden.15 Aber die Gleichgültigen, welche die Kirche nicht mehr schätzten und in der Geistlichkeit keine respektierten Führer mehr sahen, waren sehr zahlreich. Städtische Regierungen haben die Regeln der Erlasse (»Plakate«) gerne übergangen. Man verabscheute die harte Methode, die nicht im Einklang mit den nationalen Charakter stand, und intervenierte nur, wenn die öffentliche Ordnung bedroht war.16 Der Erfolg der Reformation in den Niederlanden wurde also von den katholischen Autoren nicht dem Ernst der Probleme und dem Recht der Reformatoren zugeschrieben, sondern dem unzureichenden Verhalten der Behörden, die sich in »typisch niederländischer« Manier scheuten, zu Gewaltmaßnahmen zu greifen. Die protestantischen Autoren behaupteten selbstverständlich das Umgekehrte: Sie betonten die Missbräuche in der Kirche und die harte Unterdrückung, mit welcher diejenigen konfrontiert wurden, die eine höchst nötige Reform der Kirche anstrebten. Zwischen diesen beiden Extremen ist die historische Distanz, die in den »allgemeinen« Büchern angewendet wurde, durchaus bemerkenswert. So findet man z.B. den Standpunkt, die Kirche wäre zwar sehr reich, hätte aber diesen Reichtum oft auch für das Gemeinwohl eingesetzt. Missstände in der Kirche seien von frommen Gläubigen in der katholischen Gemeinde abgelehnt worden und das hätte einigen von ihnen sogar das Leben gekostet. Das Auftreten Luthers wird in den »allgemeinen« Büchern zwar beschrieben, aber die Autoren vertiefen den religiösen Streit, den der Augustinermönch mit sich selbst geführt hat, nicht: »Über die tieferen Ursachen von religiösen Meinungsverschiedenheiten ver- 15 L.G.J. Verberne und J. Kleijntjens, Leerboek der Nederlandse geschiedenis, Wassenaar: Dieben, 1940, 11 (Übersetzung des Verfassers). 16 Ebd., 112 (Übersetzung des Verfassers). Die Reformation in niederländischen Geschichtsschulbüchern 175 standen die kleinen Leute sehr wenig.«17 Vor allem die Kriege und Konflikte, die aus der Reformation hervorgingen, wurden von diesen Autoren bedauert. Sie vertraten immerhin diejenigen, die das Phänomen der Versäulung an sich als beklagenswert empfanden und anstrebten, die niederländische Bevölkerung möge ihre Streitigkeiten beiseite legen, um die nationale Einheit und den Frieden innerhalb und außerhalb des Landes zu fördern. In keinem einzigen Land wurde die Reformation ohne Streit eingeführt. Man war in dieser Zeit nun einmal äußerst intolerant in Fragen der Religion. Die Katholiken waren davon überzeugt, dass nur ihre Lehre die gute und richtige war. Menschen, die eine andere Ansicht hegten, musste man bekehren, und wenn das nicht erfolgreich war, dann sollte man sie als Ketzer vernichten. Protestanten vertrugen oft auch keine anderen Meinungen. Sie verfolgten die Katholiken wie auch Protestanten, die unterschiedliche Ansichten als sie selbst hatten. In vielen Ländern waren Fürsten, wie beispielsweise Karl V., der Meinung, dass nur eine Religion in ihrem Königreich vorhanden sein sollte. Das sechzehnte Jahrhundert war eine blutige Zeit, in der Tausende ihr Leben aufgrund ihres Glaubens auf dem Schafott oder auf dem Scheiterhaufen verloren. Einer von denen, die dagegen heftigen Widerstand leisteten, war Prinz Wilhelm von Oranien.18 Also gibt es letztendlich in diesem »allgemeinen« Buch doch auch eine politische Botschaft: Streit über Glaubensunterschiede ist bedauernswert und kostet viele Unschuldige das Leben. Aber es hätte damals schon Hoffnung gegeben: Der Prinz von Oranien habe schon vor Jahrhunderten eine Überzeugung befürwortet, die moderne Menschen auch gegenwärtig für vernünftig halten: Toleranz in Religionsangelegenheiten. Auf diese Weise wird das Haus Oranien von der »allgemeinen Säule« als Symbol der nationalen Einheit präsentiert. Die protestantische war damit selbstverständlich einverstanden, weil sie Wilhelm von Oranien als einen protestantischen Helden betrachtete. Aber auch von den Katholiken wurde er, wie wir schon sahen, respektiert – zumindest seine Nachfahren im 20. Jahrhundert. Die Darstellung der Reformation in heutigen niederländischen Geschichtsbüchern Im Primarunterricht wird die Reformation im Sinne einer religiösen Reform heute in den Niederlanden eigentlich kaum mehr behandelt. Die kirchlichen Ereignisse werden im Rahmen des niederländischen Aufstands gegen den Herrn der Niederlande und König von Spanien, Philipp II., erörtert. Als Anlass der Rebellion wird in der Regel der Ikonoklasmus oder »Bildersturm« des Jahres 17 Lukkes und Hensems, Golfslag der historie, 1960, 24 (Übersetzung des Verfassers). 18 Ebd., 31 (Übersetzung des Verfassers). Arie Wilschut176 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 1566 gedeutet, der Philipp dazu bewegte, eine spanische Armee in die Niederlande zu schicken, um die Rebellen zu bestrafen. Der Bildersturm ist auch eines der 50 Elemente des sogenannten Kanons der Niederlande, in dem die niederländische Geschichte für den Unterricht zusammengefasst worden ist.19 Die Reformation kommt im Kanon nicht als selbstständiges Element vor. Vor allem im Primarunterricht wird der Kanon zum Ausgangspunkt des Curriculums gewählt. Deshalb ist der Bildersturm jetzt ein zentrales Element des Curriculums. Typischerweise wird der Bildersturm im Primarunterricht kaum als religiös inspiriertes Phänomen verhandelt, sondern eher als Protest der armen und hungernden Niederländer gegen den Reichtum der Kirche, wie die folgenden zwei Fragmente aus zwei unterschiedlichen Quellen zeigen. Seit Jahrhunderten haben die Menschen gedacht, dass sie für Gott leben und arbeiten sollen. Man soll in Armut und Schlichtheit leben. Die Belohnung kommt später im Himmel. Das erzählen die katholischen Priester den Menschen. Aber gerade viele Priester leben selbst in großem Reichtum. Die Menschen fangen an, dagegen zu protestieren. Immer mehr Menschen beginnen, an ihrem katholischen Glauben zu zweifeln. Luther und Calvin werden die Vorbilder solcher protestierender Menschen. Protestanten, wie sie sich selbst nennen. […] In unserem Land sind die Protestanten und der Adel also sehr unzufrieden. Außerdem sind viele Menschen unzufrieden durch die extreme Armut und den Hunger. Die Armen in ländlichen und städtischen Gebieten haben keine Arbeit. Und damit auch kein Essen. […] Es ist logisch, dass die Bombe irgendwann platzen würde. Die Unzufriedenheit ist zu groß. Hunger und Armut bringen die Armen zur Verzweiflung. Dies führt zu Unruhen und Ausschreitungen. Die Leute plündern die vollen Kornlager. Auch die reichen Kirchen und Klöster fallen ihnen zum Opfer. Der wütende Mob schlägt alles in tausend Stücke. Die Bilder werden in den Kirchen zerstört. So ist dieser »Bildersturm« im Jahr 1566 der Beginn des Aufstands.20 Im Jahre 1566 sind viele Menschen in den Niederlanden unzufrieden. Das Volk ist wütend, weil die Menschen arbeitslos und arm sind. Die Adligen, unter ihnen Oranien, Egmont und Hoorne, sind nicht zufrieden, weil der König Philipp II., der weit entfernt in Spanien ist, sie nicht mitregieren lässt. Auch kritisieren viele Menschen die Kirche. Sie werden Protestanten genannt. Die Unzufriedenheit bricht im Jahre 1566 voll aus. Während einer Predigt ruft ein evangelischer Pfarrer zur Plünderung von Kirchen und Klöstern auf: Brüder und Schwestern! Gott will nicht, dass wir Statuen anbeten. Und doch sind die Kirchen voll davon! Die Bibel, die Bibel, sie ist das, worum es geht. Und was tut die Kirche? Sie bereichert nur sich selbst! Und so begann der Bildersturm in Steenvoorde. Alles wurde zerstört: Statuen, Gemälde, Altäre. Alles wurde zertrümmert. Der Bildersturm breitete sich schnell über die ganzen 19 F. van Oostrom (Hg.), A Key to Dutch History. The Cultural Canon of the Netherlands, Amsterdam: Amsterdam University Press, 2007. 20 J. Engbers und J. den Otter, Bij de Tijd, deel 3, ’s-Hertogenbosch: Malmberg, 2005, 62–63, Übersetzung des Verfassers. Die Reformation in niederländischen Geschichtsschulbüchern 177 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 Niederlande aus. Von Steenvoorde zog der Sturm nach Amsterdam und Utrecht. Als König Philipp vom Bildersturm hört, wird er wütend: Diese Protestanten sind Ketzer, Kriminelle, die unsere katholische Kirche zerstören.21 Der Gegensatz zwischen den versäulten Büchern der Periode zwischen 1920 und 1960 und den heutigen Materialien, die im Primarunterricht angewendet werden, könnte kaum größer sein. War es bis 1960 im konfessionellen Unterricht eigentlich nur die Religion, die den Inhalt der Bücher bestimmte, existiert jetzt die Religion fast gar nicht mehr. Dass es sich bei den jetzigen Schulbüchern um »Geschichte« handelt, muss aber auch bezweifelt werden. Es gibt nur sehr simplifizierende Gegensätze zwischen Armut und Reichtum, von denen offenbar angenommen wird, nur dies könnten die Kinder in einer völlig säkularisierten Gesellschaft heute noch verstehen. Mit Verständnis für das Phänomen Reformation hat dies allerdings sehr wenig zu tun. Im Sekundarunterricht wird die Reformation nicht nur im Rahmen des Bildersturms erörtert, sondern als selbstständiges Phänomen in der europäischen Geschichte. Die Aufteilung der Geschichte in niederländische und allgemeine Geschichte besteht jetzt im Sekundarunterricht nicht mehr (während der Primarunterricht den Fokus noch hauptsächlich auf die niederländische Geschichte richtet). Niederländische, europäische und Weltgeschichte werden ineinander verschränkt behandelt und in zehn Epochen eingeordnet, deren jeweilige Inhalte im Abiturprogramm vorkommen. Zu den vorgeschriebenen Inhalten der fünften Epoche (die »Zeit der Entdecker und Reformatoren«) gehören die »Reformation und Spaltung der christlichen Kirche in Westeuropa«.22 Die Reformation wird sowohl in der 1. Phase des Sekundarunterrichts (mit Geschichte als allgemein vorgeschriebenem Schulfach für alle Schülerinnen und Schüler) als auch in der 2. Phase (mit Geschichte als Wahlfach, das von etwa zwei Dritteln der Schülerinnen und Schüler gewählt wird) behandelt. Die Präsentation und Interpretation der Reformation sind sich in den zwei Phasen des Sekundarunterrichts ähnlich, nur wird sie in der 2. Phase ausführlicher und tiefgehender erörtert. Deshalb sei hier nur ein Eindruck des Inhalts der Bücher der 2. Phase gegeben. Die drei großen niederländischen pädagogischen und didakti- 21 Text eines Videoclips des niederländischen Schulfernsehens im Rahmen des Kanon-Items »Bildersturm«. http://www.schooltv.nl/video/popup/onrust-in-de-nederlanden-honger-armo ede-en-onvrede, zuletzt geprüft am 15. Mai 2017, Übersetzung des Verfassers. Diese Clips werden im Primarunterricht oft benutzt. 22 Zum niederländischen Epochencurriculum im Sekundarunterricht: Susanne Popp, »Geschichtliches Überblickswissen aufbauen – ein konzentrisch-longitudinales Curriculum aus den Niederlanden«, in: Elisabeth Erdmann, Robert Maier und Susanne Popp (Hg.), Geschichtsunterricht International. Studien zur internationalen Schulbuchforschung, (Schriftenreihe des Georg Eckert Instituts, Band 117), Hannover: Verlag Hahnsche Buchhandlung, 2006, 269–300. Arie Wilschut178 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 schen Verlage (Malmberg, Noordhoff und ThiemeMeulenhoff) werden in diesem Zusammenhang in unsere Überlegungen einbezogen. Wie schon ausgeführt, beherrschen diese insgesamt mindestens drei Viertel des Schulbuchmarktes für Geschichte. Man könnte Malmberg einen katholischen Ursprung zuschreiben, Noordhoff einen protestantischen, und Thieme Meulenhoff einen »allgemeinen«, aber das gilt mehr für ihre unterschiedlichen Vergangenheiten als für ihre Tendenzen heute. Wie schon zuvor gesagt, gibt es diese Unterschiede eigentlich heute nicht mehr. Im von Malmberg publizierten Schulbuch Memo23 fängt der Abschnitt über die Reformation mit einer einleitenden Geschichte über den Rombesuch des 26jährigen gelehrten Mönchs Martin Luther im Jahre 1510 an. Seine Enttäuschung wird ausführlich beschrieben: Statt der von ihm erwarteten tiefen Andacht fand er nur Korruption und Materialismus. Dann folgt der Haupttext des Kapitels, der mit einer ziemlich langen Passage über die Missstände in der Kirche und die Kritik diesbezüglich eingeleitet wird. Der Text besteht in einer umfassenden Behandlung von vier Streitpunkten: Ablass, Heiligenverehrung, Sakramente und die Organisation der Kirche als Hierarchie mit dem Papst an der Spitze. Dabei werden jeweils die katholischen Standpunkte mit Luthers Kritik konfrontiert, z.B.: »Über Heiligenverehrung gab es jedoch nichts in der Bibel, mehr noch: Dort war geschrieben, dass es verboten war, Statuen herzustellen und dass niemand anders als Gott angebetet werden sollte.«24 Der Text betont also den Inhalt der lutherischen Lehre und verzichtet auf die Erzählung von Ereignissen (Wittenberg, Worms, Wartburg usw.). Der Calvinismus wird inhaltlich kaum erörtert. Die nächste Passage behandelt die bekanntesten Folgen der Reformation: das Konzil von Trient und die Gegenreformation und den Verlauf der Reformation in unterschiedlichen Gebieten Europas (Deutschland, Frankreich, England). Zum Schluss wird angemerkt, dass es auch nicht-staatliche Religionen gab wie die Täufer. Ihre Radikalität im Zuge der Auseinandersetzungen in Münster wird ziemlich ausführlich behandelt. Die letzten drei Sätze fassen die Schlussfolgerungen zusammen: Der Kampf um Münster illustriert, dass die Spaltung Europas in einen katholischen und einen protestantischen Teil alles andere als friedlich verlief. Ab 1520 kam es zu großen Kriegen, die bis ins siebzehnte Jahrhundert fortdauern würden. Auch das war eine wichtige Folge der Reformation.25 23 M. Kropman, I. van Manen, und Y. Rijns (Hg.), Memo: geschiedenis voor de bovenbouw vwo, ’s-Hertogenbosch: Malmberg, 2008. 24 Ebd., 131 (Übersetzung des Verfassers). 25 Ebd., 134 (Übersetzung des Verfassers). Die Reformation in niederländischen Geschichtsschulbüchern 179 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 Das Reformationskapitel im von Noordhoff publizierten Buch Geschiedenis- werkplaats26 wird mit Erasmus als »Wegbereiter« der Reformation eröffnet. Weil er den Bibeltext in Anlehnung an den griechischen Originaltext überarbeitete und neu übersetzte, habe Erasmus entdeckt, wie viel in der Kirche nicht stimme. Er drücke seine Kritik in seinem Werk Lob der Torheit aus. Dennoch fand er »Reformatoren wie Luther zu intolerant und fanatisch«.27 Der Text wählt dann Luther zum Protagonisten und erörtert seine Thesen gegen den Ablass. Die Lehre des Fegefeuers wird vorgestellt als »etwas, das nicht in der Bibel zu lesen war, das aber die Kirche dem Glauben hinzugefügt hatte«.28 Die klassische Reihe von Ereignissen wird beschrieben: Wittenberg, Worms und Wartburg. Luther heiratet eine Ex-Nonne, »weil es die Priesterschaft nicht mehr gab«.29 Im Gegensatz zum Buch Memo wird Calvin hier relativ ausführlich erörtert. Nicht nur seine religiösen, sondern auch seine politischen Standpunkte werden beschrieben: Fürsten können keine Verwalter der Kirche sein und Regierungen sollen sich wie »Diener Gottes« verhalten; wenn nicht, dann gebe es ein Recht auf Rebellion. Dieser Hinweis ist im Rahmen des niederländischen Aufstandes natürlich wichtig. Der Calvinismus habe sich in den Niederlanden unauffällig verbreitet: »Als der Calvinismus im Jahr 1566 hervortrat, stellte sich heraus, dass er viele Anhänger hatte«.30 Das von ThiemeMeulenhoff veröffentlichte Feniks31 fängt seine Erörterung der Reformation mit einem verhältnismäßig langen Rückblick auf das Mittelalter an. Dann wird Erasmus als Nachfolger von Wyclif und Hus erwähnt. Die katholische Kirche, so die Autoren dieses Kapitels, sehe den Papst als Stellvertreter Christi auf Erden, aber die Päpste des 16. Jahrhunderts lebten in Saus und Braus und handelten wie Könige. »All dies war weit entfernt von der Einfachheit und Demut, die das Christentum predigte.«32 Das Kapitel fährt mit der Geschichte Luthers fort, der in seinen Zweifeln an seinem sündigen Leben von Wyclif, Hus und Erasmus inspiriert wurde. Auch in Feniks folgt dann die bekannte Reihenfolge der Ereignisse: Exkommunikation, Reichsbann und Wartburg. Lutheraner gründen ihre eigenen Kirchen und werden dabei von Fürsten unterstützt. »Was begonnen hat als ein Versuch, die Kirche 26 T. van der Geugten und D. Verkuil (Hg.), Geschiedeniswerkplaats, geschiedenis tweede fase vwo, handboek historisch overzicht, Groningen, Houten: Noordhoff, 2012. 27 Ebd., 73 (Übersetzung des Verfassers). 28 Ebd. 29 Ebd., 74, Übersetzung des Verfassers. 30 Ebd. 31 J. Venner und M. van Haperen (Hg.), Feniks: overzicht van de geschiedenis vwo, Amersfoort: ThiemeMeulenhoff, 2007. 32 Ebd., 139, Übersetzung des Verfassers. Arie Wilschut180 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 von innen zu reformieren, wurde dann zur Kirchenspaltung: Die Lutheraner trennten sich von der katholischen Kirche.«33 Nur in Feniks werden auch sozioökonomische Hintergrunde behandelt. Der Rückgang des Adels wird angeführt als eine Erklärung dafür, dass er beginnt, die Landwirte zu unterdrücken. Der deutsche Bauernaufstand wird dann erwähnt. Städte und Fürsten treten zum Luthertum über, und zwar auch aus weniger idealistischen Gründen wie dem Streben nach Macht und Eigentum. Im Vergleich zeigen die drei niederländischen Geschichtsbücher in ihren Kapiteln über die Reformation große Ähnlichkeiten. Erasmus kommt in allen drei Büchern als Wegbereiter der Reformation vor, er sei aber zurückhaltend in der tatsächlichen Auseinandersetzung mit der katholischen Hierarchie gewesen. Luther und seine Lehre werden in allen drei Büchern deutlich charakterisiert, in Memo am tiefgehendsten, während in den anderen beiden Bücher mehr auf Ereignisse aus der Reformationsgeschichte in Deutschland eingegangen wird: der kirchliche und der Reichsbann gegen Luther sowie dessen Aufenthalt auf der Wartburg. Die Bücher sind sich aber nicht nur im Großen und Ganzen einig über den Verlauf der Geschichte der Reformation und deren wichtigsten Einsichten, sie zeigen auch ein ähnliches Urteil über die Reformation, obwohl dies wahrscheinlich von den Autoren keine bewusste Entscheidung ist. Die Wertung repräsentiert wohl eher eine communis opinio, die es heute stillschweigend in den Niederlanden gibt. Dazu gehören zum Beispiel folgende Aspekte: Erstens: Kritik an der Kirche war gerechtfertigt, weil sie sich von der Bibel und dem ursprünglichen Christentum entfernt hatte. Die katholische Lehre und Praxis waren also falsch oder zumindest unverständlich: Über Heiligenverehrung gab es jedoch nichts in der Bibel […] (Memo, 131) Das Fegefeuer war etwas, über das nichts in der Bibel zu lesen war, das aber die Kirche dem Glauben hinzugefügt hatte. (GWP, 73) All dies war weit entfernt von der Einfachheit und Demut, die das Christentum predigte. (Feniks, 139) Zweitens: Erasmus äußerte scharfe Kritik, wollte aber unbedingt innerhalb der Kirche bleiben. Diese Haltung wird nicht länger kritisch gesehen (wie von Katholiken und Protestanten in der Periode der Versäulung), sondern als logisch und verantwortbar: Erasmus äußerte seine Kritik daher mit Vorsicht. Er wollte eine Spaltung in der katholischen Kirche auf jeden Fall verhindern. (Memo, 132) 33 Ebd., 140, Übersetzung des Verfassers. Die Reformation in niederländischen Geschichtsschulbüchern 181 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 Mit seiner Kritik an der Kirche war Erasmus ein Pionier der Reformation. Er selbst brach nicht mit der Kirche von Rom. Er fand Reformer wie Luther zu intolerant und fanatisch. (GWP, 72–73) Trotz seiner Kritik blieb Erasmus der Kirche treu. Es war seine Absicht, dass seine Kritik zu internen Verbesserungen in der Kirche führen werde. (Feniks, 140) Drittens: Es war nicht Luthers Absicht, die Kirche zu spalten. Rom muss als verantwortlich für dieses Drama betrachtet werden. Die katholische Reaktion auf Luthers Auftritt verursachte deshalb das Elend des Religionsstreits: Luther wollte die Kirche ursprünglich von innen heraus reformieren. Rom reagierte jedoch negativ und fing an, ihn und seine Anhänger zu verfolgen. Daher kam es zu einer Spaltung in der Kirche. (Memo, 132) Luther wollte eine Reform innerhalb der Kirche initiieren, aber der Papst beschuldigte ihn der Ketzerei. (GWP, 73) Luther hat zunächst nur interne Verbesserungen beabsichtigt, keine Spaltung. (Feniks, 140) Es wird also deutlich, dass in diesen drei aktuellen niederländischen Schulbüchern implizit die Perspektive der Reformation eingenommen wird. Die katholische Reaktion auf Luthers Auftritt sei nicht vernünftig und ungerecht gewesen, und nur deshalb hätte es eine verhängnisvolle Spaltung in der Kirche gegeben. Und das obwohl doch schon ausgehend von der Beschreibung der Missbräuche deutlich sei, dass eine Reform nötig war. Auch die Erwähnung, dass Lehren hinzugefügt worden seien, »die gar nicht in der Bibel zu finden waren«, deuten darauf hin, dass nach diesen niederländischen Autoren nicht nur die katholische Kirche Unrecht hatte, sondern dass es darüber hinaus auch vollkommen logisch sei, die Bibel als einzige Autorität zu akzeptieren. Auf einer eher untergeordneten Ebene gibt es dann doch noch vereinzelt Unterschiede zwischen den Büchern. Die auffälligsten darunter sind, dass das Buch Memo einen verhältnismäßig ausführlichen Einblick in die theologische Debatte gibt, die den Konflikt Rom-Reformation charakterisierte, und auf die Ereigniskette Wittenberg-Worms-Wartburg, die in den anderen zwei Büchern vorkommt, verzichtet. Memo widmet Calvin am wenigsten Aufmerksamkeit, während die anderen beiden Bücher in Hinblick auf den niederländischen Aufstand dessen Lehre stärker betonen und auch das Rebellionsrecht nennen, welches die Calvinisten sich vorbehalten, wenn ein Fürst oder Herrscher nicht im Interesse des »wahren Glaubens« regiert. Feniks geht mit der Behandlung von sozioökonomischen Hintergründen, die in den anderen zwei Büchern nicht vorkommen, einen eigenen Weg. Dass diese Unterschiede etwas mit bewussten Entscheidungen von Autorinnen und Autoren oder ihren ideologischen ÜberArie Wilschut182 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 zeugungen zu tun haben, ist allerdings unwahrscheinlich. Es dürfte sich dabei um zufällige Vorlieben handeln. Fazit Der Vergleich zwischen einigen Schulbüchern für Geschichte der Periode von 1920 bis 1960 mit den wichtigsten Büchern, die heute in den Niederlanden benutzt werden, hat eindeutig gezeigt, wie tief die Umwälzung der 1960er Jahre die niederländische Gesellschaft verändert hat. War der Einfluss der Religionen und Weltanschauungen in der Periode der Versäulung erheblich, ist er nun nahezu verschwunden. Im Primarunterricht zeigt sich dies am deutlichsten, weil der Quasi-Religionsunterricht dort von einer simplifizierenden materialistischen Interpretation von »Unruhen«, die etwas mit der Reformation zu tun haben, ersetzt worden ist. Im Sekundarunterricht der Niederlande scheint es heute einen Konsens über die Reformationsgeschichte zu geben. Auffällig sind die »protestantischen« Deutungsmuster, die sich durch diese Interpretation ziehen. Die Position der Katholiken im 16. Jahrhundert wird kaum ernst genommen. Humanisten hätten festgestellt, wie der ursprüngliche Text der Bibel ausgesehen habe, und dann wäre es eben »logisch«, diesen Text zum einzigen Ausgangspunkt für den Glauben zu wählen. »Missstände« wie das Nicht-Einhalten des Zölibates – was man doch durchaus auch als fortschrittlich interpretieren könnte, immerhin hat die Reformation diesen ja abgeschafft – werden angeführt als Probleme, die selbstverständlich korrigiert werden mussten. Dass die katholische Kirche selbst auch einen Versuch unternommen hat, sich im Zuge der katholischen Reform zu korrigieren, wird in zwei der drei Bücher beiläufig erwähnt. Der niederländische Konsens wählt den Ablauf der Geschichte zum Ausgangspunkt: Die Reformation hat stattgefunden, weil sie notwendig war – die Kirche war eben korrumpiert. Alternativen zu diesem Ablauf (wie im »allgemeinen« Buch der versäulten Periode, in dem noch darüber spekuliert wird, wie das Papsttum eine Spaltung hätte vermeiden können) werden nicht in die Betrachtung aufgenommen. Überhaupt ist es bemerkenswert, dass moderne Ansätze der Geschichtsdidaktik, die auf die Notwendigkeit von Multiperspektivität und einer offenen Haltung im Zusammenhang mit mehreren Interpretationen der Vergangenheit verweist (Kontroversität, Pluralität), in den niederländischen Büchern der Sekundarstufe II kaum eine Rolle spielen. Vielleicht ist der Konsens auch mit dem nationalen Entstehungsmythos der Niederlande verbunden: Der niederländische Staat ist ja aus einem Religionskampf hervorgegangen als »protestantische Republik«. Davon, dass die Rebellion damals gerechtfertigt war, hängt die Existenz des heutigen Staates ab und wird Die Reformation in niederländischen Geschichtsschulbüchern 183 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 daher wahrscheinlich auch stillschweigend zum Ausgangspunkt gemacht. Die Rebellion gegen Philipp II. ist natürlich nicht denkbar ohne die protestantische Reformation, und daher muss angenommen werden, dass die Reformation gerechtfertigt gewesen sei. All dies wird wahrscheinlich von den Autoren und Autorinnen nicht bewusst auf diese Weise gedeutet, resultiert aber mehr oder weniger automatisch aus dem nationalen Konsens im Zusammenhang mit der Nationalgeschichte. Die Interpretation, die man in den heutigen niederländischen Geschichtsbüchern vorfindet, stellt die Position der Katholiken im 16. Jahrhundert als nahezu lächerlich dar. Eine stark säkularisierte »Einheitsinterpretation« der Geschichte kann hier wohl auch als Ursache ausgemacht werden. Auch protestantische Überzeugungen über die Autorität des Bibeltextes und die Vergebung von Sünden sind für einen säkularisierten Menschen nicht leicht verständlich, aber Annahmen über Heilige, Fegefeuer und die Autorität von Priestern, obwohl diese offenbar kein moralisch vorbildliches Leben führten, sind wohl noch schwieriger zu verstehen. Möglicherweise ist dieses säkularisierte Denken noch wesentlicher für den niederländischen Konsens als der nationale Entstehungs- mythos. Eine Interpretation der Geschichte, die den »notwendigen« Ablauf der Ereignisse zum Ausgangspunkt wählt, zieht wesentliche Aspekte des historischen Denkens nicht in Betracht. Historisches Denken rechnet mit der Kontingenz der historischen Entwicklungen und versucht, eine Periode aus sich selbst heraus verständlich zu machen.34 Dabei wird davon ausgegangen, dass es nicht so einfach ist, eine eindeutige »Wahrheit« über die Vergangenheit festzustellen, und dass es daher zumindest ratsam scheint, mehrere Perspektiven in die Betrachtung einzubeziehen. Dass davon in der Darstellung der Reformation in niederländischen Geschichtsbüchern kaum die Rede ist, ist ein enttäuschender Befund dieser Studie. Literatur Lademacher, Horst. Die Niederlande: Politische Kultur zwischen Individualität und Anpassung, Frankfurt am Main: Propyläen, 1998. Lankamp, H. Leerplan voor de scholen met den Bijbel, IIA: Geschiedenis des vaderlands, Groningen: Noordhoff, 1928. »Onrust in de Nederlanden: honger, armoede en onvrede«, Niederländisches Schulfernsehen (NPO/NTR), http://www.schooltv.nl/video/popup/onrust-in-de-nederlandenhonger-armoede-en-onvrede, zuletzt geprüft am 15. Mai 2017. 34 Arie Wilschut, Images of Time: The Role of an Historical Consciousness of Time in Learning History, Charlotte: Information Age Publishers, 2012. Arie Wilschut184 Prak, Maarten. The Dutch Republic in the Seventeenth Century, Cambridge u.a.: Cambridge University Press, 2005. Popp, Susanne. »Geschichtliches Überblickswissen aufbauen – ein konzentrisch-longitudinales Curriculum aus den Niederlanden«, in: Geschichtsunterricht International: Studien zur internationalen Schulbuchforschung, Elisabeth Erdmann, Robert Maier und Susanne Popp (Hg.) (Schriftenreihe des Georg Eckert Instituts, Band 117), Hannover: Verlag Hahnsche Buchhandlung, 2006, 269–300. Ruppert, Godehard. »Kirchengeschichte, das Stiefkind des Religionsunterrichts. Fünf Thesen gegen den Trend«, in: Tradition – Korrelation – Innovation. Trends der Religionsdidaktik in Vergangenheit und Gegenwart, Hans Mendl und Markus Schiefer Ferrari (Hg.), Donauwörth: Auer 2001, 321–326. 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