50 WALTER HÖFLECHNER DIE THUN'SCHEN REFORMEN IM KONTEXT DER WISSENSCHAFTSENTWICKLUNG 51 und kaum einen Vergleich zu scheuen hatten75 - Physik und Chemie waren damals natürlich Fächer im Rahmen der Philosophischen Fakultät; und diese Fakultät hatte 1874, als der Bau in Gang kam, insgesamt 199 Hörer, zu denen noch 65 Pharmazeuten kamen. 7(Diese Erneuerung vollzog sich an den Provinzuniversitäten früher und deutlicher als in Wien.77 Es wäre hier noch auf eine Fülle flankierender Maßnahmen hinzuweisen wie die Entwicklung der Dotationen, den Ausbau der Bibliotheken etc. Wie tiefgehend und weitreichend die Erneuerung im Wege der Thun'schen Reformen war, erweist auch das in der Folge erkennbare Verständnis in der Öffentlichkeit und im Parlament für die Erfordernisse der Universitäten, das als Zeugnis der Wirksamkeit der Neuerungen, der Akzeptierung von Wissenschaft zu werten ist - trotz der schwierigen äußeren Bedingungen jener Jahre. Insofern hat der ungeheure Impetus der Anfangsphase durchgeschlagen in eine breitere Allgemeinheit. Und das war ja eigentlich das wertvollste Element: der aus dem Defizit des Vormärz erwachsene Impetus zur Erneuerung, die aufgestaute Sehnsucht nach freier Entfaltung, sich aus der Schmach des Obskurantismus lösen zu können. Er wurde 1848 freigesetzt und von Thun gefördert. Die Wirkung erinnert an unsere Vorstellung von einem big bang.78 \ 75 Das Physik-Gebäude wurde u. a. teilweise eisenfrei ausgeführt, um störungsfrei magnetische Versuche durchführen zu können. 76 Die Zahlen nach Franz von Krones: Geschichte der Karl-Franzens-Universität in Graz. Festgabe zur Feier ihres dreihundertjährigen Bestandes, Graz 1886, S. 560. 77 Es ist hinlänglich bekannt, dass die Lage beispielsweise der Physik in Wien ungleich weniger günstig war, was teilweise (für die Anfangszeit) auf den Umstand zurückzuführen ist, dass man rasch nach 1848 mit Verbesserungen begonnen hatte und dabei hinsichtlich der Physik vor allem das Physikalische Institut ausbaute; anders war es an der „Provinzuniversität" Graz, wo das Fach bis zur Errichtung der Medizinischen Fakultät 1863 eher ein klägliches Dasein geführt hatte und Minister Stremayr befand, dass da eine „neue Bude" her müsse. In Wien war allerdings unstreitig auch eine erstaunliche Lethargie der Fachvertreter nicht unbeteiligt an den gegen 1900 hin miserablen Zuständen (als Institutsvorstände vor der Naturforscherversammlung von 1894 Wien verließen, um nicht auswärtige Kollegen in ihr Institut führen zu müssen, und im Physikalischen Institut in der Türkenstraße eine Decke herunterbrach); erst 1913 wurde der gewaltig dimensionierte Neubau in der Boltzmanngasse bezogen. \ 78 Allerdings hat dieser Impetus bereits in den I880er-Jahren deutlich nachzulassen begonnen bzw. wird verwendet im Sinne einer zunehmenden Nationalisierung bzw. Konfronta- j tion zwischen den Nationalitäten und mit dem Judentum. In diesem Zusammenhang ist auch zu sehen, was man in Beck, Kelle: Universitätsgesetze, S. 1 lesen kann: „Über die j Rechtsstellung der Universitäten [...] wurde anlässlich einer Anfrage [in einem Ministe- ■ rialakt 1897J nachstehendes bemerkt: Die österreichischen Universitäten sind durch die ! Landesfürsten als selbständige, mit staatsrechtlichen Privilegien und Vermögensrechten ausgestattete Korporationen ins Leben gerufen. Mit der Zeit haben dieselben jedoch ihre Noch ein anderer Umstand wirft ein bezeichnendes Licht auf die Situation: Weder das provisorische noch das definitive Organisationsgesetz der akademischen Behörden definierte, was eine Universität sei - die Einigkeit darüber war in einem Maße gegeben, dass eine Definition überhaupt nicht in Erwägung gezogen wurde.79 Eine derartige Definition wurde erst 1922 vorgenommen und da wohl nur, um ein einziges Adjektiv unterzubringen: „Universitäten sind deutsche Forschungs- und Lehranstalten."80 Das Reformwerk, das mit Thuns Namen verbunden ist, hat eine tiefgehende Ausweitung des Begriffes von Wissenschaft bewirkt und es hat in seiner Grundstruktur die österreichischen Universitäten und Hochschulen bis 1975 bestimmt - es war damit die Grundlage für die wissenschaftliche Entwicklung im cisleithanischen Bereich des alten Österreich wie auch in der selbständige Stellung zum größten Teile eingebüßt und sind gegenwärtig als staatliche Anstalten organisiert, ohne dass jedoch ihre Stellung als juristische Personen im gesetzlichen Wege ausdrücklich aufgehoben worden wäre." 79 Dass die Pflege der Wissenschaft die erste Aufgabe der Universitäten sei, findet sich in zahlreichen Reden und Schriftstücken jener Zeit. Im Protokoll der Ministerkonferenz zur Umversitätsreform heißt es zur Sitzung vom 26, November 1853, dass eine historische Einleitung zur Frage der Aufgaben der Universität überflüssig sei und es deshalb genüge, den Satz „anzuerkennen, daß ,der Zweck der österr[eichischen] Universitäten in der Pflege der Wissenschaft im Einklang mit dem Geiste der Kirche und mit besonderer Berücksichtigung der Interessen des Staates' bestehe." - Lenke: Universitätsreform, S. 307 ff (Anhang IV); in den weiteren im Protokoll illustrierten Erörterungen ist - abgesehen von den auf die Kirche bezogenen Präferenzen u. a. die Bemerkung des Innenministers Bach bemerkenswert, dass keine Lehrbücher vorzuschreiben seien, weil „selbst bei positiven Disziplinen sich kein unbedingter Abschluss, kein Stillstand denken lasse, auch diese voranschreiten und sich von Jahr zu Jahr vervollständigen [...]".- Beides zusammen nimmt vorweg, was Karl Lemayer, einer der maßgeblichen Vertreter der österreichischen Universitätsverwaltung in der liberalen Ära, 1877/78 den Universitäten in das Stammbuch (Vorwort seines Buches über die Verwaltung der österreichischen Hochschulen) schrieb: „[...] die Universitäten [sind] zwar Staatsanstalten, Institute, die ein staatliches Interesse und eine staatliche Aufgabe repräsentiren, allein daneben haben sie auch einen selbständigen wissenschaftlichen Beruf, den sie nach eigener Bestimmung in Freiheit verfolgen. Diese Anstalten haben also, um es so auszudrücken, eine dem Staat zugewandte und eine dem staatlichen Einfluß entzogene Seite. [...] Nach dieser letzteren ist die Geschichte der Universitäten oft die Geschichte der Wissenschaften selbst", und: „die Universitäten [sind] zunächst das, wozu sie die akademischen Lehrer machen; von diesen geht die eigentliche Kraft und der Glanz der Institutionen [...] aus - ,men not measures' gilt also hier mehr, als auf irgend einem anderen Gebiete des staatlichen Waltens". Die Universitäten werden nun als der zentrale Ort der Wissenschaft gesehen, und zwar nicht einer beliebig großen oder kleinen „Summe von Kenntnissen, sondern vollständiger Erkenntnis über den Gegenstand der Lehre", Lemayer: Verwaltung, S. iv, v und 1. 80 Dazu Walter Höflechner: Die Baumeister des künftigen Glücks. Fragment einer Geschichte des Hochschulwesens in Österreich vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis in das Jahr 1938 (Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz, Bd. 23), Graz 1988, S. 187.