446 1710 I Traktat zur Verteidigung der Sache Gottes 1729 j Ein Wissenschaftler und Dichter 447 reden, und es gleichwohl mit dem Copernicus haken, wenn von dem Auf- und Untergehen der Sonne die Rede ist« (Theodizee, 142). Körper und Seele wurden von Gott so gestaltet, dass sie sich verhalten, als wären sie miteinander verbunden, während sie tatsächlich nur Elemente in unterschiedlichen Kausalzusammenhängen sind. Es ist nichts weiter als ein kompliziert angelegter Trugschluss, der es der Seele gestattet, sich so zu verhalten, als gäbe sie dem Körper Befehle, und die normale Sprache gestattet uns so zu sprechen, als hinge die Seele vom Körper ab, um Wissen von der äußeren Welt zu erlangen. Fast wie eine Vorahnung von Hegels Drama von Herr und Knecht und von Marx' Umkehrung dieser hegel-schen Hierarchie setzt Leibniz' Perspektivismus die Wahrheit ans Ende einer Reihe sprachlicher Fehlgriffe, die von partiellen und beschränkten Standpunkten bestimmt werden. Wenn der göttliche Blickwinkel diese partiellen Versionen der Welt untereinander aussöhnt, wird die Formel »als ob« zu ihrem Berührungspunkt. Auf lange Sicht betrachtet, überlebt Leibniz' Theodizee nicht wegen ihrer Theorie des Optimismus (boshaft, aber eindringlich von Voltaire in Candide ins Lächerliche gezogen), sondern wegen ihrer Formulierung dessen, was Kant später »teleologische Vernunft« nennen soll. Hier das Ende der Monadologie: Geister auch überdem gewisse Portraits der Gottheit selbst oder des Urhebers der Natur sind / welche die Fähigkeit haben / den Bau der großen Welt zu erkennen und denselben durch die nach der Bau-Kunst eingerichtete und aufgeführte Muster einiger maßen zu imitieren; indem ein jedweder Geist in seinem Bezirk gleichsam eine kleine Gottheit ist. Hierdurch geschiehet es / daß die Geister geschickt sind / mit Gott in eine gewisse Art der Societät zu treten. [...] Diese Stadt Gottes / diese Monarchie / welche in der Tat allgemein ist / ist eine moralische Welt in der natürlichen Welt. Sie ist unter denen Werken Gottes dasjenige / welche die Hoheit und die Gottheit am meisten ausdrucket. [...] Gleichwie wir oben unter denen natürlichen Reichen / deren eines sich auf die causas efficientes. das andere auf die causas finales stützet / eine Harmonie dargetan haben; so müssen wir allhier auch eine andere Harmonie unter dem Physikalischen Reiche der Natur und unter dem moralischen Reiche der Gnade anmerken / das ist / in so weit Gott als ein Erbauer der ganzen Welt-Machine betrachtet / und in so weit er als ein Monarche der Göttlichen Stadt der Geister angesehen wird. (Monadologie, § 85—89) Achtzig Jahre nach der Theodizee taucht das Reich der Zwecke am Ende von Kants Untersuchungen der teleologischen Urteilskraft ebenfalls mitten im Reich der Natur (oder der Mittel) auf. Nach Kants Begriff des Reichs der Zwecke »ergänzt die moralische Teleologie den Mangel der physischen, und gründet allererst eine Theologie« (Kant, Kritik der Urteilskraft, AA, Bd.;, S.444); »der moralische Beweisgrund vom Dasein Gottes ergänzt aber eigentlich auch nicht etwa bloß den physisch-teleo-logischen zu einem vollständigen Beweise; sondern er ist ein besonderer Beweis, der den Mangel der Uberzeugung aus dem letzteren ersetzt« (ebd., S.478). Man kann sich dieses Reich vorstellen, es aber nicht erkennen; man kann die Notwendigkeit einer solchen Vorstellung zum Zweck der praktischen Vernunft demonstrieren, ohne in der Lage (oder berech- tigt) zu sein, eine solche Vorstellung aus irgend etwas Beobachtbarem in rjer Natur herzuleiten. Obgleich Kant Leibniz fast nie erwähnt, kann die Kritik der Urteilskraft geradezu als Korrektur der Theodizee gelesen werden, als Ersetzung der Theologie und Physik der Theodizee durch Ästhetik und Erkenntnistheorie. Leibniz' Harmonie zwischen Zweck- und Wirkursachen führt bei Kant zu einem Sprung zwischen reiner und praktischer Vernunft. Kants »Als ob« beeinhaltet ein »Wir können dessen niemals gewiss sein«. Die versöhnende göttliche Standpunkt ermöglicht eine dauerhaft kontingente, fiktive Beziehung zwischen Zweck - wie man ihn in Theologie, Moral und Kunst erblicken kann - und Mitteln. Ein gewisses Pathos in der Kantischen Darstellung von Schönheit und Zweck rührt genau aus dieser Zufälligkeit der Beziehung zwischen der gegebenen natürlichen Welt und den Voraussetzungen, die die moralische Welt selbst herstellen muss. Ein ähnliches Pathos gibt in viel späteren Schriften über Kunst den Ton an, zum Beispiel in Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Ein solcher Gedanke wäre indes für Leibniz nicht verständlich gewesen, für den wir immer schon (ein glücklicher) Bestandteil des Reichs der Zwecke sind. HATJN SAUSSY : Siehe auch 173c, 1790, 26. August 1792, Winter 1828 Bibliographie: Gottfried Wilhelm Leibniz, Essais deTheodtcee, Paris 1969. - Ders., La Monadologie, hg. von Emile Boutroux, Paris 1987. - Ders., Philosophische Schriften,c Bde., Frankfurt I am Main [996 (Bd. 1 enthält die Monadologie, Bde. 2.] und 2.2 die Theodizee). - Pierre Bayle, Historisches und Cririsches Wörterbuch, hg. von Johann Christoph Gottsched, 4 Bde., Leipzig [744. — Immanuel Kant, Kritik der Urtheilskraft, in: Kants gesammelte Schriften, herausgegeben von der königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1913.— Gilles Deleuze, Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt am Main 1995. — Benson Mates, The Philosophy of Leibniz: Metophysics and Lunguage, New York 1986. — Michael Serres, Le Systeme de Leibniz et ses modeles müthematigues, Paris 1968. — Norbert Wiener, Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine,Düsseldorf 1992. | Der Schweizer AntyUbrecht von Holler veröffentlicht ein Gedicht über dieiUpen.das gelehrte Beobachtungen aus der Naturgeschichte mit poetischer Feier göttlicher Landschaft verbindet Ein Wissenschaftler und Dichter Als Friedrich Schiller in den Räubern das 18. Jahrhundert als »tinten-kleckseadK Säkulum« verdammte, schien der Groll des jungenhaften Räubers niemanden besser zu treffen als den Schweizer Autor Albrecht von Haller (1708-1777). Die bloße Menge von Hallers Schriften ist so, überwältigend, dass sie aus der Sicht des Weimarer Klassizismus nur als unabsichtlicher Tintenverlust und nicht als bewusste Produktion zu verstehen war. Es gibt jedoch Grund zu der Annahme, dass dieses Diktum 448 1729 I Ein Wissenschaftler und Dichter 1729 I Ein Wissenschaftler und Dichter 4.49 auch ein Fall milden Neides war, denn Haller hatte in allen drei Bereichen triumphiert, in denen Schiller versucht hatte, sich zu etablieren: Er war der bedeutendste Naturwissenschaftler seiner Zeit, einer der mächtigsten Akademiker Europas und er war ein sehr bewunderter Dichter. Hallers Berühmtheit erwuchs aus allen drei Beschäftigungen. Als Erstes kam die Anerkennung als Dichter: nach seinem Medizinstudium inTübingen, Leiden, London und Paris ließ er sich im heimatlichen Bern als Allgemeinmediziner nieder und begann Gedichte zu veröffentlichen Das ungewöhnlich fröhliche Liebeslied Doris (1730), inspiriert durch seine erste Frau Mariane Wyss, wurde so berühmt, dass es seinen Weg bis in Klopstocks Ode Der Zürichsee (1750) fand. Eine ausgedehnte botanische Exkursion in die Schweizer Alpen begründet nicht nur den Plan ein Gesamtverzeichnis der Schweizer Pflanzen (Enumeratio methodica stir-pium Helvetiae indigenarum von 1742) anzulegen, sondern bildete auch die Grundlage für das Gedicht Die Alpen (1729). Wie alle von Hallers dichterischen und wissenschaftlichen Werken schaut Die Alpen sowohl nach vorn wie zurück: zurück auf die barocke Tradition einer umfassenden Bildung (das Gedicht hat Fußnoten) und kunstvollen Konstruktion (es wurde in Alexandrinern verfasst); vorwärts auf die Huldigung der Natur in Klopstocks Gedichten und auf ein Wiederaufleben der didaktischen Dichtung in Goethes Die Metamorphose der Pflanzen. Wiederholungen und die Symmetrie des Versmaßes mit seiner schweren Zäsur in der Mitte einer jeden Zeile veranlassten zur Verwendung von Substantivhäufungen und hatten eine Neigung zum Spruchreichtum zur Folge: Die Eher-sucht teilet nie, was Wert und Huld verbunden. Die Staatssucht macht sich nicht zur Utiglücks-Kupplerin: Die Liebe brennt hier frei und scheut kein Donner-Wetter, Man liebet für sich selbst und nicht für seine Väter. In vielen Fällen jedoch durchbricht Haller das Versmaß und nähert sich dem geschmeidigeren Madrigalvers, den er in seinen Gedichten Über den Ursprung des Übels (1734) und Unvollkommenes Gedicht über die Ewigkeit (1736) anwenden sollte. Diese beiden Qualitäten charakterisieren auch den Inhalt von Die Alpen: Da ist ein stetes Heraufbeschwören der erhabenen Natur der Berge - als Zeichen der Größe Gottes -, aber es findet sich auch das typisch romantische Lob der Einfachheit des bäuerlichen Lebens und seiner unverdorbenen Sitten neben einer Verdammung der sündigen Stadt, Die die Stadt Bern regierenden Patrizier müssen die indirekte Kritik sehr wohl bemerkt haben, als sie Haller einen Universitätsposten, der seinen Qualifikationen sehr wohl angemessen war, verweigerten. Von besonderem Interesse ist Hallers bewegende Trauer-Ode beim Absterben seiner geliebten Mariane, die nach dem Tod seiner ersten Frau 1736 geschrieben wurde. Literaturgeschichtler entdecken hier erste Töne von lyrischer Subjektivität und eine Konzentration auf gelebte Erfahrungen, die die Ära von Klopstock und Goethe ankündigen. Andererseits wird jjeses Bild von Haller als dem Schutzpatron der deutschen lyrischen Dichtung dadurch getrübt, dass Mariane an einer Geschlechtskrankheit starb (ebenso wie seine zweite Frau, Elisabeth), mit der Haller sie angesteckt hatte. Als unverbesserlicher Anatom hatte Haller die Diagnose durch eine Autopsie verifiziert. Auch wenn Haller sich selbst nie als Dichter verstand, veröffentlichte er Die Alpen in seinem Versuch Schweizerischer Gedichte zusammen mit den philosophischen Gedichten, wie zum Beispiel Die Falschheit menschlicher Tugenden, Über den Ursprung des Übels und Unvollkommenes Gedicht über die Ewigkeit, und überarbeitete die Sammlungen in allen elf Auflagen selbst peinlich genau. Von Gottsched und anderen wegen der Unreinheit seines Wortschatzes und der Dichte seiner Grammatik kritisiert, entfernte Haller nach und nach, was er als Fehler in Versmaß und Rhythmus erkannte, aber er bestand auf den besonderen Eigenschaften des Deutschen, wie es von den Schweizern gesprochen und geschrieben wurde, und verteidigte das Recht einer ethnischen Dichtung, die vom Diktat des (sächsischen) Hochdeutsch abwich. Der Tod seiner beiden Frauen führte, einhergehend mit starken pietistischen Ansichten, die sich schon in seinen Gedichten erkennen lassen, zu einer außerordentlichen Verdunklung von Hallers Ansichten. In seinen Tagebüchern (Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und über sich selbst, 1787) unterzog er sein Gewissen einer erbarmungslosen Selbstanalyse, wie wir sie aus pietistischen Quellen wie zum Beispiel Karl Philipp Moritz' Anton Reiser kennen. Was an körperlicher und theologischer Freude an der Welt noch übrig war und etwa Die Alpen noch durchdrang, machte einer schwarzen Weltsicht Platz, in der die Schöpfung keine besondere Beziehung zu Gott unterhielt und in der auf das fundamentale Problem des 18 Jahrhunderts - das Problem derTheodizee - keine Antwort gefunden werden konnte. Haller wurde einer der großen Melancholiker der Aufklärung, eine Grundhaltung, für die die enormen Mengen Opium wenig förderlich waren, die er in seinen späteren Jahren zu sich nahm. Seine wachsende Entfremdung von seiner Epoche drückte er in drei Romanen über die bestehenden politischen Zustände (Usong, 1771; Alfred, 1773; Fabius und Cato, 1774) sowie in einer Reihe apologetischer Schriften aus: in den Briefen über die wichtigsten Wahrheiten und Offenbarungen (1772) und den Briefen über einige Einwürfe noch lebender Freygeister wieder [sie] die Offenbarung ('775-1777)- Haller, der im Jahr 1736 einer Einladung gefolgt war, der medizinischen Fakultät der jungen Universität Göttingen beizutreten, kam aufgrund seiner düsteren Ansichten über das Universum zu den Naturwissenschaften. Wenn die Schöpfung Zeichen einer göttlichen Rationalität zeigt (aber kein Versprechen auf Rettung), ist es unumgänglich, den Bauplan der tierischen Maschine zu entdecken und zu verstehen, wie sie funktioniert (aber nicht ihr Zusammenspiel mit anderen Teilen des Kosmos zu beschreiben). Anders als Goethe, für den Anatomie die Wissen- 45ö !7Z9 I Ein Wissenschaftler und Dichter [729 I Ein Wissenschaftler und Dichter 451 schaft des Todes und Physiologie die Wissenschaft des Lebens war, verstand Haller die Physiologie als anatomia animata mit der Aufgabe, Struktur und Funktion des tierischen Körpers zu erklären. Die unüberwindbaren Unterschiede hegen nicht zwischen Leben und Tod, sondern zwischen Körper und Seele: Hallers zentrale Behauptung war, dass die Kräfte, die den Körper bewegen, dem Körper entstammen und mit ihm verschwinden. Es ist darum kein Zufall, dass er als erstes und zentrales Anliegen seiner Forschung Phänomene wählte, die zuvor dem Bereich der Seele zugeordnet worden waren: Blutkreislauf, Herzfunktionen und Atmung. Haller bemühte sich mit seinen Experimenten, die animistische und vitalistische Annahme zu widerlegen, das Prinzip des körperlichen Lebens sei, egal wie schwach, mit Seele und Willen verwandt. Animismus und Vitalismus stellten eine gewaltige Bedrohung für Hallers duales System dar, weil sie ein Maß an Autonomie des Lebens annahmen, das es unabhängig von oder identisch mit seinem Schöpfer machte. Während aus der Perspektive Goethes oder Schellings Dualismus nur als Beschränkung erscheint, muss man bedenken, dass der tierische Körper nur auf diese Weise zum Objekt einer »wertfreien«, nichtphilosophischen und nichttheologischen wissenschaftlichen Untersuchung werden konnte. Haller unternahm eine systematische Untersuchung des tierischen Körpers, um dessen beide fundamentalen Kräfte zu skizzieren, Reizbarkeit und Empfindsamkeit. Er hatte beobachtet, dass Muskeln wie zum Beispiel das Herz sich zusammenzogen, wenn sie durch Einschnitte, Elektrizität oder chemische Mittel stimuliert wurden. Diese Reaktion -Reizbarkeit - war nicht willentlich und wurde nicht durch Nerven übertragen. Sie war auf das Muskelgewebe beschränkt und dauerte lange über den Zeitpunkt hinaus an, da der Muskel aus dem lebenden Körper entfernt worden war. Haller zählte das Herz, das Zwerchfell, die Blase und den Uterus zu den reizbarsten Organen. Die Manifestationen von Empfindsamkeit konnten auf der anderen Seite nur indirekt beobachtet werden, als Ausdruck von Unbehagen und Schmerz im Subjekt, wenn empfindsame Teile stimuliert wurden. Empfindsamkeit verhielt sich proportional zum Maß an Innervierung und war neben anderen Organen typisch für die Haut, die Zunge, den Magen und das Auge. Reizbarkeit und Empfindsamkeit schließen sich nicht gegenseitig aus, aber es gibt Körperteile, argumentierte Haller, die nur eins, aber nicht das andere haben. Haller präsentierte seine Entdeckungen 1752 in Göttingen und veröffentlichte sie ein Jahr später in seinem Epoche machenden Essay De pdrtibus corporis humcmi sensibilibus et irritabilibus. Der Essay ist bemerkenswert, weil es ihm gelingt, ein hoch aufgeladenes Thema - die Beziehung von Körper und Seele mit all ihren theologischen und philosophischen Verbindungen - auf rein experimenteller Ebene aufzugreifen. Das wiederholte und wiederholbare physiologische Experiment hat den Platz der Schlussfolgerung per analogiam oder unter Berufung auf frühere Autoritäten eingenommen. Dieses völlig moderne Vertrauen auf Experimente hatte jedoch einen hohen Preis: Die notwendigen Experimente schlossen die »Stimulation« und Vivisektion Hunderter, wenn nicht Tausender Tiere ein. Obwohl die Grausamkeit, die er ausüben musste, ihm selbst verhasst war, versicherte Haller, dass der Gewinn für die Menschheit die Schmerzen der Kreaturen überwog. Mit seinen leidenschaftslosen Beschreibungen von Stichen, Verbrennungen, Rissen, elektrischen Schlägen und Verätzungen gibt sich Haller in De partibus als Zeitgenosse de Sades zu erkennen, und sein Ton sollte die beunruhigende Kehrseite des triumphierenden Diskurses der Naturwissenschaften werden. Ohne Zweifel hinterließen die Schreie aus Hallers Labor Spuren in seiner Dichtung und seinen theologischen und philosophischen Ansichten. Dessen ungeachtet veröffentlichte er seine wissenschaftlichen Forschungen mit erstaunlicher Geschwindigkeit: fünfundzwanzig Abhandlungen in den fünf Jahren zwischen 1739 und 1744, darunter einige mit einem Umfang von mehr als zehntausend Seiten. Haller blieb in seiner Ablehnung jeglicher vitalistischen Interpretation seiner Entdeckungen hart - Interpretationen wie die Herders, die entweder die Autonomie der Körperkräfte beanspruchten oder eine indirekte Beeinflussung der Seele durch den Körper annahmen -, aber dies war nur möglich, indem er seine Dichotomien in immer kleinerem Maßstab anwandte. Die Unterscheidung zwischen Seele und Körper findet sich in der Unterscheidung zwischen Empfindsamkeit und Reizbarkeit innerhalb des Körpers wieder, und jeder dieser Bereiche zeigt seinerseits dieselbe Unterscheidung: Die Nerven sind an sich nicht empfindsam und auch das Muskelfleisch ist nicht reizbar. Diese Argumentationsstruktur, welche die Natur wie eine russische Puppe betrachtet und jede Schale eine ähnliche, aber kleinere Schale in sich birgt, ist in der Wissenschaftsbetrachtung des 18.Jahrhunderts nicht unüblich - denken wir an Newtons Theorie vom absoluten Raum, der alle anderen Räume enthält —, darüber hinaus wandte sie sich an die Faszination der damaligen Zeit vom Erhabenen, vom unendlich Kleinen und unendlich Großen. Aber es ist eine statische Sichtweise, die der Natur als Quelle schöpferischer und neuer Kräfte nicht Rechnung trägt und die den Naturwissenschaften konsequenterweise die Aufgabe zu schreibt, immer wieder neue Schichten zu >enthüllen<, ohne zu einem umfassenden Verständnis zu gelangen. Die Generation von Wissenschaftlern nach Haller (viele davon seine Studenten) sollte diese passive Sichtweise ablehnen und sich stattdessen auf die Philosophie und Poesie stützen, um ein umfassenderes und »lebendigeres« Bild der Natur herzustellen. Das Konzept der Bildung, die im wissenschaftlichen, philosophischen und literarischen Diskurs seit den 780er und 1790er Jahren allmählich bestimmend wurde, entstand aus Unzufriedenheit mit Hallers Art von Wissenschaft. Die Debatte über biologische Entwicklungsstufen, die in den letzten Lebensjahren Hallers aufkam, zeigt diese Zwietracht zwischen den Generationen im schärfsten Kontrast. Der junge Wissenschaftler Caspar 452 1729 I Ein Wissenschaftler und Dichter Christian Wolff hatte argumentiert, dass die Theorie der Einkapselung -der zufolge jeder Emhryo im Ovum der folgenden Generation eingekapselt sei und (vom »widerlichen Gestank des männlichen Samens«, wie Haller fand) zum Leben erweckt werde - den Vorgang der Zeugung nicht erkläre, sondern in Wahrheit leugne. Dieser Position, dass »nichts Neues unter der Sonne« sei, stellte Wolff die Theorie der Epigenese entgegen: Die Mischung männlichen und weiblichen Samens, geführt von der »Bildungskraft«, sei sowohl für Neuheit und Wiederholbarkeit der natürlichen Generation verantwortlich. Die Annahme einer formenden Kraft (teils spirituell, teils physisch) war für Haller verabscheuungswür-dig, und er bot all seine gelehrten und institutionellen Verbindungen auf, um diese potentiell unmoralische Hypothese zu bekämpfen. Doch schon sein eigener Student und Nachfolger Johann Friedrich Blumen- ' bach sollte nur ein Jahrzehnt nach Hallers Tod der Epigenese zu breiter Anerkennung verhelfen. Hallers beherrschende Position als überall in Europa anerkannter Wissenschaftler und Intellektueller ist ohne die Universität von Göttingen undenkbar. 1734 gegründet, war Göttingen die erste wirklich moderne Universität in Europa und wurde zum Modell nicht nur für Wilhelm von Humboldts Reform der preußischen Hochschulen und Universitäten, sondern auch für viele Universitäten in den Vereinigten Staaten. Das sichtbarste Zeichen dieser Modernität war die verbriefte Gleichheit der vier Fakultäten. Den Theologen war nicht länger gestattet, die Mitglieder der juristischen, philosophischen oder medizinischen Fakultät (zu der Haller gehörte) einer Zensur zu unterziehen. Stattdessen mussten Dispute zwischen den Fakultäten allein auf der Grundlage rationaler Argumentation ausgetragen werden. Diese Politik hatte weitreichende und anhaltende Auswirkungen auf das Profil der Universität: Die historischen Wissenschaften gingen als gemeinsame Gründung aus Theologie und Jurisprudenz hervor (mit dem Beginn der historischen Bibelwissenschaft und der komparativen Rechtsgeschichte); philologische Genauigkeit wurde zum Standard wissenschaftlicher Arbeit in den Geisteswissenschaften; eine Theorie historischer und einfühlender Interpretation (Hermeneutik) wurde entwickelt und gestattete Zugang zu beiden, der Bibel und der weltlichen Literatur. In den Wissenschaften wurde die Mathematik aus ihrer untergeordneten Position befreit, und die Medizin konnte durch die Gründung von Kliniken und angemessenen Formen des Unterrichts ihre ehemalige Aura von Scharlatanerie und Grausamkeit abwerfen. Haller nutzte diese Reformen. Seine Laboratorien und sein botinischer Garten waren gut organisiert, und er beteiligte seine Doktoranden an seinen aktuellen Forschungen. Kein Teil seiner experimentellen Arbeiten an De partibus zum Beispiel wäre ohne die groß angelegte Organisation der Wissenschaft möglich gewesen. 1747 gründete er die Göttinger Gelehrten Anzeigen, das erste Journal, in dem die Weitschweifigkeit traditioneller wissenschaftlicher Veröffentlichungen zugunsten kurzer T '715 I Ästhetische Orientierung in einer dezentrierten Welt 453 Artikel und^Rezensionen verworfen wurde. Man schreibt Haller selbst bis zu zeTimäusend Buchbesprechungen in den GGA zu. Außerdem war er ein führendes Mitglied der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaft zu Göttingen, wo Wissenschaftler aller vier Fakultäten ihre neusten Forschungen ohne Furcht vor Missverständnissen und Ablehnung vorstellen konnten. Trotz dieser positiven Bedingungen und der ungebrochenen Unterstützung durch den Kurator der Universität, Gerlach von Münchhausen, schien Haller nichts dringlicher herbeizusehnen, als wieder in seine Schweizer Heimatstadt zurückzukehren. \jss verließ er Göttingen und zog nach Bern, nachdem man ihm dort eine bescheidene Verwaltungsposition zugesagt hatte. In den letzten ihm verbleibenden Jahren fuhr er fort, Berge von Büchern zu veröffentlichen; die von ihm publizierten anatomischen, medizinischen, botanischen und chirurgischen Schriften umfassen mehr als zweiundfünfzigtausend Titel. Da er aber Schmerzen, Opium und den wissenschaftlichen Anfeindungen einer jüngeren und optimistischeren Generation ausgesetzt war, wurde sein Leben zusehends unglücklicher. Seine unbarmherzige Beobachtungsgabe behielt er bis zu seinem Ende, und man sagt, er habe die letzten Kontraktionen seines Herzens mit den Worten begleitet: »es schlägt, es schlägt, es schlägt -nicht mehr.« HELMUT MÜLLER-SIE VERS : Siehe auch 1789, 26. August 1792, 1799, 1824, 1831, März 1912 Bibliographie: Albrecht von Haller. Versuch Schweizerischer Gedichte, Güttingen 1762; Neudruck Bern 1969. - Ders., De portibus corporis humani sensibilibus et irritciriilibus, deutsch: Von den empfindlichen und reizbaren Teilen des menschlichen Körpers, hg, Karl Sudhoff, Leipzig 1922. 1735 I In der Magisterarbeit eines 21 -jährigen Studenten der Universität Halle wird zum ersten Mal im Vokabular der europäischen Philosophie der Ausdruck »Ästhetik« verwendet Ästhetische Orientierung in einer dezentrierten Welt '75&.begann Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762) sein Studium der Theologie an der Universität Halle, doch schon bald wechselte er zur Philosophie. Nach der Veröffentlichung seiner Magisterarbeit Medita-tiones de nonnullis ad poema pertinentibus (173;) arbeitete er zunächst als Dozent, dann, bis 1740, als außerordentlicher Professor in Halle. Während dieser Zeit veröffentlichte er ein Werk über Metaphysik, das Kant später für seine eigenen Vorlesungen zu diesem Thema verwenden sollte. Von 1740 bis zu seinem Tod war Baumgarten ordentlicher Professor an der Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder, wo er regelmäßig Vorlesungen zur disciplina aestethica hielt. Diese Vorlesungen dienten als Grundlage für 454 l7is I Ästhetische Orientierung in einer dezenlTierten Welt Baumgartens größtes Werk, Aesthetica, das wahrscheinlich wegen seines langen Ringens mit der Tuberkulose unvollendet blieb. Die beiden Bände der Aesthetica, die 1751 und 1758 erschienen, stellen nur einen Teil des Werkes dar, das Baumgarten eigentlich geplant hatte. Baumgartens philosophisches Projekt kann als der Versuch betrachtet werden, den Dualismus von Vernunft und sinnlicher Wahrnehmung zu bewältigen, wie er für den Rationalismus eines Christian Wolff (1679-1754) charakteristisch war. Der war ein popularisierender Vertreter von Leibniz' Lehre, die das Denken des frühen 18. Jahrhunderts bestimmte. Die Wortschöpfung, die Baumgarten im 116. Paragraphen seiner Magisterarbeit einführte - »aesthetica« als die »Wissenschaft der sinnlichen Wahrnehmung« —, definiert er als Gegenpol zur Logik, der Wissenschaft dessen, was gewusst wird. Im ersten Absatz der Aesthetica jedoch deutet er den Ausdruck großzügiger und nennt die Ästhetik die Wissenschaft des wahrnehmbaren Wissens und die Theorie der freien Künste. Seine weiteren Einschränkungen der Ästhetik als »ars analogi rationis« (Kunst analog zur Vernunft) deutet bereits auf den Parallelismus von sinnlicher Wahrnehmung und Rationalität hin. Kunst und Wissenschaft werden als komplementär betrachtet, ihr gemeinsamer Nenner ist die Herausbildung von Bedeutung. Man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass Baumgartens Begriff der Kunst mit unserem heutigen Verständnis des Ausdrucks wenig zu tun hatte. Zu Zeiten Baumgartens bezog sich das Wort sowohl auf den Maschinenbau als auch auf die schönen Künste und wurde gemeinhin als Pluralform verwendet. Erst am Ende des 18.Jahrhunderts wurde »Kunst« zu dem kollektiven Singular, der sich auf eine beschränkte Klasse sehr hoch gewerteter und nicht-praktischer Kulturgüter bezog. Das bedeutet, dass die Wissenschaft von der Ästhetik, so wie Baumgarten sie versteht, so lange das gesamte Feld menschlicher Fertigkeiten einschließt, wie sie in unseren sinnlichen Fähigkeiten verwurzelt sind und Wahrnehmungen formen und ausdrücken. Aus diesem Grund rufen mehrere zeitgenössische Theoretiker, die sich mit der Ausweitung ästhetischer Studien nach jenseits der Sphäre von Kunstobjekten befassen, zu einer Rückkehr zu Baumgartens umfassenderem Entwurf ästhetischer Betrachtungen auf. Was Baumgarten tatsächlich vor Augen hatte, war der gesamte Bereich unserer körperlichen Erfahrungen und Handlungen, unser Leben in Raum und Zeit, unsere weltlichen Verrichtungen. Darüber hinaus war es seine Überzeugung, dass eine Reihe kultureller Wertungen, die die Kultivierung oder, wie er es nannte, die »Perfektionierung« dieses Bereichs missachteten — zum Beispiel dadurch, Logik als den einzigen Zugang zur Wahrheit zu betrachten -, zum Scheitern verurteilt seien. Freilich sind unsere sinnlichen Wahrnehmungen und Handlungen von natürlich vorhandenen Fertigkeiten abhängig (»aesthetica naturalis«), aber diese natürliche Komponente kann durch eine »ars aesthetica« ausgeweitet, vertieft und verfeinert werden: durch die 1755 I Ästhetische Orientierung in einer dezentrierten Welt 4^5 Einübung der Artikulation, Organisation und Kommunikation unserer Wahrnehmungen. So betrachtet ist Ästhetik von entscheidender Bedeutung für eine gesunde und wohlgeordnete Gesellschaft. Nach der Mitschrift eines Studenten argumentierte Baumgarten in einer seiner Vorlesungen zur Ästhetik, dass all jene, die fordern, Gottesfurcht müsse der Menschheit durch übernatürliche Lehre vermittelt werden, nicht bedenken, dass bestimmte Verbesserungen nur mittels menschlicher Kunst erzielt werden können. Anschauliche Beispiele und treffend formulierte oder wohlkonstruierte Geschichten sind für den Prozess der Sozialisation unverzichtbar. Dieser Glaube an die sozialisierende Macht der Literatur scheint Baumgarten in die Nähe Johann Christoph Gottscheds (1700-1766) zu rücken, den wichtigsten Literaturtheoretiker in deutschen Landen in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts. Aber Gottscheds frühes Verständnis der Aufklärung basierte auf der hierarchischen Vorstellung mentaler Fähigkeiten, wie er sie von Wolff übernommen und weitgehend an sein von oben nach unten ausgerichtetes System angepasst hatte. Darum argumentiert Gottsched in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst für die Deutschen (1730) - die seinerzeit verbindliche Abhandlung über die Dichtkunst, bis sie schließlich 17JI in der vierten Auflage vollkommen überarbeitet wurde -, dass Literatur nur für »den großen Haufen« nützlich sei, da dieser unfähig sei, moralische Maximen aus rationalen Prinzipien abzuleiten. Er forderte sogar, ein Dichter müsse in Philosophie bewandert sein, um Dinge wahrhaft erklären und seine Arbeiten schlüssig nach den Regeln der Logik aufbauen zu können. Jedes Gedicht sei verwurzelt in einem moralischen Prinzip, welches es in Bilder kleide, die es ihrerseits den Ungebildeten zugänglich mache. In den Händen einer Elite wird Kunst zur Handlangerin für die moralische Unterweisung der ungebildeten Massen. Ebenso wie absolutistische Herrscher ihre Macht festigten, indem sie vorgaben, für das wirtschaftliche Wohl aller zu arbeiten, argumentierten aufklärerische Kritiker, das Wohl aller im Bereich von Moral und Erziehung werde durch die öffentliche Kunstkritik einiger weniger Gebildeter gesichert. Die Rolle, die hier der Literatur zufallt, spiegelt denselben Glauben an die Rationalität, den das absolutistische Projekt in der Steigerung des Glücks durch zentralistische Planung zeigt. In alldem erkennen wir nichts von Baumgartens Vorstellung vom Künstler als jemandem, der eine besondere Fertigkeit besitzt, indem er die Welt präzise und intuitiv abbildet. Dabei ist es genau diese Fertigkeit, die Baumgarten in allen Menschen gefördert sehen will. Statt sinnliche Darstellungen als Mittel zur moralischen Führung eines Teils der Gesellschaft einzusetzen, wie Gottscheds Theorie es sich vorgenommen hatte, wollte Baumgarten das Empfindungsvermögen aller Menschen verfeinern. Auf diese Weise antizipiert seine ästhetische Theorie - obwohl sie gleichzeitig ein durchaus weiteres Feld von Verfahren und Darstellungen anspricht - den ästhetischen Humanismus Schillers. 4^6 1755 I Ästhetische Orientierung in einer dezentrierten Welt [75c I Ästhetische Orientierung in einer dezentrierten Welt 457 Freilich hatten mehrere Zeitgenossen verwandte kulturelle Vorhaben. 1725 forderte der Philosoph Georg Bernhard Bilfinger (1693-1750) eine Theorie der Sinnlichkeit. Ungefähr seit 1740 fand diese philosophische Forderung Gegenstücke in der Literaturtheorie und Poetik. Im selben Jahr veröffentlichte der Schweizer Johann Jakob Breitinger (1701-1776) eine Abhandlung über die Natur, den Gebrauch und die Ziele von Gleichnissen, die eine Logik der Phantasie forderte, und seine eigene Critische Dichtkunst, die im selben Jahr erschien, hob (im Hinblick auf Mil-ton) die Fähigkeit des Dichters hervor, wunderbare alternative Welten zu erschaffen. 1747 hob der Dramatiker Johann Elias Schlegel (1719-1745) die Rolle der ästhetischen Darstellung in der menschlichen Kultur hervor und argumentierte, die vom Theater geleistete Kombination von ethischer Wirksamkeit und Genuss könne von anderen Formen der Darstellung unmöglich kopiert werden. Lessing, in dessen Werk die Kritik an der Aufklärung in der deutschsprachigen Welt ihren Zenit erlebt, argumentiert weniger als zehn Jahre später, dass die Wirkung ästhetischer Darstellung keinen beliebigen Wechsel im ethischen Verhalten mit sich bringe, sondern eher einen Wechsel in der allgemeinen Stimmung des Publikums. Obwohl sie auf Latein und in deduktiv-akademischer Weise verfasst wurde, wird Baumgartens Theorie Teil einer großen Umwälzung, die bis zur Mitte des 18.Jahrhunderts die allgemeine literarische Kultur vereinnahmt haben wird. Dieses neue Interesse an der sinnlichen Wahrnehmung kann, um es mit Erich Auerbach auszudrücken, als Wechsel von einer vertikalen zu einer horizontalen kulturellen Orientierung betrachtet werden. Dieser Wechsel kündigt sich in Baumgartens Aesthetica, die faktische Verbindungen zeitlich und räumlich hervorhebt, als sogenannter »nexus rerum« (Zusammenhang der Dinge) deutlich an. An der Schwelle zur Moderne wird die Theorie, die sich ausschließlich mit der Auslegung der ewigen Ordnung der Welt begnügt, von einer Praxis ersetzt, die die Welt verändert. Allerdings bringt diese Neuorientierung andere Probleme mit sich. Horizontale Kulturen neigen dazu, Menschen zu isolieren, denn sie erschweren die Verbindungen zu anderen Menschen. Vertikale Kulturen orientieren Menschen an einem Fixpunkt außerhalb von Zeit und Raum, einem transzendenten Wesen oder einer transzendenten Substanz, die die Welt als Ganzes zentrieren. Horizontale Kulturen dagegen schaffen eine Welt ohne feste Bezugspunkte und fordern also eine Neuorientierung in der Beziehung zum anderen. Wenn die Subjektivität eines Menschen nicht mehr länger von einem transzendenten Wesen getragen wird, muss die Philosophie ein alternatives System zur Unterstützung anbieten. Baumgarten findet diese Unterstützung in einer textuellen oder ä> thetischen Kultur, in der sich der Mensch durch künstlerisches Schaffen und Interpretation selber zentriert. Zu diesem Zweck definiert er die »facultas fingendi« (die poetische Fähigkeit) als die Fähigkeit, deren sich die Menschheit zusammen mit der Fantasie bedient, um Wahrnehmungen in ein geordnetes Ganzes zu integrieren. Da unsere Vorstellungen ursprünglich aus einer Streuung vergangener Eindrücke und gegenwärtiger Wahrnehmungen bestehen, müssen sie zu Einheiten verbunden werden, um Sinn zu ergeben. Die Herstellung eines Artefakts ist also zwingenderweise kreativ, Ergebnis eines Aktes der poiesis. Die höchste und wertvollste Darstellung jedoch ist eine mit vollendeter Ordnung, die dazu eingesetzt werden kann, den menschlichen Blick zu zentrieren. Deshalb definiert Baumgarten Schönheit (die er nicht von Wahrheit unterscheidet) als »Perfektion sinnlicher Erkenntnis«. Derartig schöne oder perfekte Darstellungen müssen uns vor Augen gestellt werden (»ab oculus ponere possit«), um die Menschheit mit jener Zentrierung der Subjektivität zu versorgen, die zuvor die Funktion des transzendenten Wesens gewesen war. Baumgarten schreibt der Seele eine natürliche Anlage zu, schön zu denken, was bedeutet, Darstellungen integrieren und das Wahrnehmungsfeld mit einer inneren Ordnung erfüllen zu können. Die höchste Form menschlicher Existenz ist der »felix aestheticus« (der glückliche oder vom Glück begünstigte ästhetische Praktiker), der dadurch, dass er Wahrnehmungen in ein geordnetes Ganzes oder »per-fectio composites« integriert, Selbstbestimmung und Offenheit zur Welt hin in sich vereinigt. Baumgartens Untersuchungen im Reich ästhetischer Erfahrung wachsen sich zu einer provokanten Vision der menschlichen Seele und ihrer Verbindungen zur Welt aus. Wie schon Locke und Leibniz vor ihm hebt er die reflexive Beziehung der Seele zu sich selbst hervor. Wesen, die sich in sich selber spiegeln, betrachten die Welt im Einklang mit ihrer Position darin. Die Beziehung mit der Wirklichkeit beginnt mit den sogenannten obskuren (nicht bewusst unterschiedenen) Vorstellungen. Im Gegensatz zu Leibniz aber schreibt Baumgarten obskuren Vorstellungen eine ursprüngliche Funktion zu: Sie machen den »fundus animae« aus, den Nährboden, aus dem menschliche Erkenntnis erwächst. Eine ähnliche Neudefinition kann man an seiner Verwendung des Begriffs »konfuse« Vorstellungen und Urteile ausmachen, der Beurteilung des Sinns. Wenn er diesen Ausdruck in seinen Meditationes philosophicae verwendet, will er damit nicht, wie zum Beispiel Gottsched, andeuten, dass derartige Darstellungen dem mit rationalem Verstand ausgestatteten Kritiker für dessen klares und eindeutiges Urteil vorgelegt werden sollten. Sein Ziel ist es, konfuse Vorstellungen in sich selbst zu verbessern. Dadurch stellt er implizit das erkenntnistheoretische Vorurteil in Frage, nach dem konfuse Urteile die Ursachen von Fehlern seien. Denn Konfusion - eine Ansicht, nach der die Merkmale von Dingen uns als miteinander verschmolzen vorgegeben sind - ist in Wirklichkeit die Quelle, auf die sich jedwede Wahrheitserkenntnis beziehen muss. Wenn wir uns auf Aspekte von Erscheinungen beziehen, die nicht deutlich voneinander unterschieden werden, beginnen wir, uns in der Welt zu orientieren. Die Natur 4S"8 WS I Ästhetische Orientierung in einer dezentrierten Welt 1735 I Ästhetische Orientierung in einer dezentrierten Welt 4C9 springt nicht von Düsterkeit zur Helle und damit zum klaren Denken Der Weg von der Dunkelheit zur mittäglichen Helle führt nach einer von Baumgartens einprägsamsten Metaphern durch die Dämmerung. In der Domäne der Dämmerung konfuser Darstellungen werden die wichtigsten Fixpunkte menschlicher Orientierung in der Welt festgelegt. Baumgartens Verwendung des Begriffs der konfusen Darstellung nimmt spätere kunstphilosophische Entwicklungen vorweg. Der Ausdruck bezeichnet eine Reihe von Qualitäten wie zum Beispiel Vieldeutigkeit, Komplexität und Dichte. Eben aus dem Grund, weil sie konfus sind, zeigen ästhetische Objekte »fecundidas« (Reichtum, Überfluss). Deshalb besitzen ästhetische Darstellungen ihre eigene Art von Klarheit, ein Merkmal, das Baumgarten in seiner Magisterarbeit als »extensive Klarheit« im Gegensatz zu der »intensiven Klarheit« rationaler Konzepte bezeichnet, deren definierende Merkmale eins vom anderen unterschieden sind. Extensive Klarheit, die Baumgarten später »ubertas aesthetica« (ästhetischen Reichtum, basierend auf lebhaften und starken Wahrnehmungen) nennt, führt zur »pereeptio praegnans«, einer prägnanten oder fruchtbaren Wahrnehmung, die mit der Unterscheidung, wie sie für den rationalen Diskurs so charakteristisch ist, unmöglich erreicht werden kann. Diese Idee einer Darstellung, die nicht auf eine abstrakte sprachliche Formulierung reduziert werden kann, wird von Kant in seiner Kritik der Urteilskraft aufgegriffen, wo sie den Namen »ästhetische Idee« bekommt. Und sie lebt in den Diskussionen zwischen Gestaltpsychologen des 20. Jahrhunderts weiter, wo sie sich auf die »Prägnanz« besonders hervorstechender Konfigurationen von Wahrnehmungen stützt. Die reflektierende Haltung, die das Subjekt gegenüber solch fruchtbaren Wahrnehmungen einnimmt, zieht die Aufmerksamkeit auf den Vorgang, durch den Bedeutungen sich zeigen und sich wieder in die ursprüngliche Gegebenheit der Welt unserer sinnlichen Erfahrung zurückziehen. Durch das Abtasten der untereinander verbundenen Mannigfaltigkeit hervorstechender Wahrnehmungen begreift der Verstand etwas von seiner eigenen Bewegung, denn er situiert sich selbst innerhalb der Welt. Die Hervorhebung der Orientierung geht Hand in Hand mit dem, was man auch Baumgartens Philosophie des perspektivischen Denkens nennen könnte. In einem Schlüsselteil seiner Metaphysica, in dem er einige seiner zentralen Konzepte definiert, schreibt Baumgarten: »Meine Seele ist eine Kraft, die diese Welt im Einklang mit der Position meines Körpers wahrnimmt « (Metaphysik, S. 170 / § 376) Immer wenn er also die Konzepte klarer und eindeutiger Wahrnehmung an seine eigenen Argumente anpasst, neigt Baumgarten dazu, sie zu räumlichen und zeitlichen Erscheinungen in Beziehung zu setzen, womit er folglich ihre traditionell hierarchischen Bedeutungen unterminiert. Ich kann aus der Position meines Körpers in der Welt folgern, warum ich bestimmte Dinge auf konfuse Weise, andere klarer und wieder andere eindeutig wahrnehme. Dies bedeutet, dass die verschiedenen Grade kognitiver Klarheit Funk- tionen von Position und Orientierung des Körpers sind. Ebenso wie in den Arbeiten Leibniz' spiegelt sich Baumgartens philosophischer Perspektivismus in dem wiederholten Gebrauch von Ausdrücken wie »Klarheit« und »Verständlichkeit«. Vermutlich ist seine Verwendung des Begriffs Horizont noch deutlicher, denn in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bedeutete er gewöhnlich Gesichtskreis. Herder, ein früher Bewunderer, schrieb, Baumgarten unterscheide sich von anderen Philosophen seiner Generation dadurch, dass er den gemeinsam genutzten Horizont gesunder Augen nicht überschreite. Darüber hinaus hebt Baumgarten, immer wenn er von Sicht und Augen spricht — und das tut er oft -, den Sinn des scharfen Blicks innerhalb des Mediums der Darstellung hervor, dazu gehören auch Darstellungen, die durch Zeichen vermittelt werden. Zeichen besitzen die besondere Funktion, eine Art von Denken in Gang zu setzen, worin durch die Reflexion über die Zeichen und die Beziehung des Denkens darauf der Mensch sich als bewusstes Wesen erkennt. Noch wichtiger, Baumgarten dehnt seine Mensch-Zeichen-Beziehung in die Vergangenheit und in die Zukunft hinein aus. Die Zeichen, die wir hier und jetzt vor unsere Augen setzen, ermöglichen es uns, vergangene Be-wusstseinszustände darzustellen und dadurch einen kohärenten Zustand unserer selbst über einen gewissen Zeitraum zu gestalten, beispielsweise eine Erzählung über unsere eigene Identität. Darum wird die »facultas fingendi« (das poetische Vermögen) für Baumgarten zum zentralen Faktor in der Selbstorganisation des modernen Menschen und, allgemeiner gefasst, der modernen Kultur. Das wiederholte Bestehen darauf, dass wir die Welt abhängig von der Position unserer Körper wahrnehmen, kann daher so verstanden werden, dass sich darin das Verständnis des Menschen als eines höchsten Wesens spiegelt, dessen Augen das Blickfeld zusammenfassen und beherrschen. Diese angenommene Meisterschaft hängt von der bewussten Wahrnehmung des Menschen als eines seiner selbst bewussten Beobachters ab, dessen Identität von Erzählungen und Geschichten getragen wird. Nur auf der Grundlage einer konzentrierten Betrachtung von Texten ist der Mensch in der Lage, sich als selbstbewusstes Individuum zu begreifen. IOCHEN SCHULTE-SASSE : Siehe auch 1710, 1767, 1790 Bibliographie: Alexander Gottlieb Baumgarten, Meditationes philosophicae it nonnullis ad poemö pertinentibus. Philosophische Betrachttingeii über einige Bedingungen des Gedichtes, hg. von Heinz Paetzold, Hamburg 1983 (= Philosophische Bibliothek. 35-2). -Ders., Ästhetik. Löteinisch-Deutsch, übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen, hg. von Dagmar Mirbach, 2 Bde., Hamburg 2007 (= Philosophische Bibliothek, C72 a/b). - Ders., Metaphysik, übersetzt von Georg Friedrich Meier, mit einer Einführung, einer Konkordanz und einer Bibliographie der Werke A. G. Baumgartens von Dagmar Mirbach, Jena 2004 r (= Klassiker der Metaphysik, 1). *** 460 1748 I Lesen und Fühlen 0 Mai 1748 I Der König von Dänemark gewährt Friedrich Gottlieb Klopstock eine Rente damit er sein episches Gedicht Der Messias fertigstellen kann Lesen und Fühlen Klopstock - so könnte in einer Komödie ein Lehrer heißen, der den Stock extensiv zum pädagogischen Prügeln (niederdeutsch kloppen, hochdeutsch klopfen) seiner Schüler gebraucht. Daher der unmittelbar einleuchtende Titel von Clemens Brentanos Märchen von dem Schulmeister Klopfstock und seinen fünf Söhnen. Einen solchen Namen tragen zu müssen, ist eine schwere Hypothek. »Klopstock!« - nur diesen Namen spricht Lotte in einer zentralen Szene in Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) aus. Und Werther >ver-sinkt< »in dem Strome der Empfindungen, den sie in dieser Losung über mich ausgoß«, und gießt seinerseits »die wonnevollsten Tränen« über ihre Hand aus. Der Name ist offenbar zur vollständig desemantisierten Metonymie geworden. Er löst die Erinnerung an die Lektüre der »herrlichen Ode« Die Frühlingsfeyer aus und setzt zugleich die Zirkulation von Flüssigem in Gang: aus Lottes Mund auf Werther und aus seinen Augen auf ihre Hand. Werthers Weinen ist die körperliche Reaktion auf das Versinken im Strom der Empfindungen, auf den beseligenden Verlust der Differenz sowohl zwischen Empfindung und Bewusstsein als auch zwischen vergangener Lektüre und gegenwärtiger Erfahrung. Dieser Zustand der intensiven Differenzlosigkeit heißt in Klopstocks Sprache Fühlen. Es ist ein Fühlen ohne Objekt, nicht einmal ein Sich-Fühlen, sondern Fühlen schlechthin. Auch der Lektüre des Messias sind solche spektakulären Wirkungen zugeschrieben worden, beispielsweise in Johann Martin Millers seinerzeit sehr erfolgreichem Roman Siegwart (1776), in dem zwei Liebende zum wiederholten Male gemeinsam den Messias lesen. »Therese stützte ihr Gesicht auf ifire Hand und neigte sich über den Messias her. Ihre Seele ward nun auf Einmal heftiger bestürmt; Der Gedanke an die immer näher rückende Trennung faßte sie ganz; Ihr Busen schlug heftiger; Ein Seufzer folgte dem andern, und Kronhelm hörte die Thränentropfen auf das Buch fallen. Er ergriff ihre Hand; Sie führte die seinige auf das Buch, und er fühlte, daß es naß war.« Das Fühlen muss sich mitteilen, kennt aber nur die fluidale Kommunikation. Und wenn diese umständehalber und korrekterweise nur das Buch erreicht, das sie verursacht hat, muss die Hand nachhelfen, damit die Hand des anderen bemerkt, dass eigentlich sie gemeint war. Nach seinen eigenen Angaben hat Klopstock 1742, im Alter von .1 knapp 18 Jahren, den Plan des Messias vollständig entworfen und die Ausarbeitung begonnen, unterstützt und ermuntert durch die Lektüre von John Miltons Paradise Lost in der Übersetzung von Johann Jacob Bodmer (1742). Nach Versuchen mit poetischer Prosa war der erste Gesang in Hexametern 1746 fertiggestellt. 1747 hat Klopstock sich von seinen Freun- 1748 I Lesen und Fühlen 461 den an der Universität Leipzig überreden lassen, die Gesänge I—III in ihrer Zeitschrift Neue Beytrage zum Vergnügen des Verstandes und des Witzes zu publizieren. Im Mai 1748 sind sie dort anonym erschienen. Der erste von vier Bänden mit je fünf Gesängen war 1751 abgeschlossen, der zweite 175-5, der dritte ,768 und der vierte endlich 1773. Während der Arbeit an den späteren Banden hat Klopstock die früheren schon fortlaufend für Neuauflagen verändert und überarbeitet, so dass erst die Ausgabe von 1780 einheitlich war. Doch auch danach hat sich die Überarbeitung fortgesetzt und ist erst mit der Gesamtausgabe von 1799 zur Ruhe gekommen. Die ersten drei Gesänge waren der erste Text überhaupt, den Klopstock publiziert hat. Der dänische König Friedrich v. hat dem mittellosen jungen Dichter 1750 eine »Ehrenpension« angeboten, damit er sich ganz der Vollendung des Messias widmen könne, und nur die einzige Bedingung gestellt, dass er in Kopenhagen leben solle. Die Ehrenpension wurde ihm von 1751 bis zu seinem Tode ohne Unterbrechung ausgezahlt, auch nachdem er 1770 Kopenhagen verlassen und sich in Hamburg niedergelassen hatte, und selbst dann noch, als Der Messias 1773 vollendet und der Zweck der Ehrenpension somit erfüllt war. Dieser eine Text hat, wie sich herausgestellt hat, seinem Autor 52 Jahre lang den Lebensunterhalt gesichert. I Wie es sich bei dem erhabenen Thema von selbst versteht, ist Der Messias durchgehend im Stylus sublimis geschrieben, syntaktisch schwierig und anspruchsvoll, mit kühnen Neologismen, zahlreichen neu gebildeten Bewegungsverben, mit >Machtwörtem< und mit all dem, was Johann Jacob Breitinger in seiner Critischen Dichtkunst (1742) von der »hertzrührenden Schreibart« gefordert hat. Auch semantisch ist alles darauf abgestimmt: Es gibt Flüge mit Engeln durch den Weltraum voller Sonnen, Blicke aus dem interstellaren Raum auf die verschwindend kleine Erde, auf der doch unendlich Großes geschieht, Gänge in das Innere der Erde vom Nordpol aus, Erdbeben und Verfinsterungen, eschatologischen Krieg mit der Hölle, den der Messias allein durch vernichtende Blicke und Gott mit leuchtenden Kugelgeschossen führt und entscheidet, auch unerhörte physische Fähigkeiten der massenweise anwesenden Engel und Seraphim, deren einer, »Tausendmal tausend Meilen entfernt«, »das langsamwallende Blut des betenden Mittlers / Bang von Ader zu Ader fließen« hört (v, 574—577). Das alles ist partienweise sozusagen großes Kino_ mit einem Einschlag von Science-Fiction. Doch das poetisch Entscheidende passiert weder auf stilistischer noch auf semantischer, sondern auf pragmatischer Ebene. Daran haben Poetiker wie Breitinger gar nicht denken können, weil es vorbildlos ist. Unausgesprochene Voraussetzung ist, dass der Text laut gelesen wird, wie es damals bei Poesie durchaus üblich bis selbstverständlich war. Während dann der Körper durch den variablen Takt des Hexameters konditioniert wird und das Gehirn mit der Bewältigung der syntaktischen und semantischen Schwierigkeiten voll absorbiert ist, setzen poetische 462 1748 I Lesen und Fühlen 1748 I Lesen und Fühlen 463 Techniken ein, die allesamt darauf abzielen, die Leser psychisch zu destabilisieren und zu überwältigen. Sie lassen sich beschreiben als der Wechsel von Schaffung, Verschiebung und Vernichtung von Differenzen. Grundlegend ist die Wiederholung, wie denn auch das Epos Der Messias selbst als Ganzes eine Wiederholung der neutestamentlichen Erzählungen ist, die seit Jahrhunderten alle Jahre wieder in jeder Kirche wiederholt werden und mit ihrem allen bekannten Wortlaut permanent im Hintergrund mitlaufen. Das Motto gibt Moses, wenn er sich anschickt, Abraham die Bedeutung des Kreuzes zu erklären: »Zwar was ich dir sage, / Weißt du alles, doch ist es gut, die gesehene Wahrheit / Wieder zu sehen« (IX, 247-249). Den größten Effekt erreicht Klopstock, wenn er die Differenz zwischen der Wahrheit und ihrem Wiedersehen, zwischen der Wiederholung und dem Wiederholten in einem wörtlichen Zitat verschwinden lässt, um sie durch eine Abweichung vom überlieferten Wortlaut sogleich wieder aufzureißen. Im Johannes-Evangelium heißt es über den Tod Jesu am Kreuz nach der Übersetzung Luthers: »und neigte das Haupt und verschied«; der letzte Vers des zehnten Gesanges von Klopstocks Messias: »Und er neigte sein Haupt und starb.« Es besteht keinerlei metrischer Zwang zu dieser Abweichung, denn das biblische Zitat würde sich perfekt in den Hexameter fügen. Der unübersehbare und geradezu brutale Verstoß gegen den biblischen Wortlaut macht aus der Wiederholung etwas Neues, das sich dem Wiederholten verdankt, indem es sich von ihm abstößt: eine unmittelbare Konfrontation mit dem erzählten Faktum, an das man sich durch unzählige Wiederholungen längst gewöhnt hat. Vollendet wird dieser Effekt dadurch, dass jener Vers (als einziger im ganzen Werk) unvollständig ist: Er weist nur vier Hebungen auf statt der obligatorischen sechs. Hat man durch lautes Lesen den Hexametertakt körperlich internalisiert, ist das Abbrechen des Verses ein Schock, und die fehlenden beiden Versfüße sind das Fehlen der Sprache angesichts des toten Messias, das nicht benannt, sondern pragmatisch vollzogen und dem Leser aufgezwungen wird. Zwar erfährt man viel über Erschütterung und Entsetzen, über Freude und Beseligung der vielen, die als Zeugen der Passion und Auferstehung herbeigeführt werden, aber derjenige, der alles beschreibt und erzählt, teilt seine Bewegtheit nicht mit semantischen Mitteln, sondern auf pragmatische Weise mit. Das Sprechen positioniert sich unaufhörlich neu in der Relation zur Textwelt, die es entwirft. Es ist nicht ortsfest, sondern lasst die Differenzen zwischen sich und der Textwelt entstehen und vergehen und bestimmt sie durch die Tat, durch sich selbst, in unberechenbarem Wechsel immer wieder anders. Räumliche Differenzen sind irrelevant - das Sprechen kann im Himmel, in der Hölle und auf Erden allenthalben dabei sein und überwindet die unendlichen Distanzen beispielsweise im Übergang von einer Zeile zu einer anderen. Die personale Differenz wird gewahrt oder annulliert je nach situativem Erfordernis -das Sprechen ist in den Gedanken und Träumen anderer Personen ebenso zu Hause wie im Sichtbaren. Die temporale Differenz wird sozusagen auf offener Bühne vergrößert oder verkleinert oder aufgehoben — zwar wird grundsätzlich im Präteritum erzählt, aber das Sprechen wechselt problemlos auch ins Präsens und setzt also sich selbst sowohl als ungleichzeitig als auch als gleichzeitig relativ zu einem und demselben Ereignis; Schaltstelle zwischen beiden ist das temporale Adverb itzt oder itzo, das mit dem Präsens und dem Präteritum verbunden werden kann und das temporale Hinein- oder Hinauszoomen auf gleiche Weise signalisiert, wie das temporale Adverb indem die Sukzession von Simultanem anzeigt. Das Management der Differenzen zwischen dem Sprechen und der Textwelt simuliert das göttliche Verhältnis zur Welt, wie es der Messias im ersten Gesang in seiner ersten direkten Rede exponiert. Das Gebet auf dem Ölberg, ein Gespräch mit dem Vater im Himmel, entwirft zuerst die Zeit vor aller Zeit, als der Vater und der Sohn und der Geist »In der Stille der Ewigkeit, einsam, und ohne Geschöpfe« beieinander waren und bereits die Erlösung der Ungeschaffenen beschlossen haben: »Voll unsrer göttlichen Liebe / Sahen wir auf die Menschen, die noch nicht waren, herunter.« Von da aus geht es, immer noch im Präteritum, in eine Zukunft, die auch dem Beter noch bevorsteht, zum »Hügel, den ich von des Bundes Blute schon voll sah«. Das Sprechen holt sich ein und überholt sich selbst vom Ursprung der Zeit her und erweist sich als Wiederholung seiner selbst, wie es als innertrinitarisches Gespräch ehemals war. Es wechselt daraufhin aus der präterital geschilderten Zukunft in die Gegenwart und ins Präsens und nimmt mit einer Serie des temporalen Adverbs schon Anlauf zu einem erneuten Sprung in die Zukunft, an den Anfang der Passion im Garten Gethsemane, und dann kollabiert die temporale Differenz und der Beter auf dem Ölberg setzt sich kopräsent mit dem zukünftigen Beter im Garten, der er selbst sein wird (»Ich sehe den nächtlichen Garten / Schon vor mir liegen, sinke vor dir in niedrigen Staub hin, / Lieg', und bet', und winde mich, Vater, in Todesschweiße«). Das menschliche Sprechen, nach der direkten Rede des Messias wieder einsetzend, entzieht sich schließlich selbst den Boden, indem es versichert, die Antwort des himmlischen Vaters (übrigens eine variierte Wiederholung der letzten Worte des Sohnes) sei »unhörbar den Engeln, nur sich und dem Sohne vernommen«, und sie trotzdem als direkte Rede zitiert. Auch in der Lyrik setzt Klopstock zum Zwecke der Überwältigung all die Techniken der Bearbeitung von Differenzen ein, die er im Messias entwickelt hat. Als Überbietung kommt hinzu die paradoxe, weil schriftliche, Leugnung der Schrift, der Versuch also, die Differenz etwa von Sehen oder Hören und Lesen auszulöschen. Paradigmatisch dafür ist die 'herrliche Ode<, die Werthers Lotte mit dem Namen des Autors anspricht: Die Frühlingsfeyer, eine Hymne in den freien Rhythmen, die Klopstock in die deutsche Literatur eingeführt hat. Es präsentiert sich da ein Sprechen, das sich auf freiem Felde aktuell ereignet und die Lesenden mehr 464 1748 I Lesen und Fühlen und mehr in seine Gegenwart hineinzuziehen versucht. Es schließt sie im Plural zusammen und fragt sie insistierend, ob sie das aufziehende Gewitter wahrnehmen: »Seht ihr den Zeugen des Nahen den zückenden Strahl? / Hört ihr Jehova's Donner? / Hört ihr? hört ihr ihn, / Den erschütternden Donner des Herrn?« Und wenn es dann gelungen ist, die Differenz zwischen der Lektüresituation und der Sprechsituation zum Verschwinden zu bringen, werden nach dem Abzug des Gewitters zwei weitere Situationen herbeizitiert und mit der Einheitssituation von Sprechen und Lesen zusammengelegt: »Siehe, nun komt Jehova nicht mehr im Wetter, / In stillem, sanftem Säuseln / Komt Jehova« (das ist die Selbstoffenbarung Gottes vor Elia auf dem Berge Horeb), »Und unter ihm neigt sich der Bogen des Friedens« (der Regenbogen, den Gott nach der Sintflut als Zeichen seines erneuerten Bundes mit den Menschen eingesetzt hat). Aus diesen Vereinigungen, aus dem dreifachen Offnen und Schließen von Situationsdifferenzen, entspringt das Fühlen. Als die Sammlung der vorher nur vereinzelt gedruckten Oden (1771) und der letzte Band des Messias (1773) erschienen, war die Zeit schon fast vorbei, in der Klopstocks schwierige und hochartifizielle Texte populär werden konnten. Der letzte Band des Messius ist nur vereinzelt noch auf lebhafte Teilnahme gestoßen, wohl auch deshalb, weil er im zwanzigsten und letzten Gesang den erhabenen Ton des Hexameters noch überbietet mit strophischen Triumphchören, deren unerhört kühn komponierte metrische Schemata bisweilen nur um den Preis der Fast-Unverständlich-keit gefüllt werden können. Die Erfahrungen aus der Lektüre der ersten beiden Messias-Bände waren inzwischen anderswo bequemer und auch moderner zu haben, beispielsweise in der Lektüre von Romanen. Der Prozess, den Klopstock maßgeblich gefördert hat, bedurfte an seinem Anfang starker Mittel und auch des Schutzes durch das religiöse Thema, weil kirchlicher Widerstand zu überwinden war. Später brauchte man beide nicht mehr. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts hat sich in Deutschland der Zugang zu Fiktionen für tendenziell alle geöffnet. Die Erlaubnis zum Pendeln zwischen zwei Welten ist bewusstseinsgeschichtlich ein einschneidendes Ereignis, weil der Eintritt und das Verweilen in einer zweiten, fiktiven Welt auf jeden Fall eine temporäre Selbstdistanzierung von der ersten ist, mit unabsehbaren Folgen. Die Gesellschaft hat jedoch unverabredet beschlossen, dass die Gefahr offenbar geringer einzuschätzen sei als der Lustgewinn durch Lektüre, und dafür konnte man sich anfangs auf Klopstocks Messias berufen. In den 1770er Jahren hat man einerseits nur noch vor Übertreibungen in Gestalt der grassierenden >Lese-sucht< gewarnt und andererseits die Lektüre deutscher fiktionaler Texte in den Unterricht an Gymnasien eingeführt. Die Lektüre als Eingang in Fiktionen war gesellschaftlich approbiert. Zu diskutieren und zu regeln blieb allein ihre Domestizierung und Kontrolle. Klopstock ist wohl schon vor 1770 wieder zum Dichter für wenige geworden, für die »wenigen Edlen«, die er im Proömium des Messias an- 1758 I Zweifel an der Aufklärung 465 gesprochen hatte. In ihren Kreisen wurden auch seine späteren Werke intensiv gelesen. Die Verehrung, die sie ihm zollten, galt mindestens ebenso sehr seiner Person wie seinem Werk. Im breiteren Publikum innerhalb und außerhalb Deutschlands hat sich aus der Messias-Phase Respekt und Hochachtung vor dem Dichter erhalten. Sie haben ihren Ausdruck gefunden in der Ernennung zum citoyen francais durch die französische Nationalversammlung (1792) und in der Wahl zum auswärtigen Mitglied des Institut National (1802). Die Trauerfeierlichkeiten nach seinem Tode am 14. März 1803 wurden zu einem großen öffentlichen Ereignis. Die sterblichen Überreste des Messias-Dichters wurden in einem langen Trauerzuge von Hamburg in die dänische Nachbarstadt Altona (heute ein Stadtteil Hamburgs) überführt, die Glocken aller Hamburger Kirchen läuteten, und mehr als fünftausend Menschen säumten seinen letzten Weg. KLAUS WEIMAR : Siehe auch 1735, 1774, 26. August 1792 Bibliographie: Friedrich Goulieb Klopstock, Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hg. I von Adolf Beck, Horst Gronemeyer, Berlin, New York [974. - Ders., Der Messius. Gesang 1, I-III. Studietiausuabe, Stuttgart 1986. 1758 ( Johann Georg Hamann hat in London ein Bekehrungserlebnis Zweifel an der Aufklärung : 1761 schrieb Johann Georg Hamann (1730-1788) seinen berühmten Essay »Aesthetica in nuce. Eine Rhapsodie in kabbalistischer Prosa«. Ein Jahr später wurde der Aufsatz in einer Sammlung veröffentlicht, die den Titel Kreuzzüge des Philologen trug. Die Literarhistoriker waren seither kaum darum verlegen, den unbestreitbaren Platz dieses Essays in der Traditi-onslmie der deutschen Literatur zu bestimmen. Die »Aesthetica in nuce«, so belehren sie uns, erklärt sich aus dem, worauf sie hinweist - auf das, worauf sie zurück- und worauf sie vorausdeutet. Hamanns leidenschaftlicher Angriff auf die Aufklärung macht ihn - aber das erschließt erst der Rückblick - zum Vater des Sturm und Drang und schließlich der deutschen Romantik. Doch »Aesthetica in nuce« auf diese Weise zu lesen ist wie »eine [••■] Sonnenfinsternis, die in einem Gefässe voll Wassers in Augenschein genommen wird« (SümtlicheWerke, Bd.n, S. 199). Was geschieht aber, wenn wir nicht nur darauf schauen, was »Aesthetica in nuce« bekanntermaßen und offen verkündet, jene heute von der Zeit geadelten Klischees des Sturm und Drang mit seiner Ablehnung von Vernunft und Abstraktion sowie dem Widerstand gegen die Gefahren, die der Natur durch die Aufklärung drohen? Was passiert, wenn wir auch darauf schauen, wie 466 1758 I Zweifel an der Aufklärung 17^8 I Zweifel an der Aufklärung 467 Hamann seinen Text schrieb, auf die Art, wie der Text >arbeitet< und wie er im Gegenzug den Leser >arbeiten< lässt? Was »Aesthetica in nuce« schafft, ist eine radikale Neuordnung der Sprache in ihrer Beziehung zur Theologie, einer Theologie, die mit unerwarteten Ungewissheiten betastet ist, eine erneute Reflexion der Prämissen, auf denen das Gebäude der Literaturgeschichte beruht. Zwei Jahre vor »Aesthetica in nuce« hatte Hamann Sokratische Denkwürdigkeiten (1759) verfasst, das er seinem engen Freund Johann Christoph Berens (1729-1776) und Immanuel Kant widmete. In einer späteren Arbeit unter dem Titel »Metakritik über den Purismus der reinen Vernunft« (1784) macht sich Hamann über Kant lustig, weil dieser nicht ' in Betracht ziehe, dass »das ganze Vermögen zu denken [...] auf der ■ Sprache« beruht und »Sprache [...] auch der Mittelpunct des Mis-' Verstandes der Vernunft mit ihr selbst« ist (Bd. III, S. 286). Schon 17^8, nach Hamanns turbulenter religiöser Bekehrung in London, versuchten Berens und Kant, Hamanns Seele durch die Aufklärung zu retten. Der frühere Aufsatz ist sowohl in der Anlage als auch vom Text her sehr viel zugänglicher als die »Aesthetica in nuce«. Weite Strecken davon sind als autobiographische Anekdote angelegt, die zwischen Sokrates, Jesus und Hamann selbst ebenso Analogien herstellt wie zwischen ihren Feinden und den Aufklärern. Obwohl Sokratische Denkwürdigkeiten offensichtlich die Sprache zum kritischen Thema macht (Benennen, Darstellen, Verbildlichen, Deuten), zieht die Illusion der Erzählung und der direkten Polemik den Leser mit sich. In »Aesthetica in nuce« nimmt Hamanns Angriff auf die Aufklärung einen schwierigeren Weg. Wie haben wir einen Schriftsteller zu verstehen, der sich genötigt sah, nur aus Anlass eines anderen Textes oder in Beziehung zu einem anderen Text zu schreiben? »Aesthetica in nuce« präsentiert sich eindeutig als Polemik gegen Johann David Michaelis' Kommentar zu Robert Lowth' (1710-1787) De söcra poesi Hebraeorum (175^8). Und Hamann greift nicht nur Michaelis an, sondern darüber hinaus einige weitere Figuren der Aufklärung - Lessing, Mendelssohn, Voltaire und andere. Nur sehr wenig in diesem Essay ist kein verzwickter indirekter Kommentar zu irgendetwas oder irgendjemandem. Ein erheblicher Teil des Textes steckt in Fußnoten, oft in ausgedehnten Anhängen, die nicht notwendigerweise den Absatz im Text erhellen, auf den sie sich beziehen. Darüber hinaus scheint es, als wäre jede zweite Formulierung selbst im Haupttext eine Anrufung oder ein Echo einer biblischen oder klassischen Passage. Selbst wenn es nicht um die Antike geht, setzt Hamanns Essay eine ebenso unmögliche detaillierte Kenntnis der Werke seiner Zeitgenossen oder Quasi-Zeitgenossen voraus. Um zu verstehen, worum es bei dieser Zitierstrategie geht, muss man Hamanns Verständnis der Genesis betrachten. Wie in der typolo-gischen Beziehung zwischen Altem und Neuem Testament gibt ein Text einen Ausblick auf den anderen oder bezieht sich rückblickend auf ihn a]s seine Prophezeiung. Und stünde dieses Konzept nicht sogar im Einklang mh Hamanns Auslegung von Genesis? Die Erzeugung von Gottes heiliger Schöpfung geschieht in Bildern und bietet ebendamit dem menschlichen Leser einen sicheren Platz. Ebenso wie eine typologische Textpraxis - von der Art, wie man sie Hamann oft zuschrieb - eine harmonische und produktive Beziehung zwischen Bildern entwirft, spricht die von Gott erschaffene Welt, die Hamann in »Aesthetica in nuce« beschreibt, von einem unproblematischen Übergang vom göttlichen zum menschlichen Interpreten: Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts; wie der Gartenbau, älter als der Acker: Malerey, - als Schrift: Gesang, - als Deklamation: Gleichnisse, - als Schlüsse [...] Sinne uncTLeidenschalten reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntnis ... Der erste Ausbruch der Schöpfung, und der erste Eindruck ihres Geschichtschreibers; — die erste Erscheinung und der erste Genuss der Natur vereinigen sich in dem Worte: Es werde Licht! (Bd. II, S. 197) Reden ist übersetzen - aus einer Engelsprache in eine Menschensprache. (Bd. 11, S. 199) Wenn Poesie die Muttersprache des menschlichen Geschlechts ist und Gleichnisse älter als Schlüsse sind, dann deshalb, weil Gott zum Menschen in Bildern sprach. Und seither besteht der gesamte Schatz menschlichen Wissens in nichts anderem als diesen. Und dennoch, seltsamerweise, unverständlicherweise vielleicht, hat Hamann auch Folgendes zu sagen: »Wir haben in der Natur nichts als Turbatverse und disiecti membra poetae zu unserm Gebrauch übrig. Diese zu sammeln ist des Gelehrten; sie auszulegen, des Philosophen; sie nachzuahmen - oder noch kühner! - sie in Geschick zu bringen, des Poeten bescheiden Theil.« (Bd. 11, S. 198 f.) Eine Natur, aus zerbrochenen Fragmenten der Poesie zusammengesetzt, aber genauso aus zerbrochenen Fragmenten der Poeten. Was mag es bedeuten, dass wir als Gelehrte diese zerbrochenen Teile sammeln, als Philosophen sie auslegen und als Poeten sie nachahmen müssen? Einige Kommentatoren haben angemerkt, dass »Aesthetica in nuce« dem cento, der dekadenten Periode der römischen Literatur ähnlich sei, eine Komposition gebildet durch das Zusammenfügen von Resten anderer Autoren. Ein Flickwerk aus Zitaten in orgiastischem Tempo, eine lange, immer wieder unterbrochene Prosopopöie, eine Reihe von Verkörperungen, in denen Hamanns Persona sich endlos und abrupt verändert. »Aesthetica in nuce« ist kaum so in sich selbst geschlossen, wie sein Titel nahelegt. Nehmen wir das Eröffnungsmotto von »Aesthetica in nuce«. Wo wir erwarten könnten, in nuce zu lesen, was Hamann zu sagen hat, sorgt er dafür, dass wir die Anspielung nicht verfehlen können: »bunte gestickte Kleider zur Ausbeute, gestickte bunte Kleider [um den Hals] zur Ausbeute« (Ri 5, 30). Dieses Versfragment stammt aus einem der historischen Bücher des Alten Testaments, dem Buch der Richter, aus dem Hamann wiederholt in »Aesthetica in nuce« zitiert. Warum diese wie- 468 1758 I Zweifel an der Aufklärung 1758 I Zweifel an der Aufklärung 469 derhoke Hinwendung jener Passage aus diesem Buch, die als »Deboras Siegeslied« bekannt ist? Hamann setzt dieses kurze Stück eines biblischen Texts ausdrücklich zur Prosopopöie in Beziehung, und unter diesem Blickwinkel ist das Motto interpretiert worden. Natürlich stellt sich unweigerlich die Frage, mit wessen Stimme Hamann spricht, wenn er aus dem Buch der Richter zitiert. »Deboras Siegeslied« erzählt vom Kampf der Stämme Israels gegen die Kräfte des Sisera aus Hazor. Barak führt die siegreichen Truppen an, doch es ist eine Frau, die Sisera schlägt, Sisera fällt von der HandYaels, die ihn in ihr Zelt lockt. Während Siseras Mutter ihren Sohn erwartet, erleichtert sie sich die Pein des Wartens, indem sie sich die Beute vorstellt, mit der er zurückkehren wird: »Sollen sie denn nicht finden und austeilen den Raub, einem jeglichen Mann eine Dirne oder zwei zur Ausbeute und Sisera bunte gestickte Kleider zur Ausbeute, gestickte bunte Kleider um den Hals zur Ausbeute?« (Ri 5,30). Die Sätze, die Hamann als Eröffnungszeilen und vielleicht als die entscheidenden von »Aesthetica in nuce« zitiert, sind die letzten in dieser Passage. In welcher Weise könnte dieses Motto uns die Summe dessen, was kommen wird, anbieten? Es geht um viel. Da ist einmal Hamanns Versprechen der Einkap-seiung, des in nuce, weiterhin seine Anwendung der Prosopopöie, sein Schreiben mit der Stimme eines anderen. Es geht hier auch um die Frage der Beute, um die Frage, was man von einer gewonnenen Schlacht mit zurückbringt, und was es bedeutet, eine Position des Triumphs einzunehmen. Aber auf die Erzählung von Siseras gewaltsamem Tod folgend -wo Hamann einen alten Text durch den Akt des Zitierens und Personifizierens retten zu wollen scheint -, wie es diese Zeilen des Mottos tun, ist diese Stelle ebenso eine Passage über die Illusion der typologischen Beute. Wir wollen diesen Aspekt in der Aussage noch einen Schritt weiterführen, in dem der Essay seinen Höhepunkt erreicht, Hamanns vierte und kritischste Anspielung auf die Richter. Hier fasst er den gesamten Aufsatz zusammen, fallt das Urteil über die Eitelkeit der »Aesthetica in nuce« und gleichzeitig wünscht er die Erfüllung von Gottes letztem Gericht herbei. Dieses letzte Wort erscheint als eine »Apostille« oder Glosse, als Anmerkung, in der Hamann uns eine erste Interpretation seines Essays und gleichzeitig eine Metakritik anbietet. Was darf man von diesem Interpret der Interpreten erwarten? Dass er uns mit Klarheit in die richtige Richtung schickt? Eine alles einfassende Struktur über das Ganze stülpt? Dass, während wir uns selbst beim Lesen Hamanns hierhin and dorthin getrieben finden, er selbst die Dinge für uns schließlich festnagelt? Von »Aesthetica in nuce: Eine Rhapsodie in kabbalistischer Prosa« schreibt er: »Es schmeckt alles in dieser ästhetischen Nuss nach Eitelkeit! - nach Eitelkeit! - Der Rhapsodist[*] hat gelesen, beobachtet, gedacht, angenehme Worte gesucht und gefunden, treulich angeführt, gleich einem Kaufmannsscliifie seine Nahrung weit her geholt, und von ferne gebracht. (Bd.n, S. 217) Hamann fährt fort und bietet zwei Wege an, auf die der Rhapsodist, nachdem er seine Quellen in der Ferne gefunden hat, sie zitiert, sie einsetzt und seinen Text gestaltet. [Der Rhapsodist] hat Satz und Satz zusammengerechnet, wie man die Pfeile auf einem Schlachtfelde zählt: und seine Figuren abgezirkelt, wie man die Nägel zu einem Gezelt abmisst. Anstatt Nägel und Pfeile hat er mit den Kiemmeistern und Schulfüchsen seiner Zeit ******** und--------Obelisken und Asterisken geschrieben, (ebd.) Dies sind die beiden Gesten, so scheint es, welche die »Aesthetica in nuce« ausmachen und irgendwie erklären. Einerseits hat Hamann Satz an Satz zu einer logischen Reihe von Behauptung und Propositionen geknüpft, die den Leser an die Quelle der von weit her kommenden Wörter führt. Andererseits, und in der zweiten Manier des Rhapsodisten zu komponieren, markiert er seine Figuren in Kreisform, genauso, wie man die Nägel eines Zeltes ausrichtet. Er produziert einen Kreis, eine Figur also, die weder hierhin noch dorthin führt. Und schließlich gibt uns Hamann, so will es scheinen, die buchstäbliche Bedeutung seiner Figuren. Er ersetzt Nägel und Pfeile durch Sternchen und Striche, ***** und----, die er in einer Apposition als Asterisken und Obelisken bezeichnet. In einem Textkörper des 18.Jahrhunderts, wie ihn die Erstausgabe von »Aesthetica in nuce« präsentiert, leiten uns Asterisken zu den Fußnoten, die unten auf der Seite mit demselben Zeichen markiert sind. Wie die aufeinander aufbauenden, zu Pfeilen werdenden Sätze scheinen uns die Asterisken von »Aesthetica in nuce« in die richtige Richtung zu schicken, zu Erleuchtung und Erklärung weisend, und bringen uns zu biblischen und anderen Referenzen, die anscheinend von diesen nahrhaften Anmerkungen zur Verfügung gestellt werden. Wenn aber die Asterisken auf Fußnoten verweisen, die eine unproblematische Lieferung von Erklärungen textlicher Undurchsichtigkeiten aus der Ferne versprechen, wie dann jene Figuren lesen, die wie die Nägel eines Zeltes ausgerichtet sind? Die letzte Fußnote von »Aesthetica in nuce« erklärt die weitere Bedeutung dieser Zeichen. »Asterisken erhellen; Obelisken ermorden und erstechen« (ebd.). Dieser Absatz lädt uns ein, zu den Richtern zurückzuschauen, die weithin eine Art von Schlüssel zu Hamanns kompliziertem Angriff auf die Aufklärung darstellen. »Da nahm Jael, das Weib Hebers, einen Nagel von der Hütte und einen Hammer in ihre Hand und ging leise zu ihm hinein und schlug ihm den Nagel durch seinen Schlaf, dass er zur Erde sank. Er aber entschlummerte, ward ohnmächtig und starb.« (Ri 4, 21) Aber diese Spannung zwischen den erleuchtenden Asterisken der Fußnoten, die das Wissen zu erhellen scheinen, und der Gewalttätigkeit der Obelisken / Nägel, die uns zu Yaels mörderischem, wenngleich gerechtem Akt zurückführen, erklärt nicht alles. Was ist an dem Bild der Zeltnägel bedrohlich? Es ist in Hamanns eigener Domäne, wo der »Nagel des Zelts« (Bd. 1, S. 80 f.) am aufschlussreichsten ist. Statt den Ertrag der typologischen Deutung nur in dem fer- 47° '7í8 I Zweifel an der Aufklärung 8. Februar 1765 | »Papierne Mädchen erziehen« und das private Leben meistern 471 nenText der Richter zu gewinnen, finden wir in seinen eigenen Werken Alternativen zu den Gratifikationen der typologischen Lektüre. Ist »Aesthetica in nuce« also ein typologischerText, oder sollen wir ihn als kabbalistische Rhapsodie lesen, die wie ein cento zusammengeflickt wurde, in dem die Quelle des Textes von rätselhafter Bedeutung für seine Signifikanz ist? Ist »Aesthetica in nuce« ein Kreuzzug, der unternommen wurde, um von weit her Bedeutung heranzuschaffen, oder mäandert er wie eine nomadisierende Sprache? Wie sind alle diese verschiedenen Interpretationen verbunden mit Hamanns Erzählung einer göttlichen Schöpfung, in der wir eine Welt bewohnen, die aus nichts weiter als Bildern besteht, deren Übersetzung, wie Gott sagte, dem menschlichen Leser überlassen ist? Horcht man behutsam auf diese letzten Zeilen, spricht der Rhapsodist, der Interpret der Interpreten. Hamann liest. Aber er liest nicht einfach nur »Das Buch der Richter«, noch ist Lesen für ihn einfach auch Urteil. Er liest sich selbst, »Deboras Siegeslied« lesend. Nur drei Jahre bevor er »Aesthetica in nuce« entwarf und sich gleichzeitig 1758 mitten in seiner religiösen Bekehrung befand, las Hamann, wie er uns mitteilt, die Heilige Schrift zum zweiten Mal. Während er erneut liest, schreibt er seine »Biblischen Betrachtungen«. Dort findet sich eine lange, aber keineswegs geradlinige Meditation über die Geschichte von Sisera undYael. Ebenso wie am Schluss der »Aesthetica in nuce« ist auch die Frage der Figuration in den »Biblischen Betrachtungen« unbehaglich hervorgehoben (ebd.). Hamann fragt, wie wir uns die Typologie eines Jesus vorstellen sollen. In den prototypischen Darstellungen Jesu im Alten Testament sehen wir entgegen unserer Vorstellung Bilder von der Tyrannei der Schlange und nicht an Christus gemahnende Bilder des Leids. Verständlicherweise ist Hamann von Yaels Gewalttätigkeit, als ein Abgesandter Gottes, überwältigt. Im Aufruhr der Auslegung der Heiligen Schriften werden Gottes Gesandte und Satan, die Wächter gegen das Böse und ihre Widersacher, ja Gott selbst und Satan, vollkommen austauschbar und ununterscheidbar. In dem Wirrwarr des Textes identifiziert sich Hamann als Leser nicht mit Yael, der »gesegneten] unter den Weibern«, sondern mit dem schlafenden Feind Sisera, der fest und in grotesker Weise auf die Erde genagelt ist. Gefangen in den »Turbatversen« des Buches der Richter bringt die Verankerung von Hamanns Text in den Versen des Alten Testaments 1758 keine Klarheit, sondern vielmehr totale Unordnung in die typologischen Strukturen. Angesichts der Aufgabe, die von Gott verfassten Gleichnisse zu lesen, sinkt Hamann überdrüssig in ein Pathos von Niederlage und Sieg. Aber als er 1761 die »Aesthetica in nuce« schrieb, stellte er den Akt der Interpretation anders dar und eröffnete eine Religion, die durch ihre Ungewissheit befreit. Darum setzt »Aesthetica in nuce« nichts voraus, noch sehnt sie sich auf nostalgische Weise nach einer eindeutigen Inter- pretationspraxis oder einer Sicherheit in der Beurteilung. Hamann greift bestimmte Positionen einer gewissen Erleuchtung im Namen eines radikalen Christentums an, das oft auf ein letztes Gericht hindeutet, zieht den Leser aber ebenso oft in seine undurchdringlichen Sprachfiguren. Hamanns Angriff in »Aesthetica in nuce« ist keine einfache Infragestellung der Aufklärung, sondern ein radikales Neudenken von Sprache und Kommentar. CAROL JACOBS : Siehe auch 1767, 1778, 1784, 1790 Bibliographie:Johano Georg Hamann, Sämtliche Werke, Bd. 2: Schriften über Philosophie. Philologie. Kritik, hg. von Josef Nadler, Wuppertal 1999. - Ders., Somatische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce. mit einem Kommentar hg. von Sven-Aage Jörgensen, Stuttgart [968. - Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Eine Auswahl, Stuttgart 1993. - Eric A Blackall, The Emergence of German as a Literary Ldnduaoe. Ithaka. N.Y. 1978. - Gwen Griffith Dickson, Johann Georg Hamanns Relational Metncfiticrsm, Berlin/New York 199c. - Hans-Martin Lumpp, Philologie crucis,Tübingen 1970. - Jarnes C. O'Flaherty, Hamanns Socratic Memorabilia^ Translation and Commentary, Baltimore [967. *** g. Februar 1765 j Friedrich der Große von Preußen erlässt ein bahnbrechendes Edikt zum Kindesmord, das den Pranger für Frauen abschafft »Papierne Mädchen erziehen« und das private Leben meistern Sophie von La Roches 1771 erschienener Briefroman Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim.Vön einer Freundin derselben aus Original-Papieren und andern zuverlässigen Quellen gezogen, bewies La Roches deutschen Zeitgenossen nicht nur, dass eine Frau schreiben konnte, sondern darüber hinaus, dass sie es mit großem Erfolg tun konnte. Der Roman, der bis 1783 acht Auflagen erlebte, erzählt die Geschichte der jungen Adligen Sophie von Sternheim, die, der Sicherheit des ländlichen Guts ihrer Eltern entrissen, an einen verdorbenen deutschen Provinzhof gebracht wurde, wo man sie verführte. Er schildert ihren Leidensweg und gipfelt schließlich in ihrer Rettung und der Heirat mit dem ehrenwerten englischen Lord Seymour. Die Geschichte der Lady Sophie orientiert sich deutlich an den Briefromanen des englischen Schriftstellers Samuel Richardson und verbindet das Schicksal seiner dem Untergang geweihten Heldin Clarissa (1748) mit dem Sieg einer seiner früheren Protagonistinnen, Pamela (1740), deren moralische Stärke es ihr ermöglichte, alle Widrigkeiten zu überwinden und schließlich den ersehnten Mann für sich zu gewinnen. Sternheims englisches Milieu, ihre Charaktere und die literarischen Anspielungen gefielen einem kontinentalen Publikum, das zunehmend englandfreundlicher wurde. Ebenso wie La Roche stilisierten belesene Deutsche Großbritannien zum wahren, sich der Tugend verschreibenden Heimatland 472 8. Februar 176c | »Papierne Mädchen erziehen« und das private Leben meistern der Aufklärung, wo Gemeinschaftsgeist und Menschenfreundlichkeit Hand in Hand mit persönlicher Aufrichtigkeit, Spontaneität und natürlichem Geschmack und Gefühl einhergingen. Wie viele literarische Arbeiten von Frauen aus dieser Zeit erschien Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim anonym, jedoch unter der Schirmherrschaft und bearbeitet von dem berühmten Dichter Christoph Martin Wieland, der zufällig auch La Roches Cousin, ehemaliger Verlobter und enger Freund war. Wieland schrieb ein herablassendes, aber wohlwollendes Vorwort und einige Fußnoten, deren aufdringlich-arroganter Ton Spott hervorrief, aber darüber hinaus Sympathie für den Autor. Nachdem der Erfolg des Werks einmal gesichert war, wurde auch die wirkliche Verfasserin rasch bekannt, eine vierundvierzigjährigen Mutter von fünf Kindern, die ihr gesamtes Erwachsenenleben als Hofdame und Ehefrau eines hohen Beamten in Mainz und Baden-Württemberg verbracht hatte, Die Bewunderung von Vertretern einer jüngeren literarischen Generation, darunter Lenz, Herder und Goethe, wandelte sich in Freundschaft, und La Roche korrespondierte mit ihnen während ihres langen Werdegangs. Sternheims Bestsellerrang, dem La Roche eine Reihe solider, manchmal wegweisender Arbeiten in verschiedenen Genres folgen ließ, darunter auch den Eheroman Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St** (1779), einen Ratgeber, Briefe an Lina. Mütterlicher Rat für junge Mädchen (179s), Reiseliteratur und Memoiren, veranlasste Literaturkritiker dazu, diese Frau, die von ihren zeitgenössischen Lesern »Mama La Roche« genannt wurde, zur Mutter der deutschen Frauenliteratur zu ernennen. Dieser Titel beschwört nicht nur ein Klischee, sondern darüber hinaus einen Mythos von weiblicher literarischer Produktivität - La Roche selbst trieb beide aktiv voran. Glaubt man den Informationen, die sie gemeinsam mit Wieland verbreitete, begann sie ihren ersten Roman 1767 in Einsamkeit und Depression zu schreiben; einer Depression, die sie befallen hatte, nachdem ihre beiden Töchter in französische Klosterschulen geschickt worden waren. Dieser Schritt war ihr angeblich von dem aristokratischen Gönner ihres Gatten, Graf Stadion, und den altmodischen Sitten seines katholischen Hofes aufgezwungen worden, an dem sowohl ihr Mann wie auch sie selbst herausragende Mitglieder waren. La Roche war selbst das Produkt einer akademisch-gehobenen Mittelschicht, und ihre nachträglich veröffentlichte Unzufriedenheit mit den höfischen Gepflogenheiten fand eine breite Leserschaft. Sie verbündete sich mit einer neuen bürgerlichen Ideologie familiärer Vertrautheit, die eine enge emotionale und bildende Anteilnahme der Eltern, besonders der Mütter, an ihren Nachkommen schätzte. Ihrer eigenen Kinder beraubt, suchte sie, wie sie selbst sagte, emotionalen Trost und Ersatzbeschäftigung im Schreiben und machte sich daran, »ein papiernes Mädchen zu erziehen« - ein Satz, der heute berühmt ist. Auf diese Weise gebar Sophie, die Schriftstellerin, Sophie, die Kunstfigur - und umgekehrt. Es ist schwer, La Roches 8. Februar 1765 | »Papierne Mädchen erziehen« und das private Leben meistern 473 Entbehrungen und ihre Hilflosigkeit von dem kultivierten Pathos ihrer Selbststilisierung zur Autorin zu trennen. Der Roman erschien zu einer Zeit, als die Öffentlichkeit bereit war, eine Schriftstellerin zu akzeptieren und in ihren künstlerischen Schöpfungen ein geeignetes Mittel zur Verbreitung persönlicher Tugend zu sehen. Diese Bereitschaft wurde ihrerseits für La Roche und andere Frauen zum Sprungbrett auf den Literaturmarkt - vorausgesetzt, sie blieben bei der ihnen zugewiesenen pädagogischen Aufgabe und damit in ihrer Mische. Sternheim war das Produkt einer Zeit, als die Bewohner der deutschen Staaten, die gerade erst begonnen hatten, sich als Bürger eines Staates zu fühlen, anfingen, die traditionellen Regulierungen geschlechtlichen Verhaltens und häuslicher Ordnung zu überdenken und neu zu organisieren. Im Jahr 176c, ein Jahr bevor Sophie La Roche ihre letzte Tochter auf eine Klosterschule in Straßburg geschickt hatte, erließ Friedrich der Große von Preußen eines jener bahnbrechenden Reformedikte, die später in das preußische Allgemeine Landrecht (1794) eingehen sollten. Es schaffte den Pranger für Frauen ebenso ab wie andere öffentliche Bestrafungsrituale für private Vergehen: außerehelichen Geschlechtsverkehr, Ehebruch oder uneheliche Schwangerschaft. Bis 1781 erlebten La Roches eigene Heimatregionen Baden und Bayern Rechtsreformen, die die schärfsten körperlichen Bestrafungen für den gesamten Bereich der »geschlechtlichen« Delinquenz entweder entkriminalisierten oder wesentlich abmilderten. Oberflächlich betrachtet schienen die juristischen Folgen von Ehebruch, Inzucht und Kindesmord von Sternheims süßlicher Schicklichkeit und den hoch angesehenen Beteuerungen anderer zeitgenössischer sentimentaler Literatur weit entfernt zu sein. Die juristischen und die literarischen Texte verhalten sich indes komplementär zueinander, sie sind Produkte derselben epochalen Verschiebung in der Regulierung von Sexualität, den Beziehungen zwischen den Geschlechtern und der häuslichen Ordnung, wie sie damals in Europa aufkam. Die populäre Literatur machte sich, zusammen mit der gefühlsbetonten Kernfamilie (die von dieser Art Literatur verherrlicht wurde), einen Teil der Soziali-sationsaufgaben zu eigen, die zuvor von Staat und Kirche monopolisiert worden waren. Sie erreichten die Befolgung von Regeln im privaten Bereich nicht durch öffentliche Erniedrigung oder körperliche Bestrafung, sondern durch ergreifende, phantasievolle Geschichten, mit denen sich eine große Leserschaft identifizieren konnte, während sie tugendhaftes Benehmen gleichzeitig nachahmte und verinnerlichte. Die mütterliche Leserin war ein natürlicher Prototyp fiktionaler Autorität. All dies legt Wieland in seinem Vorwort zu Sternheim dar, indem er seine eigene Leseerfahrung des »papiernen Mädchen[s]« seiner Freundin als elterliche Zustimmung formulierte: »Möchten doch, so dacht' ich bei hundert Stellen, möchten meine Töchter so denken, so handeln lernen wie So- 474 8- Februar 176c j »Papierae Mädchen erziehen« und das private Leben meistern 8. Februar 1764; | »Papierne Mädchen erziehen« und das private Leben meistern 47c phie Sternheim! Möchte mich der Himmel die Glückseligkeit erfahren lassen, diese ungeschminkte Aufrichtigkeit der Seele, diese sich immer gleiche Güte, dieses zarte Gefühl des Wahren und Schönen, diese aus einer innern Quelle stammende Ausübung jeder Tugend [...].« Als Verkörperung vollkommen verinnerlichter Anstandsformen, die ihr zur zweiten Natur geworden sind, ist Sophie Sternheim ein Beispiel für andere junge Frauen. Obwohl sie ihre Aufrichtigkeit durch aktiven Altruismus, kritische Selbstbetrachtung und persönliches Leid erworben hatte, kommt sie mit anmutiger Schwerelosigkeit daher, ungekünstelt und natürlich - was sie umso liebenswerter macht und vor allem zu einer wirkungsvollen Vermittlerin in Sachen Sozialisation. In Wielands und La Roches Appell an den Leser schaffen Sophie Sternheims Wanderungen, ebenso wie die Verbreitung ihrer Briefe und ihre zahlreichen Umzüge in verschiedene Häuser, wo man ihr Aufenthalt gewährt, einen immer größer werdenden, wohlwollenden Kreis allgemeiner Zustimmung und Nachahmung. Verglichen mit der Dynamik dieser Tugend in Aktion ist körperliche Tugend für diese Heldin erstaunlicherweise Verhandlungssache. Praktisch verliert sie ihre eigene Tugend an Lord Derby, den Mann, dem sie vermählt zu sein glaubt, obgleich sie ihn nicht liebt und obgleich die Zeremonie der Trauung tatsächlich eine von ihm organisierte Farce ist. Aber diese traumatische Enttäuschung verdammt sie weder zu dem tragischen Ende einer Clarissa, noch schwinden dadurch ihre Chancen auf eine Ehe, noch wird sie dadurch als moralisches Vorbild entwertet. La Roches pointierte Ablehnung, weibliche Tugend mit weiblicher Unschuld gleichzusetzen, unterstreicht das Ausmaß, zu dem weibliche Vortrefflichkeit in ihrem Roman auf den Punkt gebracht wurde: losgelöst vom Besitz bestimmter Fähigkeiten und neu kodiert zum umgestaltenden Medium. Mit Lady Sophie Sternheim präsentiert La Roche ein weibliches Ideal, das ihre Leser zu einer starken Identifikation einlädt. Herders Verlobte Caroline Flachsland sagte ihm, sie habe in Sophie ihr »vollkommenes Frauenideal« gefunden. »Ich verbrachte köstliche, wundervolle Stunden mit der Lektüre! Oh wie weit ich immer noch von meinem Ideal entfernt bin!« Sophie fordert diese Reaktion zum Teil heraus, weil sie selbst echte Reaktionen ausdrückt. Ihre eigenen Kommentare bezeugen diesen Wesenszug, wenn sie sagt, »Sie wissen, meine Emilia, daß mein Gesicht allezeit die Empfindungen meiner Seele ausdrückt.« Sophies Unfähigkeit, sich zu verstellen, passt nicht zu dem Leben an dem Hof, an den ihre aristokratischen Verwandten sie nach dem Tod ihres Vaters bringen. Der Hof ist der Ort von Verstellung und einstudierter Künstlichkeit, wo der persönliche Ruf sich darauf begründet, wie geschickt man sich verstellen kann. Während die Höflinge sich in nichtssagenden Frivolitäten und bösartigen Intrigen ergehen, sehnt sich die Heldin nach produktiven Studien und Fleiß. Aber trotz dieses degenerierten Szenarios leuchtet Sophie umso heller. Selbst Derby, der teuflische Erz-Bösewicht, erliegt ihrem Zauber: »[...] alles, was ich jemals Reizendes an andern ihres Geschlechts gesehen, ist nichts gegen den einnehmenden Ausdruck von Empfindung, der über ihre ganze Person ausgegossen war.« Die Form des Briefromans verstärkt diese Aura der Echtheit noch. Sophies Briefe an ihre Freundin Emilia, die den Hauptteil des Romans ausmachen, stützen die Illusion einer emotionalen Direktheit, den Zug um Zug gewährten Zugang zum Fluss und zur Wandlung der Gefühle. Die Briefe bezeugen darüber hinaus die Unschuld der Protagonistin, was sie auch davon abhält, darüber zu mutmaßen, was der gesamte Hof weiß, nämlich dass ihre Tante und ihr Onkel planen, ihre liebliche Nichte zur nächsten Mätresse des zügellosen Herrschers des Fürstentums zu machen, um den Einfluss der Familie auszuweiten. Während die Höflinge sich darauf vorbereiten, das unterhaltsame Spektakel der Opferung der Unschuldigen zu genießen, plant Derby, sie selbst besitzen zu wollen - was den Wettbewerb für ihn umso spannender macht. Unterdessen liebt der noble Lord Seymour sie aus der Ferne, wendet sich aber schließlich in Verzweiflung von ihr ab, denn er ist davon überzeugt, sie sei ein williges Werkzeug im Ränkespiel ihrer Familie. Das zeigt, dass Seymour, der sie immer noch liebt, nicht nur empfänglich dafür ist, durch irreführende Äußerlichkeiten in eine Falle gelockt zu werden, sondern, was noch schwerer wiegt, schuldig ist, den Glauben an sich selbst und an seine Geliebte zu verlieren. Aber auch Sophie erliegt den Ränken, wenn sie durch verletzten Stolz und Angst ihre sonst unerschütterliche Ruhe verliert: Als sie wie in einem Schock die Absichten ihrer Verwandten aufdeckt, willigt sie in Derbys Heiratspläne ein, nur um vor Familie und Hof fliehen zu können. Gleichzeitig gesteht sie, dass sie für ihren zukünftigen Ehemann nichts weiter empfindet als ein vages Gefühl von Dankbarkeit. Ihre Vergehen und der hohe Preis, den Sophie dafür zahlen muss, machen die Aussage des Romans aus, dass nämlich das Versagen, die Stärke tief verwurzelter eigener Gefühle zu würdigen, zum Selbstbetrug führt. Schließlich aber identifizierten sich belesene Frauen und Männer mit Sophie Sternheim, weil sie eine literarische Heldin ist. Sophie lebt als Einzelkind in der beschaulichen Abgeschiedenheit des elterlichen Guts und ist das einzige Objekt des pädagogischen Enthusiasmus ihrer Eltern. Folglich erhält sie von ihrem Vater eine einzigartige Ausbildung in Geisteswissenschaften und modernen Sprachen und von ihrer Mutter in Hauswirtschaftskunde. Sophies Glaube an die läuternde Kraft der Bildung hilft ihr, das Schicksal zu ertragen. So beschwört sie die Eltern einer finanziell ruinierten Familie, die sie unter ihre Fittiche genommen hat: »[...] so bescheiden sie in Kleidung und anderm Aufwand von Personen Ihres Standes sein mögen, so verwenden Sie doch alles auf die Erziehung.« Sophie lebt später unter dem Pseudonym Mme. Leiden mit verschiedenen Freunden und Wohltätern zusammen. Ganz gleich jedoch, wie behelfsmäßig, bescheiden oder prekär ihre Lebensumstände in der zweiten Hälfte der Geschichte sein mögen, nachdem sie von Derby verlas- 476 8. Februar 1765 | »Papierne Mädchen erziehen« und das privale Leben meislern seil worden ist und endlich weiß, warum er sie heiratete: Immer wieder findet sie die Mittel, um zu unterrichten, und ebenfalls Zeit zum Schreiben. Ihre Fähigkeiten sind ihr und anderen eine Hilfe. Einer Wohltäterin vergilt sie damit ihre Zuwendung, dass sie einen Lehrplan entwirft und für eine neu gegründete Schule zum Einsatz bringt, die armen Mädchen zusammen mit Fertigkeiten, die sie ernähren sollen, eine Grundausbildung gibt. Ebenso wichtig ist die Tatsache, dass der Unterricht Sophie hilft, ihren höchsten Wert zu bewahren: unerschütterliche Ruhe. Dabei hat sie selbst nichts zu geben außer ihrem Mitgefühl und ihrer Menschenfreundlichkeit. Selbst in der Bauernhütte in Schottland, wohin Derby sie" entführt und wo er sie als Geisel gefangen hält - weil er befürchtet, seine Pläne, sich bald mit einer weiteren ahnungslosen Erbin zu vermählen, könnten durch sie gefährdet werden -, verbringt sie ihre Zeit damit, den Kindern der wenigen Einwohner dieser vollkommen verarmten und isolierten Gegend Schreib- und Stickunterricht zu geben. Unter diesen Kindern befindet sich auch die Tochter ihres Gefängniswärters, die, wie sich herausstellt, ein Kind Derbys ist, das er mit einer anderen Frau hatte, die er verführt und verlassen hatte, um sie schließlich nach Norden zu schaffen, wo sie eingekerkert und anonym starb. Sophie hat allen Grund anzunehmen, dass das auch ihr beschlossenes Schicksal sein soll.Tatsächlich wird sie nur deshalb von ihrem zukünftigen Gatten Lord Seymour gerettet, weil er in einer fast unmöglich anmutenden Verkettung von Zufällen die adlige Dame kennenlernt, bei der Sophie Unterschlupf gefunden hatte, nachdem Derbys mörderischer Diener sie würgte und für tot in einer verschlossenen Hütte auf der Heide zurückließ. Die brutale Welt von Sternheims schottischer Episode nimmt in ihrer abrupten, fast halluzinatorischen Schwere den Schauerroman vorweg. Aber trotz Gewalt und Verwahrlosung gesteht Sophie: »Von dem Genüsse alles dessen, was die Menschen als Wohlsein betrachten, entfernt, genieße ich die wahren Geschenke des Himmels, die Freude wohlzutun und die Ruhe des Gemüts als Früchte der wahren Menschenliebe und erfahrner Tugend.« Sophie von La Roche versuchte ihr Leben lang, das perfekte Beispiel ihrer erfolgreichsten Schöpfung zu sein. Ihre Laufbahn als Schriftstellerin, wie die vieler ihrer schreibenden weiblichen Zeitgenossen, begann als von idealistischem Enthusiasmus durchdrungene Beschäftigung und endete als notwendige Plackerei. Ihr Wohlstand und ihre soziale Stellung lösten sich in Nichts auf, als ihr Mann seinen aristokratischen Wohltäter und damit seine letzte Position in Trier verlor. Zu der Zeit, als sie 1783 damit begann, ihre Zeitschrift Pomona - Für Teutschlands Töchter zu veröffentlichen, ernährte sie die Familie allein. In ihren letzten Lebensjahren, als sie nicht einmal mehr eine Witwenrente erhielt, war La Roche gezwungen, fast bis zu ihrem Tod (1807 in Offenbach) am laufenden Band Memoiren, Erzählungen und Anthologien zu produzieren. Eine späte Arbeit wie Mein Schreibtisch (1799) zeigt eine La Roche, die ihre eigenen Beobachtungen und Kompositionen mit Lieblingszitaten anderer Schriftsteller, 1767 I Der Plan einer Frau für das Glück eines Soldaten 477 Listen, flüchtigen Notizen und sogar mit Rezepten anreichert. Gleichzeitig bietet das Buch das Selbstporträt einer Frau, die versucht, all ihre Anmut, Dankbarkeit und Würde zusammenzunehmen, die ihr eigenes weibliches Gelassenheitsideal ihr in einem Leben in vornehmer Armut am Rande der Gesellschaft abverlangt. Im letzten Absatz versichert sie ihren Lesern, dass, obwohl das Schicksal ihren Wohlstand und die Zeit ihre Figur zerstört habe, ihre Seele gelernt habe, den Wert aller weltlichen Dinge zu erkennen: »[...] Ich kenne keine Eifersucht, keinen Hass, keine Unruhe, denke nur an die Guten und habe keinen größeren Wunsch als den, so stark zu sein, dass ich weiterhin den Leidenden helfen und noch viele Bücher lesen kann.« CHRIS CULLENS : Siehe auch [773, 1774, 1781, 1784, 1931 Bibliographie; Sophie von La Roche, Die Geschichte des Fräuleins von Stern heim. hg. und mit einem Nachwort versehen von Barbara Becker-Cantarino, Stuttgart 198c, - Dies., Mein Schreibtisch, 2 Bde., Leipzig 1799. - Helga Meise, Die Unschuld und die Schrift. Deutsche Frauenromane im i8-Iahrhundert, Frankfurt am Main 1992. - Jeannine Blackwell und Susanne Zantop, Bitter Heuling: German VVömenVVnters from 170010 1830, Lincoln 1990. 1767 I Lessing gibt für sein Lustspiel Minna von Barnhelm ein falsches Erscheinungsjahr an, damit es mit dem Ende des Siebenjährigen Krieges zusammenfällt Der Plan einer Frau für das Glück eines Soldaten Im Sommer des Jahres 1870, auf dem Höhepunkt des französischpreußischen Krieges, der zur Gründung des Deutschen Reiches führen sollte, rezensierte Theodor Fontane eine Aufführung des Berliner Hoftheaters von Lessings Lustspiel Minna von Barnhelm für die namhafte Vossische Zeitung. Obwohl man, wie er schreibt, sich daran gewöhnt habe, das Stück als Inbegriff des Preußischen anzusehen, ist Fontane enttäuscht darüber, dass es der patriotischen Leidenschaft der Stunde nicht gerecht werde. Minna von Barnhelm, 1767 geschrieben und uraufgeführt, erwarb seinen preußischen Ruf durch eine Handlung, die vor dem Hintergrund des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) spielt - in dem der preußische König Friedrich 11. (»der Große«) sich gegen eine mächtige Allianz, zu der neben Frankreich auch das benachbarte Königreich Sachsen gehörte, durchsetzen konnte. Der Krieg und der aufsteigende König, der ihn führte, hatten bei vielen deutschen Intellektuellen der Mittelschicht patriotische Gefühle erweckt; sie wollten ihre kulturellen Ambitionen durch ein großes politisches Ziel ergänzt sehen. In seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit (1812) preist Goethe die Figur als perfekte Verkörperung des deutschen Nationalcharakters und sieht in dem Drama die 47^ 1767 I Der Plan einer Frau für das Glück eines Soldaten 1767 I Der Plan einer Frau für das Glück eines Soldaten 479 erste Theaterproduktion, die aus einem bedeutenden zeitgenössischen Lebenszusammenhang erwachsen sei. Der Autor dieser »nationalen« Komödie, Gotthold Ephraim Lessing (172271781), wuchs in Sachsen als Sohn eines orthodoxen protestantischen Pastors auf. Statt wie erwartet den Beruf seines Vaters zu ergreifen, ging er als Dramatiker an die Bühne und erwarb sich den Ruf eines produktiven Schriftstellers, dessen Themen sich von der Literatur und Dramaturgie über Archäologie und Semiotik bis hin zu den theologischen Schlüsselproblemen der Aufklärung erstreckten. Wie so viele Intellektuelle des 18.Jahrhunderts brach Lessing mit den Konventionen seines sozialen Milieus und wurde Mitglied der kosmopolitischen »Ge-letartertrepublik«, die danach strebte, das Ideal der Aulklärung als freien intellektuellen Austausch zu verwirklichen, so wie es Kant 1783 in seinem Essay »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« formuliert hatte. In diesem Umfeld nahmen Literatur und Kunst aufgrund ihrer sozialisierenden Kraft eine privilegierte Stellung ein. Sie boten einen fiktio-nalen Raum, in dem mit neuen Werten und Lebensformen experimentiert werden konnte. Aus der aufklärerischen Idee einer Gemeinschaft von Gleichen wurde das Projekt des Hamburger Deutschen Nationaltheaters als erstem freien Repertoiretheater geboren, an dem Lessing sich als Kritiker und Dramaturg beteiligte. Das Ergebnis war die Hamburgisclie Dramaturgie (1767-1769), eine der zentralen Schriften in der deutschen (vielleicht auch der europäischen) Theatergeschichte. Lessings lebenslange Beschäftigung mit der Bühne kann nicht von seinen übergreifenden Bemühungen um die menschliche Aufklärung getrennt werden, die alle seine Schriften durchdringt und am besten im Titel seines späten Essays Über die Erziehung des Menschengeschlechts (1780) zum Ausdruck kommt. Für Lessing schloss universale Pädagogik die Rücksicht auf das Lokale und Besondere - das, was man vor dem Epoche des Nationalismus unter »national« verstand - nicht aus, sondern setzte sie voraus. Ein Schlüsselthema aufklärerischen Denkens war die problematische Beziehung zwischen dem Universalismus der Vernunft und dem Partikularismus ererbterKonventionen, zwischen der Welt der Errungenschaften und der der Tradition. In einer hitzigen Debatte mit orthodoxen protestantischen Theologen über sein letztes Drama Nathan der Weise (1779) nannte Lessing die Bühne seine »alte Kanzel«, von der aus er eine freie Erörterung religiöser_ErageninGang_se_tzen wollte. Diese Formulierung deutet auf mehr als die Möglichkeit des Dramas, eine weltliche Botschaft von Toleranz und universeller Bruderschaft zu verbreiten - eine Botschaft, wie sie gemeinhin mit dem >Humanitätsdrama< verbunden wird, Vielmehr - und das ist entscheidend - setzt Nathan in seiner Dramaturgie die Kunst als Mittel zur Durchsetzung einer neuen sozialen Ethik in Szene, einer Ethik für das moderne, autonome Individuum, das sich von blinden genealogischen - ethnischen, religiösen, feudalen — Zugehörigkeiten befreien muß. Ungeachtet der witzigen Verspieltheit, die den jahrhundertelangen Erfolg der Minna von Barnhelm garantiert hat, widmet sich das Stück dem ernsthaften Gegenstand zwischenmenschlicher Bindungen und menschlicher Autonomie. Es ist ebenso sehr ein Drama über die menschliche Befreiung von sozialen und geschlechtsspezifischen Bedingungen, wie es eine Komödie über zwei Liebende ist, die sich in einer chaotischen Zeit verlieren und wiederfinden. Lessing wandelt das vertraute Motiv des Triumphs der Liebe über den Zufall und soziale Beschränkungen (Vater, Tradition, das Gesetz) in eine komplexe psychologische Handlung. Minnas Ziel ist nichts Geringeres als die gegenseitige Anerkennung von Mann und Frau auf der Grundlage von Einfühlungsvermögen und Gleichheit. Die Komödie spielt 1763, unmittelbar nach dem Siebenjährigen Krieg. Major vonjellheim, ein preußischer Offizier, der im Krieg verwundet und wegen eines angeblichen Verbrechens unehrenhaft aus dem Dienst_entlassen wurde, sieht sich durch seine gegenwärtige Schmach und sein Elend "gezwungen, die Verlobung mit Minna, einer schönen und reichen Sächsin, aufzulösen. Minna, verwirrt darüber, dass Teilheim sie nach dem Krieg nicht aufsuchte, begibt sich selbst auf die Suche nach ihm. Das Paar trifft sich durch Zufall gleich zu Beginn der Handlung, aber Tellheim verweigert sich Minnas liebevollen Annäherungen und besteht wiederholt darauf, sein Gewissen und seine Ehre ließen es nicht zu, dass sie sein Unglück mit ihm teile. Minna jedoch setzt sich über den Ehrenkodex der aristokratischen Offiziersklasse - und implizit auch über die Forderungen der gesamten Gesellschaft - ebenso hinweg, wie Tellheim sich ihnen unterwirft. Ihr einziger Maßstab ist unbedingte Liebe. Wenn König und Armee ihm alles genommen hätten, hält sie ihm vor - welch Glück, dass er alles in ihrer Person zurückgewinne. Als Tellheim sich aber immer mehr versteift, dreht sie den Spieß um und gibtvor, sie sei von ihrem Onkel und Vormund wegen der Verlobung mit einem feindlichen Offizier, einem Preußen, enterbt worden. Tellheim fällt umgehend auf ihre List herein und besteht jetzt, da Minna ebenfalls verarmt ist, auf einer sofortigen Heirat. Doch jetzt widersetzt sie sich, und als Teilheims Ehre schließlich wiederhergestellt ist (er hatte großzügig Geld an die besiegten sächsischen Stände verliehen, woraus man einen Bestechungsvorwurf konstruiert hatte), treibt sie ihr Lügenspiel weiter und ist besessen davon, »ihm eine Lehre zu erteilen«. Sie löst die Verlobung mitTell-heims eigenen früheren Worten: »Gleichheit ist allein das feste Band der Liebe.« (Minna, V, 9) Minnas Intrige droht zu scheitern, weil Tellheim die Überzeugung gewinnt, sie sei nur nach Berlin gekommen, um die Verlobung zu lösen. Schließlich jedoch erscheint Minnas Onkel und umarmt seinen Schwiegersohn, sie offenbart ihre »Intrige«, und die Verliebten vereinen sich mit dem Segen von König und Vormund. Das Happyend rahmt ein subtiles und raffiniertes, wenngleich riskantes und leicht sadistisches, von der Heldin in Szene gesetztes Spiel ein. Es ist dieses Spiel im Spiel, dasTellheims Inneres öffnet, wenn er ihr und 480 1767 I Der Plan einer Frau für das Glück eines Soldaten 1767 I Der Plan einer Frau für das Glück eines Soldaten 481 gleichermaßen dem Publikum »den Anblick [seines] ganzen Herzens verschafft« (Minna, V, 12). Während sie mit ihm spielt, schreibt Minna eine neue Komödie innerhalb der konventionellen, die diese übersteigt indem sie die dramaturgische Typenfigur in einen komplexen individuellen Charakter verwandelt. Mit seiner solipsistischen Fixierung auf die verlorene Ehre und seiner narzisstischen Selbstverachtung fallt Teilheim auf den ersten Blick in die komische Tradition des sturen Exzentrikers zurück, der von den anderen Figuren und dem Publikum zum Narren gemacht wird. Durch Minnas brillanten Rollentausch aber wird sein reiches Innenleben offenbart, und er lernt, sich selbst von außen zu betrachten. Bewusst eingesetztes komisches Rollenspiel befreit das Individuum von äußerlichen Zwängen und entfremdenden Rollen, denn es gestattet eine distanzierte Selbstreflexion. Auf diese Weise gebiert das Lustspiel das emanzipierte Individuum. Das pädagogische Ziel des Stücks ist jedoch komplexer, Tellheims rigider Fixierung auf das »Gespenst der Ehre« (Minna, IV, 6) liegen ein tiefes Verantwortungsgefühl, Prinzipienfestigkeit und Großzügigkeit zugrunde. Freilich sind es gerade diese moralischen Qualitäten, die von einem anderen, tiefer liegenden Defekt infiziert sind, auf den sich Minnas »Lektion« richtet. Tellheims männliches Ego gestattet ihm nicht, sich vorzustellen, an eine Frau gebunden zu sein, die sozial über ihm steht. Er will nicht sein »ganzes Glück einem Frauenzimmer« und ihrer »blinde[n] Zärtlichkeit« »verdanken« (Minna, IV,6).Trotz seines noblen Charakters hindert den Major die Illusion von Integrität und Unabhängigkeit daran, von anderen das anzunehmen, was er selbst so großzügig anbietet. Ziel der Kritik von Minna von Barnhelm und von Minna selbst ist nicht nur ein überlebter sozialer Kodex - es ist der zentrale Wert der Aufklärung. Tellheim muss von einem Übermaß an Autonomie ebenso geheilt werden wie von einem Übermaß an Ehre. Aber Tellheim ist nicht der Einzige, der sich der Illusion von Vollkommenheit hingibt. Auch Minna wird ihre Beute, sei es auch in geringerem Maß, wenn sie weder Tellheims missliche Lage noch seine Aussichten ernst nimmt und unbeschwert davon ausgeht, sie allein sei in der Lage, ihn für seinen Verlust zu entschädigen. Beide Partner müssen eine ähnliche Lernphase durchmachen, müssen sich in die Lage des anderen versetzen und die Situation mit dessen Augen betrachten. Das Bedeutsamste ist, dass sie sich in dem Bewusstsein zusammentun, dass menschliche Schwäche die Bedingung für gegenseitige Abhängigkeit ist. Wenn Gleichheit die Grundvoraussetzung für wahre Liebe ist, so ist die Einsicht in die gegenseitige Schwäche die Grundvoraussetzung für echte Gleichheit. Das Gleichgewicht des Glücks, das am Ende des Stückes erreicht wird, ist nichts anderes als das theatralische In-Szene-Setzen dieser Gleichheit. Lessings Gedanke von »Mitleid«, der die tragische Gattung grundlegend verwandelte, findet hier seinen Weg ins Lustspiel. Das Konzept einer »bürgerlichenTragödie«, das sich unter seinem (sowie seines französischen Zeitgenossen Denis Diderot, dessen dramatische und dramaturgische Arbeiten Lessing übersetzte) Einfluss entwickelte, wandte sich ab von der hierarchischen barocken und klassizistischen Tradition, die darauf abzielte, die Bewunderung des Zuschauers zu wecken. Es drang in die Sphäre ein, die der Komödie vorbehalten war, in den privaten Bereich von Familie und emotionaler Intimität, und es verlieh diesem eine neue Bedeutung als dem Stoff, in dem alle Menschen sich wiedererkennen können. Psychologische »Einfühlung« war die wirkungsmächtige Maxime für das aufblühende Theater der Mittelschicht, das sich gegen die französisch dominierte aristokratische Kultur richtete. In Minnas Spiel wird Sympathie, die beabsichtigte Wirkung der tragischen Handlung auf das Publikum, zum Vehikel für einen Komödienstreich, der auf die glückliche Auflösung eines möglicherweise tragischen Konflikts abzielt. Getäuscht von Minnas vorgespiegeltem Elend, wird Tellheims Herz vom »Mitleid« - der »Tochter der Liebe« (Minna, V, j) - geöffnet, wenngleich dieses Mitgefühl ihn auch wieder in die Rolle eines Wohltäters einsetzt, will sagen sein männliches Ego wieder herstellt. Minna von Barnhelm zeigt, dass die Ethik der (neuen) Tragödie — sich dem Leid des Mitmenschen zu öffnen - durch die Ethik der Komödie ergänzt werden muss - sich dem Zufallsgeschenk des Glücks zu öffnen und es demütig anzunehmen. Beide Aspekte müssen zusammenkommen, um die ideale Gegenseitigkeit zu bewerkstelligen, auf der eine ebenbürtige Beziehung aufbauen sollte. Minna von Barnhelm setzt nicht nur die Mittel der Tragödie ein, um eine aufgeklärte Komödie zu schaffen, sondern das Stück macht darüber hinaus den Übergang vom Krieg zum Frieden zum zentralen Thema eines Lustspiels, das die (heroische) Tragödie insgesamt entwaffnet. Die klägliche Verwundung des Helden illustriert diese Entwaffnung deutlich; weit davon entfernt, das triumphale Zeichen einer Heldentat zu sein, beweist Tellheims verwundeter rechter Arm das Ende des Kriegers und den Beginn friedlicher Zivilität. (Übrigens fand dieser Arm eine Reihe von Nachfolgern, von Goethes Götz von Berlichingen [1772], dem »Ritter mit der eisernen Hand«, bis zum Major von Crampas in Fontanes Effi Briest.) Zivilität allerdings muss ständig gegen die andauernde Bedrohung eines inneren, psychologischen Kriegszustands geschützt werden. Indem Lessing kriegerische Haltungen und Verhaltensmuster in den Winkeln der Seele aufspürt (Minna selbst ist nicht frei von aggressiven, sogar grausamen Zügen) und sie gleichzeitig in komischen Gesten und mit geistreicher Rhetorik wieder auflöst, hat sein Stück als Ganzes eine zivilisierende oder sogar feminisierende Wirkung. Das Zeitalter der Aufklärung und die Tragödie sind unvereinbare Bettgenossen. Tragischer Tod ist kaum glaubwürdig für ein Denken, das die Welt und die Geschichte nicht als festen metaphysischen Regeln unterworfen, sondern als offen für einen unbegrenzten, auf menschliche 82 1767 I Der Plan einer Frau für das Glück eines Soldaten 8. Juni 1768 I Grieche werden 483 Vervollkommnung abzielenden Prozess betrachtete. In diesem Sinn klagen Lessings eigene bahnbrechende bürgerliche Tragödien, Miss Sara Sarnp-son (1755") und Emilia Galotti (1772), bürgerliche Tugendstarre an, weil sie katastrophale Konsequenzen hervorbringt. Aus dem Blickwinkel pädagogischer Vervollkommnung deutet die Tragödie auf ein Versagen und ist grundsätzlich vermeidbar. Das Gattungsgesetz der Komödie schließt die Notwendigkeit von Kompromiss und Aussöhnung ein, die durch Mittel theatralischer Distanzierung, durch Rollenspalmng und Selbstreflexion zustande kommen - ganz abgesehen vom antiautoritären Gestus, der dem Genre eigen ist. In Minna fordert die Komödie den Werteabsolutismus der tragischen Tradition heraus - sei er heroisch oder bürgerlich - und triumphiert am Ende über ihn, allerdings nicht durch ein Lächerlichmachen und Ausgrenzen, sondern durch ein einfühlsames, zusammenführendes Lachen, durch Lachen mit und nicht über (siehe Hdmburgische Dramaturgie, 29). Das Theater des Lustspiels wird zum Theater des Friedens. Lessings Affinität zur Komödie zeigt sich auch in Nathan der Weise, dessen berühmteste Szene Minnas Intrige in Erinnerung ruft. In Nathan beantwortet der jüdische Held die Frage des muslimischen Monarchen nach der einen und wahren Religion, indem er die Parabel von einem Ring erzählt, der seinem Träger besondere Kräfte verleiht und den ein Vater heimlich hat kopieren lassen, um ihn jedem seiner drei gleich geliebten Söhne zu vermachen (Nathan, V, j-7). Ein ästhetisches Konstrukt tritt hier also an die Stelle einer verlorenengegangenen metaphysischen Wahrheit. Die vervielfältigten Ringe fungieren dabei als Zeichen einer väterlichen Liebe, die die Söhne mit dem Streben nach brüderlichem Zusammenhalt und moralischer Leistung erfüllen soll. So ist auch Nathans Erzählung ein Ersatz für eine theoretisch unerreichbare Wahrheit, die aber auf der moralischen Ebene errungen wird, wenn an ihrem Ende der Muslim und der Jude Freundschaft schließen. Diese Verbindung findet in der letzten Szene ihre Parallele, wenn Angehörige unterschiedlicher Eth-nien und Religionen sich gegenseitig als Mitglieder einer Familie erkennen und mit ihren stummen Umarmungen einen Ring bilden, in dem sich die Parabel des Protagonisten widerspiegelt. Lessings ästhetisches Stück mit seiner Verankerung im Lustspiel beseitigt nicht die Idee einer letzten Wahrheit, sondern überführt sie in praktische Moral. In Minna sind Ringe ähnlich wichtig als Symbol für Zusammenhalt, Verlust und Wiedererlangung. Aus reinem Zufall kommt Minna in den Besitz des Verlobungsrings, denTellheim gezwungen war zu verkaufen. Sie gibt ihn ihm zurück, als wäre es ihr eigener Ring. Unter dem Vorwand ihrer Auflösung wird die Verlobung also bestätigt und erneuert. Teilheims Augenblick tiefster Verzweiflung ist auch der Augenblick seines größten Glücks - er muss es nur noch erkennen (Minna, V, 12). Wie der Ring des Vaters in Nathan symbolisiert der Ring in Minna einen ursprünglichen Zustand der Bindung, der anerkannt und verwirklicht werden muss. Die ursprüngliche Verlobung wird unter den Bedingungen von Mobilität und Liquidität wiederholt. Für diese Bedingungen ist Geld das alles durchdringende Symbol des Stücks, es verwebt einen emotionalen Diskurs des [{erzens mit einem kapitalistischen von Kredit, Schulden und Tausch. Die Voraussetzung für die freie Wahl des Partners ist das Durchlaufen einer auf Tausch beruhenden Ökonomie, obwohl dieser Akt paradoxerweise dieselbe Ökonomie, auf der er beruht, zugleich transzendiert. Die Titelseite von Lessings Lustspiel nennt den vollständigen Titel, Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück, gefolgt von einer Fehlinformation: »Geschrieben im Jahr 1763«. In einem Handstreich des Autors schreibt Lessing hier ein Datum der politischen Geschichte um zu einem Datum der Literaturgeschichte. In seiner eigenwilligen Chronologie beendet das Jahr, das mit dem Frieden von Hubertusburg den Siebenjährigen Krieg beendet, gleichermaßen das Zeitalter der heroischen Tragödie, der Ehre und des Soldatenglücks - zumindest in einer Bedeutung des Wortes. Denn das Wort Glück ist zweideutig, es beinhaltet auch die Wechselfälle des Schicksals. Die flüchtige Welt der Fortuna, wie man sie im Barock sah, eine Welt voller Eitelkeiten, die für das höhere Gut einer transzendenten Welt erduldet und durchlaufen werden musste, liegt imTodeskampf. Aber die verbleibende Welt des diesseitigen Glücks, weit davon entfernt, ein sicherer weltlicher Hafen zu sein, ist noch gefährdeter und Wechselfällen ausgeliefert, die das Glück des Menschen, so wie sie es gewähren, stets auch zerstören können. In einem nie enden wollenden Prozess muss Glück erstrebt und gleichzeitig verteidigt werden. Die von der Aufklärung beabsichtigte menschliche Autonomie muss durch ein Vertrauen in Vorsehung und Demut die eigenen Grenzen erkennen. HELMUT J. SCHNEIDER : Siehe auch 1647, 1774, 1781, 1790, 1897 Bibliographie: Gotthold Ephraim Lessing, Werke, Bd. 1; Gedichte, Pöbeln, Lustspiele; Bd. 2: Trauerspiele, Nathan, Dramatische Fragmente, hg. von Herbert G. Göpfert. München 1970, 1971. - Horst Steinmetz (Hg.), Lessing - ein unpoetischer Dichter. Dokumente aus drei Jahrhunderten zurWjrkungsgeschichle Lessings in Deutschland, Frankfurt am Main/Bonn 1969. *** 8. Juni 1768 I Johann Joachim Winckelmann wird in Triest ermordet Grieche werden »Dass Winckelmann früh hinwegschied, kommt auch uns zugute«, schrieb Johann Wolfgang Goethe in seinem »Winckelmann und sein Jahrhundert« (1805, S. 4C0). Der deutsche Altertumskenner - den viele den ersten Kunsthistoriker nannten - war tatsächlich schon ci Jahre alt, als er starb, was Goethe allerdings nicht davon abhielt, ihn mit Achilles zu vergleichen, der nun in der Schattenwelt wandele, »ein ewig stre- 484 8. Juni 1768 I Grieche werden 8. Juni 1768 I Grieche werden 48c bender Jüngling« (ebd.), der noch vom Grab aus starken Einfluss auf die Gegenwart ausübte. Es war Johann Joachim Winckelmann, dem Sohn eines Schusters aus dem kulturell unscheinbaren Stendhal in Brandenburg, gelungen, einen so bleibenden Eindruck bei seiner Generation zu hinterlassen, dass er auch 1805 immer noch als jugendliche Erscheinung galt. Seit der Veröffentlichung seiner Gedancken über die Nachahmung der griechischen Wercke in der Mahkrey und Bildhauer-Kunst im Jahre 1755 wurde Winckelmann wegen seiner Gelehrtheit und seiner leidenschaftlichen Verehrung der griechischen Kultur weithin bewundert. Was ihn jedoch berühmt machte, war nicht so sehr sein Buch, sondern sein Leben und schließlich sein Tod. Für die Intellektuellen der späten Aufklärung hatte ein Mann, der 30 Jahre in Isolation, Abhängigkeit und Entbehrung im Norden lebte und anschließend in der alteiTmedíťěrranen Hauptstadt Anerkennung, kulturelle Reichtümer und Unabhängigkeit fand, etwas Spektakuläres. Dass sein Triumph dann plötzlich und gewalttätig von der Hand eines italienischen Diebes beendet wurde, verlieh dem Märchen ein makabres Ende und den Bewunderern des Altertumkenners ein allgemeines Gefühl desVerlusts. »Man lernt nichts, wenn man ihn [Winckelmann] lieset, aber man wird etwas«, bemerkte Goethe später (Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe, S. 190). Man wurde Mitglied der grecophilen, männerorientierten, ästhetisierenden deutschen intellektuellen Elite - darüber hinaus aber auch jemand, der sich der unvermeidbar utopischen und tragischen Qualitäten dieses Unternehmens wohl bewusst war. Das Thema des »Werdens« war für Winckelmanns Leben und Erbe zentral. Winckelmanns Zeitgenossen schenkten dem unglücklichen Anfang seines Lebens große Bedeutung. 1717, nur fünf Jahre nach Rousseau geboren, hatte der deutsche Schriftsteller einen ähnlich schweren Weg bis zu seiner Anerkennung; einen Weg, der die Entwicklung einer ähnlichen, halb überheblichen und halb servilen Persönlichkeit und ein intensives Verlangen nach Freiheit und Unabhängigkeit förderte. Obwohl Winckelmann ebenso wie Rousseau schneidende Kritik an der Kirche und der höfischen Gesellschaft übte, blieb er doch ein Leben lang genau von diesen Institutionen und deren Schirmherrschaft abhängig. Die Reformierte Kirche ließ Winckelmann seine früheste Unterrichtung zuteil werden, und sein späteres Studium der Theologie, Medizin und klassischen Literatur finanzierte er durch seinen Dienst als Hauslehrer in aristokratischen Familien. 1748 wurde er der Bibliothekar des Grafen Heinrich von Bünau in Nöthnitz nahe Dresden, eine Position, die ihm Zugang zu neuen Buchern, Artefakten, befreundeten Künstlern und weiteren reichen Gönnern verschaffte. 1754 gewährte der Herzog von Sachsen ihm eine kleine Leibrente, und nachdem er eingewilligt hatte, zum Katholizismus zu konvertieren, lebte er unabhängig in Rom. 175s ging er nacn Rom' ira selben Jahr, als seine Gedancken in den deutschen Landen zur literarischen Sensation wurden. In der Heiligen Stadt wurde er ein Experte und Touristenführer, dem man höchsten Respekt zollte. Seine kleine Leibrente jedoch verschaffte ihm weder die angestrebte volle intellektuelle Unabhängigkeit noch den für seine Arbeit nötigen Zugang zu den höheren Gesellschaftsschichten, denn zu seinen Lebzeiten befanden sich Antikensammlungen weitgehend in privater Hand. Also nahm er eine Reihe von Anstellungen an. 17J7 wurde er der Bibliothekar von Kardinal Archinto, [758 Bibliothekar und Sekretär von Kardinal Albani und 1763 Leiter der Antikensammlung der apostolischen Kammer unter Clemens XIII. Diese Tätigkeiten verliehen ihm sozialen Rang und den Zugang zu den großen Sammlungen Roms - sein Ruhm und sein Wissen wuchsen gleichermaßen. 1764 veröffentlichte er seine Geschichte der Kunst des Alterthums. Es war angelegt als Handbuch für Besucher der Stadt, wurde aber bald schon als die umfassendste Studie der antiken Kunst in jenön Jahren gefeiert. Während der folgenden vier Jahre genoss er internationalen Ruhm. Sein Tod ereignete sich, nachdem er eine Reise in die deutschen Lande abgebrochen hatte, wo man ihm ein triumphales Willkommen bereitet hätte. Als er Wien erreichte, sah sich der Kunstgeschichtler jedoch psychisch außerstande, an die Stätten seiner erbärmlichen frühen Lebensjahre zurückzukehren, und in der Absicht, nach Rom zurückzureisen, fuhr er zunächst nach Triest, wo er von einem mittellosen italienischen Koch erdrosselt wurde. Francesco Arcangeli wurde verhaftet, vor Gericht gestellt und verurteilt, aber er gestand nie, mit dem bedeutenden Gelehrten homosexuelle Beziehungen unterhalten zu haben - wahrscheinlich um der Verbrennung bei lebendigem Leibe und dem Zerstreuen seiner Asche in alle vier Himmelsrichtungen zu entgehen. Denoch wurde Arcangeli Mm Ende auf dem Rad hingerichtet. Die Nachricht von Winckelmanns Ermordung breitete sich rasch aus, und sein Tod hatte, wie Henry Hatfield viele Jahre später zeigte, eine starke Wirkung auf die deutschen Romantiker. Für sie war Winckelmann so etwas wie ein zeitgenössischer Horatio Alger, ein gewöhnlicher junger Mann, der dank seines Genies, verdienstvoller Arbeit und des Festhaltens an anerkennenswerten Prinzipien Armut und widrige Umstände überwunden hatte. Genie bedeutete so etwas wie den Besitz an unverdorbenen Leidenschaften und Perspektiven - Winkelmann besaß das. Was die verdienstvolle Arbeit anging, so beinhaltete sie nicht das Streben nach theologischem Wissen, sondern gegen alle Widerstände das Streben nach weltlichem Wissen, dessen Ziel die Entwicklung eines einzigartigen Menschen, die Kultivierung oder »Bildung« eines umfassenden und selbständigen Selbst war. Die Grundsätze, denenWinckelmann folgte oder von denen man annimmt, dass er ihnen folgte, sind in den ersten vier Untertiteln von Goethes »Winckelmann und sein Jahrhundert« dargestellt; Die Antike; das Heidnische; Freundschaft; Schönheit. Obwohl keiner dieser Ausdrücke von Winckelmann erfunden worden war, hatte Q" sie durch seine Schriften und besonders sein pompöses Leben neu 486 8. Juni 1768 | Grieche werden 8. Juni 1768 I Grieche werden 487 belebt und in seinem Gefolge sollte die deutsche Kulturgeschichte neu geformt werden. Die Antike: Als Reaktion auf die Debatten des 17. Jahrhunderts über die Überlegenheit »der Alten« gegenüber »den Modernen« hatte Win-ckelmann in seinen Gedancken der Antike einen klaren Vorzug gegeben. Die einzige Möglichkeit für eine Nation, besonders für eine kulturell so zerstückelte Nation wie Deutschland, an Größe zu gewinnen, bestand darin, die Griechen nachzuahmen. Keineswegs jedoch sollte dies eine sklavische Imitation im Stil der niederländischen Maler werden, die die Natur nachahmten, oder eines Bernini, der Renaissance-Modelle nachbildete. Stattdessen sollte die Nation lernen, Natur und Ideal in derselben Weise zu verbinden, wie es derjenige griechische Künstler getan hatte, dem es gelungen war, eine perfekte Helena zu schaffen, indem er die besten Attribute mehrerer Frauen in ihr vereinte. Winckelmanns Begeisterung für Griechenland, besonders für das Athen des c. Jahrhunderts - eine zersplitterte, jugendliche Nation, geeint nur durch kulturelle Errungenschaften - stand im Gegensatz zu seiner oberflächlichen Behandlung des alten Rom, das er als anmaßenden, phantasielosen Staat betrachtete, der auf Gewalt gründete. Diese Ansicht war für die Mitte des 18. Jahrhunderts ziemlich ungewöhnlich und zeugte von dem Verlangen, sich von einem aristokratischen Humanismus abzusetzen, der sich auf die lateinische Wortgewandtheit konzentrierte. Stattdessen unterstrich Winckelmann die Einfachheit, Jugendlichkeit und Originalität der griechischen Kultur und bevorzugte ihre Kunst, Poesie und Philosophie. Das Feuer seiner Verehrung alles Griechischen sprang sehr schnell über und sollte eine anhaltende Auswirkung auf deutsche kulturelle Institutionen und das Selbstbild deutscher (besonders protestantischer) Intellektueller haben. Diese betrachteten sich selbst, ganz im Sinne Winckelmanns, als kulturliebende Griechen im Gegensatz zu den machthungrigen >Römern< - die jeweils durch die Österreicher, die Franzosen, die Katholiken und Engländer vertreten wurden. Das Heidnische: Im strengen Sinn des Wortes war Winckelmann kein Heide, aber seine Verehrung alles Griechischen und sein rein pragmatischer Übertritt zum Katholizismus im Jahr 175:5 ließen ihn als jemanden erscheinen, der von christlicher Hörigkeit emanzipiert zu sein schien. Für Winckelmann waren die Götter in den Statuen gegenwärtig, die sie darstellten, sie waren echte Bestandteile des alltäglichen Lebens und Teil der gesunden griechischen Kultur. Hier waren Körper und Seele nicht getrennt, und die nackte menschliche Gestalt war kein Gegenstand von Abscheu, sondern wurde verehrt. Tatsächlich war es das Studium schöner nackter, im Gymnasium gestählter Jugend, das die griechischen Künstler darauf vorbereitete, schöne Kunst zu schaffen. Für Goethe und seine Generation aufgeklärter, antiklerikaler Leser hatten Winckelmanns Gleichgültigkeit gegenüber dem Christentum auf der einen und seine ehrerbietigen Darstellungen griechischer religiöser Praktiken auf der anderen Seite etwas besonders Anziehendes. >Heiden-tuni< stellte ihren auserlesensten Wert dar: die Selbstbezogenheit, die Wunder des Hier und Jetzt, das Universum als Kunstwerk, die enge Beziehung zwischen Natur und Geist und das Bedürfnis nach erkennbarer, vernünftiger Gottheit. Bedauerlicherweise war diese Welt heidnischer Harmonie, in der das Ästhetische und das Religiöse, das Natürliche und das Ideale miteinander verbunden waren, allmählich zerbrochen, und es schien nicht, dass sie wiederkehren würde. Nach Winckelmann sollten zahlreiche deutsche Schriftsteller, vor allem Friedrich Schiller und auf andere Weise auch G. W F. Hegel, diesen tragischen Tod griechischen Heidentums nachspielen, das Verschwinden dieser ästhetischen Urein-heit, die durch weitaus weniger befriedigende sinnliche Glaubenssysteme ersetzt wurde. Freundschaft: In seinen Briefen aus Rom stellte sich Winckelmann als ein Mann dar, der aus einer germanischen Hölle in einen sonnendurchfluteten südlichen Himmel gelangt war. Obwohl von Roms köstlicher Schönheit umgeben, schienen dem Gelehrten doch ständig Seelenverwandte zu fehlen. In seinen Briefen an Freunde beklagt er ihre Abwesenheit und bittet sie, zu kommen und in Rom zu bleiben; nicht nur um die Antike zu studieren, sondern um diese besondere männliche Beziehung Wirklichkeit werden zu lassen, die Winckelmann nach Homers Ilias und Piatons Phaidros als so veredelnd empfand. Winckelmanns Freundschaftsideal ist eine Mischung aus dem klassischen homoerotischen Ideal, dem humanistischen Renaissanceideal einer >Gelehrtenre-publik<, in der gleichgesinnte Gelehrte aller Ränge und Religionen einander an ihrem Wissen teilhaben lassen, und einer sich herausbildenden antiaristokratischen Vorstellung von >Freundschaft< als einer unabhängig von Hierarchien existierenden Beziehung, die auf der Verwandtschaft von Seelen aufbaute. Solche Freundschaft konnte es nur zwischen Männern geben, denn nur sie konnten eine vollkommen selbstlose, unvoreingenommene Liebe pflegen. In seinem Beharren auf gleichgeschlechtlicher männlicher Freundschaft unterscheidet sich Winckelmann von Rousseau. Wie jener jedoch wandte sich Winckelmann an sein Publikum in einer Sprache, die von der menschliche Seelen in neuer Weise und ausdrucksvoll sprach und in der sich ein Sehnen nach Freiheit und gleichermaßen nach Gemeinschaft äußerte. Schönheit: Schönheit ist wahrscheinlich das wichtigste Schlüsselwort, um Winckelmann und sein Werk zu verstehen. Er schätzte Schönheit an seinen Freunden und in seiner Umgebung über alles, und seine Studien der Antike sollten vor allem zur Entstehung einer neuen (germanischen) Form künstlerischer Schönheit beitragen. Für Winckelmann bedeutete Schönheit die vollkommene Einheit von Natur und Ideal, die durch die idealisierte menschliche Form erlangt wird. Hier zeigte Winckelmann am deutlichsten seine Verbindung zur Tradition des Humanismus, in dem die Verbesserung und die Feier des Menschen - nicht 488 8. Juni 1768 | Grieche werden 8. Juni 1768 j Grieche werden 489 Gottes - im Mittelpunkt menschlichen Strebens stehen sollte. Durch dje vorrangige Schönheit des griechischen männlichen Aktes verwandelte Winckelmann den Humanismus in eine ästhetische Theorie, die die deutsche Diskussion über das Schöne für alle Zeiten formen sollte. Für Winckelmann waren die schönsten Kunstwerke die weißen, frei stehenden klassischen Skulpturen, mit denen die Griechen ihre Stadtstaaten geschmückt hatten. Sie zeigten, hob er hervor, »edle Einfalt und stille Größe«. Er sollte seine Vorliebe für reine, weiße Formen dem [9.Jahrhundert vererben, jener Ära, die spätere Kritiker die Gips-Antike nannten. Wenn Winckelmann glaubte, dass griechische Skulpturen zeitlose Schönheit repräsentierten, so war er sich doch als Gelehrter sehr wohl über die historischen Veränderungen künstlerischer Ideale und Praktiken im Klaren. Seine Geschichte der Kunst des Alterthums beginnt mit den Ägyptern und endet mit den Römern, wobei er die griechische Kunst auch in die Perioden von Jugend, Reife und Verfall unterteilt. Nach seiner Auffassung formten politische Institutionen die künstlerische Produktion - die Freiheiten, die der griechische Stadtstaat gewährte, machten die Produktion künstlerischer Schönheit möglich. Gestützt auf Montesquieus Diskussion über den Einfluss des Klimas auf politische Formen und im Anschluss an zeitgenössische französische Werke über Naturgeschichte behauptete Winckelmann, dass das Klima und auch die Physiognomie künstlerische Formen gestalte: Der Eskimo, der in einer extrem kalten Umgebung lebe und der, so Winckelmann, ein besonders schlecht proportioniertes Gesicht habe, fertige Kunst auf eigentümliche und nicht sehr schöne Weise. Die hier auftretenden Widersprüche zwischen einem geschichtlichen Verständnis künstlerischer Praktiken und einer statischen Konzeption des griechischen Schönheitsideals, zwischen einer gerade aufkeimenden Sozialgeschichte der Kunst und einer Theorie der Rasse als bestimmendem Grundzug waren weder für Winckelmann noch für seine Anhänger offensichtlich - obwohl zahlreiche gelehrte Altertumsforscher sogleich anmerkten, dass Winckelmanns Chronologie griechischer Formen nicht wirklich mit der Geschichte der griechischen politischen Entwicklung übereinstimmte. Seine Theorien der politischen und klimatischen Bedingungen gefielen Herder, Hegel und Burckhardt, und frühe Archäologen griffen seine Formengeschichte auf, eine Arbeitsteilung, die Winckelmanns Erbe in den nachfolgenden Jahren zwar diffuser, aber gleichzeitig auch stärker machte. Schließlich müssen wir einen Ausdruck wachrufen, den Goethe in seinem Katalog der beeindruckenden winckelmannschen Attribute nicht auflistet: Deutschtum. Winckelmann war besessen von der Idee einer deutschen Kulturrepublik, in der Männer wie er und nicht nur traditionsorientierte Skribenten oder oberflächliche Frankophile die Zukunft gestalten würden. Natürlich gewann die deutsche Kultur zu Lebzeiten Winckelmanns gerade erst Anerkennung. Auf Deutsch schrei- bend, in Italien lebend - Winckelmann war ideal geeignet, einen Patriotismus zu artikulieren, der sich besonders an die verstimmte gebildete Elite wandte, die versessen darauf war, ihr Milieu von aristokratischem französischen Dünkel zu befreien und Einrichtungen einer weltlichen Kultur zu schaffen. In einem Brief aus dem Jahr 1760 nennt Winckelmann Preußen »ce paus despotique et de l'esclavage« und attackierte es wegen seiner Unterdrückung der Kunst und der Wissenschaft. Er schlug zwei Heilmittel gegen Deutschlands kulturelle Rückständigkeit vor: die Aufklärung der Fürsten und, weitaus wichtiger, die Nachahmung der Griechen in ihrer republikanischen Einfachheit, naiven Sensibilität und ästhetischen Noblesse, als vollkommenes Gegengewicht zu der barocken, französisch beeinflussten herrschaftlichen Macht. Schenkten die Fürsten dem Ganzen auch geringe Aufmerksamkeit, so waren es doch die Bürokraten, die, besonders nach Wilhelm von Humboldts kurzer, aber wichtiger Amtszeit als preußischer Kultusminister in den Jahren 1809/10, begannen, winckelmannsches Ideengut in die kulturellen Institutionen der deutschen Staaten einzuführen. Diese Paarung von Griechenland und Deutschland hat eine lange und komplizierte Geschichte, aber unzweifelhaft liegen ihre Ursprünge in Winckelmanns Sehnsucht nach einer Reform der deutschen Kultur und der Schaffung eines wirklichen deutschen Staates. In Rom repräsentierte Winckelmann eine aufkeimende Kulturnation, mit der man in Zukunft zu rechnen hatte. Seine Entscheidung zur Umkehr, nachdem er 1768 in Wien angelangt war, zeigte jedoch, dass er die harmonische Verbindung zwischen dem modernen deutschen und dem alten mediterranen »Geist«, den er so leidenschaftlich herbeiwünschte, weder praktisch noch psychisch erreicht hatte. Sein Werdegang zeigt mit großer Klarheit, wie die intellektuelle Elite des 18. Jahrhunderts seine Außenseiterstellung, seine Jugend und sein Zuspätkommen bewertete. Darüber hinaus gab sein Tod diesem Zuspätkommen ein Moment des Tragischen, denn Winckelmann starb nicht beim Versuch, Deutschland zu erreichen, sondern nach Rom zurückzukehren. Vielen schien Winckelmanns Leben exemplarisch zu zeigen, dass den Deutschen die klassische Welt in gewisser Weise für immer fremd bleiben würde. Vielleicht mochten sie »Griechenland mit der Seele suchen«, wie Hölderlin es ausdrücken sollte, aber sie fühlten sich dort nie richtig heimisch. Im zweiten Teil von Goethes Faust verführt der Protagonist Helena, aber sie weigert sich, bei ihm zu bleiben, und er bleibt nur mit ihrem Schleier in der Hand zurück. In Thomas Manns »Tod in Venedig« erliegt ein alternder deutscher Künstler der verbotenen Leidenschaft für einen Jungen, dessen Schönheit direkt aus Winckelmanns Beschreibung griechischer Skulpturen stammt. In beiden Fällen verzehrt sich der deutsche Geist danach, seine Isolation zu überwinden, indem er sich mit der sinnlichen Schönheit des klassischen Mittelmeers vereint, und in beiden Fällen schlägt der versuch fehl. In seinem Versuch, dem eine Form zu geben, und durch 49° 2- Juli 177S I Wielands kosmopolitischer Klassizismus 2-Juli 1773 I Wielands kosmopolitischer Klassizismus 49] die Erhebung dieses Fehlschlags zu einem literarischen und kulturellen Tropus drückte Johann Joachim Winckelmann der deutschen Kulturgeschichte sein Siegel auf. SUZANNE L. MARCHAND : Siehe auch 1789, 1808, Winter 1828, 1831, i860, Juni 1912 Bibliographie: Johann Joachim Winckelmann. Geschichte der Kunst des Altertums, Darmstadt 1993. - Ders., Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, hg. von Ludwig Uhhg, Stuttgart 199;. - Johann Wolfgang Goethe, »Winckelmann und sein Jahrhundert«, in: ders., Gedenkausgabe der Werke, Bride und Gespräche, hg. von Ernst Beut-ler, Bd. 13, Zürich 1954, S. 407-4JO. - Ders., Skizze zu einer Schilderung Winckelmanns, hg. vpkj Jochen Golz, Frankfurt am Main 1994. - Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, Bd. 1, Basel 194J. - Henry Hatfield, Winckelmann and his German Critics, 1755—1781, New York 1943. - Martin Disselkamp, Die Stadt der Gelehrten. Studien m Johann Joachim Winckelmanns Briefen aus Rom, Tübingen 1993. - Alex Potts, Flesh and the Ideal: Winckelmann and the Origins of Art History, New Haven 1994. - Suzanne L. Marchand, Down from Olympus: Archaeology and Philhellenism in Germany, 1780-1970, Princeton 1996. 2. Juli 1773 [ Studenten der Universität Göttingen vetbrennen die Werke Christoph Martin Wiekinds, den sie als »sittenlosen« Dichter anprangern Wielands kosmopolitischer Klassizismus ! Christoph Martin Wielands (1733-1813) Hauptbeitrag zur deutschen Literatur ist eine neue Art von Weitläufigkeit, verbunden mit literarischer Bildung. Er war in gleicher Weise in der klassischen griechischen und römischen Literatur zu Hause wie in den zeitgenössischen italienischen, spanischen, französischen und englischen Werken. Seine Shakespeareübersetzungen sowie seine erlesenen Verserzählungen, Romane und Essays wurden zum Vorbild für die nachfolgende Generation von Schriftstellern. Im Rückblick erstaunt es, dass dieser weltgewandte deutsche Vertreter der europäischen literarischen und kulturellen Traditionen von den jungen Schriftstellern des Sturm und Drang und der frühen Romantik so heftig angegriffen wurde, sahen sich diese doch durchaus als Angehörige einer Generation von sogenannten »Progressiven«. Heinrich Wilhelm von Gerstenberg formulierte das weitverbreitete Urteil dieser Generation: »Wen wollte Wieland nicht alles verkörpern? Bald Shaftes-bury, bald Milton, dannYoung, Rowe, Richardson: jetzt Crebillion, dann Hamilton, zu anderen Zeiten Fielding, Cervantes, Helvetius, Yorik, und daneben sogar noch ein wenig Rousseau, Montaigne und Voltaire.« Obwohl dies als Abqualifizierung gemeint war, zeigt Gerstenbergs Kommentar, dass Wieland über eine ungewöhnliche Kenntnis der literarischen Traditionen verfügte. Goethe, der dies begriffen hatte, stellt in seiner »Brüderlichen Erinnerung an Wieland« fest, dass seine überreichen Begabungen denen seines »Zwillingsbruders« Shaftesbury äh- nelten, aber sie bei weitem übertrafen, »da das, was der Engländer im Grundsätzlichen lehrt und anstrebt, vom Deutschen auf dichterische und rhetorische Weise in Vers und Prosa erreicht wird.« Diese Leistung war zu nicht geringen Teilen auf Wielands Beherrschung des französischen Stils zurückzuführen, dieser wohlbekannten Kombination aus »Heiterkeit, Witz, Geist und Eleganz«. In seinen »Briefen an einen jungen Dichter« (1782) forderte Wieland ausdrücklich eine Synthese der antiken, französischen und englischen Stilrichtungen. Er ermunterte die zeitgenössische Literatur, sie solle, wie Goethe in seiner Iphigenie, »die Übereinstimmung mit der Natur, die auch die Seele der Shakespeareschen Dichtung ausmacht, verbinden mit der Einfachheit der Griechen und der Kunstfertigkeit und dem Geschmack, welche die Franzosen für sich in Anspruch nehmen können.« Wie Goethe betont, stand Wieland »im Widerspruch zu allem, was man gemeinhin als >Philistertum< bezeichnet - unbewegliche Pedanterie, enge Provinzialität, kleinkarierte Manieren und Moralvorstellungen, mangelnde Urteilsfähigkeit, ungerechtfertigte Prüderie, platte Behaglichkeit, aufgeblasener Stolz und was sonst noch zu dieser Schar von Monstrositäten gehört.« Wieland wurde als poeta doctus gebrandmarkt, als Kosmopolit, als Vertreter der Aufklärung und des Rokoko, dieser Kultur der schönen Form und der Grazie. Man warf ihm vor, zu kunstverliebt, zu geistreich, zu sinnlich, zu eudämonistisch und zu undeutsch zu sein. Diese Angriffe, die sich gegen den einflussreichen Herausgeber des TeulsrJim Merkur richteten, hatten eine bleibende Wirkung. Wielands Zeitschrift, die sich ironischerweise »die Fabrik« nannte, enthält klare und ziemlich unverblümte Essays gegen den übejtriehe.ne.n deutschen Nafionalisrnii«:, der sich seit Klopstock und der Sturm- und Drangzeit verbreitet hatte. Diese Essays, die der indirekten Ironie seiner Romane entbehren, sezieren die chauvinistischen Schlagwörter und gießen ihren Hohn über »dieses Umherwandern in den Wäldern der alten Germanen, diese Bardengesänge auf einen deutschen Nationalcharakter, der längst aufgehört hat, der unsere zu sein.« Im Gegensatz zu einer »Nationaldichtung« propagierte Wieland die Idee einer »Weltliteratur«, im Gegensatz zum Chauvinismus das aufklärerische Ideal eines liberalen Kosmopolitismus. Wielands Essays, Romane und Verserzählungen beinhalten ein Bildungsideal - daher seine ironische Gelassenheit, seine apollinische Distanz, sein Programm des »ridendo dicere verum« (lachend die Wahrheit sagen). »Wir leben«, schrieb Wieland, »inmitten eines Meeres von Erscheinungen, Ideen und Vorstellungen; wir werden auf unzählige Weisen von ihnen getäuscht, aber unser Ziel ist es, so wenig wie möglich getäuscht zu werden« (Teutscher Merkur, Januar 1788). Alles ist eine Frage der Sichtweise. »Der wahre Seher«, schreibt er in Schach Lolo, »ist derjenige, der die Dinge unter dem richtigen Gesichtspunkt sieht.« Wie Lawrence Sterne glaubte er, dass das Verhalten der Menschen weniger durch Fakten als durch Meinungen bestimmt wird. »Tatsachen sind das, 92 I.Juli 1773 I Wielands kosmopolitischer Klassizismus was wir aus ihnen machen«, sagt der Held aus Die Geschichte des weisen Do-nischmcnd (i7jc). »Aus einem neuen Gesichtswinkel betrachtet, erscheint immer ein anderer Aspekt, und die angebliche Tatsache, auf die man so zuversichtlich seine Meinung gegründet hatte, erweist sich in neun von zehn Fällen lediglich als eine Hypothese.« Wieland relativiert Ideologie und Schlagwörter durch einen spielerischen Umgang mit Meinungen, die Meinungen ihrerseits durch Ironie, und die Ironie durch »innere Anmut«. Goethe drückt es in seiner Erinnerung treffend so aus: »Dieser geniale Mann liebte es, mit seinen Meinungen zu spielen, aber - und darin werden mir seine Zeitgenossen beipflichten - niemals mit seinen Uberzeugungen.« »Die Wahrheit«, schrieb Wieland in einem Artikel des Teutschen Merkur aus dem Jahre 1788, »ist weder hier noch dort; sie ist überall. Niemand enthüllt sie vollständig; jeder sieht nur ein Stück von ihr, einen Zipfel ihres Rocksaums, aus einem unterschiedlichen Blickwinkel, in einem unterschiedlichen Licht.« Er glaubte an den Wert der Mitteilsamkeit, des Austauschs von Meinungen, der Toleranz und der Experimentierfreudigkeit. Das bedeutete keinen programmatischen Relativismus, aber eine Kritik an jeder rigiden ideologischen Einseitigkeit, die Wielands natürlicher Neigung zum~Dä^nsgl:nüssund seiner Menschenliebe durchaus zuwider war. Lange vor Nietzsche registrierte dieser skeptische Idealist den Zusammenbruch der Wertesysteme und die Entstehung eines politischen und kulturellen Vakuums, und er tat alles, was in seiner Macht stand, um die Abdankung der Kultur zu verhindern und einem »wachsenden Barbarentum« entgegenzutreten. Er gestand sich jedoch ein, dass er »am Ende nur leeres Stroh drosch, Wasser mit einem Sieb schöpfte und in den Sand schrieb«. Trotz seines Skeptizismus - und er misstraute sogar den humanistischen Idealen seiner Zeit — ließ er nicht ab, »lachend die Wahrheit zu sagen« und an die Vernunft seiner Mitmenschen zu appellieren. Die sokratische Ironie, die er mit Lichtenberg, Jean Paul, Heinrich Heine, Thomas Mann und in gewisser Weise auch mit Robert Musil teilt, ist ein entscheidendes Kennzeichen seiner Romane und auch seiner Verserzählungen. Um eine Lebenskunst zu entwickeln, die von aristokratischen Traditionen beeinflusst war - »die völlige Harmonie aller Fähigkeiten«, die Versöhnung von Egoismus und Altruismus, von Sinnlichkeit und Geistigkeit -, nahm Wieland Grundsätze der klassischen Griechen und Römer wieder auf. Schon im Jahre 1767 entwickelt er in seiner Verserzählung Mtt-surion das Konzept, das für die deutsche Klassik verbindlich werden sollte: »was die Natur entwirft, wird von der Kunst vollführt.« Seine wahre Bestimmung erreicht man nur durch die Kunst. In den Grazien (1769) rückt er den seinerzeit verbreiteten ästhetischen Begriff des Erhabenen zurecht: »Denn ohne die Grazien und die Amoretten, die sie begleiten, könnten selbst die Musen die Schönheit nicht zur Vollendung führen.« Und in den Beiträgen zur geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens (177°) z. Juli 1773 I Wielands kosmopolitischer Klassizismus 493 nimmt er Friedrich Schillers Programm der ästhetischen Erziehung vorweg: »In dem Augenblick, da er aus der Hand des Schöpfers hervorgeht, ist der Mensch nicht viel mehr als eine Potenzialität. Er muss sich selbst entwickeln, sich selbst erziehen, muss das zur Vollendung bringen, was an Glanz und Anmut über ihn ausgegossen worden ist - mit einem Wort, er muss in gewisser Weise sein eigener zweiter Schöpfer sein.« Es ist daher kein Zufall, dass Wieland mit der Geschichte des Agathon (1^66/67) einen philosophischen Bildungsroman schuf, der zum Vorbild für diese Gattung von Goethes Wilhelm Meister bis zu Adalbert Stifters Nachsommer wurde. Wieland führt seinen Helden durch die Wechselfälle des Lebens, wobei er deren ideologische Spannungen betont. Die Art und Weise, in der Agathon seine Naturanlagen entwickelt, wird sehr geschickt durch Begegnungen mit Gestalten aus der Antike geschildert. Obwohl Wieland seine Erzähltechnik zum großen Teil den englischen Schriftstellern verdankt, vor allem Fielding, verraten seine psychologische Eleganz und seine Art, eine erotische Atmosphäre zu schaffen, den Einfluss französischer Vorbilder. Wie Gerstenberg zutreffend bemerkte, ist Wieland nicht nur der deutsche Shaftesbury, sondern auch der deutsche Crébillion. Trotz dieser Entlehnungen begründet Wieland mit seinem Roman Ajathon und der fast gleichzeitigen Verserzählung Musarion eine neue Gattung. Lessing beschreibt Musarion im 69. Beitrag seiner Hamburgischen Dramaturgie als »unzweifelhaft eines der bedeutendsten Werke unseres Jahrhunderts, aber im Hinblick auf das deutsche Lesepublikum viel zu früh erschienen.« Wobei er neidlos hinzufügt: »Es ist der erste und einzige Roman für,den_denkeiidm.Kopf, dessen Geschmack an der klassischen Antike geschult ist.« Wie Wielands Biograph Friedrich Sengle bemerkt, kann nicht hinreichend genug betont werden, dass Wielands Bedeutung für die epische Form derjenigen Lessings für die Geschichte des Dramas und derjenigen Klopstocks für die Entwicklung der lyrischen Dichtung entspricht. Wielands Musarion entwickelt mit Witz und Sinnlichkeit das Wesentliche seiner Philosophie der ästhetischen Erziehung, »der Philosophie der Grazien«. In Form und Inhalt verbindet Musarion die frivole Leichtigkeit der Comischen Erzählungen mit den geistreichen philosophischen Erörterungen des Agathon. Goethe bemerkte in Dichtung undWahrheit, als er dieses vollendete Sprachkunstwerk in seiner Leipziger Studentenzeit gelesen habe, sei es ihm vorgekommen, »als ob er das Antike lebendig und neu gesehen habe«. In einer Widmung für den damals berühmten Dichter, Dramatiker und Verfasser der Singspiele Christian Felix Weisse (1726-1804) erklärt Wieland, dass er in Musarion »eine getreue Abbildung der Gestalt seines Geistes« habe geben wollen. »Musarions Philosophie«, bekennt er mit Blick auf seine bezaubernde Heldin, »ist diejenige, nach welcher ich lebe; ihre Denkart, ihre Grundsätze, ihr Geschmack, ihre Laune sind die meinigen.« In der Tat ist das Werk eine Art Lehrgedicht, in dem ko- 494 z- Juli 177J I Wielands kosmopolitischer Klassizismus 2. Juli 1775 I Wielands kosmopolitischer Klassizismus 49c mische und epische Elemente verwendet werden, um die Weltsicht des Verfassers darzustellen. Mit erotischer, sinnlicher, witziger und phantasievoller Raffinesse führt Musarion ihren enttäuschten Liebhaber Pha-nias auf einen philosophischen Mittelweg und weg von den extremen ideologischen Positionen, die ihn in ihren Bann gezogen hatten. Dieser Mittelweg wird in einer neuartigen Form dargeboten, die aus den überlieferten Modellen des europäischen Rokoko und der Aufklärung hervorgegangen ist. Musarion ist wie eine dreiaktige Komödie aufgebaut. Das erste Buch liefert eine ironische Skizze des enttäuschten Liebhabers, Phanias, dessen verändertes Aussehen seine unlängst erfolgte Bekehrung zur Philosophie widerspiegelt. Früher stets nach der neuesten Mode ausstaffiert, erscheint er nun im Gewand eines Zynikers, schäbig gekleidet, mit langem Bart und ungekämmtem Haar. Er hat sich vom Athener Stadtleben abgewandt und ist zum asketischen Misanthropen mutiert, der um eines tugendhaften Lebens willen auf sinnliche Freuden verzichtet. Mit einem Zwinkern in Richtung Leser gibt der Autor zu verstehen, dass Phanias' sogenannte »neue Denkweise« ihm bisher nur »Kummer« und »Schwierigkeiten« beschert habe. Außerdem will nun Amor seine neuen Überzeugungen auf die Probe stellen. Wieland zeichnet Musarion - die eponyme Heldin, in der Musen und Grazien eine Verbindung eingehen - mit einer Aura erotischer und geistiger Anziehungskraft, die für seine Zeit völlig neuartig ist. Es überrascht nicht, dass Phanias, dieser asketischeTügendapostel, sofort versucht, ihr zu entfliehen. Aber Musarion gelingt es mit Leichtigkeit, seinen Widerstand zu überwinden. In einer Lektion über Benehmen, in dem sie seine völlige Hingabe an träumerische Utopien kritisiert, enthüllt sie ihre überlegene geistige Feinheit und verbale Geschicklichkeit. Wie Minna von Barnhelm in Lessings gleichnamigem Lustspiel kritisiert Musarion nicht nur das Benehmen und die Überzeugungen des männlichen Helden, sondern sie wirbt gleichzeitig um ihn, wobei sie nicht nur ihren Ruf aufs Spiel setzt, sondern auch riskiert, dass er ihr Gewalt antut. Die entzückende Frau erklärt, dass sie die Nacht in Phanias' bescheidenem Landhaus verbringen möchte. Phanias gerät durch diesen Vorschlag in Verlegenheit, denn er hat schon zwei Übernachtungsgäste, den Stoiker Kleanth und den PythagoräerTheophron, aber Musarion tut seine Einwände leichthin ab. Der Erzähler berichtet nicht ohne einen Hauch von Schadenfreude, »Der ausgetriebne Amor kroch / So leise wie auf Blumenspitzen / Aus ihren Augen in sein Herz« (598-600). Während im ersten Buch Phanias' Gemütszustand als Folge verschmähter Liebe erklärt wird, entlarvt Musarion im zweiten Buch die strengen Philosophien seiner Freunde als lächerliche Illusionen und leeres Geschwätz. Bei ihrer ersten Begegnung mit Musarion werden die beiden Philosophen zu grotesken Figuren. Anstatt auf ihre wechselseitigen Argumente einzugehen, »geraten sie sich in die Haare« (64c) und werfen sich gegenseitig im Ringkampf zu Boden. Musarion zögert nicht, mit einem Lächeln zu erklären, dass der Ringkampf der beiden wohl eine körperliche Übung zur Stärkung des Geistes sei. In ihrer Diskussion mit den Philosophen tritt Musarions Überlegenheit deutlich zutage, und Phanias schämt sich seiner Freunde. Er sieht, wie Musarions »Witz, ihre freigeistige Fröhlichkeit« und ihre Anmut die Hohlheit von deren schwärmerischem Idealismus bloßstellen. Sie leitet das »leichte philosophische Mahl in ein kleines Bacchanal über« (997-999), das schaell die Kartenhäuser der beiden Philosophen zum Einsturz bringt. Ihr kritischer Idealismus widerlegt nicht nur deren Theorien, sondern bringt sie auch von ihren »überirdischen Reisen« (943) auf den Boden der Tatsachen zurück. Während Kleanth sich nach der dritten Flasche dem Weingott weiht, erliegt Theophron den Reizen der leichtlebigen Sklavin Chloe, die von Musarion einzig zum Zwecke einer solchen lehrreichen Vorführung herbestellt worden ist. Im dritten Buch, das den Höhepunkt der Verserzählung bildet, führt Musarion Phanias in ihre Philosophie der Grazien ein, die, »was Natur und Schicksal uns gewährt, / vergnügt genießt und gern den Rest entbehrt« (1409-1411). Der pädagogische Diskurs ist gleichzeitig ein Diskurs über die Liebe, in der Phanias für das romantische Ideal der Liebe als Ausschließlichkeit plädiert, während Musarion jede Art von extremer Begeisterung und Leidenschaft ablehnt. Ihr Prinzip, erklärt sie, sei »heitre, sanfte Freude« - Grazie, nicht Leidenschaft. Sie erläutert ihre Liebe zu Phanias mit folgendem Vergleich: »Wie ich die Grazien, wie ich die Musen liebe, / so lieb' ich dich« (1140 f.). Für Wieland ist die Horazische «Urea mediocritas der entscheidende Maßstab, nicht nur in der Moralphilosophie, sondern auch in Liebesdingen. Deutsche literarische Texte des 18. Jahrhunderts weisen in der Regel eine Strategie zur Vermeidung von sinnlichen oder eudämonistischen Konzepten und Perspektiven auf; die Liebe wird mit der Vernunft verbunden, oder aber sie wird zu einer Seelenfreundschaft oder einem Erziehungskonzept sublimiert. Indem er die modernen französischen und die antiken Ausdrucksformen der Liebe miteinander verband, hob Wieland den Gegensatz zwischen rational-idealistischen Vorstellungen und sexueller Liebe (amor concupiscentiae) auf. Die deutsche Literatur mag die französischen Liebesmodelle als aristokratische verurteilt haben; Wieland jedoch versuchte - niemals ohne auf entschiedenen Widerstand zu stoßen -, die Sexualität zu einem alKer^aHen^Bestandteil der bürgerlichen Moral zu macheriTDie Schwierigkeit, einen sozialen Code zu revidieren, der die physische Liebe spiritualisierte und idealisierte, zeigte sich in Goethes Werther, Schillers Kabale und Liebe und später in den Romanen und Novellen der Romantiker. Es ist nicht überraschend, dass der Autor des Musarion, der Comischen Erzählungen, von Idris und Zenide (1768) und Agathon vom Hainbund, einer Göttinger Studentengruppe, als »Dichter der Sit-tenlosigkeit« angeprangert und seine Bücher den Flammen übergeben wurden. 49k Januar-März 1774 | Pathologien der Literatur Januar-März 1774 | Pathologien der Literatur 497 Wie Musarions Philosophie der Grazien zeigt, war Wieland an »einem Gleichgewicht zwischen Enthusiasmus und Kaltsinnigkeit« gelegen (Brief an Weisse, ij. März 1769). Er verstand die sokratische Ironie als ein Heilmittel gegen jede Form von Extremismus und drängte auf verständnisvolle Nachsicht gegenüber allen Unvollkommenheiten der menschlichen Natur. Es ist bedauerlich, dass dieser skeptische und kritische Realist, der die Welt für kein Elysium, für keine Hölle hielt (Mu-sarion, 1424) und für Mäßigung in Ideologie, Kunst und Politik plädierte, niemals größere Popularität erlangt hat. Im Rückblick wird man sagen können, dass er ebenso wie Goethe, sein jüngerer und berühmterer Freund, ein »undeutscher Klassiker« geblieben ist. Tatsächlich gehörten beide dem »Orden der Kosmopoliten« an. In einem Aufsatz, den er im August 1788 im Teutschen Merkur veröffentlichte, schrieb Wieland: »Kosmopoliten führen ihren Titel (Weltbürger) in einer ganz besonderen und hervorragenden Weise. Sie begreifen alle Völker auf Erden als Zweige einer einzigen Familie und das Universum als einen Staat, dessen Bürger sie sind und in dem sie mit unzähligen anderen Vernunftwesen das Ziel der Vervollkommnung innerhalb der allgemeinen Naturgesetze teilen, wobei jeder Einzelne auf seine besondere Art und Weise für sein eigenes Wohlergehen verantwortlich ist.« Diese humanistische Vision, die selbst heute noch im Bereich der Utopie verbleibt, bildet den Kern von Wielands ästhetischem und politischem Programm. WALTER HINDERER : Siehe auch 17C9, 1767. 1786, 1792 (26. August) Bibliographie: Christoph Martin Wieland. Werke in zwölf Bünden, hg. von Klaus Manger, Frankfurt am Main 1986 ff. *** Januar bis März 1774 | In einem rauschhaften Schaffensprozess schreibt Goethe binnen sechs Wochen Die Leiden des jungen Werther und begründet damit seinen literarischen Ruhm Pathologien der Literatur In Mary Shelleys schaurig-romantischem Horrorroman Frankenstein (1818) ist eines der insgesamt drei Bücher, die das Monstrum in seiner armseligen Behausung hat, die französische Übersetzung der Leiden des jungen Werther (1774). Shelleys Ungeheuer sieht in Goethes dichtem Briefroman ein literarisches Abbild seiner eigenen Situation. Die anrührende Beschreibung der »feinen und häuslichen Sitten« entspricht dem Familienidyll, das ihm heimlich vorschwebt, die »erhabenen Gefühle« des Romans spiegeln seine unstillbare Sehnsucht, und Werthers Selbstmord, der ihm Tränen entlockt, nimmt das traurige Ende der eigenen Geschich- te vorweg (Frankenstein, S. 124). Mit seiner Bewunderung für den Helden und dem tränenreichen Mitgefühl für ihn in seinem Leiden reiht sich das Scheusal ein in eine unüberschaubare Lesergemeinde, die vor ihm dieselben Gefühle hatte. Goethes Roman gelangte in den ersten Jahrzehnten nach seiner Veröffentlichung zu dem Ruhm, als der unumstritten makelloseste literarische Ausdruck empfindsamen Gefühls zu gelten. Indem Mary Shelley das Buch einem Monster in die Hände - und ins Herz - legt, untergräbt sie dieses weit verbreitete Lob und enthüllt die gewalttätige Unterströmung des empfindsamen 18.Jahrhunderts. Ihre Diagnose, sentimentale Liebe sei ein pathologischer Zustand, bezieht sich auch auf die Ursprünge des Werkes, das über vierzig Jahre vor ihrem erschien. Goethes Werther ist selbst nichts anderes als eine Studie über diese qualvolle Ambivalenz, das Nachzeichnen einer Vorstellung und einer Begierde, die zwischen idyllischer Harmonie und ungeheurer Aggression hin und her schwanken. Als Goethes bekanntestes Werk erlebte der Werther mehr als fünfzig Auflagen und wurde bereits zu Lebzeiten des Dichters in viele Sprachen übersetzt. Doch von Anfang an hat der Roman seine Leser polarisiert. Während anerkannte rational denkende Schriftsteller, wie etwa der scharfsinnige Berliner Buchhändler Friedrich Nicolai, den Gefühlsüberschwang des Werkes pubertär und sein völlig fehlendes moralisches Urteil unverantwortlich fanden, reagierte gerade die jüngere Generation überaus enthusiastisch. Das Paradox einer vorgespiegelten Authentizität - auch heute noch ein wesentlicher Zug der Jugendkultur - fand in der durch den Roman ausgelösten »Werther-Mode« eine seiner frühesten Ausdrucksformen. Die Unduldsamkeit des Helden gegenüber Anmaßung, Pedanterie und jeder Art von Rangordnung, seine Liebe zur Natur und seine überströmende Leidenschaft erstarrten zu einem affektiven Stil. Seine exzentrische Kleidung - blauer Gehrock und gelbe Weste — wurde zur oft kopierten Uniform. Diese Identifizierung mit dem Helden gipfelte sogar in einer Welle von Selbstmorden, die selbst 1813 noch in der öffentlichen Meinung so präsent war, dass sie einen Medizinprofessor aus Göttingen, Friedrich Benjamin Oslander, dazu veranlasste, den vergiftenden Einfluss des Werkes anzuprangern. Goethe empfand die Turbulenzen um sein Werk im Großen und Ganzen als ärgerlich. Auf seinen Italienreisen (1786-1788), die kulturhistorisch gesehen der wichtigste Aufenthalt dieser Art in der deutschen Geschichte waren, nahm er ein Pseudonym an, um sich gegen die allgegenwärtige, zudringliche Neugier auf den Autor des Romans zu schützen. Nur selten erlebte er eine solche Befriedigung wie bei seinem Treffen mit Napoleon am 2. Oktober 1808, als der Kaiser, der berichtete, den Roman siebenmal gelesen zu haben, seine dringenden kriegerischen und politischen Geschäfte unterbrach, um mit dem Dichter die Beweggründe des Helden zu erörtern. So war also sogar die »Verkörperung des Weltgeistes«, wie Hegel Napoleon zwei Jahre zuvor genannt hatte, dem Werther verfallen. 498 Januar-März [774 | Pathologien der Literatur Januar-März 1774 | Pathologien der Literatur 499 Die Handlung des Romans basiert auf zwei Episoden aus Goethes Leben. Als junger Rechtspraktikant am Reichskammergericht in Wetzlar wo er von Mai bis September 1772 tätig war, lernte Goethe die junge Charlotte Buff und ihren Verlobten und späteren Ehemann Johann Christian Kestner kennen. Seine unerwiderte Liebe zu der angehenden Braut wurde ihm zur Qual und bewog ihn dazu, in seine Geburtsstadt Frankfurt zurückzukehren. Doch dort entwickelte sich eine ähnliche Dreiecksbeziehung. Diesmal ging es um die seit kurzem verheiratete Maximiliane Brentano (die Tochter der Schriftstellerin Sophie La Roche und spätere Mutter der romantischen Dichter Clemens und Bettina Brentano). Anfang 1774 eskalierte die Frankfurter Dreierkonstellation, und Goethe war gezwungen, sich zurückzuziehen. Unmittelbar nach dieser peinlichen Episode begann Goethe mit dem Roman, den er in der erstaunlich kurzen Zeit von sechs Wochen vollendete. In seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit (1812/13) erinnert er sich, dass der Schaffensprozess - was sicherlich zutraf- ganz vom Unbewussten getrieben, »schlafwandlerisch« gewesen sei. Außer diesen beiden ähnlich gearteten Liebesabenteuern im eigenen Leben übte ein drittes Geschehen, dem in psychologischer und ästhetischer Hinsicht größte Bedeutung zuzumessen ist, einen fast gespenstischen Einfluss auf diese rasende Kreativität aus. Am 2. November 1772 erhielt Goethe einen Brief von Kestner, der detailliert über die Umstände berichtete, die vier Tage zuvor zum Selbstmord des jungen Gesandtschaftssekretärs Karl Wilhelm Jerusalem geführt hatten, eines hochintelligenten, aber etwas richtungslosen Menschen mit literarischen Ambitionen, der hoffnungslos in eine verheiratete Frau verliebt war. Einige Einzelheiten aus diesem Brief, unter anderem die Tatsache, dass Jerusalem sich von Kestner die Pistole geliehen hatte, mit der er sich das Leben nahm, kehren im Roman wieder. In seinen autobiographischen Erinnerungen benutzt Goethe zwei gegensätzliche Metaphern, um die Wirkung von Jerusalems Selbstmord auf den Entstehungsprozess zu erläutern. Die Ähnlichkeit zwischen Jerusalems Lage und seiner eigenen habe ihn dazu getrieben, »dem Werk [...] jenes glühende Feuer einzuhauchen, das keine Unterscheidung zwischen dem Dichterischen und dem Realen erlaubt«. Und Jerusalems tragischer Tod habe in seinem Kopf mit einem Schlag den gesamten Aufbau des Romans auskristallisieren lassen, so wie »Wasser in einem Gefäß, das genau auf dem Gefrierpunkt steht, durch die kleinste Temperaturschwankung zu festem Eis wird« (Werther, S. 934—936). Ob historisch glaubwürdig oder nicht, gibt diese zweifache Charakterisierung doch die strukturelle Spannung des fertigen Werkes gut wieder. Goethes Roman ist ein »eisige>_Ee-uer<<, gleichzeitig Medium für empathisches Mitgefühl und kunstvolles Gebilde von unvergleichlicher kompositorischer Strenge. Gerade diese Verbindung von Leidenschaft und Sachlichkeit macht das Fehlen jeglicher moralischen Richtlinien des Romans, das seine vernunftorientierten Kritiker so sehr bemängelten, ebenso möglich wie auch notwendig. Goethes Werther unterscheidet sich deutlich vom Muster des empfindsamen Briefromans, der auf Samuel Richardsons Werke Pamela (174!) und Clarissa (1747/48) zurückgeht. Die umfangreiche Korrespondenz, die sonst bei dieser Form üblich ist, wird hier auf die Briefe und fragmentarischen Notizen des Helden eingeschränkt. Das Drama aus ineinander verflochtenen Motiven und wohldurchdachten Kunstgriffen, das sich im Briefroman oft über mehrere Bände hin entwickelt, wird ersetzt durch Werthers verzweifelte Aufmerksamkeit auf die momentanen Schwankungen in seinem Innern. Diese formale Neuerung hängt damit zusammen, dass Goethe sich von der ideologischen Absicht des empfindsamen Briefromans lossagte. Die Romane der Richardson, Geliert, Rousseau und La Roche waren auf dem Grundelement der »verfolgten Tugend« aufgebaut. In der Erzählung ging es um die moralische Anfechtung, der sich die Heldin durch einen Lüstling ausgesetzt sah, dessen Ziel eine - wenn auch mit seelenvollen Beiklängen beschönigte - erfolgreiche Verführung war. Zur Lösung dieses Konflikts gehörte unweigerlich ein moralisch begründeter Verzicht, der gelegentlich durch den verklärten Tod der Heldin besiegelt wurde. Doch Werthers geliebte Lotte ist zwar durchaus tugendhaft, aber keine in die Enge getriebene Heldin, ihr Ehemann Albert besitzt keinen der väterlichen Züge seines Gegenstücks bei Rousseau, und Werther selbst ist alles andere als ein Libertin. Goethes Roman beschäftigt sich mit einem vollkommen anderen kulturellen Konflikt als seine Vorgänger. Das Problem >fügsame Tugend vs. erotische Anziehung< bestand so nicht mehr; draufgängerische Sexualität war erfolgreich gezähmt worden; eine Ehe auf der Basis gefühlsmäßiger Gleichgestimmtheit zweier Individuen hatte die Selbstaufopferung auf dem Altar der Tugend überholt. Goethes Umformung des Briefromans im Werther enthüllt, dass das neue Ideal, die auf die Familie hin ausgerichtete Liebe, unvorhergesehene psychologische Gefahren in sich birgt. In der Forschung zur Geschichte der Familie ist es inzwischen allgemein üblich, das Auftauchen des Phänomens Kindheit - als eine besondere Wahrnehmungswelt, eine Art von gefühlsmäßigem Kokon - auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zu datieren. Die plötzliche Verkleinerung der Familie auf ihren Kern, nämlich die Triade Vater-Mutter-Kind, der Aufstieg der Mutter zur Rolle der ersten Erzieherin, das neu entstandene Monopol der Mutter für die Pflege ganz allgemein, die daraus folgende gefühlsmäßig-erotische Aufladung der frühkindlichen Sozialisa-tion und, vom erzieherischen Standpunkt her gesehen, die pädagogische Aufwertung der Kindheit als Feld für Untersuchung und Manipulation, wie wir sie seit Rousseau kennen: Alle diese miteinander verknüpften historischen Entwicklungen trugen dazu bei, dass sich die dichterische Imagination neu orientierte, und zwar auf die tiefsten Urgründe der persönlichen Geschichte hin. Werther ist eines der frühesten und radikalsten ODO Januar-März 1774 | Pathologien der Literatur Januar-März 1774 | Pathologien der Literatur cot Beispiele für diese Tendenz. Nicht zufällig identifiziert sich Goethes Protagonist so beharrlich mit den Kindern und schaut sich das Ziel seiner Sehnsucht bei ihnen ab. Er liest Homer, als würde er einem »Wiegenlied« lauschen, und verwöhnt sein »Herz«, als wäre es ein »krankes Kind« (Werther, S. 7). Werthers Subjektivität ist durchtränkt von den emotionalen Kräften der durchlebten Kindheit, und seine besondere Pathologie rührt von den Konflikten her, die das Erwachsenwerden ungelöst und vergiftend in ihm hinterlassen hat. Goethes bemerkenswerte Leistung in Bezug auf den Werther liegt darin, dass er den Prototyp für eine schlüssig erzählte Geschichte geschaffen hat, die nicht mehr auf einer ausgeklügelten Handlung beruht (die Story des Romans ist dürftig, gerade nur ein Gerüst), sondern auf der Überzeugungskraft eines inneren Plans, dessen Wurzeln bis an die Schwelle der Kindheit zurückreichen. In einem seiner zahllosen Notizbücher bemerkt Goethes Zeitgenosse Georg Christoph Lichtenberg sardonisch: »Werther - ein Herz mit Hoden.« Die anatomische Deutlichkeit dieser Beobachtung dringt bis in die verborgensten Beweggründe von Werthers überschwenglichen Gefühlsausbrüchen vor. Die Bilder von einem Paradies auf Erden und von häuslicher Harmonie, die seine Briefe so verschwenderisch heraufbeschwören, sind sexuell motiviert. Aber Werthers Sehnsucht zielt nicht auf sexuelle Vereinigung ab. Sie ist kindlicher und unschuldiger, und dennoch zutiefst sexuell. Mehr als hundertdreißig Jahre, bevor Freud seine Entdeckung der kindlichen Sexualität in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905-) veröffentlichte, schuf Goethe im Werther einen Protagonisten, dessen Liebesleben unbewusst von Phantasien der oralen Phase geprägt ist. Aus diesem unerfüllbaren Wunschdenken entspringt Werthers nicht weniger unerfüllbare Leidenschaft für Lotte. Schon durch ihre familiäre Situation - sie wohnt bei ihrem verwitweten Vater und kümmert sich um die acht jüngeren Geschwister - ist sie prädestiniert für ihre Rolle als Urbild der Mutter. Als Werther sie zum ersten Mal sieht, steht sie inmitten der Kinder, die mit ausgestreckten Armen nach dem Brot greifen, das sie ihnen austeilt. Sein Blick ist gebannt von den »blaßroten Schleifen«, die auf Lottes Kleid »an Arm und Brust« aufgenäht sind (Werther, S. 15). Durch dieses Detail der Schleifen, die in einem fragmentarischen Entwurf des Romans sogar als »fleischfarben« bezeichnet werden, schimmert in Werthers Augen im häuslichen Idyll eine Ahnung von der nährenden Gabe der Mutterbrust durch. Im weiteren Verlauf der Geschichte peinigen die verschiedenen Phantasien, die durch Lotte hervorgerufen werden, Werther zunehmend mit dem Versprechen von höchster oraler Lust. Ein zahmer Kanarienvogel pickt ihr Krümel von den Lippen; als sie am Klavichord singt, scheint sie die Töne, die aus dem Instrument quellen, in sich einzusaugen. Diese Beispiele gipfeln in dem einzigen Übergriff, der im Roman vorkommt: dem Kuss, der Werthers Bruch mit Lotte herbeiführt und ihn, ekstatisch befriedigt, ins Grab bringt. In den Zeilen, die Werther unmittelbar vor seinem Selbstmord an Lotte schreibt, kehrt er zu dem Augenblick zurück, wo er sie zum ersten Mal sah: »Ach, wie ich mich an dich schloß! seit dem ersten Augenblicke dich nicht lassen konnte! - Diese Schleife soll mit mir begraben werden. An meinem Geburtstage schenktest du mir sie! Wie ich das alles verschlang!« (Werther, , S.86) Werthers Abneigung gegen die literarische Kultur seiner Zeit ist unerbittlich. Er entledigt sich aller Bücher seiner Bibliothek; wenn ein junger Mann nach der neuesten literarischen Mode Konversation macht, ist er für ihn nichts als eine Zitatensammlung, und für die neue Frau des Pastors, die beflissen den damals beliebten theologischen Debatten folgt, empfindet er nichts als Abscheu. Diese Haltung ist die Folge eines fundamentalen Wandels sowohl der Kulturvermittlung als auch des Kulturschaffens, der im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts unübersehbar | wurde. In nur zwei Jahrzehnten - in die auch die Publikation des Werther | fällt - hatte sich die Buchproduktion verdoppelt. 1780 erschienen fünftausend neue Titel, woran die Belletristik - vor allem Romane — den Hauptanteil hatte. In seinem berühmten Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« von 1783 schreibt Kant, die Verbreitung, Diskussion und Berichtigung aller veröffentlichten Meinungen sei ein Mittel zum geistigen und gesellschaftlichen Fortschritt. Andere waren da weniger zuversichtlich. Selbst der energische Anwalt aller Ideale der Aufklärung, Moses Mendelssohn, stellte kritisch fest, das Übergewicht der gedruckten Medien habe die ererbten Formen kultureller Autorität untergraben, die zwischenmenschlichen Beziehungen verwässert und tatsächlich eine Gesellschaft von »alphabetisierten Menschen« geschaffen. Das Verhistgefühl, das aus dieser Sinnentleerung der traditionellen Kultur entsteht, ist im Werther in der Episode um die neue Frau des Pastors wiedergegeben. Ihre Vernarrtheit in eine abstrakte Religion aus Büchern treibt sie dazu, zwei wunderbare Nussbäume vor dem Pfarrhaus fällen zu lassen. Für Werther symbolisiert diese Tat die unbarmherzige Vernichtung geistiger Kontinuität. Die Generation, die in den 1770er Jahren mit ihren Büchern auf den Markt drängte, versuchte das verdorrte kulturelle Umfeld durch eine Rückkehr zu der lebendigen Unmittelbarkeit vorliterarischer Ausdrucksformen neu zu beleben. In seinen kritischen Schriften stellt Goethes Mentor Johann Gottfried Herder polemisch das axiologische Dreigestirn des Sturm und Drang, nämlich Genie, Natur und Originalität, neben jene absterbende, kommerzialisierte Bildung, die auf Gutenbergs epochale Erfindung zurückgeht. Werthers literarische Vorlieben spiegeln die Empfindsamkeit dieser Generation, verraten aber auch, dass sie illusorisch ist. Die »Natur«, die Werther in seiner begrenzten persönlichen Weltsicht findet und auf die äußere Umgebung projiziert, ist ein Mischmasch aus angelesenen Einzelbeobachtungen. Zusammen mit Lotte erlebt er ein vorüberziehendes Gewitter wie eine Szene aus einer Ode Klopstocks; im Bild eines Mädchens, das aus einem Brunnen Wasser schöpft, scheinen C02 Januar-März 1774 | Pathologien der Literatur Januar-März 1774 | Pathologien der Literatur 503 ihm die patriarchalischen Bräuche aus dem Alten Testament verkörpert; als er ein einfaches Mahl im Freien anrichtet, steht ihm dabei die Welt Homers vor Augen. Und als er seine Übersetzungen des Ossion vorliest, entwickelt sich das Geschehen hin zu jenem tragischen Kuss, der sein Schicksal besiegelt. Aber selbst wo es keinen direkten Hinweis auf einen literarischen Text gibt, sindWerthers Briefe mit versteckten Anspielungen gespickt - zum Beispiel auf die Idyllen des Schweizer Dichters Salomon Gessner oder auf Rousseaus Julie. Werthers begieriges Lesen hat seine Psyche so gründlich durchdrungen, dass er, ein Don Quixote der Empfindsamkeit, nicht mehr zwischen Dichtung und Realität unterscheiden kann. Werthers »Krankheit zum Tode« entsteht durch eine Überfülle von Ersatzbildern, die ihn verzaubern und die Welt um ihn herum allmählich aushöhlen. Dieses Thema findet sich aber nicht nur bei Goethe. In der Zeit vom ersten Erscheinen des Werther bis etwa zum Ende des Jahrhunderts führten arrivierte Pädagogen einen regelrechten Feldzug gegen exzessives, unkontrolliertes Lesen. Lestsucht galt als Symptom von Zügello-sigkeit. Der vielleicht berühmteste Fall war allerdings ein fiktiver. Für den Titelhelden des Romans Anton Reiser von Karl Philipp Moritz (1785) nämlich hat das Verschlingen von Büchern, vor allem von Goethes Werther, die Wirkung einer Droge, weil es ihm für einen bestimmten Zeitraum die Flucht aus seinen erbärmlichen Lebensumständen erlaubt, aber starke Depressionen verursacht, sobald die Wirkung nachlässt. Und Werthers Prototyp Jerusalem, über den Kestner in seinem Brief bemerkt, dass es »kaum einen Roman gibt, den er nicht gelesen hat« (Werther, S. 910), könnte auch ein Opfer der Lesesucht gewesen sein. Nach Meinung der Pädagogen führte das ungezügelte Verschlingen von Romanen, vor allem bei Jugendlichen und Frauen, zu einem Verlust der Anbindung an die objektive Welt, einer Vermischung von Realität und Dichtung sowie zu untröstlicher Melancholie und einer Auflösung des Selbstwertgefühls. Der süchtige Leser werde schließlich von der großen Leere seiner Phantasie verschlungen. Genau das passiert auch Werther. Seine Pathologie nimmt im Grenzbereich zwischen gedrucktem Medium und jugendlicher Psyche Gestalt an, an einem Punkt, wo das Wuchern der vom gedruckten Wort gelieferten Bilder sich mit Sehnsüchten vermischt, die in den frühesten Phasen der Sozialisation wurzeln - daher die unerbittliche, selbstmörderische Logik des Bildrepertoires des Romans. Beherrscht von den Gesängen des Ossion, wird Werthers Welt zu einem Klangraum wahnhafter Stimmen. Seine Visionen vom Überfluss der Natur und von oraler Lust verwandeln sich in die Horrorphantasie eines alles verschlingenden Welt-Mundes. Hier wird Mary Shelleys Diagnose der Empfindsamkeit bestätigt: »Es hat sich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen, und der Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt sich vor mir in den Abgrund des ewig offnen Grabs. [...] Und so taumle ich beängstet! Ich sehe nichts als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer.« (Werther, Bei der Vorbereitung zu einer durchgesehenen Ausgabe des Werther, die 1787 als erster Band seiner gesammelten Werke erscheinen sollte, nahm Goethe verschiedene Änderungen vor. Exzentrische Formulierungen wurden geglättet, die anderen beiden Charaktere der Dreiecksbeziehung des Romans, Lotte und Albert, wurden psychologisch komplexer dargestellt, die von außen kommende Sicht des »Herausgebers« erhielt mehr Gewicht, und eine Nebenhandlung, die mit zum Mord führender Aggression endet, wurde als Gegengewicht zu Werthers Geschichte eingebaut. In der metaphorischen Sprache von Dichtung und Wahrheit ausgedrückt, sollte das Ergebnis aller dieser Veränderungen sein, das »glühende Feuer« zu dämpfen, »das keine Unterscheidung zwischen dem Dichterischen und dem Realen erlaubt«, indem der »eisige« Aspekt des künstlerischen Aufbaus schärfer hervortrat. Im darauffolgenden Jahrzehnt wurde diese Lösung des Problems der empathischen Identifikation zum zentralen Dogma der ästhetischen Theorie. Formale Differenzierung und innere Folgerichtigkeit - so die übereinstimmende Meinung bei Moritz, Kant, Schiller und Wilhelm von Humboldt - hebe das Kunstwerk aus der Sphäre der Zweckgebundenheit heraus und verhindere so seinen Missbrauch als imaginären Wirklichkeitsersatz. Innerhalb dieser objektiven ästhetischen Enklave könne sich das freie Spiel der Vorstellungskraft als Vorbereitung auf moralische Selbständigkeit entfalten und nicht als deren Zerrüttung, Die wachsende Bedeutung dieser Theorie beleuchtet die Besonderheit des historischen Augenblicks, in dem der Roman entstand. Niederschrift und erste Rezeption des Werther fallen in eine Zeit der fehlenden Kontrollmechanismen, in eine Schwellenphase der kulturellen Entwicklung, in der weder der vorher gültige Katalog moralischer Vorschriften der Aufklärung noch die spätere Beschränkung der ästhetischen Sphäre durch die Klassik als normierende Richtlinien für die literarische Vorstellungskraft zur Verfügung standen. Unter diesen ungeregelten Umständen erreichte das Medium Literatur eine beispiellose Suggestivkraft und zeitigte pathologische Folgen, deren Ausmaß wie Intensität erstaunlich sind. Die Leiden des jungen Werther ist sowohl ein Symptom dieser kulturellen Konfiguration als auch ihre eindringlichste Analyse. DAVID E. WELLBERY : Siehe auch 17^0, 176c, 1775, 1782, 1784, 1790, 26. August 1792, 1899 Bibliographie: Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke. Briefe. Tagebücher und Gespräche, Teil 1, Band 8: Die Leiden des jungen Werther. Die Wdhlvenvündtschaften, Kleine Prosa, Epen. hg. von Waltraud Wiethölter, Frankfurt am Main 1994. - Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. Paul Kluckhohn und Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mahl und Gerhard Schulz, Stuttgart 1960-1968. - Mary Shelley, Frankenstein.orThe Modern Prometheus, London 1994. H *** 504 I77S" ! Individualismus, beim Wort genommen 1775 I Lavuters Physiognomische Fragmente zeichnen das Profil eines Zeitalters, in dem der Diskurs der Vernunft einem Übermaß an phantasievollen Spekulationen begegnet Individualismus, beim Wort genommen Unmittelbar vor dem Einmarsch französischer Truppen in die Schweiz im Jahr 1797 veröffentlichte der Züricher Theologe und Pastor Johann Caspar Lavater (1741-1801) ein Pamphlet unter dem Titel Traum von den Heiligen Felix und Regula (1779), das über die Situation der Kirche in Zeiten politischer Ungewissheit handelte. Er verfolgte die Geschichte Zürichs zurück bis zu den beiden Heiligen Felix und Regula, zwei christlichen Märtyrern, die während der römischen Besatzungszeit geköpft und in der Folge zu den Schutzpatronen der Stadt wurden. Der Legende nach hoben sie ihre Köpfe auf und stolperten bis zu der Stelle, wo man später das Großmünster errichtete - die Kathedrale, die im 16. Jahrhundert zum Mittelpunkt von Zwingiis Reformbewegung und Sitz des Caroli-nums wurde, einer Schule für Geistliche, an der Bodemer und Breitinger die Lehrer von Lavater waren. An einem entscheidenden Punkt des Traums fragt Lavater einen der Heiligen, ob das Wunder der von den Heiligen getragenen Köpfe, wie es das Stadtsiegel zeige, wahr sei oder zumindest annähernd der Wahrheit entspreche. Regulas verletzter Kopf lächelte bedeutungsvoll: »Sag mir, mein Lieber, was glaubst du? Die Leute erzählen sich, dass du sehr neugierig auf derartige Dinge bist.« Was leicht zum Albtraum eines Physiognomen hätte werden können, verkehrt sich zu Lavaters Ruhm. Denn der Ort, an dem die beiden Märtyrer sterben, liegt, wie Regula erklärt, neben seiner Öffentlichen Bibliothek, auf dessen Regale er 1775 seinen Titel Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und der Menschenliebe stellte. Das Stadtsiegel, das Felix und Regula mit ihren Köpfen unter den Armen zeigt, wird wie eine Besiegelung des Einverständnisses präsentiert, wenn es auf seinen Büchern über Physiognomie erscheint, die voller Bilder von körperlosen Köpfen und Gesichtern sind. Lavaters idiosynkratischer Stil vereint verschiedene Erzählstränge, in denen die Geschichte zu Visionen inspiriert, Tatsachen auf Träumen gründen und Wunder Wahrheiten aufdecken. Zur Zeit der Veröffentlichung des Pamphlets war Lavater eine Berühmtheit, die Besucher und Bewunderer aller Schichten und Berufe aus ganz Europa anzog. Die städtischen Behörden Zürichs betrachteten diesen unruhigen Pastor, Philosophen, Propheten und Patrioten mit seinem großen Kreis einflussreicher Freunde unter Intellektuellen und an ausländischen Höfen schon seit geraumer Zeit mit skeptischen Blicken. Seine Anschuldigungen gegen Ratsherren wegen Betrugs, Bestechung oder sozialer Ungerechtigkeiten hatten sie empört, und 1799 zwang ihn sein öffentlicher Widerstand gegen das französische Protektorat sogar zu einem zeitweiligen Exil in Basel. Bewunderten seine Freunde und die Öffentlichkeit Lavater auch wegen seines Mutes und seiner Rechtschaffenheit, so verunsicherte sie gleich- 1775- I Individualismus, beim Wort genommen 505" wohl sein wachsender Mystizismus und seine Aufklärungsfeindlichkeit. Kant warf Lavater »Schwärmerey« vor, ein Ausdruck, der im Zeitalter der Empfindsamkeit zum Markenzeichen werden sollte. Er argumentierte, dass Lavaters allgemeine Ideen mit einer orthodoxen Doktrin nicht wirklich unvereinbar seien; als »Schwärmer« dehne er sie jedoch weit übejr den Bereich der Erfahrung hinweg aus, was sie als Argumente unhaltbar mache. Auf Lavaters Interesse an parapsychologischen Phänomenen trifft das zu. Seine Treffen mit Cagliostro, seine Faszination für den Mesmeris-mus sowie seine Teilnahme an spiritistischen Seancen, wie sie Fürst Karl von Hessen-Kassel abhielt, und seine spiritistischen Zirkel in Kopenhagen riefen eine Reihe von Skandalen hervor, die Lavater der Lächerlichkeit und allgemeinen Geringschätzung preisgaben und ihn langsam seinen Freunden, Goethe und Herder etwa, entfremdeten. Während seine Naivität ihn einerseits zur leichten Beute für Scharlatane wie Cagliostro machte, wurden seine Untersuchungen über die Grenzen zwischen dem Okkulten und dem Wissenschaftlichen, zwischen orthodoxer Religions-doktrin und magischen Erfahrungen, zu einem festen Bestandteil seines Glaubens an die Kontinuität zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt. Für ihn waren sie allesamt Momente eines Übergangsritus zwischen den beiden Welten, Beweis einer »wirklichen Erfahrung von Transzendenz«, wie Horst Weigelt es nannte. Trotz all seiner spekulativen Gedanken betrachtete sich Lavater als wahren Gläubigen, für den Christus das Zeichen ewigen Lebens und Garant der Auferstehung ist. Mitglieder des spiritistischen Kreises in Kopenhagen, an deren Seancen Lavater teilnahm, waren davon überzeugt, dass sie über ein Medium mit Christus kommunizieren konnten. Letztlich gehen diese okkulten Praktiken Hand in Hand mit einer Reihe von Christusporträts im Schlussteil der Physiognomischen Fragmente, wo Lavater darzustellen versucht, dass das menschliche Gesicht erstes und letztes Medium sei, um die Ähnlichkeit zwischen einem menschlichen Gesicht und dem Sohn Gottes zu zeigen. In allem, was er tat, sei es als Prediger, Briefeschreiber oder Physiognom, in seinen formellen wie seinen informellen Kontakten mit Freunden -stets handelte Lavater wie ein >Medienagent<. Das Medium, auf das sich Lavater am besten verstand, war der Druck. Der schnelle Anstieg von Veröffentlichungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schuf einen neuen öffentlichen Raum, eine Literaturrepublik, und es schien, als lebte Lavater mitten in der Druckerei. Jeder Brief, den er mit seinen Korrespondenten austauschte, jedes Wort, das er sprach, schrieb oder erhielt, wurde - ungeachtet seines privaten Charakters - umgehend veröffentlicht, wenn er dies als notwendig oder vorteilhaft erachtete. Sein Geheimes Tagebuch von einem Beobachter seiner Selbst (1771-'773), das drei Jahre vor der Veröffentlichung von Goethes berühmtem Tagebuch im Werther erschien, wurde zunächst, der unmittelbaren Reaktionen wegen, in Manuskriptform unter seinen Freunden verbreitet. Als es publiziert wurde, machte es aus der Intimität der Selbstbespiegelung ein $o6 [775 I Individualismus, beim Wort genommen öffentliches Spektakel. Lavaters Wunsch nach Öffentlichkeit beschränkte sich nicht nur auf seine eigene Person. Doch nicht jeder schätzte es, öffentlicher Bemusterung und Beurteilung ausgesetzt zu sein. Als Lavater Teile von Bonnets La palingénésie phiJosophique (1769; Philosophische Palingenese) übersetzte, eine Arbeit über Naturphilosophie, die sich damit beschäftigt, dass Körper und Seele nach dem Tod wiedergeboren würden und diese Wahrheit den Menschen von Gott in Wundern kundgetan werde, widmete er seine Übertragung dem jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn und forderte ihn auf, die Arbeit entweder zu widerlegen oder zum christlichen Glauben zu konvertieren. Auf seine ihm eigene naive, aber aggressive Weise stellte Lavater Mendelssohn bloß, dessen heikle Position eine öffentliche Erwiderung für ihn gefährlich machte. Als er schließlich mit einem Brief antwortete, in dem er Lavaters bekehrungseifrige Argumente widerlegte und in starker Weise für Toleranz zwischen den Religionen als Grundlage für den Austausch philosophischer Gedanken plädierte, veröffentlichte Lavater diesen Brief umgehend, was die peinliche Situation verschärfte und weitere Schwierigkeiten hervorrief. Lavaters Drang in die Öffentlichkeit ließ nicht nach. Als er 1799 von einem französischen Soldaten vor seinem Haus angeschossen und ernstlich verwundet wurde, behandelte ihn der Arzt neben dem Drucker, der den Rundbrief für die Veröffentlichung fertigstellte, um den Zwischenfall allen Freunden daheim und im Ausland mitzuteilen. Lavater erholte sich nie von der Schussverletzung und starb 1801. Er starb nicht als Märtyrer, sondern als jemand, der sogar seinen eigenen Tod zum Thema moralischer Unterweisung und öffentlicher Debatte machte. Obwohl Lavater auch Autor einiger längerer Arbeiten ist, haben alle seine Publikationen den Charakter von Sammelbänden. Das Gleiche gilt für die vier Bände seiner Physiognomischen Fragmente, die er ursprünglich als wöchentlich erscheinendes Journal zu veröffentlichen geplant hatte. 1772 erschien sein Essay »Von der Physiognomik«, in dem er den individuellen Charakter von der zufälligen Natur des Schicksals unterscheidet. Angespornt vom zustimmenden Echo plante Lavater eine illustrierte Ausgabe mit 16Textbögen und 24 Stichen. Schnell nahm das Projekt enorme Dimensionen an, und als 1778 der letzte der vier Folio-Bände erschien, umfasste das Werk 188 Textbögen, 343 Stiche und 488 Vignetten. Zwischen 1782 und 1803 erschien die französische Ausgabe, in der die meisten Texte von Lavater überarbeitet und weitere Illustrationen hinzugefügt wurden. Obwohl Lavater beansprucht, die Physiognomie in den Stand der »menschlichsten und göttlichsten Wissenschaft« zurückzuversetzen, konzentrieren sich die Fragmente auf eine Interpretation individueller Gesichter und nicht auf die Schaffung eines wissenschaftlichen Systems. Immer wieder bezieht er sich auf das Gesicht und seine Merkmale als Buchstaben eines göttlichen Alphabets, das der Physiognom nur zu lesen und zu entziffern brauche. In diesem Sinn stellen sich die Fragmente als 1775 I Individualismus, beim Wort genommen c/07 eine Art moralische Semiotik dar, in der Ethik und Ästhetik eng miteinander verbunden sind. Lavaters Theorie der physiognomischen Ähnlichkeiten wird von drei Postulaten bestimmt : i. Der Charakter einer Person kann in seiner oder ihrer äußeren Erscheinung erkannt werden. 2. Je moralischer ein Mensch, desto schöner ist er. 3. Die Wahrheit einer jeden Beobachtung oder Erfahrung, die aus einem System von Bedeutungen abgeleitet wen den kann, erhält den Rang einer Wissenschaft. Schon Lichtenberg bemerkte in seinem kritischen Essay »Über Physiognomik; wider die Physiognomen« (1778), Lavater und andere Physio-gnomen versuchten aus den Gesichtern das herauszulesen, was Astrologen aus dem Himmel zu lesen versuchten. Während diese glaubten, sie könnten das Schicksal eines Menschen aus der Konstellation der Planeten zum Zeitpunkt der Geburt vorhersagen, spekulierten jene darauf, in den Gesichtern Hinweise auf den Charakter erkennen zu können. Die Verbindung zwischen Astrologie und Charakterologie hat eine lange Tradition, und Jean d'Indaignes Chiromantia (1522), das erste illustrierte Buch über Physiognomie, ist ein Beispiel für ihr Aufleben in der Renaissance. Ein anderer Aspekt, der die physiognomische Tradition gestaltete, liegt im Vergleich des menschlichen Kopfes und des Gesichts mit denen von Tieren. Schon die Physiognomonica des Aristoteles aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. enthält Beispiele solcher Analogien und wurde zu einem Teilbereich der Medizin. Tiere stellen auch die Grundlage von Giambattista della Portas De htimana physiognomia (1602) und des Trnité de la physionomie de l'homme comparé d celle des animaux (1698; Abhandlung über die menschliche Physiognomie, verglichen mit der der Tiere) des Malers Charles le Brun dar. Beide Werke hatten große Auswirkungen auf das moderne Konzept der Physiognomie. Obwohl Lavater della Portas Arbeit bewunderte und die Fragmente umfangreiche Teile über Tiere enthalten, lehnte Lavater letztlich den direkten Vergleich zwischen menschlichem und tierischem Charakter ab. Le Bruns Handbuch für Maler beschäftige sich mit dem Gesicht als Spiegel von Affekten im Zusammenhang mit dem wachsenden Interesse der bildenden Künste an der Darstellung von Leidenschaften. Lavater unterschied zwischen Physiognomie und Pathognomie und zwischen der Struktur der Knochen und dem Ausdruck von Gefühlen, hob aber stets die größere Wichtigkeit der Physiognomie hervor. Sie ist die »Kapitalgrundlage«, wie er es in pekuniärer Terminologie ausdrückt, auf der die Pathognomie ihre »Zinsen« entstehen lässt. Le Bruns Werk enthält auch Zeichnungen mit systematischen Darstellungen der geometrischen Beziehungen, die zwischen der Form und der Größe verschiedener Köpfe und Gesichtsmerkmale existieren, und legte damit den Grundstein für das Interesse der Anthropologie des 18.Jahrhunderts an der Physiognomie. Der niederländische Naturwissenschaftler Petrus Camper, ein Zeitgenosse Lavaters, vermaß den Schädel, um Aussagen über menschliche Intelligenz machen zu können, und obgleich Lavater sich co8 177c I Individualismus, beim Wort genommen 177c I Individualismus, beim Wort genommen C09 mit der Übertragung von Charakter oder geistigen Fähigkeiten in mathematische Datensammlungen nie wirklich anfreundete, stellt er dennoch im letzten Band der Fragmente sein eigenes mechanisches Messinstrument vor, den Stirnmesser. In seiner ätzenden Satire über die Fehltritte der neuen Physiognomen nennt Lichtenberg den Weg von der Köperoberfläche bis zur Tiefe der menschlichen Seele unermesslich. Kant klagte all jene der Anmaßung an, die glaubten, Gottes Unterschrift in jemandes Gesicht lesen zu können. Keine Messung sei je in der Lage, über den individuellen Charakter des Menschen Aussagen zu machen. Lavaters Fragmente befördern nicht die Wissenschaften, und ihr Erfolg beruht auch nicht auf dem frommen Gebrauch Christi als Ikone physio-gnomischer Studien. Zwei Aspekte sind für die enorme kulturelle und literarische Bedeutung des Werkes im 18.Jahrhundert verantwortlich: Die Kultivierung von Freundschaft und Liebe als Ausdruck individueller Identität und die Silhouette oder der Schattenriss als neue Form populärer Kunst. Beides ist eng miteinander verbunden. Der Untertitel der Fragmente bezieht sich auf Philanthropie - im Sinne von Menschenliebe - als ein Motiv für das Studium der Physiognomie. Liebe und Freundschaft werden zu zwei starken Grundsätzen in den persönlichen und gemeinschaftlichen Beziehungen einer aufstrebenden Mittelschicht, denn diese Tugenden durchbrechen die Grenzen von sozialem Status und Anstand, die von der an Einfluss verlierenden Aristokratie festgelegt worden waren. Lavaters Bevorzugung des Charakters vor dem Schicksal kann auch im Blick auf die politische Bedeutung verstanden werden: ein mystisches politisches Geschick wird durch ein Versprechen auf Erfolg, auf der Grundlage von Tugend und Verdienst des Einzelnen, ersetzt. Ganz gleich, wie hoch man dem frommen Physiognomen anrechnen will, dass er für demokratische Ideen eingetreten ist, sicher ist, dass er direkt und mit großem Einsatz die Fertigkeit förderte, Scherenschnitte nach der Methode anzufertigen, die um 1760 von Etienne Silhouette perfektioniert wurde, dem Finanzminister Ludwigs XV. Der Satz portrait i la Silhouette hatte am französischen Hof, wo der Minister seine Kunstform bewarb, einen spöttischen Beigeschmack, denn seine Schattenrisse sollten die enormen Kosten von Ölporträts, gemalt von gefeierten Künstlern, reduzieren. Für Lavater jedoch stellte der Schattenriss eine der Natur am nächsten verwandte Kunst dar, frei von ästhetischen Färbungen oder Idealisierungen. In den Fragmenten ermutigt er die Anfertigung von Scherenschnitten als taktile Form des Studiums der Physiognomie, und in einem späteren Absatz hob er ihre Do-it-yourself-Qualitäten hervor - »selber machen« wurde zum Motto für diese neue und populäre Kunstform. Die Fragmente beförderten eine Mode, die das Europa des 18. Jahrhunderts im Sturm eroberte. Die Amateurkünstler aus einer breiten, gebildeten Mittelschicht wurden nicht nur gleichsam zu erfahrenen Physiognomen, sondern sie besaßen plötzlich auch die Mittel, Porträts anzufertigen, die zuvor als Zeichen von Familie und Wohlstand fast ausschließlich an den Wänden von Aristokratie oder reichen Familien hingen. Als mechanische Art der Darstellung nahm der Schattenriss die Photographie vorweg. Er konnte ohne großen Aufwand vergrößert oder verkleinert werden, und Scherenschnitte wurden oft Briefen zwischen Familienmitgliedern, Freunden oder Liebenden beigelegt. Goethes Werther machte diese Gewohnheit berühmt. Der Roman stellte sowohl die Rebellion gegen den Hof als auch die neue Kunst des Porträts als Profil in den Mittelpunkt der Handlung und machte damit einen bedeutsamen Schritt, durch den der Scherenschnitt zum Symbol und zur Darstellung von individueller Identität wurde. Als es ihm nicht gelingt, ein Bild von Lotte zu zeichnen, fertigt Werther eine Silhouette an, die von nun an zu einer Art Fetisch wird, den er mit dem Drama seiner Liebe ausstattet, bis der Schatten des Todes schließlich auf sein Leben fällt. An Lottes Hochzeitstag beschließt er eine rituelle Beerdigung ihres Porträts. An demAbend, bevor er begraben wird, schickt er ihr den Schattenriss als Testament. Der Diskurs des Verliebtseins in Werthers Briefen passt zum Wesen der Silhouette. Beide sind individueller Ausdruck, indem der Briefeschreiber und der Adressat, der Künstler und sein Thema miteinander kommunizieren oder korrespondieren und versuchen, Identität zu schaffen und diese zu interpretieren. Es erstaunt nicht, dass Lavater äußerst begeistert war, als er bei seinem ersten Besuch bei Goethe 1774 das Manuskript des Romans las, Es war zu diesem Zeitpunkt, sollte man meinen, dass er sich Goethes Hilfe für sein physiognomisches Projekt versicherte. Die Fragmente sind das Ergebnis eines Zusammenwirkens. Sein ganzes Leben hindurch hat Lavater ein großes Netzwerk von Freunden und Bekannten aufgebaut und gepflegt, die er in den 1770er Jahren bat, Beiträge für sein riesiges physiognomisches Text-, Porträt- und Kupfersticharchiv zu liefern, von denen er die besten Stücke für die Veröffentlichung in den Fragmenten auswählte. Herder, Sulzer, Merck, Lenz, Wieland, die Gebrüder Stolberg und in einer frühen Phase sogar Nicolai und Lichtenberg befanden sich unter denen, die Beiträge lieferten. Goethe trug ein Gedicht bei, »Lied eines physiognomischen Zeichners«, und in den Bänden 1 und 2 einige weitere Texte. In Dichtung und Wahrheit (1811) berichtet Goethe, wie Lavater seine Freunde bedrängte, ein Porträt Christi zu zeichnen und ihm zu schicken. Diese Besessenheit und Lavaters beständiges Bemühen, Menschen zum Glaubensübertritt zu bewegen - was in seinem skandalösen Briefwechsel mit Mendelssohn seinen Höhepunkt fand -, führten schließlich zum vollständigen Bruch zwischen Goethe und dem Pastor aus Zürich. Lavater sah sich zunehmend von der literarischen Gemeinschaft isoliert, die ihn einstmals als den Vorkämpfer des Sturm und Drang bewundert und als Genie betrachtet hatte. Er verstand nie wirklich und akzeptierte auch nicht, dass Goethe und die, die ihn umgaben, ihre Verbindung mit ihm als Phase ihrer seelischen und literarischen Ent- CIO Februar 1778 | Vermischung der Genres Wicklung bewerteten; und als er sich selbst in Goethes Xenien (1797) der Lächerlichkeit preisgegeben sah, war er zutiefst verletzt. Goethes Zorn hatte großen Einfluss und beschleunigte das harsche Urteil, das Lavaters Werk innerhalb der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert traf. Die französische Ausgabe sicherte ihm in Frankreich eine gewogenere Rezeption, nachweislich im Werk von Balzac und Stendhal. FRITZ GUTBRODT : Siehe auch 1774, 1784, 1789 Biblioaruphie: Johann Caspar Lavater. Physiognomische Fragmente mi Beförderung der Menschenkenntnis und der Menschenliebe, 4 Bde., Leipzig 1775-1778. - Ders., Phpsiognornische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und der Menschenliebe. Eine Auswahl, hg. von Christian Siegrist, Stuttgart 1984. Februar 1778 | Jakob Michael Reinhold Lenz unternimmt einen halbherzigen Selbstmordversuch Vermischung der Genres Seit dem Erscheinen von Georg Büchners Novelle Lenz (1839) gilt der Bühnenschriftsteller, Dichter, Moralphilosoph und Autor kurzer Erzählungen, Jakob Michael Reinhold Lenz (i7i"'-i792), als Verkörperung der Marginalisierten und Ausgeschlossenen im Pantheon der deutschen Literatur. Büchner porträtierte Lenz als Realisten der ersten Stunde, dessen Gedankengut eine mögliche, wenngleich verkümmerte Alternative zur klassischen deutschen Ästhetik darstellte, die zum Kern des Mythos von deutscher Bildung und Kultur werden sollte. Neben der Darstellung Büchners gibt es eine weitere, ebenso fundamentale, die Lenz als Alter Ego des jungen Goethe zeichnete. Goethes eigene negative Bewertung von Lenz in Dichtung und Wahrheit ist nichts anderes als eine Abrechnung mit der eigenen Jugend, eine verspätete Ablehnung jener allgemeinen Rebellion, die als Sturm und Drang bekannt geworden ist. Als enger Gefährte des jungen Goethe in Straßburg teilte Lenz das Schicksal anderer, deren Genie den späteren Auffassungen Goethes über Ästhetik und Politik entgegenlief. Wie Hölderlin und Kleist wurde er von dem großen Olympier der Weimarer Klassik abgelehnt. Lenz, der Verstoßene: nachdem er am Weimarer Musenhof 1776 auf mysteriöse Weise in Ungnade gefallen ist; Lenz, der 1778 dem Wahnsinn Verfallene: die Schlüsselepisode, aufgezeichnet von Pastor Oberlin und literarisch verarbeitet von Büchner; Lenz, der Vergessene und Unbekannte: Er stirbt 1792 in Moskau auf einer Straße; Lenz in den Worten Goethes: eine Sternschnuppe, die ohntTAuswirkung auf das deutsche Leben oder die Literatur~*verging - eine Art Goethe als Versager, als das Ende einer Hoffnung, als idiosynkratisches Talent, das an den Klippen des Lebens Februar 1778 | Vermischung der Genres und der Kunst Schiffbruch erlitt, lebendige Verbindung aus Werther und Tasso. Mit diesen Werken war es Goethe gelungen, die für den Sturm und Drang typischen Gefahren zu überwinden, jenes Übermaß an Subjektivität und Ungezwungenheit, sexuellem Verlangen, sprachlicher Anarchie und Narzissmus. Goethes Werk stand für Literatur als eine Form therapeutischer Selbstläuterung auf dem Weg zu klassischer Reife. Lenz scheiterte, wo Goethe triumphierte. Die deutsche Literaturgeschichtsschrei-bung brauchte Lenz als Gegenstück zu ihrem Goethe-Mythos; hätte es ihn nicht gegeben, man hätte ihn erfinden müssen. Was ist also Lenz' wirkliche Position in der Literatur seiner Zeit? In seinen wichtigsten Bühnenstücken und in der herausfordernden dramaturgischen Theorie Anmerkungen übers Theater liegt Lenz' literarische Leistung : in der produktiven Vermischung dramatischer Genres, der radikalen Umwandlung des bürgerlichen Trauerspiels, dem Zusammenbruch klassischer Rhetorik und eines aufklärerischen Sprachbegriffs sowie - letztlich - in dem subversiven Gebrauch von Sprache, Mimik und Gestus, der vielen als merkwürdig modern, wenn nicht gar als avantgardistisch erschien. Sein Schreiben wird heimgesucht von einem unlösbaren Konflikt zwischen literarischer Ambition und dem Verlangen nach sozialen Reformen im Blick auf Sexualität und Bildung, Machtbeziehungen und die versteckten Ungerechtigkeiten der Klassenunterschiede. Seine Energie bezieht sein Werk aus dem Anschreiben gegen die verbreitete Meinung, Literatur könne kompensatorischen Genuss verschaffen und die Menschen von der repressiven, statischen, sozialen Ordnung eines absolutistischen Staates befreien. Aber sein literarisches Werk markiert auch ein frühes Bewusstsein der Dialektik der Aufklärung. In Lenz' Werk erscheint Aufklärung nicht einfach nur als Weg zu Freiheit und Selbstbestimmung, sondern ist Bestandteil des Apparats aus Unterdrückung, Verstümmelung und Unmündigkeit und gehört zu dem, wovon die Aufklärung Erlösung versprach. _s ' Der Hofmeister, Lenz' erstes, Í1772 «erfasstes Stücke ist der beispielhafte Text für diese spannungsgeladelie Konstellation. 1774 mit Goethes Hilfe anonym in Leipzig veröffentlicht, bleibt es das einzige Stück, das zu Lebzeiten des Autors aufgeführt wurde. Es darf nicht als gescheitertes Meisterwerk betrachtet werden, sondern als Meisterwerk über das Scheitern: das absichtliche Scheitern des Autors an literänschen Traditionen und das Versagen der deutschen sozialen und literarischen Verhältnisse, ein tragisches Drama hervorzubringen, welches das höchste Ziel des Stückeschreibers war. Als Komödie ausgewiesen, ist Der Hofmeister ein literarisches Puzzle erster Güte, das die Kritiker mit seiner doppelten Botschaft, seiner hybriden Konstruktion und dem Ignorieren aller dramaturgischen Modelle verwirrte. Wegen der Begeisterung, die der Sturm und Drang für Shakespeare empfand, und auch wegen des überwältigenden Erfolgs von Goethes Götz von Berlichingen im vorangegangenen Jahr dachten Kritiker wie Schubart, Der $12 Februar 177& | Vermischung der Genres Februar 1778 | Vermischung der Genres 513 Hofmeister sei ein weiteres Stück »unseres Shakespeare, des unsterblichen Dr. Göthe [sie]«, und es wurde als willkommene Erneuerung des Lustspiels nach Leibniz betrachtet. In seinem Briefwechsel nannte Lenz sein Stück jedoch auch Trauerspiel, und in einer früheren Manuskriptform bezeichnete er es als Lust- und Trauerspiel. Derartige Unsicherheiten bei der Genrezuweisung haben ernste Auswirkungen auf die Interpretation des Textes, besonders weil Lenz dem Thema >Genre< und seiner öffentlichen Rolle große Beachtung schenkte. DasThema >Genre< verfolgte schon den Kritiker C. H. Schmid, der meinte, ein Stück, in dem der Vater wahnsinnig wird, die Tochterjhre Unschuld verliert, Gefängnisse und Bettlerhütten auf der Bühne stehen, ein Stück, in dem die Figuren verstümmelt, ertränkt und kastriert werden, lasse so manche französische Tragödie wie eine Komödie erscheinen. Natürlich ist der Untertitel Vortheile der Priwtterziehung ironisch und bezieht sich ausdrücklich auf Rousseaus Emile (1762). Darüber hinaus sprach Lenz aus Erfahrung. Er hatte während seiner Zeit in Straßburg für zwei reisende Adlige als Privatlehrer gearbeitet. Erfüllt von einem unstillbaren Verlangen nach Unabhängigkeit empfand der Autor die Tätigkeit als Privatlehrer als kontraktuelle Sklaverei. Für Lenz ist Pädagogik das Schicksal ebenso des Lehrers wie des Schülers. Der Hofmeister trägt seinen Titel aus gutem Grund. Der erste Akt des Stückes schildert die Existenz eines Privatlehrers in all ihrem Elend. Der Theologiestudent Läuffer wird auf dem Landgut des adligen, aber dumpfen und großmäuligen Major von Berg und seiner eingebildeten, übel gelaunten Frau als Privatlehrer angestellt. Seine Aufgabe ist es, den faulen Sohn des Paares »in allen Wissenschaften und Artigkeiten und Weltmanieren« (I, 2) zu unterrichten, obwohl der Vater möchte, dass sein Sohn wie er Soldat wird. So wie die Mutter Leopold total verhätschelt, so verwöhnt der Vater die tragödienvernarrte Tochter Gustchen, mit der der Lehrer »auch alle Morgen etwas aus dem Christenthum mit ihr nehmen« (1,4) soll. Beide Eltern mischen sich unaufhörlich in die Erziehung ihrer Kinder ein, schikanieren den armen Läuffer mit ihren widersprüchlichen Forderungen und behandeln ihn kaum besser als einen Diener. Läuffers einzige Alternative zum Privatlehrer - eine Anstellung als Lehrer an einer öffentlichen Schule in der Stadt - wird vom Bruder des Majors blockiert, dem »aufgeklärten« Meister Berg. Er ist der Direktor dieser Schule, der jede Gelegenheit nutzt, um die Vorteile der öffentlichen Schulen und des aufgeklärten Staates zu loben. Seine Ansichten, die tatsächlich gar nicht so weit von denen eines Lenz entfernt liegen, entpuppen sich als hochtrabendes Geschwätz. Meister Berg ist unfähig, seinen Bruder davon zu überzeugen, den Privatunterricht für seine Kinder aufzugeben. Seine Sprache bewegt sich zwischen empirischer Einsicht und abstraktem Posieren, als er in einem Gespräch mit Läuffers Vater, dem Pastor, den Privatunterricht angreift: Tagdieben, und sich Geld dafür bezahlen lassen? Die edelsten Stunden desTages bey einem jungen Herrn versitzen, der nichts lernen mag und mit dem er's doch nicht verderben darf, und die übrigen Stunden, die der Erhaltung seines Lebens, den Speisen und dem Schlaf geheiligt sind, an einer Sklavenkette verseufzen; an den Winken der gnädigen Frau hängen, und sich in die Falten des gnädigen Herrn hineinstudiren; essen wenn er satt ist und fasten, wenn er hungrig ist, Punsch trinken, wenn er p-ss-n möchte, und Karten spielen, wenn er das Lauffen hat. Ohne Freyheit geht das Leben bergab rückwärts, Freyheit ist das Element des Menschen wie das Wasser des Fisches, und ein Mensch der sich der Freyheit begiebt, vergiftet die edelsten Geister seines Bluts, erstickt seine süssesten Freuden des Lebens in der Blüthe und ermordet sich selbst, (ü, 1) Lenz' Charaktere sind sowohl in ihrer Sprache als auch in ihren Gewohnheiten scharf gezeichnet. Aber je mehr sie als erkennbare Figuren hervortreten, desto mehr werden sie gleichzeitig zu Karikaturen. Sýe wirken wie Marionetten an Fäden aus Klischees, Sprichwörtern und Zitaten, wie Papageien, die sozialtypische Sprache nachplappern und darin ihre Phantasie und ihr Handeln einschränken. Die Ideale von Selbstbestimmung und Freiheit, zentrale Begriffe in Lenz' Anthropologie, werden unter dem Geröll von idées recues und dem Zwang zur Reflexhandlung begraben. Der dramatische Konflikt wird durch die nachteilige Wirkung des Privatunterrichts auf das Leben ausgelöst. Mehr aus Langeweile denn aus großer Leidenschaft beginnen Läuffer und Gustchen eine sexuelle Beziehung, die zu Gustchens Schwangerschaft, zum Skandal und zur getrennten Flucht der beiden »Liebenden« vom Gut des Majors führt. Schließlich gebärt Gustchen das Kind in einer elenden Hütte im Wald, und Läuffer kann bei dem bizarren Dorflehrer Wenzeslaus unterschlüpfen, in dessen Figur sexuelle Repression gepaart mit autoritärer Pädagogik zur Parodie der protestantischen Aufklärung und des preußischen öffentlichen Schulunterrichts wird. An diesem Punkt erwartet der Zuschauer, der sich diese typische Verführungsszene des bürgerlichen Trauerspiels anschaut, mit einer Tragödie konfrontiert zu werden. Verführung, Mord, Kindesmord, Selbstmord oder Todesstrafe - das sind nur einige der Stationen der bürgerlichen Tragödie des 18. Jahrhunderts, die unweigerlich mit dem Tod der Frau endet. Nichts davon im Hofmeister. Lenz unterläuft die Vorgaben auf drei entscheidende Weisen. Zunächst entdramatisiert er die Handlung durch groteske und raue Szenen aus dem Studentenleben in Halle, die sich um den Sohn von Meister Berg drehen, Gustchens Cousin Fritz. Diese Szenen mit Studentenjux, amourösen Abenteuern und Burlesken erinnern an das derbe deutsche Volkstheater oder die commediü «teil'arte und weniger an eineTragödie. Zweitens verwandelt Lenz die bürgerliche Tragödie durch Geschlechtertausch und Happyend. Während in einem typischen bürgerlichen Trauerspiel der Aristokrat das bürgerliche Mädchen verführt und damit Geschlechtsund Klassenvorrherschaft zum Einsturz bringt, ist bei Lenz das Mädchen von edler Geburt und der Geliebte von geringerer sozialer Herkunft. Februar 1778 | Vermischung der Genres 1 Februar 1778 | Vermischung der Genres CIC Läuffers Bedrohung durch den völlig außer sich geratenen Major, der in sein Versteck eindringt und ihn zu erschießen droht, ist viel beißender als die Bedrohung durch einen immer noch sein Gustchen liebenden und vergebenden Vater. Aber die Unterwanderung des häuslichen Dramas endet hier noch nicht. Lenz stellt die Beziehung weder als eine Szene, die Klassenunterschiede durchbricht, noch als eine sexuelle Machtbeziehung dar, die vom Mann dominiert wird. Gustchens Schwangerschaft ist das Ergebnis eines einmaligen Ausbruchs unterdrückter sexueller Instinkte. Während ihrer gesamten Beziehung bleiben sie sich vollkommen fremd. Diese schwer fassbare Liebesbeziehung wird in den Köpfen der Protagonisten nur durch Ersetzung von gelebterWirklichkeit durch literarische Illusion möglich. Gustchen stellt sich ihren Läuffer als Romeo vor, und Läuf-fer hat sich in Gedanken an den mittelalterlichen Mönch Abélard verloren, der, nachdem er seine Schülerin Héloise entführt und geheiratet hatte, von ihren rachsüchtigen Verwandten kastriert wird. Das jeweilige literarische Rollenspiel hebt nur die Unfähigkeit der beiden Charaktere hervor, miteinander zu sprechen. Bedeutsamerweise existiert der Klassenunterschied zwischen den Liebenden nur in Läuffers Anspielung auf die Geschichte des Abélard, nicht aber in Gustchens träumerischem Gedenken an Romeo und Julia. Es erstaunt nicht, dass körperliches Leid nur auf Läuffer wartet, der sich in einem Anfall von Reue selbst kastriert, als er die falsche Nachricht erhält, Gustchen sei gestorben. Aber selbst Läuffers Kastration wird nicht als tragisches, selbst verursachtes Leid des bürgerlichen Opfers dargestellt. Der Akt der Selbstverstümmlung ist nur ein weiterer Ausbruch und kein asketischer Akt einer Ablehnung von Fleischesfreuden. Läuffer ist mit seinem passiven Sich-treiben-Lassen und stets nur reagierenden.Verhalten kein tragischer Held. Also findet er auch sein untragisches Ende, wie es für die Form des Lustspiels angemessen ist. Der Kastrat versetzt Wenzeslaus indes in Angst und Schrecken, als er das Bauernmädchen Liese heiratet, die von »gebildeten Herren« träumt und nur zu gern auf das Glück der Mutterschaft verzichtet: »Damit war mir auch wol groß gedient, wenn ich noch Kinder dazu bekäme. Mein Vater hat Enten und Hüner genug, die ich alle Tage füttern muß, wenn ich noch Kinder ebenen füttern müste.« (V, 10). Lenz schließt seine Komödie nicht mit einem, sondern mit zwei Happyends: Eines zeigt Läuffer und Liese (v, 10), das andere versammelt alle Charaktere der Oberschicht in einem abschließenden Bild zu mehrfachen Versöhnungen, Verlobungen und Hochzeiten (v, n und iz). Hier nimmt die Barriere zwischen sozialen Schichten buchstäblich Form an, die das Happyend des aufgeklärten Lustspiels nicht zulässt, weil in ihm soziale Fehler korrigiert werden und Vernunft überwiegt. Aber ebenso wenig wie Läuffers Seelenheirat kein wirklich glückliches Ende ist, denn sie gründet auf einer körperlichen Verstümmelung, ist auch die Versöhnung von Gustchen und Fritz, der das von ihm nicht gezeugte Kind großzügig adoptiert, nur eine andere Form der Geschlechterherrschaft-, wenn er über Gustchens Schuldgefühle frohlockt. Im Übermaß der das Stück beschließenden Familienversöhnungen, parodiert Lenz die Form der aufgejdärten Komödie. Keiner hat etwas gelernt. Gleichzeitig streift diese Komödie ständig das Tragische. Aber die Tragödie wird verdorben durch die Mitleid erregenden und durch und durch nichttragischen sozialen Bedingungen, die es einem tragischen Helden nicht gestatten, sich zu entwickeln. Für Lenz braucht die Tragödie den autonomen, frei handelnden Helden, aber der ist in dem sozialen und literarischen Bild, das Lenz von Deutschland in den 1770er Jahren entwirft, vollkommen unmöglich. Werther endet im Selbstmord, tind selbst die eiserne Hand, Götz von Berlichingen, die Verkörperung von Freiheit und Selbstbestimmung des Sturm-und-Drang-Dramas, ist amputiert; Götz stirbt als gebrochener Mann. Lenz' Praxis und Theorie des Dramas ist vielleicht näher an seiner Zeit, als Kritiker oft vermerkt haben. Seine Atmerkungen übers Theater, provisorisch und experimentell, sollten nicht rigoros auf seine Stücke angewandt werden, aber sie erklären seine Bevorzugung der Komödie. Seine Begründung ist historisch, nicht normativ. In einer Polemik gegen Aristoteles und besonders gegen Lessing, die er beide anklagt, soziale Vorbestimmung dramatisch zu überhöhen, behauptet er, dass die herrschenden sozialen und literarischen Verhältnisse in Deutschland nach dem Lustspiel verlangen. Die Tragödie, die sich auf das autonome Individuum konzentriert, den Helden, der sein Schicksal allein bestimmt, war Lenz' hochfliegendes Ziel, blieb ihm aber unerreichbar. Auch in diesem Sinn ist Der Hofmeister ein Meisterwerk über das Scheitern, und das in einer historischen Situation, in der, so Lenz, nur das Lustspiel die Bedürfnisse des deutschen Publikums befriedigen könne. Von deutschen Theaterautoren verlangt man, so Lenz, dass sie Tragikomisches schreiben, denn das Volk, für das sie schreiben, ist ein Gemisch aus Kultur und Unanständigkeit, Moral und Unzivilisiertheit. Lenz' Vorhaben, das auf die Traditionen des deutschen Volkstheaters zurückgeht, ist ein Projekt nationaler Pädagogik und in diesem Sinne Lessings Versuch verwandt, in den 1760er Jahren ein Nationaltheater zu gründen. Ebenso wie jenes war es zum Scheitern verurteilt und vielleicht in seinen großen Hoffnungen noch abwegiger. Was Lenz auf die Bühne stellt, ist das Trauerspiel der konkreten sozialen und kulturellen Verhältnisse. Das zentrale Thema des Hofmeisters ist nicht das, was die Personen tun, sondern was man ihnen tut. Es bleibt unklar, wie diese Art von Lustspiel jemals den Boden für das moderne Trauerspiel bereiten sollte, wie Lenz es sich vorstellte. Befreit Lachen oder bleibt es nicht vielmehr im Halse stecken? Tragödie indes, wenn meh nicht die in der Art von Lenz, wurde die Zukunft des deutschen Theaters, von Schiller und Kleist bis zu Hebbel und Wagner. Die Tragödie des freien, autonomen Individuums, wie Lenz sie forderte, war eine star- C|6 1781, ]8to I Vom Liniversalismus der Aufklärung zur romantischen Individualität 1781, 1810 I Vom Universalismus der Aufklärung zur romantischen Individualität CI7 ke Utopie, aber letztlich ein schlecht bestimmtes Ziel für das zukünftige Theater — ein weiteres Gespenst der Aufklärung. In Lenz' Werk wurde aufklärerischer Optimismus, wie er noch Les-sings auf Einfühlung basierende Theorie des bürgerlichen Trauerspiels bestimmte, durch melancholischen Pessimismus im Blick auf die Verhältnisse der deutschen Gesellschaft und Literatur ersetzt. Diese dunklere Seite des Sturm und Drang rührte aus einer tiefen Empfindlichkeit für die Schwächen und Fehler der rationalen Aufklärung in der wirklichen Welt. In Lenz' Stücken findet die Kritik an der Aufklärung und an dessen wichtigster theatralischer Form zu kompromisslosester dramaturgischer Gestalt, die aber nichtsdestotrotz dem aufklärerischen Ideal von Freiheit und Selbstbestimmung treu bleibt. Der Hofmeister besetzt den Mittelpunkt ■ einer Bewegung, die sich innerhalb weniger Jahre erschöpfte und deren I klarsichtigster Vertreter der Bühnenautor und Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz war. ANDREAS HUYSSEN : Siehe auch 1767, 1774, 26. August 1792, 183J Bibliographie: Jakob Michael Reinhold Lenz, Werke und Briefe in drei Bänden, hg. von Sigrid Damm, München 1987. - Sigrid Damm, Vögel, die verkünden Lond:.D(is Leben des Jakob Michael Reinhold Lenz, Berlin/Weimar 1985. - Andreas Huyssen, Drama des Sturm und Drang, München 1980. -Hans-Gerd Winter. J. M. R. Lenz, Stuttgart 1987. 1781, 1810 I Friedrich II. von Preußen und Anna Louise Germaine de Stael vertreten gegensätzliche Ansichten über die deutsche Literatur Vom Universalismus der Aufklärung zur romantischen Individualität Im Jahre 1781 publizierte König Friedrich 11. von Preußen (1712-1786), der als Friedrich der Große in die Geschichte eingegangen ist, seine Ansichten über den Zustand der deutschen Literatur in einer Abhandlung mit dem Titel De lajitogture allemande. Etwa dreißig Jahre später vollendete Madame Germaine de Stael (1767-1855) ihr weitaus umfangreicheres Werk Del'Allemagne (1810). Die beiden Texte sind in vielerlei Hinsicht unvergleichbar. Friedrich wendet sich an ein überwiegend deutschsprachiges Publikum und fordert ein Programm zur Sprachreform; de Stael zielt auf eine französischsprachige Leserschaft und regt an, dass die deutsche Literatur ihren Landsleuten einen Weg weisen könne, die sklavische Nachahmung der Antike zu überwinden. Indem wir diese beiden Texte einander gegenüberstellen, können wir jedoch viel über die Entwicklung des Stellenwerts der deutschen Sprache und Literatur in dieser bedeutsamen historischen Epoche in Erfahrung bringen. Es wird deut- lich, dass diese Veränderungen nicht nur mit literarischen Strömungen zusammenhängen, sondern auch durch einen Wandel in der Auffassung vom Wesen eines Nationalstaates bedingt sind. Als Preußens Herrscher war Friedrich verantwortlich für die Festlegung und Verteidigung der Grenzen seines Staates. Sein strategisches Genie ermöglichte es ihm, im österreichischen Erbfolgekrieg Schlesien zu erobern und später im Siebenjährigen Krieg über die mächtige Allianz seiner Gegner zu triumphieren. In De la litterature allemande jedoch zielen die Strategien, die er zur Staatsbildung empfiehlt, mehr auf die Sprache als auf militärische Macht. Um ein Nationalstaat zu werden, müsste Deutschland dem allgemeinen Entwicktungsschema folgen, das bereits' in modernen Staaten wie England und Frankreich zu beobachten war. Ein wesentlicher Schritt ist dabei die Vereinheitlichung der Nationalsprache durch die Ausmerzung der unterschiedlichen regionalen Dialekte. Ein weiteres Erfordernis ist die Erreichung sprachlicher Klarheit und Harmonie. Unglücklicherweise neigen deutsche Schriftsteller dazu, bei der Konstruktion ihrer Sätze Dunkelheit anstelle von Klarheit walten zu lassen, wobei ihnen die deutsche Syntax zweifellos entgegenkommt: »Viele unserer Schriftsteller bevorzugen einen weitschweifigen Stil; sie häufen Parenthese auf Parenthese, und oft findet man erst am Ende der Seite das Verb, von welchem die Bedeutung des ganzen Satzes abhängt.« Abgesehen von der Satzstruktur, ist Friedrich besorgt über den Missbrauch von Metaphern. Er räumt ein, dass Metaphern Einsicht und Ausdruckskraft vermitteln können, aber deutsche Schriftsteller zeigen eine Vorliebe für metaphorische Abweichungen vom Weg der Klarheit und Genauigkeit, wie zum Beispiel in Sätzen von der Art: »Eure Majestät leuchtet wie ein Edelstein am Finger unserer Zeit« (S. 431 f.). Was die Harmonie betrifft, geht Friedrich so weit, vorzuschlagen, dass man gewisse unschöne Klänge, wie die »stummen und unangenehmen« Endsilben von Verben wie sagen, geben und nehmen durch die Umformung in sagena, gebena und nehmena harmonischer machen könne, wobei er zugibt, dass solche Veränderungen nicht per Verordnung von oben erreicht werden können (S.437). Wie diese Beispiele nahelegen, wird die Sprache in De la litterature allemande nicht als organische Ganzheit betrachtet. Wenn eine Sprache, wie das Deutsche, Mängel aufweist, dann kann und sollte sie verbessert werden. Diese Auffassung von Sprache, wie sie hier von Friedrich 11. vertreten wird, ist typisch für die Aufklärung. Während wir heute die Sprache als eine Macht betrachten, die unsere Welt erschafft, steht für Friedrich Sprache unabhängig neben dem Denken und den Dingen. Was die Unabhängigkeit der Sprache gegenüber dem Denken angeht, so betont Friedrich, dass »Klarheit das oberste Gebot« ist für alle, die schreiben und sprechen, denn es handelt sich darum, »seine Gedanken zu malen und seine Vorstellungen auszudrücken mit Hilfe von Wörtern« (S.429). Was aber die Unabhängigkeit der Sprache gegenüber der Welt betrifft, erin- riß 1781, 1810 I Vom Universalismus der Aufklärung zur romantischen Individualität 1781, 1810 I Vom Universalismus der Aufklärung zur romantischen Individualität C19 nert Friedrichs Argumentation an Haarspalterei: »Wir leben nicht länger im Jahrhundert der Wörter, sondern in dein der Dinge« (S 44.5). Drei Begriffe, die bei Friedrich häufig auftauchen, sind »Geschliffenheit«, »Vollkommenheit« und »Bestimmtheit«. Die letzten beiden Ausdrücke verweisen direkt auf eine Universalität der Sprache, die durch die reale Natur der darzustellenden Welt und durch die Unveränderbarkeit rationalen Denkens bedingt ist. Der Begriff »Geschliffenheit« zeigt die Vorgehensweise an, durch die verbliebene Verzerrungen ausgemerzt werden können. Im Hinblick auf die Ästhetik ist der zentrale Begriff in De la litteralure üllemande »Geschmack« (frz. goüt). Diese Kategorie setzt bleibende Wertmaßstäbe voraus, nach denen jedes Kunstwerk beurteilt werden kann. Hier befürchtet Friedrich, dass die literarischen Strömungen seiner Zeit nur vom schlechten Geschmack seiner Landsleute Zeugnis ablegen. Was ist Goethes Götz von Berlichingen in den Augen des Monarchen? Zuerst und vor allem eine »abscheuliche Nachahmung« des schlechtesten Vorbildes: Shakespeare. Die Begeisterung für diesen Engländer verdeutlicht den beklagenswerten Zustand der literarischen Kultur in Deutschland (S.441). Trotz des Titels seiner Abhandlung diskutiert Friedrich kaum die deutsche Literatur aus Vergangenheit und Gegenwart. Geliert, Gessner und einige andere werden erwähnt. Lob wird gespendet für Cornelius von Ayrenhoffs heute in Vergessenheit geratene Komödie Der Postzug (1769). Auch wenn große Schriftsteller künftig für die Reinigung und Klärung der Sprache verantwortlich sein werden, gibt Friedrich zu verstehen, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt dafür noch zu früh sein dürfte. Bei der Frage, wie die Situation geändert werden könne, setzt Friedrich auf die Erziehung und vor allem auf Übersetzungen, als Vorläufer einer in Zukunft möglichen deutschen Literatur. Den Franzosen, Engländern und Italienern ist es weit besser als den Deutschen geglückt, ihre Sprache durch Übersetzungen aus dem Griechischen und Lateinischen zu vervollkommnen. Die langatmige Diskussion der Erziehungsfrage, die die Abhandlung krönt, schließt ebenfalls wieder mit einer Ermahnung zu übersetzen: »Das allgemeine Ergebnis all dessen, was ich Euch soeben erklärt habe, besagt, dass wir uns eifrig der Übersetzung aller klassischen Autoren sowohl aus den alten als auch aus den modernen Sprachen widmen sollten, wir werden daraus den doppelten Vorteil ziehen, unsere Sprache auszubilden und gleichzeitig zur allgemeinen Verbreitung des Wissens beizutragen« (S.450). Diese Feststellung unterstreicht einerseits die Wertschätzung, welche die Aufklärung für ein Wissen bereithält, das durch seine Form allgemein zugänglich ist; schließlich ist Friedrich der Prototyp des aufgeklärten Herrschers, der Voltaire als Berater an seinen Hof zieht. Andererseits sieht man hier die spezifisch zeitgenössische Sprachphilosophie, die Friedrichs Abhandlung geprägt hat: Die Ubersetzungsfähigkeit wird dazu beitragen, die Mängel der deutschen Sprache zu beseitigen und sie in Einklang mit der universellen Sprache zu bringen. Das erklärt auch Friedrichs Gebrauch des Französischen als der damaligen lingua franco Europas. Aber Friedrich hängt auch der Auffassung an, dass das Französische diejenige lebende Sprache sei, die Logik und Realität am klarsten zum Ausdruck verhelfe. Ironischerweise beklagt er gleichzeitig die Tatsache, dass die Entwicklung der deutschen Sprache, und damit der deutschen Nation, durch die fehlende Bereitschaft der Gelehrten verzögert worden sei, ihre eigene Sprache zu verwenden und zu verbessern. Abgesehen von diesem Paradox ist es unter Zugrundelegung von Friedrichs Sprachauffassung klar, dass die deutsche Nation, wenn sie denn je zustande kommen sollte, eine Nation wie jede andere sein wird, die diesen Namen zu Recht trägt: geeint durch eine logische, deskriptive, und im besten Falle harmonische Sprache, Madame de Stael waren die Gedanken der Aufklärung gewiss nicht unbekannt. Ihre Mutter, Suzanne Necker, war eine berühmte sttlonniere und eng dem Kreis um Diderot verbunden. De Staels Ansichten in De l'Allemagne lassen jedoch die Auswirkungen der Französischen Revolution erkennen, in der ihr Vater, der Finanzier und Politiker Jacques Necker, eine bedeutende Rolle gespielt hatte und die der Ausgangspunkt für Napoleons Aufstieg gewesen war. De Stael verabscheute Napoleons expansiven Nationalismus, den sie schon bei Friedrich dem Großen wegen dessen Annexion Polens vorgeprägt sah. Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Napoleon verbannte sie wegen ihrer öffentlichen Kritik an seiner Politik aus Frankreich. Das Werk De l'Allemagne spielte eine wichtige Rolle in dieser Gegnerschaft. Obwohl die Zensoren schon Passagen entfernt hatten, die sie für untragbar hielten, ordnete die Polizei die Vernichtung der gesamten Erstauflage an. Der Text wurde als antifranzösisch gebrandmarkt, und er enthielt in der Tat viele Passagen, die sich als Angriffe auf den Kaiser deuten ließen. Zusätzlichen Zündstoff für die Kontroverse lieferte zweifellos de Staels Herkunft aus Genf, ungeachtet der Tatsache, dass Napoleon selbst aus Korsika stammte. De Staels eigener Standpunkt in diesen Fragen besagt, dass die Grenzen der Völker naturgegeben seien und unverletzlich sein sollten. Sie werden nicht durch die Politik bestimmt, sondern durch die Geographie, das Klima und vor allem die sprachliche Gemeinsamkeit. In De l'Allemagne unterteilt sie Europa in drei Völkergemeinschaften: die romanische, die germanische und die slawische Rasse (Bd. 1, S. 13 f). Jede Völkergemeinschaft hat ihre Besonderheiten, und jede kann weiter unterteilt werden (zum Beispiel umfasst die germanische Rasse unter anderen die englische und die deutsche Nation). Entscheidend für das Verständnis der Besonderheiten ist die Kenntnis der Nationalliteraturen. Wenn Friedrichs De la litterature allemunde sich kaum mit der Literatur als solcher befasst, so ist es gleichermaßen aufschlussreich, dass de Staels Werk De l'Allemogne, dessen Titel einen generellen Überblick über Deutschland verspricht, das Hauptgewicht auf die literarische Produktion legt. Als logische Konsequenz aus dieser engen Verbindung von Nation und Literatur ergibt 520 1781, i8io I Vom Universalismus der Aufklärung zur romantischen Individualität 1781, 1810 I Vom Universalismus der Aufklärung zur romantischen Individualität C2i sich die Notwendigkeit, die Nationalsprachen zu erlernen.Wo Friedrich darauf drängt, die fremdsprachigen Werke in die deutsche Sprache zu übersetzen, um Letztere zu verbessern, geht de Stael von der Unübersetzbarkeit aus. In dem Kapitel mit der Überschrift: »Warum lassen die Franzosen der deutschen Literatur keine Gerechtigkeit zuteil werden?« beginnt sie mit folgender Antwort: »Ich könnte diese Frage auf ganz einfache Art beantworten, indem ich feststelle, dass nur sehr wenige Franzosen Deutsch sprechen und dass die Schönheiten dieser Sprache, vor allem im Bereich der Dichtung, nicht ins Französische übersetzt werden können« (Bd. 2, S. 7). Wenn de Stael in diesem Punkt zunächst zögerlich ist, dann nicht deshalb, weil es nicht wahr oder wichtig wäre, dass die meisten Franzosen kein Deutsch können. Vielmehr ist die Angelegenheit wesentlich komplexer: »Es wäre in jedem Fall eine sehr oberflächliche Behandlung der Frage, wenn man sich mit der Erklärung begnügte, dass sich die Franzosen der deutschen Literatur gegenüber ungerecht verhalten, weil sie nicht mit ihr vertraut sind: sie haben ihr gegenüber Vorurteile, das ist richtig, aber diese Vorurteile sind durch das unbestimmte Gefühl der starken Unterschiede bedingt, die in der Art des Fühlens und Sehens zwischen diesen beiden Völkern existieren« (Bd. 2, S.8f). Nation, Sprache und Literatur verschmelzen so zu Elementen eines einzigen, geschlossenen Systems. De Stael ersetzt Friedrichs Auffassung von der Übersetzung als einer Möglichkeit, die eigene Sprache universalen Standards anzupassen, durch die Suche hermeneutischer Durchdringung: Ein anderes Volk verstehen heißt, sich über seine Sprache und Literatur in es hineinversetzen. De Stael bemerkt auch, dass die deutsche Literatur erst in den letzten zwanzig Jahren zur Reife gelangt sei. In diesem Zeitraum sind diejenigen Werke Goethes, Schillers, Tiecks und anderer Autoren erschienen, in denen de Stael das romantische Erbe verkörpert sieht. In dieser Frage folgt sie Friedrich und August Wilhelm Schlegel (der Hauslehrer ihrer Kinder gewesen war und selber Shakespeare übersetzt hatte). Obwohl de Stael den Begriff »romantisch« nicht erfunden hat, ist De 1'AllemaniB weitgehend verantwortlich für die Verbreitung seines Gebrauchs in Frankreich und anderswo. Für die Franzosen hatte romantique ursprünglich die Bedeutung von »phantastisch«. Die deutsche Romantik wird im Gegensatz zur klassischen Literatur gesehen, die aus griechiscl^hteinischen Quellen scficrpiF (die gewöhnlich'als »heidnisch« bezeichnet werden). Romantisch beschreibt jetzt Dichtung, »deren Ursprung die Minnelieder waren und alles, was aus Rittertum und Christentum hervorgegangen ist« (Bd. 2, S. 128). Für de Stael war die deutsche Literatur in jüngster Zeit erblüht, weil die Schriftsteller gelernt hatten, aus einheimischen Quellen zu schöpfen. In dieser Hinsicht gibt es zwei Zentralbegriffe in de Staels Werk, »Genie« und »Originalität« - wobei man diese Wörter in ihrer Vieldeutigkeit verstehen muss. Der Begriff »Genie«, der besonders seit dem Sturm und Drang den Kampf des Künstlers gegen einengende ästhetische Regeln betont hatte, bezeichnet bei de Stael drei unterschiedliche, aber miteinander verbundene Konzepte. Zunächst beschreibt er die Besonderheit einer bestimmten sprachlichen und nationalen Gemeinschaft. Zweitens bezieht er sich auf den Künstler, der neue Inspirationen aus der vorgenannten Gruppe schöpft (der Ausdruck »Enthusiasmus« wird wieder zum Leben erweckt). Drittens betrifft er den Aspekt eines bestimmten Kunstwerks, durch den sich die besondere Beziehung zwischen Künstler und Nation manifestiert. Zur Verdeutlichung der letzteren beiden Bedeutungen werden Goethe und Faust als vorzügliche Beispiele zitiert. Der Begriff »Originalität« bezeichnet, wie die Etymologie nahelegt, eine Rückkehr zu den Ursprüngen, aber er markiert auch den beginnenden Wert des Neuen. Für de Stael stehen Zukunft und Vergangenheit, Künstler und Nation, Unterschiedlichkeit und Gleichheit in einem dynamischen Spannungsverhältnis zueinander. Im Gegensatz zu Friedrich II. ist für de Stael die Vermittlung des Universellen durch das Partikulare der Katalysator für künstlerisches Schaffen und Verstehen. Indem sie die romantische Literatur preist, stellt de Stael Friedrichs Gleichsetzung von griechisch-lateinischer Literatur und Universalität in Frage. Tatsächlich setzt sie ausdrücklich ihren Gebrauch des Begriffs »klassisch« in Gegensatz zu der alternativen Möglichkeit, ihn als »Synonym für Perfektion« zu verwenden (Bd. 2, S. 129). Griechische und lateinische Texte sollten geachtet werden, insofern sie ihren eigenen National- und Sprachgenius zum Ausdruck bringen, aber sie werden nicht als geeignete Modelle zur Nachahmung angesehen. Vielmehr werden Nachahmung und Vollkommenheit in Friedrichs Sinn in De rAllemagne mit Morbidität in Verbindung gebracht. Die Analyse der jüngsten deutschen Literatur beinhaltet jedoch nicht nur einen Bruch mit der Vergangenheit, sondern führt darüber hinaus zu einer Auseinandersetzung über die Zukunft der französischen Literatur. »Die romantische Literatur ist die einzige, die noch vervollkommnet werden kann, da sie in unserem eigenen Boden wurzelt und deshalb als einzige wachsen und sich erneuern kann; sie ist Ausdruck unserer Religion, unserer Geschichte; ihr Ursprung ist alt, aber nicht antik« (Bd. 2, S. 138 f.). Wenn also de Stael das Konzept der Vollkommenheit aufnimmt, trennt sie es vom Universalitätsbegriff der Aufklärung und gebraucht es wieder in einem entwicklungsfähigen und volksspezifischen Sinn. Auf die Gefahr des Widerspruchs hin - ist die französische Literatur nicht ihren lateinischen Wurzeln verpflichtet? - behauptet de Stael, dass die französische Literatur trotz sprachlicher, kultureller und politischer Unterschiede viel von der deutschen lernen könne, da auch Frankreich am romantischen Erbe Europas Anteil habe, auch wenn es ihm bisher ausgewichen sei: »Die Literatur der Antike ist für die modernen Leser eine transplantierte Literatur. Die romantische oder ritterliche Literatur ist bei uns heimisch, und unsere Religion und Institutionen haben sie zur Blüte gebracht« (Bd. 2, S. 134). Obwohl die deutsche Literatur ebenso wenig nachgeahmt werden sollte wie die C22 1782 I Anton Reiser: Krankengeschichte und Geburt der empirischen Psychologie griechische oder lateinische, würde ihr Studium eine »Wettkampfstimmung« schaffen, aus der die Kraft zur Gestaltung der eigenen Literatur erwachsen könnte (Bd. 3, S. 290). De Stael vertritt auch die Auffassung, dass der französische Klassizismus zwar Meisterwerke hervorgebracht habe, dass diese aber »bei aller Vollkommenheit selten volkstümlich gewesen seien, da sie nicht zu irgendwelchen nationalen Belangen in Beziehung stünden« (Bd. 2, S. 135). Durch die Abkehr von ihren Wurzeln hat die französische Literatur am eigentlichen Adressaten literarischer Werke Verrat geübt: am Volk, das von de Stael als das natürliche Gefäß des Nationalgeists gesehen wird und nicht als eine widerspenstige Masse, die zu Staatsbürgern erzogen werden muss. Wenn de Stael die Tatsache beklagt, dass Deutschland noch nicht politisch geeint sei, so tut sie das, weil sie die deutsche Nation als eine aufkeimende und schon existente Realität begreift. Insofern ist De l'Allemagne, um einen Begriff des Historikers Hans Kohn aus seinen Ausführungen über de Stael aufzugreifen, eines der »Gründungsdokumente des kulturellen Nationalismus«. JAMES A. STEINTRAGER : Siehe auch 1774, 1786, 26. August 1792, April 1796 Januar 1800, 1831 Bibliogiuphu: Friedrich ii. von Preußen, Dir Werke Friedrichs ia GroBen. Bd.8: Philosophische Schriften, hg. von Gustav Berthold Volz, Nachdruck der Ausgabe Berlin 1913, Braunschweig 2006. - Madame de Stael, Über Deutschland, hg. von Monika Bosse, Frankfurt am Main 198c. 1782 I Karl Philipp Moritz bittet um Beiträge für sein Magazin zur Erfahrungsseelenkunde Anton Reiser: Krankengeschichte und Geburt der empirischen Psychologie Im Frühjahr 1782 erschien in der renommierten Zeitschrift Deutsches Museum ein bemerkenswerter Aufsatz. Sein Verfasser, der 23-jährige Karl Philipp Moritz, hatte bisher ein paar Gedichte und kurze Essays zur Pädagogik'und Sprachwissenschaft veröffentlicht. In dem »Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungsseeterikunde« schlug er ganz andere Töne ah. Er forderte »alle Beobachter des menschlichen Herzens« auf, sich für die Begründung eines neuen Forschungsgebietes einzusetzen, um das Projekt der Aufklärung zu vollenden (S. 793). Nach Moritz sollte sich der moderne Geist sich selbst zuwenden und eine Wissenschaft vom Menschen schaffen, die scharfsinnig genug sei, das konkrete Individuum mit all seinen Leidenschaften und Erinnerungen, Eigenheiten und Abneigungen anhand empirischer Erkenntnisse zu untersuchen-Die Erfahrungsseelenkunde sollte diese Aufgabe erfüllen, indem sie sich der einzigen Disziplin nachgestaltete, die jemals Interesse am Einzelnen [782 I Anton Reiser: Krankengeschichte und Geburl der empirischen Psychologie C23 gezeigt habe. Als »moralischer Arzt« sollte der Psychologe der Zukunft die Methoden der medizinischen Diagnostik (Beobachtung, induktives Denken) auf die Untersuchung von Seelenzuständen anwenden. In einer Hinsicht wäre die Psychologie allerdings noch mehr auf Vermutungen angewiesen als die Medizin. Während diese bereits ihre Handbücher, Institutionen und Traditionen besitze, sei die Erfahrungsseelenkunde eine neue Wissenschaft, die ihren Gegenstand, ihre Methoden und ihre Grenzen erst noch bestimmen müsse. Daher sei der Reichtum an Erfahrungen zunächst wichtiger als ein geschlossenes Konzept und wissenschaftliche Strenge^-Das neue Magazin werde ein unzensiextes öffentliches Forum für vertrauliche Beobachtungen und persönliche Erfahrungen bieten. Alle Leser, tlnäbhängig von »Klasse und Rang«, wurden aufgefordert, kurze Ski^zerivfin_sijdijse^ und ihrer Welt beizusteuern. Moritz' Aufforderung blieb nicht ungehört. Über einhundert Autoren aus allen Lebensbereichen - Erzieher, Pfarrer, Lehrer, Ärzte und Richter - füllten von 1783 bis 1^92 die Zeitschrift mit Kinrlfieitserinnerungen, Berichten von Missgeschicken, Träumen, Reflexionen zuFSprache und anderen Kuriosa. Moritz' Magazin gestattete einen faszinierenden Einblick in das Innenleben der gebildeten Klassen Deutschlands gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Fußend auf einem weit verbreiteten Interesse an Anthropologie, kreierte das Magazin einen neuen Denkstil, der zu einer radikal anderen Beschreibung der Seele führte. Moritz sah die menschliche Psyche nicht mehr als zeitloses Phänomen mit universellen Zügen, sondern als einzigartige Konstellation von Ideen, die das Individuum nach und nach erwirbt. Daher musste ihre Untersuchung auf zwei Wegen zugleich erfolgen: Sie hatte die Eigenheiten des Verhaltens eines einzelnen Menschen zu beobachten und verständlich zu machen, indem sie sie bis zum Zeitpunkt ihrer Entstehung zurückverfolgte. Beide Aspekte beschreiben den Menschen als Fmzelfall und weisen nach, dass seine Geschichte die geeignetste Form ist, um die Besonderheiten des Selbst durch die Darstellung der besonderen Wege und Umwege eines ganzen Lebens zu verdeutlichen. Moritz' autobiographischer Roman Anton Reiser ist seine umfassendste Krankengeschichte. Das Buch, das von 178c bis 1790 in vier Bänden erschien, berichtet von einer gescheiterten Entwicklung. In seiner Kindheit, geprägt von Armut und religiöser Enge, befreit sich Anton (Moritz' Alter Ego) von den Fesseln seiner Familie, wird aber Opfer seiner eigenen überspannten Phantasie. Moritz sah seinen Roman eindeutig als einen Beleg für die Erfahrungsseelenkunde: Er publizierte Auszüge in seiner Zeitschrift, gab der Buchversion den Untertitel »Ein psychologischer Roman« und verfasste mehrere programmatische Vorworteüber das Anliegen des neuen Genres. Der psychologische Roman zielt darauf ab, »die Aufmerksamkeit des_ Menschen mehr aufden Menschen selbst zu heften und ihm selbst sein individuelles Dasein wichtiger zu machen«. Er erzählt »die innere Geschichte des Menschen«, nicht um die Phantasie des C24 1782 I Anton Reiser: Krankengeschichte und Geburt der empirischen Psychologie 1782 I Anton Reiser: Krankengeschichte und Geburt der empirischen Psychologie 525 Lesers anzuregen, sondern um seine »vorstellende Kraft« auf die geringfügigen Umstände und trivialen Einzelheiten zu konzentrieren, die den Charakter des Menschen formen (Anton Reiser, S.86). In Umkehrung gewohnter Bedeutungshierarchien zeigt eine psychologische Darstellung, dass das »Gewebe eines Menschenlebens aus einer unendlichen Menge von Kleinigkeiten besteht, die alle in dieser Verflechtung äußerst wichtig werden, so unbedeutend sie an sich scheinen« (S. 186). Aufmerksamkeit für das Detail ist ein Aspekt von Moritz' neuem Erzählerethos. Ein weiterer ist der Anschein wissenschaftlicher Objektivität. Der Erzähler des Anton Reiser ist in der Tat ein »moralischer Arzt«, der die Seelenzustände seines Patienten mit »kaltblütiger Aufmerksamkeit« und analytischer Distanz untersucht. (»Vorschlag«, S.802) Daher ist es keine Übertreibung zu sagen, dass Moritz' Roman aus zwei sehr verschiedenen Texten besteht - einer spannenden Erzählung, die sich vor allem aus Antons Literatur-inspirierten Phantasien speist, und einem kühlen diagnostischen Kommentar, der die sozialen Ursachen und psychologischen Mechanismen untersucht, die hinter Antons Trugbildern stecken. Dieses Fehlen einer ausdrücklichen Identifikation unterscheidet Moritz' psychologischen Roman von anderen Versuchen seiner Zeitgenossen, über das Selbst zu schreiben. Während die Autobiographie und der Bildungsroman Entwicklungsgeschichten darstellen, in denen der Protagonist schließlich in der Lage ist, über sein eigenes Leben zu berichten, und so mit dem Erzähler verschmilzt, besteht Moritz auf einer strikten Trennung von Erzählung und Erzähler. Statt beide miteinander zu verschmelzen, stellt Anton Reiser nach den Worten eines zeitgenössischen Kritikers eine »historische Anatomie und Meteorologie der Seele« dar. Wie sehr sich dieses Buch von der damaligen literarischen Konvention abhebt, zeigt eine Passage, in der Anton in noch jungen Jahren unter dem Eindruck zahlreicher von ihm verschlungener Bücher selbst über sein Leben schreiben will: »Der Anfang, den er sich dachte, lief aber immer auf den Schlag der Robinsons hinaus, die er gelesen hatte, dass er nämlich in dem und dem Jahr zu H... von armen doch ehrlichen Eltern geboren sei, und so sollte es denn weiter fortgehen« (Alton Reiser, S.240). Das aber ist gerade nicht der Anfang, für den sich Moritz entscheidet. Anton Reiser beginnt vor der Geburt seines Helden mit einer umfänglichen Schilderung der religiösen Ansichten und Streitigkeiten seiner Eltern. Antons lebenslange Melancholie wird in zwei Aspekten zurückverfolgt, die seine Kindheit prägen — die Missachtung seiner Eltern, die bei ihm tiefe Zweifel an seiner eigenen Existenz auslöst, und die Religiosität des Vaters, in der er einen imaginären Ersatz für seine Misere in dieser Welt findet. Auf diesem Muster von diesseitiger Missachtung und illusionärem Ausgleich baut der ganze Roman auf. Anton Reiser erzählt die Geschichte einer doppelten Pathologie: der Pathologie der Sozialsysteme des 18. Jahrhunderts (Familie, Schule, Wirtschaft), die den unterprivilegierten Anton marginalisieren und unterdrücken, dazu die Pathologie einer überspannten Phantasie, die die Persönlichkeit mit trügerischen Wunschbildern aus der Bahn wirft. Die Religion ist nicht die erste von Antons imaginären Surrogaten, aber sie prägt seine Phantasien und steuert seine Wünsche. Antons Vater ist Anhänger der Lehren von Jeanne Guyon, einer französischen Quietistin aus dem 17. Jahrhundert, deren Schriften einen mystischen Glaubenstyp begründeten. Ihr zentraler Gedanke ist die komplette Selbstaufgabe des Menschen als Voraussetzung für seine grenzenlose Vereinigung mit Gott. Moritz' Roman übersetzt dieses religiöse Szenario in die Sprache der Anthropologie des späten 18. Jahrhunderts. Anton schwankt zwischen Melancholie und Enthusiasmus, zwischen dem erdrückenden Gefühl seiner eigenen Nichtigkeit und ekstatischer Allmacht, die ihm zuströmt, wenn er sich mit einem idealisierten Änderen identifiziert. Seine Phantasien zeugen nicht so sehr von dem Wunsch, eine aktive Rolle zu spielen, wie die meisten Kritiker behaupten, sondern bemerkt zu werden. Ob er nun in ein Zwiegespräch mit Gott eintritt oder davon träumt, Prediger oder Schauspieler zu werden, stets sieht er sich als den einzigen Gegenstand, auf dem der wohlgefällige Blick eines imaginären Meisters ruht. In diesem Sinne funktionieren selbst seine Wunschbilder vom Theater, die die zweite Hälfte des Buches beherrschen, in den beiden Figurationen, die seine frühesten Erlebnisse prägten - der Missachtung seiner Eltern und Jeanne Guyons Vorstellung von der ekstatischen Vereinigung des Selbst mit einem liebenden Gott. In der Literatur über die deutsche Tradition der Autobiographie ist es geradezu ein Allgemeinplatz geworden, auf die religiösen, genauer gesagt, pietistischen Wurzeln der Selbstbeobachtung hinzuweisen. In dieser Hinsicht bietet Anton Reiser ein komplizierteres Bild. Die Religion ist hier keine Frage des Glaubens, sondern Ursache seelischer Leiden. Psychologisch gesagt, wird sie zu einem imaginären Surrogat, zu einer Kompensationsphantasie herabgestuft, die Anton kurzfristige Erleichterung von seiner Misere verschafft, ihn aber nur noch tiefer in die Melancholie stürzt, wenn klar wird, dass es sich nur um eine Illusion handelt. Je schwerer er unter einer bedrückenden Situation leidet, desto mehr sucht sein gequältes Ich sich in eine fiktive Gegen weit von Religion, Spielen und vor allem Romanen zu flüchten. Antons Krankheit ist kultureller Natur. Die Symptome - schwaches Selbstbewusstsein, Melancholie, Verschwimmen von Phantasie und Wirklichkeit- werden durch das Lesen von Romanen noch verschlimmert, die er »mit unersättlicher Begierde verschlang« (S. 109) und »in deren Genuss er sich für all das Unangenehme in seiner wirklichen Welt einigermaßen entschädigen konnte« (S.94). Mit seiner Beschreibung der pathologischen Effekte übermäßigen Lesens schließt sich Moritz den zahllosen Pädagogen seiner Zeit an, die diese Gewohnheit als gefährlich anprangerten. In Anton Reiser wird aber auch, zumindest indirekt, eine Behandlung dieses Leidens angedeutet. £26 1782 I Anton Reiser: Krantengeschichte und Geburt der empirischen Psychologie Der diagnostische Rahmen des Buches stellt gleichsam ein Gegengift für die leidenschaftlichen Geschichten des Protagonisten dar. Indem Moritz sein Leben zu einer Krankengeschichte macht, wird er zu seinem eigenen moralischen Arzt, der die sozialen Ursachen und psychologischen Mechanismen aktiv analysiert, an denen er bisher gelitten hat. So gerät Moritz' psychologisches Projekt zum Versuch einer Selbstheilung durch Wissen. Hier kommt allerdings ein dritter Faktor ins Spiel, der die hochgespannte Logik von Antons selbstgeschaffenen Romanen und die analytische Konsequenz der Krankengeschichte durcheinanderbringt. Es ist die Welt zufälliger Objekte, verschwommener Körper, unvorhergesehener Zwischenfalle und sperriger Einzelheiten, die den Fluss der Erzählung ständig unterbrechen und alle Versuche zunichte machen, dieser einen Sinn zu geben. Da wäre zum ersten Antons schwächliche Konstitution, die seine narzisstischen Phantasien immer wieder durchkreuzt. Unmittelbar bevor er die lang ersehnte Hauptrolle in einem Stück spielen soll, stürzt er in tiefe Verzweiflung, weil er plötzlich sein Haar verliert. Seine schäbige Kleidung stigmatisiert ihn auf ähnliche Weise. Aus seinem Verlangen nach öffentlicher Anerkennung wird Scham, sich in diesem Aufzug zeigen zu müssen. Nirgendwo offenbart die Welt der Gegenstände jedoch ihre zerstörerische Dynamik brutaler als in den unvorhergesehenen Zwischenfällen, die das ganze Buch durchziehen und einen enormen Einfluss auf den Protagonisten haben: »Von einem einzigen zu schnell umgeschlagenen Blatte in dem Exemplar des Direktors von Ciceros Buche von den Pflichten schrieben sich größtenteils alle die Leiden her, die Reisern von nun an in seinen Schuljahren bevorstanden« (S. 242). Moritz' mikroskopische Erzählweise treibt den Realismus des 18. Jahrhunderts so auf die Spitze, dass er jeder rhetorischen und ideologischen Konsequenz verlustig geht. Während seit Defoe die Einzelheiten des Alltagslebens dazu dienten, der Idealbiographie eines Helden Authentizität zu verleihen, wuchern sie in Anton Reiser in einem Maße, die jeden Versuch, eine gewisse Lebenslinie darzustellen, zunichte macht. Damit bricht Moritz' Roman mit zwei metaphysischen Grundsätzen, auf denen die meisten zeitgenössischen Erzählungen über das Selbst insbesondere in Deutschland aufbauen: (1) der Annahme einer Komplementarität zwischen Subjekt und Umwelt sowie (2) dem teleologischen Muster der Lebensgeschichte des Einzelnen. Beherrscht von unvorhersehbaren Ereignissen und starren gesellschaftlichen Strukturen verweigert sich die Welt von Moritz' Roman jeglicher Entwicklung. Daher die seltsam starre Beschaffenheit von Antons Biographie, die in einer wellenförmigen, sich ständig wiederholenden Bewegung eingeschlossen scheint: »Man sieht leicht, dass Anton Reisers Eitelkeit durch die Umstände, welche sich jetzt vereinigten, um ihm seine eigne Person wichtig zu machen, mehr als zuviel Nahrung erhielt. Es bedurfte wieder einer kleinen Demütigung für ihn, und die blieb nicht aus« (S. 192). 1782 I Anton Reiser: Krankengeschichte und Geburt der empirischen Psychologie £ly Einerseits scheint Moritz' Roman dem Anspruch gerecht zu werden, nichts als Beobachtungen der realen Welt bis hin zu den unbedeutendsten Details zu liefern. Aber dann wird der Realismus übertrieben, denn der Autor strebt bei der Rekonstruktion seines eigenen Lebens nach mehr als nur wissenschaftlicher Strenge. Das Ubermaß ist bereits in de_m genannten Zitat zu erkennen, das Antons Unglück auf das Wirken einer kosmischen Kraft zurückführt, die ihn für seine Eitelkeit bestraft. So erscheint der Zufall nicht als ein wahlloses Zusammentreffen von Umständen, sondern als Offenbarung eines moralischen und damit bedeutsamen Universums. Das ist kein Einzelfall. Im ganzen Roman bemüht der Erzähler immer wieder Begriffe wie Schicksal und Fortuna - eine Sprache, die mit dem analytischen Zweck einer Krankengeschichte eindeutig nichts zu tun hat. So kommt es, dass Moritz' anscheinend wissenschaftlicher Roman in Wirklichkeit einem vorneuzeitlichen, barocken Muster folgt. Für die ständigen Rückfälle in Antons Leben werden zwei Erklärungen geliefert, die einander ausschließen: eine psychologische, die die Charakterzüge der Persönlichkeit als Ergebnis einer Entwicklung seit der frühesten Kindheit darstellt, und eine moralisch-ontologische, die eine Welt heraufbeschwört, in der Hochmut vor dem Fall kommt. Es ist, als habe Moritz, indem er sein eigenes Leben als eine Geschichte von Wiederholung und Scheitern darstellte, um jeden Preis mit den Mechanismen einer narzisstischen Identifikation brechen wollen, die ihm so große psychische Leiden bereitete. Mit anderen Worten, der analytische Blick des moralischen Arztes hat etwas Exzessives, Grausames. Das deutet Moritz selbst in einer Passage des »Vorschlages« an: »Sobald ich also sehe, dass man mir selber keine Rolle geben will, stelle ich mich vor die Bühne und bin ruhiger, kalter Beobachter. Sobald mir mein eigener Zustand beschwerlich wird, höre ich auf, mich für mich selber so sehr zu interessieren, und betrachte mich als einen Gegenstand meiner eigenen Bobachtung, als ob ich ein Fremder wäre, dessen Glücks- und Unglücksfälle ich mit kaltblütiger Aufmerksamkeit erzählen hörte« (S. 802). Vielleicht rührt die merkwürdige Modernität von Moritz' Roman eben aus diesem radikal anti-autobiographischen Impuls her, dem Wunsch, über das Selbst zu schreiben, nicht, um den eigenen Erlebnissen einen Sinn zu geben und die Lücke zwischen Erzählung und Erzähler zu schließen, sondern um den Unterschied zwischen Leben und Diskurs zu vergrößern, um aus früheren Niederlagen eine neue Identität als Autor des eigenen Selbst zu schaffen. In dieser Geschichte fehlt allerdings Moritz' eigene Genese als Autor. Da der Erzähler Antons Phantasien als Ersatzformen für die Erfüllung seiner Wünsche pathologisiert, missachtet er deren produktive und kritische Dimension. Anton träumt sich nicht einfach in eine bessere Welt hinein. Seine Spiele und Phantasien sind eine Möglichkeit, die eigenen Erlebnisse symbolisch anzunehmen und aufzuarbeiten: »Wenn er auf der Wiese ging, so machte er eine Scheidung und ließ in seinen Gedan- $28 1782 I Anton Reiser: Krankengeschichte und Geburt der empirischen Psychologie [2. Oktober 1784 | Das Allgemeine und das Einzelne C29 ken zwei Heere gelber oder weißer Blumen gegeneinander anrücken. Den größten unter ihnen gab er Namen von seinen Helden, und eine benannte er auch wohl von sich selber. Dann stellte er eine Art von blindem Fatum vor, und mit zugemachten Augen hieb er mit seinem Stabe, wohin er traf. Wenn er dann seine Augen wieder eröffnete, so sah er die schreckliche Zerstörung, hier lag ein Held und dort einer auf dem Boden hingestreckt, und oft erblickte er mit einer sonderbaren wehmütigen und doch angenehmen Empfindung sich selbst unter den Gefallenen« (S.104). Gibt es ein anderes Werk aus dem 18. Jahrhundert, das die Aggressivität eines Achtjährigen so unverhüllt beschreibt? Und doch ist Antons zerstörerisches Spiel auch ein kreativer Akt, denn dadurch verwandelt er nicht nur das schmerzhafte Erlebnis der Passivität in etwas Aktives, sondern stellt sein Leiden auch für sich selbst dar. Als Produkt einer symbolischen Aneignung ist dieses Spiel eine kreative Errungenschaft, eine Erfindung, die die Welt zerstört, um sie als imaginäres Medium der Selbstverwirklichung neu zu arrangieren. Und das ist kein Einzelfall. Anton weigert sich beharrlich, die Welt in ihrer ganzen Enge zu akzeptieren. Seine schöpferische Phantasie wird zur Quelle ständiger Unruhe und kritischer Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Status, das heißt, zum Ursprung von etwas Neuem. In diesem Sinne überschreitet Moritz' psychologische Krankengeschichte ihren selbst gesetzten interpretativen Rahmen und weist auf künftige literarische und politische Entwicklungen hin. Das scheint der Erzähler an einer Stelle selbst zu sagen: »Als in der Stadt, wo seine Eltern wohnten, einmal wirklich in der Nacht ein Haus abbrannte, so empfand er bei allem Schreck eine Art von geheimem Wunsche, dass das Feuer nicht sobald gelöscht werden möchte. Dieser Wunsch hatte nichts weniger als Schadenfreude zum Grunde, sondern entstand aus einer dunklen Ahndung von großen Veränderungen, Auswanderungen und Revolutionen, wo alle Dinge eine ganz andre Gestalt bekommen und die bisherige Einförmigkeit aufhören würde« (S. ioc). ANDREAS GAILUS : Siehe auch 1670 (collegia pietatis), 1774, 1792, 1899 Bibliographie: Karl Philipp Moritz, Anton Heiser. Ein psychologischei Roman, in: Werke, Bd. 1: Dichtungen und Schriften iui Erfahrungsstelenkunde, hg. von Heide Hollmer und Alben Meier, Frankfurt am Main [999. S. 85-518. - Ders.. »Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungsseelenkunde«, ebd., S. 793-809. it. Oktober 1784 | Goethe ermutigt Johunn Gottfried Herder zur Vollendung seinet Philosophie der Geschichte der Menschheit Das Allgemeine und das Einzelne Am 12. Oktober 1784,'schreibt Goethe an seinen früheren Mentor Johann Gottfried Herder (1744-1803) einen Brief, in dem er ihn dazu drängt, sein gewaltiges Werk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791) fortzusetzen. Diese Ermutigung war so erwünscht wie notwendig. Der ungeheure Umfang von Herders Unternehmen, das von der Zoologie bis zur Anthropologie, von der vergleichenden Botanik bis zur Erdgeographie reichte, erforderte die Vertrautheit mit zahlreichen in rascher Entwicklung begriffenen Forschungsgebieten. Es erschien kaum möglich, eine solche Aufgabe im Verlauf eines Menschenlebens zu bewältigen.Tatsächlich war Herder einer der Letzten, die versuchten, einen geschlossenen Überblick über die Welt der Natur und die menschliche Zivilisatioruřu geben. Herder wollte in einer einzigen Darstellung die Geschichte des Planeten und seiner Stellung im Sonnensystem, seiner Pflanzen undTiereTund voi allem seiner Völker zusammenführen. Der bloße Anspruch dieses Vorhabens spiegelt den Wunsch des 18. Jahrhunderts wider, für die Sphären der belebten Natur und der Kultur etwas zu finden, das Newtons allgemeinem Gravitationsgesetz vergleichbar wäre, das in allen Bereichen der unbelebten Welt Gültigkeit hat. Die Ausarbeitung solch grundlegender Gesetze, meinte man, würde frühere religiöse und metaphysische Vorbilder ersetzen. Herders radikale naturalistische Betrachtung der Geschichte hatte ihre Wurzeln in seinem Glauben an Spinozas Gleichsetzung von Gott und Natur, die besagt, dass Gottes Pläne für die Menschenwelt und die Entwicklung der Natur übereinstimmen. Herders Ideen können als ein Versuch gesehen werden, sein früheres Werk Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) neu zu formulieren und zu erweitern. Dieses Werk reichte in seinen ersten Umrissen bis in seine Jugendzeit zurück. In der Tat sind die Ideen in vielerlei Hinsicht die Krönung eines breiten Spektrums von Forschungsarbeiten, die Herder seit den späten 1760er Jahren durchgeführt hatte. In einer berühmten Abhandlung über Shakespeare aus dem Jahre 1773 hatte er beispielsweise allen normativen Vorstellungen von Literatur einen entscheidenden Schlag versetzt, indem er zeigte, wie literarische Werke nur in jeweils besonderen kulturellen Kontexten Gestalt annehmen. Seine Untersuchung der Ursprünge lyrischer Dichtung zeigte ihre Verbindung mit archaischen religiösen Glaubensformen auf, und seine Sammlung von Volksliedern brachte den Europäern zum ersten Mal dieses besondere Spektrum kultureller Ausdrucksformen zur Kenntnis. Man könnte sagen, dass Herders große Entdeckung darin bestand, den komplexen Zusammenhang kultureller Formen und Werke und ihren unbestreitbar historischen Charakter durchschaut zu haben. In den Ideen versuchte er, CJO 12. Oktober 1784 | DasAllgemeine und das Einzelne diese historische und kulturelle Vielfalt zu überblicken und gleichzeitig die ihr zugrunde liegende Einheit zu erfassen. Obwohl sich Herder auf naturwissenschaftliche Kenntnisse stützt insbesondere auf Geographie und Klimatologie, orientiert er sich nicht ausschließlich an der Methodik der Naturwissenschaften. Im Gegenteil was seinen Denkstil auszeichnet, ist die Verbindung von naturwissenschaftlichem Forschen und dichterischer. Freiheit. Seine Verwendung des verhältnismäßig unpräzisen, vitalistischen Begriffs der Kraft als des alles durchdringenden Organisationsprinzips in der Welt der Natur verdeutlicht dieses Vorgehen. In einer anonymen und ironisch abschätzigen Rezension des ersten Teils von Herders Ideen hat Kant eine derart metaphorisch aufgeblähte Terminologie scharf kritisiert und auf der strikten Beachtung methodologischer Grenzen für alle Formen der wissenschaftlichen Forschung bestanden. Enttäuscht und verbittert durch Kants Kritik, fand Herder Trost in Goethes aufmunternden Worten. In Herders Schriften verbinden sich Intuition, Gefühl und poetische Darstellung, die Kant als wesensfremd für die wissenschaftliche Forschung ablehnt, mit abstraktem Denken, um erstaunlich originelle Einsichten in die Muster des Fortschritts menschlicher Kultur hervorzubringen. Am bedeutsamsten unter diesen poetischen Stilmitteln ist sicherlich die Analogie von organischem Wachstum und historischer Entwicklung. Die Geschichte entfaltet einen unfassbaren Reichtum an Einzelheiten, aber nach Herders Auffassung sind alle Kulturen und Zeitalter durch ein wiederkehrendes Muster von Aufblühen und Verfall gekennzeichnet. Doch dieses Muster läuft nicht auf eine sinnlose Wiederholung hinaus. Vielmehr ist jede kulturelle Epoche dazu bestimmt, einen einzigartigen Aspektjiessen zu aktualisieren, was Herder Humanität nennt. Humanität ist die Aufgabe aller Einzelwesen und Völker, und in ihrer fortschreitenden Verwirklichung liegt der eigentliche Sinn der Geschichte. Die Idee der Humanität, die Herder schon in seinem Werk Briefe zur Beförderung der Humanität (1793—1797) feiert, umfasst all diejenigen Eigenschaften, die uns zu Menschen machen. Herder führt diese spezifisch menschliche Fähigkeit mit der ziemlich kühnen und überraschenden Behauptung ein, dass »der Mensch der erste Freigelassene der Schöpfung sei«. Die Entlassung aus der natürlichen (kausalen) Bestimmtheit in ein Leben voller Freiheit und Wahlmöglichkeiten ist allen Mitgliedern der menschlichen Rasse gemeinsam. Die Früchte der menschlichen Freiheit sind freiwillige soziale Bindungen wie Ehe, Freundschaft, Treue und verschiedene Regierungssysteme. Im Gegensatz zu den Tieren, die vollständig von der Natur hervorgebracht werden, müssen die Menschen sich ihre Welt und damit sich selbst erschaffen. Das ist Herders Hochglanzpolitur am aufklärerischen Konzept der Selbstvervollkommnung. Von Natur aus unvollkommen und unvollendet, vervollkommnen sich die Menschen eigenhändig durch die Schaffung der Konventionen, Mittel und Praktiken, mit denen das menschliche Potential realisiert wird. 12. Oktober 1784 | Das Allgemeine und das Einzelne $31 Unter diesem Gesichtspunkt kann die Entwicklung der menschlichen Kultur als eine zweite, diesmal vom Mensclien vollbrachte Schöpfungsgeschichte verstanden werden. "Die Idee der Humanität verbindet Herders Anschauungen mit dem neuhumanistischen Gedankengut der deutschen Klassik, das gleichzeitig mit der Niederschrift der Ideen entstand und besonders in den 1790er Jahren zur Blüte gelangte. Aber Herder unterscheidet sich von seinen Zeitgenossen, wie beispielsweise Schiller, in zwei wesentlichen Aspekten. Er war ein ausgesprochener Naturalist in dem Sinne, dass er keine Dualität zwischen_Natur und Geist anerkannte. Die Kraft, die sich zum Beispiel in den Formen der organischen.Nanirausdrückt, beseelt für ihn in gleicher Weise das menschliche Handeln und die Sprache. Das zweite charakteristische Merkmal von Herders Neuhumanismus ist die zentrale Bedeutung, die er der Sprache zuerkennt. Wie er niemals müde wird zu zeigen, wären selbst "Unsere einzigartigen natürlichen Gaben - zum Beispiel das Gehirn, die Stimme, die menschliche Hand, der aufrechte Gang - ohne die menschliche Sprache wirkungslos geblieben. Die Rede ist die Triebfeder, die den praktischen Gebrauch all dieser physischen Vorteile ermöglicht, durch die wir den stummen Lebewesen überlegen sind. Eine winzige physiologische Besonderheit — »ein kleiner Luftstrom durch einen engen Spalt« - verleiht uns die Fähigkeit, Gedanken durch Töne auszudrücken, wodurch die Grundlagen für alle spezifischen menschlichen Errungenschaften gelegt werden. Als »Schüler« seiner Mutter übt das Kind seine »vornehmsten Sinne«, Auge und Ohr, und mit der dadurch erlangten Bildung entwickelt es »Vernunft, Humanität, eine menschenwürdige Lebensweise«. Herder führt den Begriff der Vernunft sogar zurück auf seinen auditiven Ursprung (>vernehmen<). Vernunft ist keine angeborene Fähigkeit, keine innere Eigenschaft, sondern entwickelt sich mit der ständigen Betätigung der menschlichen Bildung. Auch die Religion ist ein Ergebnis dieses selbsterzieherischen Vorgangs, der ständig nach letzten Gründen sucht und ihnen eine anthropomorphe Form verleiht. Die Behandlung der Sprache in den Ideen lässt eine interessante Schwerpunktverlagerung gegenüber Herders berühmter Preisschrift von 1772, der Abhandlung . über _den..Uis^ung-der Sprache, erkennen. In dem früheren Text war die Verbindung zwischen einem Gegenstand der sinnlichen Anschauung und seinem Namen durch eine onomatopoetische Theorie der Bezeichnung garantiert, aber in den Ideen wird diese Verbindung aufgegeben und Sprache als rein willkürlich betrachtet. Wir können hierin einen Versuch sehen, die Auffassung zu widerlegen, dass das reine Denken zu wesentlichen Einsichten..führen könne, eine These, die laut Herder fälschlicherweise von Kant vertreten wird. »Unsere arme Vernunft«, behauptet Herder, rechnet mit Pfennigen, Zahlen, leeren Tönen, »denn dass es eine wesensmäßige Verbindung zwischen Sprache und Gedanken oder gar den Dingen selbst gäbe, kann niemand glauben, der auch nur cz.2 Ii. Oktober 1784 | Das Allgemeine und das Einzelne 12. Oktober 1784 | Das Allgemeine und das Einzelne C35 (zwei Sprachen spricht.« Es existieren viele Sprachen, und in jeder gibt sich die Vernunft damit zufrieden, ein Schattenspiel mit willkürlichen Zeichen zu treiben. Warum? Weil die Vernunft nur unwesentliche Merkmale erfasst und es letzten Endes gleichgültig ist, welche Zeichen sie zur Benennung benutzt. Wäre die Sprache in der Lage, die wahre Natur der Gegenstände auszudrücken, würden wir einen göttergleichen Status erlangen oder, wie Herder sagt, »im Land der Wahrheit« ankommen. Aber wir stehen in zweifacher Distanz zu diesem Land, denn was wir von einem Gegenstand erkennen, ist nur »ein oberflächliches, verkürztes Symbol des Gegenstandes, welches selbst wiederum in ein anderes willkürliches Symbol eingekleidet ist.« Das von der Linguistik inspirierte In-fragestellen der Ansprüche der Vernunft fand später Ausdruck in Herders Angriff auf Kant in der Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft (1799), einem Text, der heute je nach dem theoretischen Standpunkt des Kritikers entweder als bedauerlich missraten oder als überraschend vorausschauend angesehen wird. Zusätzlich zu seiner Abneigung gegen die Vorstellung der Vernunft als einer rein begrifflichen Fähigkeit hatte Herder eine zweite, ebenso bedeutsame Motivation für die Betonung des willkürlichen Charakters sprachlicher Zeichen in den Ideen. Er glaubte, dass, ebenso wie der Um-/ lauf von Papiergeld die wirtschaftliche Produktivität anregt, der Umgang ' mit willkürlichen Zeichen die geistige Erfindungskraft erhöhe. Derselbe Gedanke hat im ersten Akt von Faust II eine dramatische Gestaltung gefunden, indem die Einführung des Papiergeldes in Beziehung gesetzt wird mit einem allegorischen Stil dichterischer Sprache. Es ist gut möglich, dass Goethe an Herder dachte, als er diese Szene gestaltete. Die Bedeutung, die der Warenaustausch für Herder hatte, offenbart sich in den Wirtschaftsmetaphern, die so auffallend in seinen Schriften sind. Nach seiner Auffassung ist wechselseitig wohltätiger Handel der beste Garant für Frieden und soziale Gerechtigkeit und gleichzeitig Motor des wirtschaftlichen und geistigen Fortschritts. Diese Vorstellung spielt eine besonders wichtige Rolle in den Beschreibungen der Völker und ihrer Zivilisationen, die sich in den letzten Abschnitten der Ideen finden. So löst zum Beispiel die Beobachtung, dass Chinesisch eine im Wesentlichen piktographische Sprache sei, eine heftige Verurteilung der chinesischen Zivilisation, ihrer Gesetze, ihrer Kunst und ihres Handels aus. Der empörendste Aspekt der chinesischen Kultur ist ihr Widerstand sowohl gegen den wirtschaftlichen als auch gegen den linguistischen Austausch. Ein solcher institutionalisierter Stillstand verhindert nach Herder spekulativkreative Erneuerungen, seien sie philosophischer oder kommerzieller Art, und lähmt damit die humanitätsfördernde Dynamik der Geschichte insgesamt. Herders Bewertung Chinas - die sicher nicht untypisch für das späte 18. und das frühe 19. Jahrhundert war - führt zum vielleicht verwirrends-ten Aspekt der Ideen, zur Frage nach dem Verhältnis vom Universellen zum Individuellen. Während der Prozess der Akkulturation universell ist, sind die spezifischen Formen der kulturellen Entwicklung, ihre Gestaltungen zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort notwendigerweise vielfältig. Diese Vielfalt offenbart sich in den Künsten und Überlieferungen der Völker, aber auch in der Entwicklung jeden individuellen menschlichen Lebens. Herder strebte danach, jeder Zivilisation ihre kulturelle Autonomie zuzugestehen, und er wandte sich gegen die Beurteilung aller Kulturen nach Standards, die ihre Herkunft nur einer einzigen von ihnen zu verdanken haben. Aus diesem Grund wird er noch heute in vielen slawischen Ländern verehrt, weil er ihnen geholfen hat, die Legitimität ihrer eigenen nationalen Errungenschaften zu verstehen. Während der Respekt für die Einzelkulturen sich aus Herders organischer Vorstellung von historischer Entwicklung herleitet, verkörperter gleichzeitig sein Engagement im Kampf gegen kolonialen Rassismus und wirtschaftliche Ausbeutung. Der poetische Charakter seiner Beschreibungen steht in scharfem Kontrast zu den mehr wissenschaftlichen geologischen Berichten und dient als Anregung für den mitfühlenden Leser. Im Vorwort zu den Ideen verleiht Herder seiner Hoffnung Ausdruck, solch kongeniale Leser zu finden, das »unsichtbare commercium von Geistern und Herzen«. Obwohl Herder darauf bestand, dass individuelle Kulturen nach ihrem Eigenwert beurteilt werden sollten, forderte er nichtsdestoweniger eine gemeinsame »Kultur der Humanität«. Dieses Festhalten war teilweise eine Verteidigung gegen den Vorwurf des Relativismus, aber mehr noch sein Hauptargument im Kampf gegen alle Theorien einer Polygenese. Zusätzlich zur Kultur der Humanität behauptet Herder zwei andere regulative Prinzipien für die Entwicklung historischer Kulturen; Bildung und die beispielhafte Humanität Christi. Diese normativen Ideale bleiben jedoch unscharf definierte Instrumente für die globale Bewertung individueller Kulturen. Wichtiger als Standards für die konkrete Einschätzung sind die ästhetischen Kriterien, die Herder anlegt, um die verschiedenen Zivilisationen zu beurteilen. H. B. Nisbet hat viele Konzeptionen in den Ideen aufgezeigt, die aus der Ästhetik hergeleitet sind, darunter die Vorstellung von der Harmonie des Universums, die Form der Welt, die Goldene Mitte und die große Kette des Seienden; aber das am meisten gebrauchte ästhetische Kriterium für geistige Vollkommenheit und körperliche Schönheit ist die Darstellung des menschlichen Körpers in der griechischen Klassik. So stellt Herder im China-Kapitel des dritten Teils der Ideen die berühmte Beifallsformel Winckelmanns - »edle Einfalt, stille Größe« - auf den Kopf und charakterisiert die chinesische Ästhetik als eine solche haltloser Größe und leeren Glanzes. Solche Momente eurozentrischer Blindheit sind jedoch selten in den 'deen, und wie im Falle Chinas spiegeln sie oft komplexe politische und geistige Auseinandersetzungen im Europa des späten 18. Jahrhunderts wider. Von größerer Bedeutung für unsere Zeit sind Herders unablässige Bemühungen in den Ideen, Respekt für kulturelle Unterschiede einzufor- C34 August 1785 I Die Grenzen der Autklärung August 1785 I Die Grenzen der Aufklärung 535 dem, selbst wenn diese Unterschiedlichkeiten europäischen Maßstäben in keiner Weise gerecht werden. Herders Bewusstseiniür die ästhetische Seite der Wissenschaften, für ihre metaphorische Dimension, hat in zeitgenössischen Debatten wieder an Bedeutung gewonnen. Schließlich nimmt Herders Anerkennung der zentralen Bedeutung der Sprache als eines Mittels zur Welterschaffung einen wesentlichen Grundsatz modernen Denkens vorweg. Herder sah sein Werk von Anfang an durch das Zeitalter bedingt, in dem er schrieb, und er betrachtete die Gedanken, die er vortrug, nicht als ewige Wahrheiten, sondern als vorläufige und kurzlebige Blätter, die er dem großen Wind der Zeit überantwortete. I HANSJAKOB WERLEN : Siehe auch 1790, 1799. 1828 (Winter), 1831 Bibliographie: Johann Gottfried Herder, Werke, Bd. 6: Ideen zur Philosophie der Geschichte ia Menschheit, hg. von Martin Bollacher, Frankfurt am Main 1989. **+ August 178c I F. H. Jacobi verfasst in großer Eile sein »Spinoza-Büchlein« und löst damit den berühmten Pantheismusstreit aus Die Grenzen der Aufklärung Binnen weniger Wochen im August 1785 schrieb Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819) ein schmales Buch, dem er den ziemlich schmeichlerischen Titel gab: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Dieser kurze Traktat - das »Spinoza-Büchlein«, wie viele es nannten - war kein literarisches oder philosophisches Meisterwerk. Es war ein seltsames Stückwerk aus religiösem Bekenntnis, Textauslegung, persönlicher Korrespondenz und philosophischem Dialog; das Ganze versetzt mit reichlichen Zitaten aus Hamann, Herder, Lavater und der Bibel. Hamann nannte das Buch ein Monster, das aus »Spinozas Kopf, Herders Körper und Goethes Füßen« bestehe. Doch trotz all seiner Schwächen sollte das Buch ein succes de scandale werden, denn es enthielt eine überraschende Neuigkeit: Lessing war Spinozist! Laut Jacobi war das nicht ein bloßes Gerücht, sondern Lessing hatte es ihm persönlich im Sommer 1780 in Wolfenbüttel anvertraut. Da im Deutschland des 18. Jahrhunderts der Spinozismus Anklänge an Atheismus und Fatalismus hatte, musste die Enthüllung von Lessings Bekenntnis Furore machen. Lessing war die angesehenste Gestalt der Aufklärung gewesen; und jetzt kam heraus, dass er möglicherweise Atheist und Fatalist war. Jacobi gab sein Buch eilends in Druck, weil er mit derVeröffentlichung Moses Mendelssohn zuvorkommen wollte. Mehrere Jahre lang hatte Jacobi mit Mendelssohn über Lessing korrespondiert. Er hatte Mendelssohn über seine Gespräche mit Lessing informiert, in der Annahme, dass Mendelssohn diese Mitteilungen vertraulich behandeln würde. Als ein lebenslanger Freund Lessings war Mendelssohn durch Jacobis Enthüllungen beunruhigt, überrascht und zeigte sich besorgt. Wenn sie bekannt würden, könnten sie Lessings Ruf schädigen. Dass Lessing oft mit deru Spinozismus geliebäugelt hatte, wusste Mendelssohn nur zu gut; aber die Frage war, was der Spinozismus für Lessing bedeutete, und Mendelssohn war überzeugt, dass es nicht auf bloßen Atheismus und Fatalismus hinauslief. Im Sommer 178c; machte Else Reimarus Jacobi die beunruhigende Mitteilung, dass Mendelssotyn plane, seine eigene Version von Lessings Spinozismus zu veröffentlichen. Für Jacobi konnte das nur heißen: Mendelssohn wollte ihm zuvorkommen. Er wollte nicht nur seine Unterhaltungen mit Lessing ohne Erlaubnis verwenden, sondern wollte auch seine eigene Auffassung von Lessings Spinozismus zuerst veröffentlichen. Deshalb fasste Jacobi, verärgert und unter Zeitdruck, seine Materialien in einem Buch zusammen. Wie es das Schicksal wollte, kam Jacobi Mendelssohn mit der Veröffentlichung knapp zuvor. Die Briefe erschienen im September 1785; aufgrund von Herstellungsschwierigkeiten erschien Mendelssohns Abhandlung Morgenstunden erst im Oktober. Damit begann der sogenannte Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn. Jacobi hatte die Wirkung seines Buches richtig eingeschätzt. Im Blick auf die Wirkung der Briefe in der Öffentlichkeit sprach Goethe später von »einer Explosion« und Hegel von »einem Blitz aus heiterem Himmel«. Die Auseinandersetzung begann mit einem erbitterten Austausch von Streitschriften. Um Lessings Ruf zu verteidigen, schrieb Mendelssohn sogleich eine Erwiderung auf die Briefe, sein An die Freunde Lessings (1786). Um sich nicht übertrumpfen zu lassen, antwortete Jacobi auf Mendelssohns Behauptungen mit seiner Schrift Wider Mendelssohns Beschuldigungen (1786). Dann legte er erneut seine Position dar in David Hume über den Glauben, oder Idealismus und Realismus (1787) und in einer Neuauflage der Briefe (1789), die sich durch die Anfügung von acht Appendices im Umfang fast verdoppelten. Während der Skandal und die Auseinandersetzung tobten, schlug das Schicksal zu. Mendelssohn war verstört durch die Auseinandersetzung und es drängte ihn, sie hinter sich zu bringen. Als er das Manuskript von An die Freunde Lessings persönlich zu seinem Verleger bringen wollte, waren seine Eile und sein Ärger waren so groß, dass er sich nicht die Zeit nahm, seinen Mantel überzuziehen; er erkältete sich und starb an den Folgen am 4. Januar 1786. In der Berlinischen privilegierten Zeitung machte Karl Philipp Moritz Jacobi für Mendelssohns Tod verantwortlich. Es folgte eine hitzige Debatte über Jacobis Rolle in der Tragödie. Einige sahen Mendelssohns Tod als ein symbolisches Ereignis: Die Aufklärung war gemordet worden, und an Jacobis Händen klebte Blut. Obwohl er als ein Disput zwischen Jacobi und Mendelssohn begann, breitete sich der Atheismusstreit bald aus und zog alle bedeutenden Geister im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts in seinen Bann. Unter den bedeutenden Persönlichkeiten, die sich an der Ausein- 53° August 1785 I Die Grenzen der Aufklärung andersetzung beteiligten, ob öffentlich oder privat, waren Goethe, Kant Herder und Hamann. Verschiedene junge Schriftsteller gaben im Rahmen dieser Diskussion ihr Debüt: K. H. Heidenreich, der Ästhetiker, K. L. Reinhold, der Vertreter Kants, Thomas Wizenmann, der Verteidiger Jacobis, und A. L. Rehberg, der konservative Publizist. Die Kontroverse war auch eine Feuertaufe für die jungen Romantiker, die im Rahmen ihrer Teilnahme viele ihrer philosophischen Anschauungen entwickelten. Die Korrespondenzen und Aufzeichnungen von Hölderlin, Schelling, Schleiermacher, Friedrich Schlegel und Novalis machen deutlich, wie gründlich sie Jacobis Briefe studiert haben. Die Pantheismus-Kontroverse erreichte ihren Höhepunkt in den späten 1780er Jahren, nur um bald durch den Ausbruch der Französischen Revolution in den Hintergrund gedrängt zu werden. Aber die Fragen, die sie aufwarf, beschäftigten die Denker noch weit bis ins 19. Jahrhundert hinein. Auch Fichte, Hegel und Kierkegaard entwickelten ihre philosophische Grundeinstellung, indem sie in der Auseinandersetzung Partei ergriffen. Es ist schwer, sich eine Kontroverse vorzustellen, deren Anlass so geringfügig - Jacobis Bekanntmachung von Lessings Spinozismus - und deren Folgen so bedeutend waren. Der Pantheismusstreit gab neuen geistigen Kräften in Deutschland Auftrieb. Eines seiner bemerkenswertesten Ergebnisse war die Wende in der Entwicklung des Spinozismus. Mehr als ein Jahrhundert lang hatte das akademische und kirchliche Establishment Spinoza - mit Lessings Ausdruck - »wie einen toten Hund« behandelt. Spinozas Atheismus und Fatalismus zu schmähen war zu einem Standardritual geworden, eine wohlfeile Möglichkeit, eigene Rechtgläubigkeit unter Beweis zu stellen. Der Spinozismus stand nicht nur für Atheismus und Fatalismus, sondern für alle progressiven Ideen, die das Establishment verabscheute und fürchtete: religiöse Toleranz, Rede- und Pressefreiheit, Trennung von Kirche und Staat und Republikanismus. Es gab so viele Angriffe auf Spinoza, dass ein dickleibiger Catalogus scriptorum Anti-Spinozanorum in Leipzig veröffentlicht werden konnte und Trinius in seinem Freydcnkeriexicon etwa 120 Gegner Spinozas aufführte. Als jedoch der Pantheismusstreit schließlich abebbte, war aus dem geistigen Sündenbock Deutschlands sein Schutzheiliger geworden. Da Lessing der angesehenste Denker der Aufklärung war, hatte sein Glaubensbekenntnis jedem spinozistischen Privatgelehrten Mut gemacht und Legitimität verliehen. Viele bedeutende Denker der Goethezeit - Goethe selbst, Novalis, Schleiermacher, Herder, Schlegel, Hölderlin und Schelling - schlossen sich nun Lessing an und erklärten ihre Zugehörigkeit, oder zumindest ihre Neigung, zum Spinozismus. Dank dieser Kontroverse wurde der Pantheismus bald, wie Heine es später ausdrückte, »zur inoffiziellen Religion Deutschlands«. Ein anderes bemerkenswertes Ergebnis der Kontroverse war der Durchbruch des Kantianismus, sein endgültiger triumphaler Einzug auf der geistigen Bühne Deutschlands. Vor dem Ausbruch der Kontroverse August 1785 I Die Grenzen der Aufklärung 537 hatte Kant erste Fortschritte auf dem Weg zur Anerkennung gemacht. Er hatte einige begabte Schüler. Es gab Vorlesungen und Kommentare zu seinem Werk, und die Allgemeine Literaturzeitung hatte begonnen, sich für ihn einzusetzen. Aber die kritische Philosophie war noch weit davon entfernt, ein allgemeiner Erfolg zu sein. Kants Einfluss war beschränkt auf auserwählte Kreise an einigen wenigen Universitäten. Sein Werk war viel zu schwer begreiflich und zu esoterisch, um vom breiten Publikum verstanden zu werden. Schlimmer noch, es war von einigen der führenden Philosophen der Zeit - Garve, Mendelssohn und Feder - abgelehnt worden als ein Rückfall in Humeschen Skeptizismus oder Berkeleyschen Idealismus. Aber der Pantheismusstreit brachte Kants Philosophie schnell in Mode. Der entscheidende Durchbruch erfolgte im Herbst 1786 mit der Veröffentlichung von Reinholds Briefe über die Kantische Philosophie, einer eleganten, volkstümlichen Darstellung der Hauptlehrsätze von Kants Philosophie. Die Briefe waren nach den Worten eines Freundes von Kant »eine Sensation« gewesen. Aber es ist wichtig, das Geheimnis von Reinholds Erfolg im Auge zu behalten. Er zeigte die Bedeutung der kritischen Philosophie für jenen Disput, der zuvorderst in der Aufmerksamkeit des Publikums stand: den Pantheismusstreit. Wie konnte Jacobis Buch solche Kräfte entfalten? Wie konnte ein kleines, exzentrisches Werk so tiefreichende Konsequenzen haben? Die Kraftquelle des Buches lag letztlich in Jacobis Herausforderung der Aufklärung. Man muss anerkennen, dass Jacobi ein überwältigendes polemisches Talent besaß, ein unfehlbares Geschick, Menschen dazu zu bringen, sich mit wichtigen philosophischen Fragen auseinanderzusetzen. Was die Zeitgenossen so tief verstörte, war sein Angriff auf den grundlegenden Glaubensartikel der Aufklärung: die Autorität der Vernunft. Lessing war nur eine Schachfigur in Jacobis lange geplantem Feldzug gegen die Aufklärung in Berlin. Indem er Lessings Glaubensbekenntnis preisgab, warnte er vor den gefährlichen Folgen allen rationalen Denkens: Atheismus und Fatalismus. Lessing stand im Ruf, der kühnste und radikalste aller Aufklärer zu sein, ein wahrer Sokrates an der Spree, der bereit war, seinem Verstand zu folgen, wohin immer der ihn führen würde, ohne Rücksicht auf die Folgen für soziale Konventionen, politische Verpflichtungen oder religiösen Glauben. Deshalb hatte sein Spinozismus eine gewaltige symbolische Bedeutung. Sie besagte, dass die Vernunft, wenn sie bis an ihre Grenzen getrieben wird, Moral und Religion untergräbt. Jacobi konfrontierte die Aufklärer mit einem radikalen und dramatischen Dilemma: Sie mussten sich entscheiden zwischen einem rationalen Atheismus und Fatalismus einerseits und einem irrationalen Sprung in den Gottesglauben und die Willensfreiheit andererseits. Dazwischen gab es keinen Mittelweg, auf dem die Vernunft irgendwie die grundlegenden Prinzipien der Moral und der Religion hätte beweisen können. Das bedeutete letztlich, dass die Hauptanliegen der Aufklärung - eine natürliche Moral und Religion - Zeitverschwendung, eine reine Illusion waren. 538 August 1785 I Die Grenzen der Autklärung Natürlich beruhte Jacobis Haltung gegenüber der Aufklärung nicht nur auf Bezichtigungen und Skandalgeschrei. Es gibt ein verwirrendes Durcheinander von Argumenten in den Briefen, die meisten nur angedeutet, alle aber sehr beunruhigend. Jacobi teilte nach allen Seiten wild aus und machte sich nicht die Mühe, seine Gedanken in geordneter Form vorzutragen. Er ging davon aus, dass die Vernunft durch geschichtliche Kräfte bedingt ist und ihre Prinzipien lediglich eine spezifische Kulturstufe widerspiegelten. Er wies daraufhin, dass die Vernunft vom Willen gelenkt wird und nicht unvoreingenommen ist, da sie von unseren natürlichen Bedürfnissen abhängt. Er deutete ferner an, dass die Vernunft da sie nur zeitlose Relationen zwischen Ideen begreift, außerstande ist die Zeit selber zu erfassen. Alles, was geeignet schien, die Aufklärer aus ihrer dogmatischen Selbstzufriedenheit zu reißen, war Jacobi gerade gut genug. Ein Argument in Jacobis chaotischer Polemik erreichte einen besonderen Grad von Bekanntheit. Ausgangspunkt war seine kühne Behauptung, dass der Spinozismus das Paradebeispiel für den Rationalismus sei. diese Urform aller Philosophie. Der Geist des Spinozismus, sagte er zu Lessing, ist nichts anderes als die Maxime a nihilo nihil fit (>aus nichts geht nichts hervor<). Jacobi sah in dieser Maxime eine Spielart des leibniz-schen Prinzips vom zureichenden Grunde, welches besagt, dass »nichts geschieht, soweit nicht ein hinreichender Grund dafür vorliegt«. Spinozas Philosophie ist das Paradigma des Satzes vom zureichenden Grund, behauptete Jacobi, da sie sich weigert, dieses Prinzip zu begrenzen, und es vielmehr auf jedes Geschehen im Universum anwendet. Das bedeutet, dass jedem Geschehen ein anderes Geschehen vorausgehen muss, durch welches es in der Weise bedingt wird, dass es sich nicht anders vollziehen kann. Daher kann es keine erste Ursache für die Entstehung des Universums geben, keine Schöpfung aus dem Nichts; und es kann keine Freiheit in dem Sinne geben, wie sie von der moralischen Verantwortlichkeit erfordert wird, keine Möglichkeit, anders zu handeln. Mit anderen Worten, ein radikaler Rationalismus, der das Prinzip des zureichenden Grundes nicht einschränkt, muss in Atheismus und Fatalismus enden. Leibniz' Philosophie, fügte Jacobi hinzu, bleibt nur ein unvollständiger und unzulänglicher Spinozismus, weil sie aus dem Prinzip des zureichenden Grundes nicht dieselben weitreichenden Schlussfolgerungen zieht. Jacobi sah die eigentliche Herausforderung des Spinozismus in seinem radikalen Naturalismus, und besonders in seinem Prinzip, alles Geschehen im Universum durch mechanische Ursachen zu erklären. Er setzt den Spinozismus mit einem radikalen Naturalismus gleich, der die Existenz eines übernatürlichen Wesens leugnet und alles Geschehen als streng gesetzmäßig erklärt, so dass alles aus Notwendigkeit geschieht und nicht anders sein kann. Seine Kritik des Rationalismus der Aufklärung war für seine Zeitgenossen gerade deshalb so beunruhigend, weil er auf August I78r j Die Grenzen der Aufklärung 539 die zunehmend erkennbaren Konsequenzen der neuen Wissenschaften hinwies; Je weiter die Forschung fortschreitet, umso stärker schwindet das Reich des Übernatürlichen. Obwohl Jacobi Spinozas Philosophie als Modell eines radikalen Rationalismus ansah, hatte er Mühe zu erklären, wieso nicht auch er selbst dieser Philosophie anhing. Um Spinozas Atheismus und Fatalismus nicht akzeptieren zu müssen, machte er einen >Salto mortale<, der es ihm ermöglichte, seine moralischen und religiösen Überzeugungen beizubehalten. Wie Pascal vertrat Jacobi die Ansicht, dass unsere grundlegenden moralischen und religiösen Anschauungen nicht bewiesen werden können, vielmehr erhalten sie ihre Gewissheit aus einer unmittelbaren Erfahrung. Jeder Beweis muss auf einen unmittelbar evidenten Glauben zurückgehen, der auf Gefühl, Einsicht oder Inspiration beruht. Tatsächlich haben wir nur durch unmittelbare Erfahrung Kenntnis vom Sein, von der Realität der Dinge außerhalb unserer selbst. Die wahre Aufgabe der Philosophie besteht darin, die Grenzen der Vernunft aufzuzeigen und auf diese Realität aufmerksam zu machen. Jacobi erklärte in einigen berühmten Sätzen, die großen Widerhall fanden: »Meiner Meinung nach besteht die größte Aufgabe des Forschers darin, das Sein zu erschließen, es sichtbar zu machen [...]. Die Erklärung ist nur ein Mittel, ein Weg zum Ziel, der unmittelbare, aber niemals der letzte Zweck. Sein höchstes Ziel liegt in dem, was nicht erklärt werden kann, dem Unauflöslichen, dem Unmittelbaren, dem Einfachen.« Obwohl Jacobis Philosophie und Polemik zu seiner Zeit wie eine Bombe einschlugen, muss betont werden, dass seine Anschauungen nicht vollkommen neu waren. Es gab einige bemerkenswerte Vorläufer. Schon im frühen 18. Jahrhundert hatten einige der radikaleren Pietisten, vor allem Joachim Lange und Johann Budde, argumentiert, dass Wolffs Rationalismus streng genommen geradewegs zum Atheismus und Fatalismus Spinozas führe. Der einzige Ausweg aus dieser Konsequenz bestand ihrer Auffassung nach darin, die Herrschaft des Glaubens über die Vernunft anzuerkennen, mit anderen Worten: die Autorität des Glaubens gegenüber der Kraft des Beweises. Indem er seine Polemik auf Spinoza gründet und behauptet, dass Leibniz' Philosophie ein unzulänglicher Spinozismus sei, und indem er ferner das Übergewicht des Glaubens gegenüber der Vernunft betont, tritt Jacobi in die Fußspuren von Lange und Budde. Doch gibt es auch gewichtige Unterschiede zwischen Jacobi und seinen pietistischen Vorläufern. Zunächst einmal setzte sich Jacobi nicht für die wörtliche Autorität der Heiligen Schrift, sondern für die Bedeutung der persönlichen Erfahrung ein. Jacobi war nicht so sehr ein orthodoxer Lutheraner als vielmehr ein Pietist mit Wurzeln im Calvinismus. Sodann, und das ist noch wichtiger, wollte Jacobi nicht die Staatskirche oder das protestantische Establishment verteidigen. Er lehnte sich nicht gegen die Aufklärung auf, um die Gewissensfreiheit zu untergraben, sondern um sie zu unterstützen. Darin lag Jacobis Motivation für / i"40 August 178c I Die Grenzen der Aufklärung seine Kritik an der Aufklärung. Das ist schon deshalb wichtig, weil sein Anti-Rationalismus so oft als Beispiel für eine reaktionäre politische Einstellung interpretiert worden ist. Dass Jacobi mit seinem Angriff auf die Aufklärung liberale Werte verteidigen wollte, zeigt sich in einem früheren Essay aus dem Jahre 1782 mit dem Titel »Etwas, das Lessing gesagt hat«, der ein Vorspiel zu seinem späteren Disput mit Mendelssohn war. Auch dieser Essay ist an der Gestalt Lessings festgemacht, aber nur um ihn als Beispiel dafür anzuführen, dass die Aufklärung ihre Grundsätze der Gewissens- und Pressefreiheit nicht verraten darf. Der Anlass für Jacobis Essay waren die jüngsten Reformen Josephs 11. von Österreich, die darauf gerichtet waren, die traditionellen Rituale und Einrichtungen der Kirche abzuschaffen, um sie für die Gesellschaft nutzbar zu machen. Jacobi sah Josephs aufgeklärten Despotismus als ein warnendes Beispiel für die »Alleinherrschaft der Vernunft«, den Versuch, willkürliche Freiheitsbeschränkungen mit der Vernunft zu rechtfertigen. Jacobis späterer Angriff auf die Berliner Aufklärer im Jahre 1786 war im Wesentlichen die Fortsetzung seiner Kritik an den josephinischen Reformen aus dem Jahr 1782. Jacobi war voller Misstrauen gegenüber den Berlinern - Mendelssohn, Gedike, Engel, Nicolai und Biester —, weil sie im Einvernehmen waren mit dem anderen großen aufgeklärten Despoten König Friedrich Ii. von Preußen. Es gab warnende Beispiele dafür, wie diese Aufklärer im Namen der Vernunft Verfolgungen inszenierten. Sie sahen unter jedem Bett Jesuiten und Papisten, und sie zögerten nicht, den Staat aufzufordern, diese unschädlich zu machen. Trotz des überwältigenden Erfolgs von Jacobis Briefen ging der Schuss letztlich nach hinten los. Jacobis Warnung vor dem Spinozismus machte diesen endgültig zur Religion der Intellektuellen. Anstatt den Spinozismus als Atheismus und Fatalismus zu verurteilen, feierten seine Zeitgenossen ihn als die einzige Lösung für den wachsenden Konflikt zwischen Religion und Naturwissenschaft. Für sie war der Spinozismus nicht lediglich Naturalismus, sondern Pantheismus. Alles war jetzt Teil des unendlichen Ganzen, und Gott war endgültig auf die Erde herabgestiegen, wo er seine Gegenwart überall kundtat, in den Felsen, den Bäumen, den Sternen und den verborgensten Winkeln des menschlichen Herzens. Nur die alten Gläubigen wie Jacobi beteten noch zu einem übernatürlichen Wesen jenseits des Universums. Sein >Salto mortalec fand bei der neuen Generation der 1790er Jahre keinen Anklang. Frederick Beiser : Siehe auch 1670 (collegio pietatis), 1767, 1782, 1790, 1796-1797, 1828 (Winter), 1831 Bibliographie: Friedrich Heinrich Jacobi. Werke, hg. von F. H. Jacobi und Friedrich Koppen, Leipzig 1812. - Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, hg. von Alexander Altmann u.a., Stuttgart 1971 ff. - David Bell, Spinoza in Gtrmtiny from 1670 (0 the Age of Goethe, London 1984. - Heiniich Scholz (Hg.), Die Hauptschriften zum Panlheismusstreit zwischen Jucobi und Mendelssohn, Berlin 1916. 3. September 1786 | Selbstzensur und priapeiscbe Inspiration C41 September 1786 | Nach seiner Rückkehr aus Italien beginnt Goethe in Weimar seine Römischen Elegien zu verfassen - eine neue Form erotischer Dichtung Selbstzensur und priapeische Inspiration Genau genommen sind Goethes Römische Elegien weder römisch noch elegisch. Obwohl sie in Rom angesiedelt sind, wurden sie tatsächlich in Weimar zwischen Herbst 1788 und Frühjahr 1790 niedergeschrieben. Wie Rilkes Duineser Elegien haben sie ihren Namen von dem Ort, an dem sie konzipiert wurden. Der Titel, unter dem sie heute bekannt sind, stammt aus der Ausgabe von Goethes Gesammelten Werken aus dem Jahre 1806. Als der Gedichtzyklus zum ersten Male im Jahre 179$ in Schillers Zeitschrift Die Hören veröffentlicht wurde, trug er schlicht den Titel Elegien. In der einzigen erhaltenen handschriftlichen Version, die aus der 'Zeit 1790/91 stammt, sind die Gedichte überschrieben Erotica Romana. Auch wenn sie in der Form des elegischen Distichons verfasst sind, verkörpern diese Gedichte eine ungehemmte Feier des menschlichen Körpers und eine hedonistische Darstellung der sexuellen Liebe. Sie markieren eine der spürbarsten Wandlungen in Goethes Dichtung. Während seine vorhergehenden lyrischen Werke zu Recht als »Dichtung der Sehnsucht« (N.Boyle) bezeichnet werden können, lassen'sich die Römischen Elegien treffend als Dichtung der Erfüllung beschreiben. Als solche stellen sie einen Höhepunkt in der Geschichte der erotischen Dichtung dar, der an literarischer Verfeinerung und lebensvoller Humanität nicht seinesgleichen hat. Obwohl Goethe allen Spekulationen über einen biographischen Hintergrund für diesen Zyklus von Liebesgedichten entgegentrat - er bemerkte ausdrücklich, dass »der Poet meistens aus geringen Anlässen was Gutes zu machen weiß« (Eckermann, 8. April 1829) -, gehen die Nachforschungen über die Identität seiner römischen Geliebten unvermindert weiter (R.Zapperi). Doch die Gestalt hinter der Faustina aus den Elegien bleibt im Dunkeln. Textimmanente und andere indirekte Anhaltspunkte (Brief an Herzog Karl August vom 29. Dezember 1787) deuten darauf hin, dass es sich um eine junge Witwe handelte, die bereit war, die genau definierte Rolle der mantenuta, der ausgehaltenen Frau, zu spielen und seine Partnerin in einem außerordentlich erfolgreichen Unternehmen der Selbsttherapie zu werden. Vor allem spiegeln die Elegien jedoch die Art von Intimität und Sinnlichkeit, die Goethe bei Christiane Vulpius fand, einer dreiundzwanzigjährigen Weimarerin, die bald nach Goethes Rückkehr seine Geliebte wurde und mit der er offen zusammenlebte. Mit Christiane setzte er das freie sexuelle Leben fort, an das er sich in Rom gewöhnt hatte. Der Skandal, den diese Liaison auslöste, gab einen Vorgeschmack auf die Entrüstung weiter Kreise der Weimarer Gesellschaft über die Veröffentlichung - entgegen dem Rat des Herzogs -der Römischen Elegien. Christiane gebar ihm fünf Kinder, von denen nur das älteste, sein Sohn August, überlebte. Erst im Jahre 1806 legitimierte Goethe diese Beziehung durch die Eheschließung. 542 5- September 1786 | Selbstzensur und priapeische Inspiration 3. September 1786 | Selbstzensur und priapeische Inspiration 543 Trotz ihrer offensichtlichen biographischen Überbewertung sind die Römischen Elegien keineswegs in Form eines Bekenntnisses abgefasst. Vielmehr tragen sie alle Merkmale einer programmatischen Erklärung über die schwierige Lage erotischer Dichtung in einer nachklassischen Epoche. Obwohl sie in einem außerordentlich selbstbewussten Stil verfasst sind, lassen sie uns nie vergessen, dass das Idyll der Liebenden im Rom des 18. Jahrhunderts auf der Grundlage der klassischen Mythologie gestaltet wird, wie sie die Gedichte von Catull, Tibull und Properz vermitteln - jenes kanonischen Triumvirats der Vorläufer, die Goethe als Vorbilder auswählte, um seinen Plan der Wiederbelebung der Liebeslyrik der alten römischen Meister zu verwirklichen. Während seines Aufenthalts in Rom verzichtete Goethe auch auf den Wunsch, sein Talent als Maler zu vervollkommnen, und widmete sich stattdessen der Dichtung und Schriftstellerei. So wird in den Römischen Elegien zum ersten Mal in seinem Werk das lyrische Ich als Dichter dargestellt - ein Reisender aus einem Land des Nordens, der als Schriftsteller in Italien weilt und nicht mehr als Maler wie noch in Gedichten aus den 1770er Jahren, wie etwa »Künstlers Morgenlied«. Ja, in einer später umgearbeiteten Version der Elegie »Fraget nun, wen ihr auch wollt« (Elegie Ii) wird dieser Dichter sogar als der Verfasser des Werther identifiziert. Der entscheidende Wandel jedoch ist thematischer Natur: Von der Unsicherheit des Schöpferischen, die den thematischen Schwerpunkt der früheren Gedichte über die Kunst bildet, wendet sich Goethe nun Fragen der Darstellung zu. Die Römischen Elegien erweitern, ja überschreiten sogar die Grenzen, die herkömmlicherweise bei der Darstellung der Sexualität beachtet wurden. Im antiken Rom war es dem Dichter gestattet, über alle Phasen der erotischen Begegnung zu sprechen, die berühmten quinque linecre nmo-ris (Aelius Donatus): Sehen (visus), Ansprechen (ullocutio), Berühren (tac-tus), Küssen (basium), Kopulieren (coitus). Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war der Dichter im Allgemeinen auf die ersten vier der fünf Phasen beschränkt. Ausdrücklich über alle fünf zu schreiben, und zwar in einer ernsthaften, nicht bloß spaßigen Weise, bedeutete einen bewussten Bruch mit einem der strengsten Tabus der westlichen Dichtung. In besondererWeise setzen sich Goethes Elegien in Widerspruch zur christlichen Verurteilung des Geschlechtsverkehrs, sofern er zum Vergnügen (voluptas) und nicht als eheliche Verpflichtung (debitum) zur Fortpflanzung ausgeübt wird. Diese Lehre, die zum ersten Mal vom hl. Paulus und vom hl. Hieronymus aufgestellt worden war, genoss zu Goethes Zeit noch allgemeine Anerkennung. Falls, wie es der Hegelianer Karl Rosenberg ausdrückte, Obszönität in der absichtlichen Verletzung des herrschenden Schamgefühls besteht, muss man die Römischen Elegien wohl als obszön ansehen, jedenfalls waren sie als »heidnisch« verschrien. Selbst in der zwanzig Elegien umfassenden autorisierten Ausgabe, die nur eine gekürzte Version von Goethes ursprünglicher Handschrift darstellt, ist der heidnische Geist dieser Gedichte unverkennbar. In Anlehnung an das bekannte Palindrom Roma — Amor feiern die Elegien die enge Zusammengehörigkeit von erotischer und ästhetischer Empfindung (»Sehe mit fühlendem Aug', fühle mit sehender Hand«); sie machen sich das Ideal der sofortigen Erfüllung des Begehrens zu eigen, denn so liebten die Götter »In der heroischen Zeit ...« Und sie feiern - in den bildkräftigsten Versen des gesamten Zyklus - die Verbindung zwischen poetischer und sexueller Kreativität: Oftmals hab' ich auch schon in ihren Armen gedichtet Und des Hexameters Maß leise mit folgernder Hand Ihr auf den Rücken gezählt ... (V, 15-17) Wir können deshalb zu Recht die Römischen Elegien als ein »Manifest heidnischer Sinnlichkeit« (J. Williams) sehen. Es kann jedoch nicht übersehen werden, dass Goethe auf dem Weg zu dem zwanzigteiligen Zyklus, der schließlich zur Veröffentlichung freigegeben wurde, Selbstzensur üben musste. Der wahre Charakter und das volle Ausmaß seines heidnischen Projekts wurden überdeckt und weitgehend verdunkelt durch die Aussonderung von vier Elegien, weshalb sich Goethe genötigt sah, die Reihenfolge der Gedichte neu zu ordnen und den Grundriss des Zyklus zu verändern. Die Bedeutung der vier nicht veröffentlichten Elegien lässt sich am besten erschließen, wenn man davon ausgeht, dass sie alle vier Bestandteile des ursprünglichen Planes waren, einen kompakten Block erotischer Gedichte zu veröffentlichen, um eine grundlegende ästhetische Neuorientierung im Gefolge der Italienreise anzukündigen und den Weg für das umfassendere Projekt jener kulturellen Reform zu bahnen, die unter dem Namen Weimarer Klassik bekannt werden sollte. Zwei dieser Elegien wurden entfernt, als Schiller wegen einiger gewagter Passagen die rote Flagge zeigte. Anstatt sie in fragmentarischer Form mit unterdrückten Versen zu veröffentlichen, entschloss sich Goethe, sie ganz aufzugeben. Die erste, »Mehr als ich ahndete schön«, beschwört mit wunderbarer Lebhaftigkeit die Vergnügungen des »echten nacketen Amors«; die zweite, »Zwei gefährliche Schlangen«, sinnt über die allgegenwärtigen Gefahren venerischer Erkrankungen nach. Zwei weitere Elegien, die eine betont heidnische Haltung ausstrahlen und weitaus gewagter sind, wurden ebenfalls von Schiller zurückgehalten. Auch Goethe nahm sie nicht in die Reinschrift der Erotica Romana auf, die er zu veröffentlichen gedachte. Diese zwei Elegien bilden ein sich aufeinander beziehendes Duo, das über die Römischen Elegien als Ganzes und über die Wechselfälle erotischer Dichtung in einem nachklassischen Zeitalter reflektiert. In der ersten Elegie »Hier ist mein Garten bestellt« ruft der Dichter den phallischen Gott der Fruchtbarkeit, Priapus, auf, als Wärter seines poetischen Gartens zu fungieren, und schärft ihm ein, allen Heuchlern, die die Nase über seine Dichtung rümpfen, eine deftige, so- 544 3. September 1786 | Selbstzensur und priapeische Inspiration domitische Lektion zu erteilen. In der zweiten dieser Elegien wird Pria. pus selbst zum Sprechen gebracht. Er dankt dem redlichen Dichter, dass er ihm wieder zu seinem angestammten Platz im Kreise der Götter ver-holfen habe. Als Belohnung für seine Ehrenrettung durch den Verfasser der Römischen Elegien verspricht Priapus, ihm phantastische sexuelle und poetische Potenz zu verleihen. Anscheinend war den beiden priapischen Elegien die tragende Rolle so zugedacht, dass sie als Prolog und Epilog dienen und einen betont heidnischen Rahmen für die Erotica romana liefern sollten. Setzt man alle vorhandenen Elegien an ihren ursprünglichen Platz, so kann man die Römischen Elegien als einen vierundzwanzigteiligen Zyklus ansehen. In der Goethe-Forschung herrscht jedoch keine Einigkeit über die authentische Form der Römischen Elegien. Die meisten Gelehrten bevorzugen den zwan-zigteiligen Zyklus, weil das die Version ist, die von Goethe autorisiert wurde. Andere halten den vierundzwanzigteiligen Zyklus für authentisch und berufen sich dazu auf Goethes wohlbekannte Klage über die Tyrannei der Konvention, welche den Dichter daran hindere, mit Anstand Dinge auszusprechen, die den alten Griechen durchaus gestattet waren (Eckermann, 25. Februar 1824). Es kann nicht geleugnet werden, wie Karl Otto Conrady bemerkt hat, dass es einen großen Unterschied macht, ob die Römischen Elegien in der gekürzten oder der vollständigen Fassung gelesen werden. Dieser Unterschied tritt deutlich ans Tageslicht, wenn die Elegien in ihrer wahrscheinlich beabsichtigten Reihenfolge gedruckt werden, wie das einige Herausgeber getan haben. Sobald wir den priapischen Rahmen als vollständigen Bestandteil des Zyklus akzeptieren, gewinnen einige zentrale Bezüge eine neue und präzisere Bedeutung. So verleihen die Anfangs- und die Schlusselegie jener Anspielung im Zentrum des Zyklus - in »Euch, o Grazien« - auf den »herrlichen Sohn« von Bacchus und Cythere, nämlich Priapus, ein zusätzliches Gewicht. Dieser ist zwar in der Werkstatt des modernen Dichters nicht präsent, sollte aber eigentlich gleichberechtigt neben den anderen Götterbildern des Künstlers stehen. Ebenso kann der Gott, der am Ende von »Eines ist mir verdrießlich« angerufen wird, jetzt eigentlich nur noch Priapus sein, oder vielmehr die Liebe in ihrer priapischen Form. Vor allem kann nun der »Genius«, der zu Beginn des Zyklus in »Saget, Steine, mir an« beschworen wird, als eine Metapher für Priapus angesehen werden, statt als genius loci. Kurz, wenn wir den priapischen Rahmen akzeptieren, können wir mit größerer Bestimmtheit als Ziel der Römischen Elegien die Wiedergewinnung des Priapus für die moderne Welt definieren, explizit und implizit prägt Priapus den Zyklus als Ganzes. I Wenn wir das priapische Programm dieser Gedichte anerkennen, dürfen wir die Römischen Elegien auch als Teil eines größeren Projekts verstehen, das auf die Schaffung einer neuen, wahrhaftigen Liebesdichtung abzielte. Zu diesem Zweck studierte Goethe gleichzeitig mit der Abfassung seiner Elegien die bekannten Carmina Priapea. Diese machten ihren 3. September 1786 | Selbstzensur und priapeische Inspiration 54c Einfluss in den Venezianischen Epigrammen geltend, die Goethe während eines zweimonatigen Venedig-Aufenthalts im Frühjahr 1790 verfasste und die bis heute eines seiner »am wenigsten gelesenen und am wenigsten gewürdigten« Werke (M. K.Flarell) sind. Bezeichnenderweise war es Nietzsche (Der Fall Wagner, Abschnitt 3), der in den Venezianischen Epigrammen mit ihren treffenden, respektlosen und gelegentlich aggressiven Kommentaren einen »verwandten Freigeist« erkannte und so zu ihrerVerteidigung beitrug. Einige der respektlosesten Epigramme sind sexueller Natur und gipfeln in polemischen Gegenüberstellungen des gekreuzigten Gottes der Christenheit und der unbezähmbaren phallischen Gottheit, Priapus. Diese polemische Konfrontation bildet den Kern von Goethes gewagtestem Gedicht, Das Tagebuch von 1810 - ebenfalls einText, den Goethe nicht zur Veröffentlichung freigab. Dieses umfangreiche, 192 Verse umfassende Gedicht scheint sein Stichwort aus den Schlussversen der Römischen Elegien zu beziehen, der Verheißung von unerschöpflicher sexueller und dichterischer Kraft durch Priapus. Das Tagebuch ist ein Nachgrübeln über das unerklärliche Versagen dieses angeblich unfehlbaren Geschenks und greift so noch einmal die dichterischen Themen der Römischen Elegien auf. Wieder benutzt Goethe die Begegnung eines reisenden Schriftstellers mit einer jungen Frau als erzählerisches Vehikel, um über die gegenseitige Abhängigkeit von Liebesakt und schriftstellerischer Kreativität nachzudenken, den beiden Paradigmata menschlichen Schöpfertums. Ebenso wie die Elegien in ihrer ursprünglichen Fassung hat dieses Gedicht eine vierundzwanzigteilige Struktur und benutzt ein umrahmendes Element. Geschrieben in ottava rima, ist es in der zeitgenössischen Welt von 1800 angesiedelt, unter Einbeziehung von reisenden Kaufleuten, Pferdekutschen im Straßengraben, einladenden Gasthäusern und verführerischen Schankmägden. Vom Ausgangspunkt des Tagebuchs her wird das Dilemma des modernen erotischen Dichters vollkommen deutlich. Er hatte nur zwei Möglichkeiten: entweder Gedichte in einer zeitgenössischen Sprache und Form zu schreiben, die dann nur von der Konvention akzeptierte Themen behandeln durften; oder aber Gedichte mit mutigen Themen zu wagen, die er dann durch den Gebrauch klassischer Formen verhüllen und rechtfertigen musste. Goethe bediente sich der ersten Möglichkeit in zwei bemerkenswerten Gedichten aus dem Jahre 1788: »Der Besuch« und »Morgenklagen«, die Szenen verschwiegener, häuslicher Erotik ausmalen. Von der zweiten Möglichkeit machte er Gebrauch in den Römischen Elegien. Verschlossen war dem modernen Dichter eine dritte Option: gewagte Themen in einer authentisch modernen Sprache zu behandeln. Goethe ergriff schließlich auch diese Möglichkeit in Das Tagebuch, aber um den Preis der Selbstzensur. Brecht beklagte sich einmal in seinem Arbeitsjournal (8.März 1941) über den Mangel einer wahrhaft freien, verfeinerten Sinnlichkeit in der deutschen Kultur; aber er nannte zwei bemerkenswerte Ausnahmen: Mo- 54^ 1788 I Eine Momentaufnahme der bürgerlichen Gesellschaft zart und Goethe. Der Komponist von Don Giovanni und Cosi fan tutte scheint sich selbst zum Thema nicht geäußert zu haben, aber der Verfasser der Römischen Elegien sah sich in der Tat selbst als ein »Befreier«, wie wir aus seinem kurzen Essay aus dem Jahre 1830 wissen: Ein Wort für junge Dichter Es gibt genügend Beweise in seinem Werk, um diese stolze Selbstcharakterisierung zu rechtfertigen, und einige der eindrucksvollsten und überzeugendsten Belege finden sich in seiner Liebesdichtung. HANS RUDOLF VAGET : Siehe auch 1774, 1792 (26. August), 1831, 1882, 1922 (Februar), 1928 Bibliographie: Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke, Briefe. Tagebücher und Gespräche, 40 Bde., Frankfurt am Main 1987 ff. - Karl Otto Conrady. Goethe, 2 Bde., Königstein/ Taunus 1982. - Roberto Zapperi, Das Inkognito. Goethes ganz andere Existenz in Rom, München [999. 1788 I Adolph Freiherr von Knigge veröffentlicht: Menschen Werk Über den Umgang mit Eine Momentaufnahme der bürgerlichen Gesellschaft »Jeder Mensch gilt in dieser Welt nur so viel, als wozu er sich selbst macht.« Mit diesem bemerkenswerten Ausdruck eines liberalen Individualismus leitet Adolph Freiherr von Knigge (17JO-1796) sein berühmtes und einflussreiches Handbuch über das rechte Verhalten in der bürgerlichen Gesellschaft ein, Übenden Umgang mit Menschen (1788). Kaum jemand wäre für solch ein Unternehmen besser geeignet gewesen als Knigge, der Erfahrung an verschiedenen norddeutschen Höfen mit einer erfolgreichen Laufbahn als freier Schriftsteller verband. Die Verschuldung der väterlichen Güter und die Unsicherheit der Stellung bei Hofe hatten Knigge gezwungen, die bürgerliche Laufbahn eines Schriftstellers einzuschlagen, und erst spät im Leben erlangte er in seinem Heimatstaat Hannover eine Beamtenstellung. Knigges literarische Werke, die sich an den englischen Gesellschaftsromanen Henry Fieldings orientierten, waren ungeheuer populär - ein konservativer Kritiker beklagte sich, dass sie von den beliebtesten deutschen Zeitschriften angekündigt, bekannt gemacht und empfohlen würden. Wegen seiner unermüdlichen Verteidigung der radikalen Aufklärung erfüllte die Konservativen Knigges Beliebtheit mit Sorge. In den achtziger Jahren des 18- Jahrhunderts war er der bedeutendste Anwerber neuer Mitglieder für die Illuminati, eine Geheimgesellschaft, die Staat und Gesellschaft in Deutschland reformieren wollte, indem sie eine Gruppe einflussreicher Männer auf der Grundlage radikaler Aufldärungsprin-zipien heranbildete. Knigge verließ die Illuminati im Jahre 1783 aus Pro- 1788 I Eine Momentaufnahme der bürgerlichen Gesellschaft 547 test gegen ihre Geheimnistuerei und besonders ihre Befehlshierarchie. Aber er nahm niemals von der Vision einer Gesellschaft Abstand, die durch das Wirken aufgeklärter Individuen reformiert werden sollte. Eine Zeitlang verzweifelte er daran, dass sich noch während seiner Lebenszeit große Veränderungen ereignen können. Die Französische Revolution erfüllte ihn jedoch wieder mit Hoffnung und gestattete ihm, deutlichere politische Ziele zu formulieren:eine verfassungsmäßige Regierung auf der Grundlage von Volkssouveränität und (männlicher) demokratischer Teilhabe. Knigge gehörte zu den wenigen Deutschen, die leidenschaftliche Anhänger der Französischen Revolution blieben, auch nach der Hinrichtung König Ludwigs xvi. und der folgenden Herrschaft des Terrors. Allerdings war er kein blutrünstiger Revolutionär. Die Franzosen waren seiner Ansicht nach .durch ihre uneinsichtige Regierung auf den Weg der Gewalt gezwungen worden. Er hegte immer noch die Hoffnung, dass in Deutschland fortschrittliche Reformen die gleichen Ergebnisse auf gewaltlose Weise erreichen könnten. Knigge verfasste die erste Ausgabe des Umgang im Jahre 1788, ein Jahr bevor die Französische Revolution begann. Die nachfolgenden Ausgaben - insgesamt fünf bis zu seinemTode im Jahr 1796 — enthielten immer radikalere politische Forderungen. Aber im Grunde war der Umgang ein vorrevolutionäres Projekt, das tief in der Vision der Illuminati von einer Veränderung durch willentliches individuelles Handeln verankert war. Anstelle von Geheimhaltung plädierte er für offene Verständigung in der Gesellschaft, und statt der Hinwendung zu einer gebildeten Elite richtete Knigge seine Ratschläge an den gemeinen Mann, den Rechtschaffenen, der seinen Platz in der Gesellschaft sucht. Der Umgang beruht auf zwei Prinzipien: Vollständigkeit und Praxisnähe. »[...] denn ich glaube, dass doch nicht leicht ein Verhältnis im geselligen Leben gefunden werden könne, über welches ich nicht etwas gesagt hätte«, beschloss er sein Werk (Umgang, 1790, Bd. 1, S.40;). Vollständigkeit unterscheidet nach Knigges Ansicht sein Werk von früheren Ratgebern. Sein Versuch, die gesamte Gesellschaft zu erfassen, ist in der Tat das erste Buch, das eine Gesamtaufnahme der bürgerlichen Gesellschaft in der Phase ihrer Entstehung bietet. Bei aller Begeisterung für die Utopien des Aufklärungszeitalters verstand Knigge seinen Umgang als ein nützliches Handbuch für das Streben nach Glück. Sein Inhaltsverzeichnis breitet das ganze Spektrum von gesellschaftlichen Situationen, Persönlichkeiten und möglichen Problemfällen aus, mit denen man sich konfrontiert sehen könnte, so dass der Leser schnell den benötigten Rat finden kann. Das Erfordernis der Praxisnähe hatte drei Konsequenzen, die einige spätere Kritiker dazu missbrauchten, das Werk in ein schiefes Licht zu rücken. Zunächst einmal verlangte das Bemühen um Nützlichkeit von Knigge, die gesellschaftliche Welt so zu beschreiben und zu akzeptieren, wie sie war, auch wenn er ihre Gegebenheiten beklagte. Außerdem warnt er vor übertriebenen Hoffnungen, 548 1788 I Eine Momentaufnahme der bürgerlichen Gesellschaft 1788 I Eine Momentaufnahme der bürgerlichen Gesellschaft 549 zum Beispiel auf gesellschaftlichen Aufstieg, denn das Glück gedeiht nur in der Bescheidung. Solche Abschnitte lassen Knigge viel konservativer erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Zweitens verlangte die Praxisnähe weit gespannte Beschreibungen und Ratschläge. Typischerweise beginnt Knigge mit den positiven Merkmalen einer Gesellschaftsschicht, leitet über zu dem Hauptgebiet möglicher Schwierigkeiten und erteilt einzelne situationsbedingte Ratschläge, wobei er gewöhnlich mehrere Gründe für seine Empfehlungen anführt. Das Ergebnis erscheint oft widersprüchlich, und die zugrunde liegende Logik kann nur aus dem schöpferischen Spannungsverhältnis zwischen dem Ganzen und seinen Einzelteilen erschlossen werden. Schließlich ist der Umgang als ein Handbuch ganz bewusst der Empirie verpflichtet. »Es gibt viele Dinge in dieser Welt, die sich durchaus nicht anders als durch Erfahrung lernen lassen« (Umgang, 1796, Bd. 2, S. 141). Im Geiste der Selbsterforschung, wie er für dieses Zeitalter typisch war, gibt Knigge viele Beispiele seiner eigenen Fauxpas bei Hofe, um verbreitete Irrtümer im gesellschaftlichen Verkehr zu illustrieren. Knigge bestritt energisch, dass der Umgang ein »Complimentirbuch« (Benimmbuch) sei (Umgang, 1788, Bd. 1, S. 9). Er wollte sein Werk von der älteren Literatur über höfisches Benehmen absetzen, und obgleich dieses Genre gemeinsam mit den englischen moralischen Wochenschriften des frühen 18. Jahrhunderts, dem Tatler und dem Spectator, die Grundlage für sein Konzept bildete, gehört der Umgang einer anderen Welt an. Er legt weder feststehende Verhaltensregeln nieder, noch zielt er auf die zynische Manipulation anderer; vielmehr versucht er zu analysieren, warum im gesellschaftlichen Verkehr Probleme entstehen und wie man diese überwinden kann. »[...] folglich ist es wichtig für jeden, der in der Welt mit Menschen leben will, die Kunst zu studieren, sich nach Sitten, Ton und Stimmung andrer zu fügen«, schrieb Knigge (Umgang, 1788, S.32). Gleichzeitig - und das unterscheidet seine Ratschläge von früheren Werken - muss man »selbständig handeln. Verleugne nicht Deine Grundsätze, Deinen Stand, Deine Geburt, Deine Erziehung; so werden Hohe und Niedre Dir ihre Achtung nicht versagen können« (Umgang 1788, S.288). Diesen Ausgleich zwischen Individualismus und gesellschaftlicher Verpflichtung wollte Knigge lehren. Die moralische Grundlage dieses Bemühens erwuchs unmittelbar aus dem Gedankengut der frühen Aufklärung, den moralphilosophischen Schriften von ChristianThomasius (i6r;c-i728) und besonders von Christian Wolff (1679-17J4). Wölfl hatte gelehrt, dass das persönliche Glücksstreben mit dem Gemeinwohl zusammenfällt und dasselbe befördert, weil beide Ausdruck der Vernunft seien. Das aufgeklärte Individuum erstrebt folglich das Gute und Gerechte, das seinerseits ein bleibendes Glücksgefühl hervorbringt. Noch zu Knigges Lebzeiten attackierte der Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) Wolffs optimistische Annahme. Nur die Pflicht, nicht das persönliche Glück, liefere die Grundlage für moralisches Handeln. Diese Anschauung stand im Gegensatz zu Knigges Überzeugung, »dass derjenige in Übereinstimmung mit der Vernunft, angemessen, gut, tugendhaft und pflichtbewusst handelt, dessen Tun sein Glück als Einzelwesen und als Teil des Ganzen fördert« (Über Eigennutz, Bd. 1, S. 18). Knigge wies Kants Kritik ausdrücklich zurück, und so bewahrt der Umgang seine frühaufklärerischen Grundlagen, auch wenn er in die moderne Welt des Individualismus und der bürgerlichen Gesellschaft hineinreicht. Knigges außergewöhnliche Verbindung von Moralphilosophie und praktischen Ratschlägen wurde sofort ein literarischer Erfolg. Die Kritiker waren sich der durch Kant erhobenen Einwände durchaus bewusst und fragten sich, ob es möglich sei, Moral und Eigennutz miteinander zu vereinen, aber nichtsdestoweniger lobten sie den Umgang für seine Vollständigkeit, seinen Nutzen, Geist, Stil und Unterhaltungswert. Mit der dritten Auflage (1790) fand Knigge endlich den angemessenen logischen Aufbau für sein sperriges Werk, indem er die moralphilosophische Abfolge von Pflichten gegenüber sich selbst, gegenüber der Familie und den Nachbarn und schließlich gegenüber der restlichen Welt zugrunde legte. Aber bereits seit 1801 versuchten Herausgeber und Verleger, mit Knigges Popularität Geschäfte zu machen, und säuberten und fälschten sein wohldurchdachtes Werk. Einer der eifrigsten rühmte sich, »dass fast keine Seite unbearbeitet geblieben ist, manchmal war es nur nötig, eine Falte zu glätten oder einen Auswuchs zu beschneiden, manchmal waren allerdings grundlegende Umarbeitungen erforderlich« (Gödeke, S.79, Anm. 1). Die Leser des 19. und 20. Jahrhunderts lernten Knigges ursprüngliches Werk nie kennen. Was sie als »den Knigge« verschlangen - der Name wurde zu einem Synonym für Ratgeberliteratur —, war tatsächlich nur das Benimmbuch, das er bewusst nicht hatte schreiben wollen. In der Geschichte des deutschen Verlagswesens hat kein Werk ein derart unglückliches Schicksal erlebt. Teilweise war die auf Nützlichkeit ausgerichtete Gestaltung daran mitschuldig; die Verleger wollten Knigges nützliche Ratschläge den Zeitläuften anpassen. Aber wichtiger noch war, dass politische Veränderungen - in den Anschauungen der Mittelschichten, im Liberalismus, im Verhältnis des Staates zur Gesellschaft -für das völlige Unverständnis seiner individuell emanzipatorischen, aber sozial begründeten Zielsetzungen verantwortlich waren. Knigge hat niemals definiert, was er unter »bürgerlicher Gesellschaft« verstand, aber seine Vorstellungen gehen aus seinen Darlegungen klar hervor. Wie für die meisten seiner Zeitgenossen war sie für ihn die geordnete Grundlage oder Form des Staates. Die bürgerliche Gesellschaft bestand aus Gruppen, etwa den alten Ständen, wie Adel und Geistlichkeit, oder religiösen Gemeinschaften wie den Juden oder auch aus berufsständischen Korporationen, obwohl das Wirtschaftsleben in Knigges Sozialphilosophie eine bemerkenswert unbedeutende Rolle spielte. Vielmehr begriff er die bürgerliche Gesellschaft in erster Linie als eine cco 1788 I Eine Momentaufnahme der bürgerlichen Gesellschaft Sphäre der Verständigung: die »erste Kunst«, um in ihr leben zu können, war »die Kunst, sich verständlich zu machen, also Reden und Schreiben« (Allgemeines System, S. 13). Der Umgang stellt die bürgerliche Gesellschaft als Schauplatz ständigen Miteinanders und sozialen Austauschs dar. Obwohl viele soziale Gruppen oder Institutionen (zum Beispiel der Hof) Teil der frühneuzeitlichen Welt des Absolutismus waren, stießen sie nun auf jüngere berufsständische Gruppen und Vereinigungen, und Knigge ging davon aus, dass die Leser aus den Mittelschichten zwangsläufig mit Vertretern aus allen sozialen Stellungen in Kontakt kommen würden. Dieses Miteinander führte zu einem ständigen Austausch von Informationen und Meinungen zwischen den verschiedenen Klassen, zu ständiger Bewegung und somit zu dauernden Veränderungen. Die scheinbaren Gewissheiten der alten Ordnung, der »Ständegesellschaft«, waren in Auflösung begriffen. Knigge riet seinen Lesern, »zu lernen, mit Widersprüchen zu leben« (Umgang, 1788, Bd. 2, S. 174), da die Gesellschaft nicht nur aus Freunden, sondern auch aus Rivalen und Gegnern bestand. Vor allem erforderte die Vielschichtigkeit der bürgerlichen Gesellschaft Toleranz. »Wir müssen fair genug sein, nicht von jedem zu verlangen, daß er unseren Gebräuchen folgt, sondern wir müssen statt dessen jeden seinen eigenen Weg gehen lassen« (Umgang, 1788, Bd. 1, S.81). Sowohl der Wettbewerbsdruck der bürgerlichen Gesellschaft als auch ihre grenzenlosen Möglichkeiten führten Knigge zu einem zweiten Prinzip: Mäßigung. Der »mittlere Weg« (Umgang, 1788, Bd. 1, S.60) bewahrte die Angehörigen der bürgerlichen Gesellschaft vor ihren gefährlichen Extremen. Indem er diese altehrwürdige moralische Empfehlung übernahm, setzte sich Knigge der beißenden Kritik der Romantiker des 19. Jahrhunderts aus, für die der Ratschlag »nimm Abschied von deinem Wunsch zu herrschen, eine glänzende Führungsrolle zu spielen« (Umgang 1790, Bd. 1, S. 86) den unheroischen, provinziellen Kleingeist des konventionellen bürgerlichen Lebens verkörperte. Die spätere bürgerliche Selbstkritik fand in Knigges praktischen Ratschlägen ein willkommenes Angriffsziel. Dreißig Jahre zuvor hatte der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) dieselben Beobachtungen in seiner Rechtsphilosophie (1820) niedergelegt. Knigge bemerkte, dass die natürlichen Bande der Liebe und Verehrung - in Familie oder Heimatort -, die bis dahin Menschen und Stände zusammengehalten hatten, sich aufzulösen begannen. Sie wurden nach und nach ersetzt durch kurze, zielorientierte Begegnungen, die gegensätzliche Interessen, konkurrierende Gruppierungen und schließlich ganz neue Kommunikationsmuster hervorbrachten. Knigge war über diese Entwicklungen besorgt, und einige moderne Kritiker haben dies als einen Beweis für seinen Konservatismus angesehen. Doch er stellte die Familie oder Freundschaft nicht über die bürgerliche Gesellschaft. Stattdessen wählte er den liberalen Weg. Er weitete die Sphäre des Individualismus aus, die damit zur Zufluchtsstätte sowohl vor den 1788 I Eine Momentaufnahme der bürgerlichen Gesellschaft c^l Ansprüchen der bürgerlichen Gesellschaft als auch vor denjenigen der privaten Welt von Familie, Ehe und Freundschaft wurde. Immer wieder betont Knigge im Umgang, dass man persönliche Abhängigkeiten - vom Geld, von der Gunst oder vom Mitleid anderer - vermeiden müsse. In dieser Hinsicht verstand er die Gleichheitsidee wörtlich: »So wenig als möglich lasset uns von andern Wohltaten fordern und annehmen [...] das hebt dann das Gleichgewicht im Umgange auf, raubt Freiheit, hindert uneingeschränkte Wahl [...]« (Umgang 1788, Bd. 1, S.45). Selbst innerhalb der Ehe forderte Knigge Distanz zwischen den Eheleuten. Die Frau sollte niemals etwas von den Zweifeln oder vorübergehenden Schwächen ihres Ehegemahls erfahren, damit dessen Freiheit und Unabhängigkeit gewahrt blieben. Nur in der Innerlichkeit, in die niemand eindringen kann, findet die Selbstreflexion und die Selbstbehauptung statt. Dass Knigge diese Haltung ausschließlich in Verbindung zum männlichen Geschlecht sieht, ist nicht Ausdruck seines Konservatismus, wie viele moderne Leser meinen, sondern vielmehr seines Liberalismus, dessen Auffassung des Individuums, von wenigen Ausnahmen abgesehen, rein männlich orientiert war. Diesen Individualismus mit den gesellschaftlichen Anforderungen auf eine komplexe Weise zu versöhnen, war Knigges Ziel. Der Umgang war als Handbuch für die Anhänger der Aufklärung bestimmt, deren rationale Zielsetzungen mit dem Gemeinwohl in Einklang standen. Wenn das aufgeklärte Individuum gelegentlich fehlgehen sollte, würde es schnell durch die gesellschaftlichen Reaktionen korrigiert werden, denn diese gründeten auf einem gesellschaftlichen Miteinander, das nur über das einfühlsame Verständnis für die Mitmenschen funktioniert. Der Umgang lieferte die psychologischen und soziologischen Informationen, die zur Erlangung dieser Einfühlsamkeit erforderlich waren. Ihre Regeln waren nicht lediglich tradiert, sondern vielmehr die Schlüssel zu immer wiederkehrenden sozialen Situationen, von denen man die angemessenen (immer wandelbaren) Verhaltensweisen des gesellschaftlichen Verkehrs ableiten konnte. Auf diese Art tritt das Individuum, motiviert durch sein rationales Glücksstreben, in Beziehung zur Gesellschaft und verändert sie zum Besseren hin. Bald nach Knigges Tod begannen liberale Gesinnungsfreunde sein Konzept misszuverstehen. Die Romantiker unter ihnen bevorzugten ein heroisches gegenüber einem nur maßvoll erfolgreichen Individuum. Im frühen 19. Jahrhundert entwickelten viele Liberale eine zunehmend verengte Sichtweise der bürgerlichen Gesellschaft, für die Knigges demokratisches Konstrukt des rechtschaffenen Mannes zu weit gefasst war. Sie betrachteten den Umgang als geeignet für sozial niedere Gesellschaftsschichten mit lediglich mittlerem Bildungsniveau. Die bürgerliche Gesellschaft war für sie eine exklusive Vereinigung, zu der solche Leute nicht gehörten. In Umkehrung der reaktionären Kritik an Knigge als einem heimlichen Umstürzler - wegen seines Engagements für die II-luminati - brandmarkten liberale Kritiker den Freiherrn als »Höfling« rez í. Juni 1789 | Die Disziplin der Aufmerksamkeit 2. Juni 1789 I Die Disziplin der Aufmerksamkeit CC3 und warfen ihm ein Theoriedefizit vor. Seine Situationsethik kollidierte mit der allgemeinen Moral, die das gebildete Bürgertum als sein kennzeichnendes soziales Merkmal ansah. Auf diese Weise geriet Knigge in Vergessenheit, und die emanzipatorischen, demokratischen und modernen Grundlagen des Umgang blieben bis in die jüngste Zeit verschüttet -und werden immer noch häufig missverstanden. So hat der Liberalismus selbst eine der bemerkenswertesten Quellen liberalen Denkens in der deutschen Geschichte zerstört. ISABEL V. HULL : Siehe auch 1735, 1790, 1828 (Winter) Bibliographie: Adolph Freiherr von Knigge, Ausgewählte Werke in zehn Bänden, hg. von Wolfgang Fenner, Hannover 1991-1996. - Ders., Allgemeines System für das Volh. Zur CrundJoot aller Erkenntnisse für Mensehen aus allen Nationen, Ständen und Religionen in einem Auszuge herausgegeben, in: Ausgewählte Werke, Bd. 8, S.9-30. - Ders., Über den Umgang mit Menschen, Hannover 1788. - Ders-, Über den Umgang mit Menschen, s 1796; hg. von Karl-Heinz Göttert, Stuttgart 1991. - Ders., Über Eigennutz und Undank. Ein Gegenstück zu dem Buche Über den Umgang mit Menschen, 1796; hg. von Gert Ueding, Tübingen 1996. - Ernst-Otto Fehn, Paul Raabe und Claus Ritterhoff (Hg.), Ob Baron Knigge auch wirklich todi ist? Eine Ausstellung zum 225. Geburtstag des Adolph Freiherrn Knigge, Wolfenbütlel: Herzog August Bibliothek 1977. - Karl Ludwig Friedrich Gödeke, »Introduction«, Über den Umgang mit Menschen, Hannover '-1844);' Nachdruck in Michael Schlott (Hg.), Wirkungen und Wertungen. - Karl-Heinz Göttert, Knigge öder: Von den Illusionen des anständigen Lebens, München 199c. - Ludwig Adolf Christian von Grolman, »Ob Baron Knigge auch wirklich todt ist?«, in: Magazin der Kunst und Litteratur 4, 3, Juli-September 1796, S. 100-106: Nachdruck in Michael Schlott (Hg.), Wirkungen und Wertungen. - Michael Schlott (Hg.), Wirkungen und Wertungen. Adolph Freiherr von Knigge im Urteil der Nachwelt (1796-1994). Eine Dokumentetisammlung, Göttingen 1998. *** 2. Juni 1789 I Lichtenberg observiert en detail die Natur, die Gesellschaft und sich selbst Die Disziplin der Aufmerksamkeit Am Dienstag nach Pfingsten 1789 wurde Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799), Professor der Experimentalphysik an der Universität Göttingen, in seinem Garten von einem Gewittersturm überrascht (Bd. II, S. 241 /J 1315). Er vertraute seine detaillierten Beobachtungen des starken Nordwinds, des dunklen Wolkenkranzes, der sich »etwa sechs Grade über dem Horizont von Südwesten bis Nordwesten erstreckte, unter welchem aber der Himmel wieder die weißlich graue allgemeine Farbe hatte«, des entfernten Donners, der um acht Uhr zu vernehmen war, und zahlreicher anderer Einzelheiten seinen Sudelbüchern an. In diesen Notizbüchern, die Lichtenberg in der Zeit zwischen 1765 und 1799 mit Tausenden von Einträgen füllte, stehen Beobachtungen natürlicher Phänomene und Experimente unmittelbar neben lästerlichen Anekdoten und Epigrammen, intelligenten Bemerkungen über Menschen und Sitten, mathematischen Rätseln, Skizzen von menschlichen Gesichtern und experimentellen Apparaturen, Spekulationen über die Ursachen von allem Möglichen, vom Wetter bis zu den Vulkanen, Leseeindrücken, Beschreibungen mit Preisangaben der'neuesten Bücher und wissenschaftlichen Instrumente, philosophischen Betrachtungen über Wissenschaft, menschliche Natur und Politik und vielem anderen. Die auffallendsten Eigenschaften dieser zwanghaften Notizen sind ihr vermischter Charakter und ihre Kürze. Sie sollten letztendlich einmal als bewundertes Vorbild für den deutschen philosophischen Aphorismus dienen, der sich in einer beeindruckenden Generationenfolge von Novalis über Schopenhauer bis zu Nietzsche erstreckte. Aber für Lichtenberg selbst gehörten die Sudelbücher zu einem anderen Genre, dem der knappen, präzisen Beobachtung. Gegenstand dieser Beobachtung waren unter anderem ein frühsommerliches Gewitter, die Französische Revolution, die Lichtenberg »experimentelle Politik« taufte (Bd. I, S.699 /L322), Landmädchen, die nach Göttingen hereinströmten, um auf die gut betuchten Studenten zu warten, menschliche Physiognomie, Eiskristalle auf Fensterscheiben sowie seine eigenen nervösen Leiden. Von größter Wichtigkeit war dabei die laserähnliche Intensität seiner Aufmerksamkeit, mit der er das Ereignis oder das Objekt aus seiner gewöhnlichen Umgebung isolierte, es vergrößerte, die Details vervielfältigte und es in den Rahmen einer bündigen, ungewohnten Bewusstheit fasste. Lichtenberg hat seine Sudelbuch-Einträge offenkundig nicht für die Veröffentlichung bestimmt, auch wenn sie das Rohmaterial und frühe Gedankenanstöße für einige Werke lieferten, die schließlich ihren Weg in den Druck fanden. Er sah in seinen Notizbüchern das Erz, aus dem später reines Metall geschmolzen werden konnte (Bd. 1, S. 372 / E ijo). Er gab sich keine Mühe, seine persönlichen Abkürzungen und verschlüsselten Anspielungen verständlich zu machen oder seine eigenen Überlegungen säuberlich von den Auszügen zu trennen, die er aus den Werken anderer Autoren gemacht hatte. Auch gibt es keine Hinweise darauf, dass er jemals vor Freunden, Angehörigen oder Kollegen aus den Sudelbüchern vortrug. Die Notizen, die er seit seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr jeden Abend zu Papier brachte, waren ein Selbstgespräch, das vielleicht sogar der Selbsterforschung oder der Selbsterfmdung diente. Aber sie unterschieden sich in Inhalt und Form von den sporadischen Tagebüchern, in die er täglich medizinische Symptome, Familienangelegenheiten und gesellschaftliche Kontakte eintrug. Im Gegensatz dazu sind die Sudelbucheinträge gelegentlich persönlicher Natur, behandeln aber niemals häusliche Angelegenheiten. Sie sind nur selten datiert, außer wenn es um eine meteorologische oder astronomische Beobachtung geht. Wenn er auf seinen heiklen Gesundheitszustand anspielt, nimmt er ihn fast immer als Ausgangspunkt für eine allgemeinere Feststellung oder Hypothese. Das Schreiben war für ihn nicht die Suche nach dem eigentlichen Selbst, sondern nach »dem in jedem Menschen schlafenden System« der Gedanken, das ansonsten nur undeutlich von seinem Urheber erkannt würde (Bd.i, S. 65-3 / J 19). Die Sudelbücher tragen zwar den Stempel 5<74 2. Juni 1789 [ Die Disziplin der Aufmerksamkeit 2. Juni 1789 I Die Disziplin der Aufmerksamkeit Cef von Lichtenbergs Persönlichkeit, aber sie sind keine Bekenntnisse. Auch sind sie keine Aphorismen in dem Sinne, wie Lichtenberg den Begriff versteht. In Übereinstimmung mit der Hippokrattschen Renaissance in der deutschen Medizin des späten 18. Jahrhunderts verstand Lichtenberg unter Aphorismen im Sinne der alten Griechen naturwissenschaftliche Definitionen und Lehrsätze in merkfähiger und bündiger Formulierung zum Auswendiglernen durch Studierende. Als Herausgeber von vier Auflagen (1784, 1787, 1791, 1794) des Lehrbuchs seines Göttinger Vorgängers, Prof. Erxleben, mit dem Titel Anfangsgründe der Naturlehre, und als einer der beliebtesten Lehrer der Universität Göttingen machte sich Lichtenberg auch Gedanken über die Grundlagen einer erfolgreichen Pädagogik und über die Nützlichkeit von Aphorismen. Er kritisierte ein Physiklehrbuch wegen seines Mangels an »aphoristischer Kürze und Präzision des Ausdrucks«, und in einer der vielen Agendanotizen der Sudelbücher beschloss er, »jedenTag Aphorismen über die Physik zu schreiben [...] mit dem treffendsten Beispiel, das sich nur finden läßt« (Bd, n, S. 302 / J 1647). Obwohl seine Wertschätzung des Aphorismus als eines didaktischen Mittels - ebenso wie seine Hochachtung vor der markigen Weisheit biblischer Sprüche - zu seiner literarischen Bevorzugung der kurzen Form beigetragen haben mögen, sprach er im Hinblick auf seine Sudelbuch-Einträge niemals von »Aphorismen«. Er nannte sie vielmehr Fingerzeige, Notizen, Pfennigswahrheiten, Exzerptenbuch-Sparbüchse oder meistens einfach Bemerkungen. Die Bezeichnung »Aphorismen« für den Inhalt der Sudelbücher ist von den Herausgebern der posthum veröffentlichten Auswahlen aus Lichtenbergs Manuskripten gewählt worden, die vollständig erst in den Jahren 1968-1971 von Wolfgang Promies ediert wurden. Von daher beruht Lichtenbergs Einordnung als Aphoristiker weitgehend auf den nachträglichen Projektionen späterer Herausgeber und Wissenschaftler, denen die nachfolgende Geschichte der Gattung, vor allem in Deutschland, natürlich bekannt war. Aber es gab zumindest eine ausgesprochen aphoristische Tradition, die Lichtenberg kannte und bewunderte: Francis Bacons Vision einer neuen Naturphilosophie, wie sie in durchgezählten Aphorismen im Novum Organum (1620) niedergelegt war. In The Advancement of Learning (160;) empfahl Bacon Aphorismen als ein Mittel gegen die allzu schnelle »Reduzierung von Erkenntnis auf Kunstfertigkeit und Methoden«, im Interesse einer größeren Flexibilität: »Aber da junge Männer, wenn sie perfekt zusammenfügen und gestalten, selten zu größerem Format heranwachsen, so wächst die Erkenntnis, wenn sie in Aphorismen und Feststellungen niedergelegt ist, aber sobald sie von perfekten Methoden umspannt wird, kann sie vielleicht weiter poliert und verdeutlicht und für den Gebrauch und die Praxis tauglich gemacht werden; aber sie wächst nicht mehr in Umfang und Gehalt.« Bacons Schriften übten einen starken Einfluss auf die Naturwissenschaftler des späten 17. und des 18. Jahrhunderts aus, die die einzelnen Naturerscheinungen durch Beobachtung und Experiment zu erforschen suchten. Aphorismen, nummerierte Listen und Tabellenwerke, wie sie schon Bacon verwendete, füllten die Annalen der wissenschaftlichen Gesellschaften des Aufklärungszeitalters, wie der Royal Society of London und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Lichtenberg gehörte beiden Institutionen an). Lichtenberg hat einmal einen Almanach für Physiker vorgeschlagen, der für diese literarischen Kurzformen eingerichtet sein sollte: Kolumnen, in die Barometerwerte, Temperaturen und Windstärken für jeden Tag eingetragen werden sollten und denen leere Seiten für die Eintragung weiterer Beobachtungen zugeordnet werden sollten (Bd.ii, S.210/H20). Lichtenberg sorgte sich, dass die herrschenden wissenschaftlichen Lehren zum Dogma erstarren könnten und dass die schnellen Verallgemeinerungen, zu denen der menschliche Geist so sehr neigt, das Zeugnis der Fakten verwischen würden. Seine Sudelbucheinträge sind in regelmäßigen Abständen mit Ermahnungen durchsetzt, diesen oder jenen wissenschaftlichen Gemeinplatz in Frage zu stellen: »Dinge zu bezweifeln, die ganz ohne weitere Untersuchung jetzt geglaubt werden, das ist die Hauptsache überall« (Bd.ii, S.233/J 1276). Selbst die Mathematik, die Lichtenberg als die Grundlage der Physik bezeichnete, kann durch übertriebene Abstraktion in die Irre führen. Wie schön mathematische Naturgesetze auch sein mögen, »In der Nähe ist alles nicht wahr« (Bd. 11, S. 333 / J 1843). Für Lichtenberg und viele seiner Zeitgenossen bestand die Kunst der aufgeklärten Naturwissenschaften darin, zu lernen, die Natur aus der Nähe zu betrachten. Lichtenbergs Beobachtungen stehen beispielhaft für eine Forschermentalität, die von Naturwissenschaftlern des 18. Jahrhunderts gepflegt wurde, wie etwa von René Antoine de Réaumur, Albrecht von Haller, André de Luc und Charles Bonnet, die alle wiederholt in den Sudelbüchern zitiert werden. Lichtenbergs eigene bevorzugte Bezeichnung für seine Notizen, Bemerkungen, erfasst ihr Hauptmerkmal, das sich aus zwei Quellen speist: der Fähigkeit, auch kleine Details zu bemerken, und der Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf das Bemerkte zu konzentrieren. Anders als das Wort Beobachtung, das sehr geläufig in der wissenschaftlichen Prosa des t8. Jahrhunderts war, weist Bemerkung auf einen gezielten Blick, eine aktive, analytische Intensität des Betrachtens hin. Der Gegenstand ist nicht nur beobachtet worden; er ist zur Kenntnis genommen worden. Die empirischen Disziplinen, in denen Lichtenberg und seine Kollegen praktizierten und theoretisierten, arbeiteten auf vielfältige Weise, um Gegenstände als erforschenswert auszusondern, sie im kontinuierlichen Fluss der Erfahrung zu isolieren, sie einer anspruchsvollen geistigen, oft buchstäblichen Zerlegung in ein Mosaik von Einzelheiten zu unterziehen und sie auf wenigen Seiten oder sogar nur in wenigen Sätzen zu beschreiben. Vor allem diente die empirische Beobachtung dazu, diesen Gegenständen den Wert und die Anziehungskraft zu verleihen, die erforderlich waren, um den beträchtlichen Aufwand an Zeit und Mitteln cr6 2. Juni 1789 I Die Disziplin der Aufmerksamkeit 2. Juni 1789 j Die Disziplin der Aufmerksamkeit ccv zu rechtfertigen, den ein Beobachtungsprojekt erforderte, das sich über Jahre hinweg erstrecken und das in einer Zeit, in der Bibliotheken und Instrumente gewöhnlich im Privateigentum der Forscher standen, ganze Vermögen verschlingen konnte. Jedes Ergebnis disziplinierter wissenschaftlicher Beobachtung war hart erkämpft. Im späten 17. und im gesamten 18. Jahrhundert hatten Scherzbolde und Moralisten wie Joseph Addison und Jean de La Bruyere wissenschaftliche Größen lächerlich gemacht wegen ihrer Beschäftigung mit niederen und trivialen Dingen - den Verhaltensweisen von Insekten, farbigen Schattierungen, dem Wesen der Kälte (alles Gegenstände von Lichtenbergs Beobachtungen). Im Gegensatz zu den erhabenen Objekten der alten wissenschaftlichen Astronomie wurden diese neuen wissenschaftlichen Objekte weitgehend als unwürdig für die Forschertätigkeit eines gebildeten Gentleman angesehen, ja sogar als gefährliche Ablenkung von den bedeutenderen staatsbürgerlichen, religiösen und familiären Verpflichtungen betrachtet. Viele Naturwissenschaftler hatten sich auch einer Denkart verschrieben, die die genaue Beobachtung von Einzelheiten, seien es nun die Krater auf dem Mond oder kopulierende Fliegen, als eine beschwerliche und unangenehme Aufgabe ansah. Sie stimmten mit Bacon in dem Glauben überein, dass der menschliche Geist sich von Natur aus zur Abstraktion und Verallgemeinerung hingezogen fühle. Wenn er gezwungen wird, unablässig empirische Einzelheiten zu beobachten, verfällt der Intellekt in Schwindel und Müdigkeit. Daher die häufige Behandlung von Wundern in den Annalen der frühen naturwissenschaftlichen Gesellschaften mit Baconscher Prägung: Nur ein Wunder, dachte man, könne die Aufmerksamkeit lange genug für eine kontinuierliche Beobachtung von Einzelheiten fesseln. Als Lichtenberg in den 1770er Jahren seine Sudelbücher zu schreiben begann, hatten bereits drei Generationen von Naturwissenschaftlern ihre größten Anstrengungen darauf verwandt, die alltäglichsten und manchmal widerwärtigsten Gegenstände für Eingeweihte in wissenschaftliche Wunder zu verwandeln. Diese Alchemie der Verwandlung unedler Metalle in Gold wurde durch Bravourstücke gezielter Beobachtung erreicht. Nachdem Bonnet eine einzelne Blattlaus ungefähr einen Monat lang täglich von j.30 Uhr bis 23.00 Uhr beobachtet und alle Daten in eine Tabelle eingetragen hatte, betrauerte er ihren Tod, als ob es sich um ein Familienmitglied gehandelt hätte. Reaumur wies den empfindlicheren Teil seiner Leserschaft daraufhin, dass sie nur lange und intensiv genug Insekten beobachten müssten, um Herrlichkeiten zu entdecken, die entzückender seien als jede Märchenerzählung. Durch disziplinierte Aufmerksamkeit waren die Naturwissenschaftler des Aufklärungszeitalters zu Kennern einer bemerkenswerten Anzahl von Naturerscheinungen, von Kometen bis zu Polypen, geworden, wobei sie die Fähigkeit entwickelt hatten, die feinsten Nuancen und winzigsten Unterschiede zu bemerken und ihre Schönheit zu würdigen. Die Techniken der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit beruhten auf körperlichen, instrumentalen, literarischen und moralischen Vorausset" zungen, und Lichtenbergs Beobachtungstätigkeit zeigte sie sämtlich in vollendeterweise. Die Anforderungen, die im 18. Jahrhundert an die wissenschaftlichen Beobachter gestellt wurden, waren oft heroischer Natur; sie strapazierten den Körper und belasteten die Sinne. Lichtenberg verbrachte schlaflose Nächte mit der Beobachtung eines Kometen, er erlitt zahlreiche elektrische Schläge und machte sich krank, indem er brennbare Gase einatmete. Selbst unter den Bedingungen extremer Müdigkeit und Unbequemlichkeit wurde von aufmerksamen Beobachtern erwartet, dass sie wach und im Vollbesitz ihrer Sinne blieben, in beiden Bedeutungen dieses Wortes: nicht nur, dass sie akkurat beobachteten, sondern dass sie auch in der Lage wären, die Qualität der Beobachtungen, die unter belastenden Umständen gemacht worden waren, korrekt zu beurteilen. Als er einmal Experimente zur Schallgeschwindigkeit durchführte, obwohl es ihm gesundheitlich schlecht ging, machte Lichtenberg sich die Mühe zu notieren, welche Zeitmessinstrumente zuverlässig waren und welche »etwas ungewiß« (Bd. 11, S.2j6/J 1391 f.). Wie Kunstkenner, so steigerten die Kenner der Natur die Schärfe ihrer Sinne auf ein beachtliches Niveau durch den wachsamen Gebrauch der Aufmerksamkeit. Lichtenberg fand es der Erwähnung wert, dass seine Repetier-Uhr die Stunden in einer um ein Drittel höheren Tonlage anschlug, wenn sie in seinem Schlafgemach stand (Bd. n, S.245/J 133í), dass die Flammen seiner Talglichter, wenn diese schlecht geputzt waren, »ein einziges dünnes Faserchen stehen ließen, an welches sich oben einer der gewöhnlichen Lichtschwämme ansetzte und viele Minuten lang aushielt ohne zu verbrennen« (Bd. 11, S.J31 / 949), dass »beim Annageln von Brettern auf dem Johannisturm-Dache am 26. Jul. 1793 das Einschlagen ganz besonders klang« (Bd. n, S. 461 /K339), und zahllose andere Einzelheiten, die er aus dem Strom seiner täglichen Routine fischte. Da wissenschaftliche Instrumente die Kraft der Sinne noch verstärkten, bedachte Lichtenberg alle neuen Erfindungen und ihre Urheber mit enthusiastischen Bemerkungen. Seine Sudelbücher sind durchsetzt von begeisterten Notizen über das neueste Barometer oder den Repetierkreis. Er scherzte, dass Gott die Posaunen für den jüngsten Tag beim renommierten Instrumentenbauer Ramsden in London herstellen lassen sollte (Bd.l, /J 747). Die Conditio sine qua non gründlicher Beobachtung war höchste Aufmerksamkeit für das Detail in Wort und Tat. Und da Taten in den Berichten der Naturwissenschaftler letztlich zu Worten wurden, waren es in erster Linie die Techniken der Beschreibung, die vom Grad der Aufmerksamkeit Zeugnis ablegten. Lichtenberg plädierte für neue Wortschöpfungen, um genauere Unterscheidungen vornehmen zu können, wobei er beispielsweise ausführte, dass die deutsche Sprache die englischen Termini colour und pigment in das einzige Wort Farbe zusammenwirft. Er schätzte auch die Metapher als ein natürliches Mittel der Spracher- cc8 2. Juni 1789 I Die Disziplin der Aufmerksamkeit 2. Juni 1789 I Die Disziplin der Aufmerksamkeit 559 Weiterung, um neue Erscheinungen abzudecken und Analogien aufzuzeigen. Zusätzlich zu einer präzisen, differenzierten Sprache entwickelte die scharfe Beobachtung im 17. und 18. Jahrhundert ihre eigenen literarischen Formen, die zumeist durch gedrängte Kürze charakterisiert waren. Es besteht eine vielsagende Parallele zwischen dem Akt willentlicher Aufmerksamkeit, der erforderlich war, um eine begrenzte Beobachtung aus dem kontinuierlichen Fluss der Erfahrung auszugliedern, und der gleicherweise willentlichen Kürze eines Eintrags in eine Tabelle, eine Liste oder ein Notizbuch, der diese Beobachtung wiedergibt. Grundsätzlich könnten Beobachtung und Beschreibung immer weitergehen und Detail auf Detail häufen. Aber die eigentümliche Natur der Wahrnehmung erzwingt eine Unterscheidung zwischen Vorder- und Hintergrund, zwischen dem von der Aufmerksamkeit bestimmten Brennpunkt und dem schattenhaften Umfeld. Lichtenberg machte sich lustig über einen kurzen Artikel aus dem Gebiet der Chemie, der aus einer dreieinhalbzeiligen Uberschrift und einem viereinhalbzeiligen Text bestand (Bd.l, S. 935"/Lc;a.8). Seine Sudelbuch-Einträge sind selten länger als ein paar Sätze, und einige enthalten nur wenige Wörter. Selbst die knappsten Einträge sind eher wortkarg als fragmentarisch, da das Wesentliche auf engstem Raum zusammengedrängt ist. Obwohl die Nummerierung der Einträge von den Herausgebern stammt, erwecken die Abstände zwischen den einzelnen Einträgen den Eindruck einer listenmäßigen Aufzählung, wie einzelne Blöcke im Gegensatz zu einem fortlaufenden Bericht, wie punktuelle Beobachtungen im Gegensatz zu kontinuierlicher Erfahrung. Es ist spekulativ, aber nichtsdestoweniger verführerisch, noch eine weitere Parallele zu ziehen zwischen den Gewohnheiten des Exzerpierens aus der Lektüre und dem schriftlichen Abfassen von Beobachtungen aus der Erfahrung. Lichtenbergs Sudelbücher dienten auch als Zitatensammlungen (besonders das Keras Amaltheifls oder »Füllhorn«-Notizbuch, das mit Notizen und Zitaten aus seinem Lesestoff gefüllt war). Seit der Renaissance hatte man Schülern beigebracht, speziell dafür vorgesehene Notizbücher mit ausgewählten Lesefrüchten zu füllen, als uide-memoire und Zitatenquelle für bestimmte Themen und Vorträge. Da die Gewohnheit des Exzerpierens und Zitierens, wie sie uns auch aus den Blütenlesen und Sprüchesammlungen vertraut ist, im Allgemeinen den Gemeinplatz aus dem Textzusammenhang löst, gibt es eine gewisse Analogie zur Fragmentierung der Erfahrung in Einzelbeobachtungen. Es spricht auch einiges dafür, dass die Praxis, Exzerptenbücher zu führen, zu der Art von willkürlicher Kombination von Gegenständen geführt hat, die Bacon für die Einzeltatbestände der Naturgeschichte vorhergesehen hat - ohne Berücksichtigung und selbst unter Missachtung der Absichten des ursprünglichen Verfassers. Obwohl es ein Sprung ist von den Lesegewohnheiten zu den Beobachtungsweisen, könnten die eingefahrenen Gewohnheiten des Exzerpierens, Ordnens und Umgruppierens von Einträgen aus Exzerptenbüchern als Muster für die Vereinzelung und Sammlung von Beobachtungen gedient haben. Etwas davon findet sich wieder in der vermischten, überbordenden und textauflösenden Eigenart von Lichtenbergs Sudelbucheinträgen, in denen sich Auszüge aus Büchern oft auf derselben Seite mit Beobachtungen der Naturgeschehens abwechseln, eine Praxis, die stark an das anregende Durcheinander in den naturge- [ schichtlichen Museen des 18. Jahrhunderts erinnert. Lichtenbergs Haltung zum Verhältnis von Lektüre und Observation I war ambivalent. Er liebte Bücher, las sie, schrieb sie - Lesen und Schreiben waren für ihn »so nötig als Essen und Trinken« (Bd.l, S.68/B81). i Die Sudelbücher bezeugen reichlich seine unersättlichen Lesegewohnheiten, mit Zusammenfassungen, Exzerpten, kritischen Anmerkungen, Empfehlungen und Listen weiterer Bücher, die er noch anzuschaffen gedachte. Doch er fürchtete, dass das Lesen die Beobachtung stören oder gar verdrängen könnte, und warnte, dass vieles Lesen »stolz und pedantisch mache, viel Sehen jedoch weise, verträglich und nützlich« (Bd. 11, S. 182 /H 30). Sein Misstrauen gegenüber dem Lesen wurzelte in einer tieferen, umfassenden Sorge über die abstumpfenden Wirkungen der Gewohnheit und Konvention auf das scharfe Beobachten. Der planvolle Versuch, die Aufmerksamkeit zu erneuern und auf das Neue, das Übersehene, das Verborgene zu konzentrieren, zieht sich wie ein roter Faden durch die Sudelbü'cher. Er glaubte, »daß die meisten Entdeckungen nur deshalb durch Zufall gemacht werden müssen, weil die Menschen alles f so ansehen lernen wie ihre Lehrer und ihr Umgang es ansieht« (Bd. 11, I S. 244/J 1329). Seine eigene bevorzugte Methode, an jeder Sache »etwas zu suchen, was noch niemand gesehen und woran noch niemand gedacht hat« (Bd.11, S.251 /J 1363), war die Analogie, im ursprünglichen Sinn der fortgesetzten Proportion A : B:; C: D - wenn das Schweigen das akustische Äquivalent der Farbe Schwarz in der Optik ist, was sind die akustischen Äquivalente von weiß und Spiegel (Bd. 11, S. 285 / J 1543; Bd. 11, S. 464 / K 249)? Lichtenbergs Analogien überspringen alle Grenzen von Natur und Kunst, Wissenschaft und Literatur, Ernst und Komik. Selbst seine Theorie der Analogie verbindet charakteristischerweise das Geistige mit dem Scherzhaften: »Relationen und Ähnlichkeiten zwischen Dingen zu finden, die sonst niemand sieht. Auf diese Weise kann der Witz zu Erfindungen leiten« (Bd. II, S. 225; / GPH 86). Wie die Analogie, so respektiert auch die Aufmerksamkeit keine Grenzen. Für Lichtenberg war sie ein Werkzeug sowohl für die innere [ wie für die äußere Beobachtung, für die Weiterentwicklung der Moral ebenso wie für diejenige der Naturwissenschaften. Er pries dieYoricks dieser Welt (nach der Figur in Lawrence Sternes Romanen Tristram Shandy und Sentimental Journey) als die »Observatores der Philosophischen Fakultät, die man ebenso nötig hat als bei Sternwarten [...]« (Bd.l, S. 116 /B 268). Während einer schweren Depression, die ihn auf einer Reise in England im Jahre 1771 befiel, wunderte er sich voller Bitterkeit (in englischer $6o 1790 I Die Erfahrung der Freiheit Sprache) über die Unaufmerksamkeit seiner Reisegefährten: »Inward pain, the monster which is gnawing my bowels and brain, and which one would think, could not possibly escape any ones observation, because of his immense bigness, yet may be covered with a smile, and lurk unobserved under the transparent veil of a face« (Bd. [I, S.611 /TB 1171.1g), Hier tritt die moralische ebenso wie die intellektuelle Bedeutung der Aufmerksamkeit für Lichtenberg klar zutage. Die ganze Methode seiner Sudelbücher, die in ihrer zusammengewürfelten Fülle scheinbar so unmethodisch sind, besteht in »der strikten Aufmerksamkeit auf seine eigenen Gedanken und Empfindungen und in der stärksten individualisierenden Ausdrückung derselben, durch sorgfältig gewählte Worte«, wodurch ein »Vorrat von Bemerkungen« angelegt wird (Bd. 11, S. 169 / G 207). Als Lichtenberg schließlich im Jahre 1772 aus dem »Abgrund der Verzweiflung« wieder auftauchte, griff er zu dem Notizbuch, in dem er das Ungeheuer des inneren Schmerzes beschrieben hatte, und fügte eine Nachschrift hinzu: »Thank God my Heart is perfectly well after a fundamental cure. [...] I do not know whether it is weak- or sharp-sightedness that makes me see things different from what they appear to other people« (Bd. 11, S.61J/TB 1771.26). Lorraine Daston : Siehe auch 1729, 1799, 185-3, 1882 Bibliographie: Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe, 4 Bde. (Bde. 1-2 enthalten die SudelMcher), hg. von Wolfgang Promies. München 1968-1972 [alle Zitate im Text beziehen sich auf diese Ausgabe]. - Joseph P Stern, Lichtenberg: A Doctrine of Scattered Occasions, London 1959. - Franz H. Mautner, Lichtenberg. Bildnis seines Geistes, Berlin 1968. - Albrecht Schöne, AuOcIörung aus dem Geist der Experimetitolphysik. Lichtenbergsche Konjunktive, München 1983. - Friedemann Spicker, Der Aphorismus. Begriff und Gattung von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1912, Berlin 1997. 1790 I Immanuel Kant veröffentlicht seine Kritik der Urteilskraft, die dritte seiner Kritiken, die er zwischen 1780 und 1790 schrieb Die Erfahrung der Freiheit Immanuel Kant (1724-1804) war von 17er; an Privatdozent und später Professor der Philosophie an der Albertina, der Universität in Königsberg, bis er 1797 emeritierte. Seine Kritik der Urteilskraft, die 1790 veröffentlicht wurde, bildet die letzte der drei großen Kritiken, die er im Verlauf dieses Jahrzehnts schrieb; die anderen beiden sind die monumentale Kritik der reinen Vernunft (1781, zweite Auflage 1787) und die Kritik der praktischen Vernunft (1788). In diesem außergewöhnlich schaffensreichen Jahrzehnt veröffentlichte er zudem seine Grundlegung zur Metaphysik der Sitlen (178c) und die Metaphysischen Tinfangsgründe der Naturwissenschaft (1786). Trotz ihres systematischen Erscheinungsbilds waren die Kritiken nicht als Tri- 1790 J Die Erfahrung der Freiheit cfai logie geplant. Ursprünglich hatte Kant eine einzige Kritik im Sinne, die die Grundlage einer Philosophie bilden sollte; die zweite Kritik schrieb er erst, als seine Ableitung des moralischen Gesetzes aus der Freiheit des Willens in seiner Grundlegung auf Widerstand stieß. Zwar hatte Kant schon seit den frühen siebziger Jahren Vorlesungen zu Logik, Metaphysik und Anthropologie gehalten, doch seine Entscheidung, die dritte Kritik zu schreiben, scheint erst im Dezember 1787 gefallen zu sein, als ihm plötzlich aufging, wie er Ästhetik und Teleologie miteinander in Verbindung bringen konnte. Worin genau die beabsichtigte Verbindung zwischen diesen beiden Themenkreisen besteht, bleibt eine der umstrittensten Fragen bei der Interpretation seines Werkes. Trotz all seiner Anstrengungen auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, der Metaphysik und der Moralphilosophie seiner Zeit hegte Kant sein Leben lang eine Liebe zur Literatur und kannte sich in der ausgedehnten Literatur zur Ästhetik und der künstlerischen und literarischen Theorie, die im 18. Jahrhundert veröffentlicht wurde, gut aus. Zu den Quellen und Diskussionsgegenständen auf dem Gebiet der Ästhetik zählen die Schule des britischen Philosophen Anthony Ashley Cooper, dritter Earl of Shaftesbury, und Francis Hutcheson sowie wie die deutschen rationalistischen Ästhetiker Alexander Gottlieb Baumgarten, Georg Friedrich Meier und Moses Mendelssohn, die alle von Gottfried Wilhelm Leibniz beeinflusst wurden. Den Gegensatz zwischen dem Schönen und dem Erhabenen führte als Erster Joseph Addison in seinen berühmten Essays »On the Pleasures of the Imagination« aus, die 1712 im Spectator erschienen und 1757 von Edmund Burke in dessen Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful zur Richtschnur des Denkens erhoben wurden. Alexander Gerards Essay on Genius von 177c, der bereits 1776 ins Deutsche übersetzt wurde, popularisierte die Genieidee. Ganz in diesem Sinne sind die drei Hauptabschnitte der ersten Hälfte jener dritten Kritik der »Analytik des Schönen«, der »Analytik des Erhabenen« und in einem mit keiner Oberschrift versehenen Abschnitt den Schönen Künsten und dem Genie gewidmet. In der »Analytik des Schönen« analysiert Kant das Geschmacksurteil in vier »Momenten«: Erstens der Qualität nach - ist unsere Freude am Schönen und das Geschmacksurteil, das wir fällen, unparteiisch (§§ +-S") ? Zweitens der Quantität nach - verlangt das Geschmacksurteil zu Recht nach universell subjektiver Gültigkeit für die Freude, die man in Bezug auf einen schönen Gegenstand empfindet (§§ 6-9)? Drittens der Relation nach - steht die Freude am Schönen im Zusammenhang mit der Absicht der Form eines Gegenstandes, statt Reflexion der Makellosigkeit des Objekts zu irgendeinem konkreten Zweck zu sein (§§ 10—17)? Und viertens seiner Modalität nach - ist das Geschmacksurteil beispielhaft im Sinne eines Modells für andere (§§ 31-34)? Der Kern von Kants Argumentation findet sich im zweiten Moment. Mit ihm stellt er die Behauptung auf, daß es vernünftig sei, Zustimmung 1 c;62 1790 I Die Erfahrung der Freiheit zu Geschmacksurteilen zu erhalten, obwohl diese doch auf dem Gefühl des »Wohlgefallens« beruhten, dem subjektivsten aller unserer Gefühls-zustände, eben weil unsere Freude am Schönen Ergebnis des freien, harmonischen Spiels zwischen unserer Vorstellungskraft und dem Verständnis ist, die durch die Erfahrung eines solchen Gegenstandes ausgelöst wird. Vorstellungskraft und Verständnis funktionieren auf ähnliche Weise solange sie nicht durch störende Einflüsse behindert werden, wie zum Beispiel Nützlichkeit und Besitzdenken. Näher wagt sich Kant nicht an ein Grundprinzip des Geschmacks heran; später verteidigt er es als »Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils« (siehe auch § 21 und S. 35-38). Bei dem freien, harmonischen Spiel von Vorstellungskraft und Verständnis scheint Kant das Gefühl von Einheit und Zusammenhang im Sinne zu haben, das sich aus einer großen Bandbreite von Eindrücken, Bildern und Assoziationen ergeben kann, die ein Gegenstand auslöst, auch wenn die Organisation dieses vielfältigen Materials nicht durch irgendeinen Begriff vorbestimmt wird, der auf den Gegenstand Anwendung findet. Eine solche Erfahrung befriedigt also den allgemeinen Wunsch des Verstandes, aus der Erfahrung Einheit zu gewinnen, ohne sich dabei an den üblichen Weg zu halten, die vielfältigen Eindrücke unter einen bestimmenden Begriff einzuordnen. Diese Erfahrung ist gerade wegen der offenkundigen Möglichkeit ihres Eintretens angenehm. Kants Theorie des freien Spiels laviert also zwischen Hutchesons Reduktion des Gefühls von Schönheit auf eine rein sinnlichen Fähigkeit und Leibniz' Reduktion der ästhetischen Erfahrung auf eine unklare Form begrifflicher Erkennbarkeit. Eines von Kants einflussreichsten und zugleich umstrittensten Argumenten findet sich im zweiten Moment (vor allem im § 14). Der eigentliche Gegenstand eines Geschmacksurteils, so behauptet er, ist nur die erkennbare Form der Organisation eines Gegenstandes in Raum und Zeit, im Gegensatz zu Eigenschaften wie Farbe oder Ton oder irgendeines gegenständlichen Inhalts, den ein Kunstwerk haben mag. Diese Aussage zeitigte andernorts ungeheure Wirkung, wie zum Beispiel in Clive Beils Vorstellung von der »signifikanten Form« in seinem Essay Art (1914) und in Clement Greenbergs Ideologie der abstrakten Malerei in Art and Culture (1961). Doch die Behauptung einer solchen Form von eng beschränktem Formalismus scheint in Kants eigenen Prämissen keine Grundlage zu haben, abgesehen von seinem Wunsch, die Möglichkeit der Zustimmung bei Geschmacksurteilen zu verbessern.Tatsächlich ruht diese Behauptung auf nichts anderem als auf einem Taschenspielertrick, indem Kant nicht länger von der »Form der Zweckmäßigkeit« spricht (§ 11), sondern von der »Zweckmäßigkeit der Form« (§ 13). Zudem stellt Kant in seiner Theorie der schönen Künste eine erheblich großzügigere Auffassung der Elemente vor, die in unsere Erfahrung von Kunst einfließen können. Wie schon die »Analytik des Schönen« ist auch die »Analytik des Erhabenen« in die vier »Momente« Quantität, Qualität, Relation und Modalität aufgeteilt, auch wenn diese Aufteilung ein wenig unter einer 1790 I Die Erfahrung der Freiheit 563 anderen Kategorisierung verschwindet, die in der Behandlung des Schöben keine Parallele findet: Kants Unterscheidung des »mathematisch« und des »dynamisch« Erhabenen. Die Erfahrung des mathematisch Erhabenen setzt ein, wenn wir versuchen, etwas unermesslich Großes, wie zum Beispiel den Sternenhimmel, als ein einziges absolutes Ganzes zu begreifen. Der Verstand, der normalerweise das Ganze dadurch zu begreifen sucht, indem er einen beliebig ausgewählten Teil (den »Zahlbegriff«) davon so oft wie nötig wiederholt, stößt bei dem Versuch, einen solchen Anblick als einzelnes absolutes Ganzes zu begreifen, an Grenzen. Allein die Tatsache jedoch, dass die Vorstellungskraft eine solche Anstrengung unternimmt, enthüllt uns, dass wir eine Vernunftfähigkeit besitzen, deren Aufgabe darin besteht, das Unbestimmte zu suchen und zu einem Verständnis zu gelangen (§§ 2;-26; dabei handelt es sich um Kants Behandlung der Quantität im Falle des Erhabenen). Weil die Erfahrung des Erhabenen eine der »Unangemessenheit« ist, gefolgt von der Befriedigung bei der Erkenntnis der Kraft unseres eigenen Verstandes, beschreibt Kant die Qualität unseres Gefühls vom Erhabenen als eine Mischung, vergleichbar dem moralischen Gefühl der Achtung, wie er es in der Kritik der praktischen Vernunft beschreibt, bei der dem anfängliche Gefühl von Schmerz ein Gefühl des Wohlgefallens folgt, das durch das, was voranging, nur umso intensiver wird (§ 27). Als Nächstes beschreibt Kant die Erfahrung des »Dynamisch-Erhabenen« als eine der Macht, nicht als eine der schieren Größe, sondern als eine der »furchtbaren« Kräfte der Dinge, wie zum Beispiel »der grenzenlose Ozean, in Empörung gesetzt«, und tosende Wasserfälle. Dabei führt die Erkenntnis, dass solche Kräfte unser physisches Dasein leicht vernichten könnten - allerdings müssen wir natürlich körperlich in Sicherheit sein, um eine solche Erfahrung zu überleben - zu der Einsicht, dass in uns selbst eine Kraft anderer Art wirkt, nämlich die Macht des freien Willens unter der Herrschaft der praktischen Vernunft, die sich durch rein physische Bedrohungen oder Schmeicheleien nicht von ihrem Zweck abbringen lässt (§ 28). In einem kurzen Abschnitt über die intersubjektive Gültigkeit der Erfahrung des Erhabenen als Behandlung ihrer Modalität schlägt Kant vor, dass die Erfahrung des Erhabenen wie auch des Schönen mit anderen geteilt werden kann. Dazu ist allerdings ein gewisses Maß an moralischer Entwicklung notwendig, die zum Gefühl des Schönen nicht notwendig ist. Zu dieser »Beistimmung« anderer sind also, zu einem gewissen Teil, die Bemühungen eines jeden Einzelnen zur moralischen und ästhetischen Selbstentwicklung gefordert. In seiner Behandlung der Schönen Künste (§§ 43-54) postuliert Kant, dass das Genie ein Geschenk der Natur sei, welches, anders als in Gerards Geniebegriff, nicht aus einer einzelnen, besonderen Fähigkeit besteht, sondern aus der größeren Fähigkeit aller Sinneseindrücke, die es dem Genie erlauben, bei der Erfindung von künstlerischen Inhalten wie auch in der Schaffung der Form als Ausdruck dieses Inhalts ungewöhn- 564 179° I Die Erfahrung der Freiheil liehe Originalität an den Tag zu legen (§§ 46, 49). Eine genialische Hand für den Inhalt ist für den künstlerischen Erfolg unabdingbar, denn ganz im Gegensatz zu dem, was Kant zuvor vorgeschlagen hatte (§ 14), geht er nun davon aus, dass alle Kunst, und dazu gehört auch das Naturschöne (siehe § 51), Ausdruck ästhetischer Ideen ist. Damit scheint er so etwas wie ein Zentralthema oder die Erfindung eines Werkes zu meinen, das eine Vernunftidee - typischerweise eine moralische Idee - durch den Reichtum an konkreter Bildhaftigkeit und an Assoziationen, die es darstellt oder andeutet, fassbar werden lässt (§49). Die ästhetischen Vorstellungen verbinden also Inhalt, Form und Thema in einer Weise, die die Freiheit der Vorstellungskraft des Künstlers zum Ausdruck bringt und zugleich Raum für die Freiheit der Vorstellungskraft des Publikums läßt. Als Philosoph der menschlichen Autonomie par excellence hegt Kant stets Mißtrauen gegenüber jeder Art von Kunst, die dem Publikum einfach nur die Absichten des Künstlers aufzwingen will. Die erste Hälfte der dritten Kritik endet mit einer kurzen »Dialektik der ästhetischen Urteilskraft«, bei der sich der wichtigste Abschnitt mit dem »Schönen als Symbol des Sittlich-Guten« beschäftigt (§59). Die »Anschauung« des Schönen, so Kant, die Erfahrung der Freiheit der Einbildungskraft, kann als Symbol der moralisch guten Ausübung der Willensfreiheit angesehen werden. Zwar wird die Erfahrung der Freiheit der Einbildungskraft nicht so sehr von Regeln geleitet, wie dies bei der Freiheit des Willens in seiner moralischen Eigenschaft der Fall sein muss, doch dafür ist jene auf eine Weise fassbar, wie diese es nie sein wird, und kann uns so eine konkrete Bestätigung unserer eigenen Freiheit liefern; keine abstrakte, wie wir sie aus der Moral gewinnen. Diese Idee hat Dichter und Denker von Friedrich Schiller (Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 179c) bis Herbert Marcuse (Triebstruktur und Gesellschaft, 195J, und Die ästhetische Dimension, 1978) beeinflusst. Die »Kritik der teleologischen Urteilskraft« ist kürzer als die Behandlung der Ästhetik. Doch auch hier beschäftigt Kant sich mit einem komplexen Thema, wenn er sich einen Weg zwischen dem naiven Realismus der Vertreter des argument from design in der englischen und deutschen Philosophie und Theologie und dem radikalen Skeptizismus von David Humes Dialogues Concerning Natural Religion (1779) zu bahnen sucht. Kant beginnt mit der Prämisse, dass es völlig willkürlich von uns wäre, die Natur als ein System zu betrachten, in dem die Dinge oder Geschöpfe »einander als Mittel zu Zwecken« dienen - es wäre ja auch gut möglich, dass wir nur als Mittel zum Zweck des Gedeihens der Pflanzen dienen. Wegen der Begrenztheit der menschlichen kausalen Erklärungen aber drängt uns die Erkenntnis der inneren Zweckmäßigkeit organisierter Wesen zu dem Gedanken, dass sie Ergebnis eines absichtsvollen Plans sei (§§ 64-66). Sind wir bei diesem Gedanken angelangt, ist es nur natürlich, zumindest als regulative Idee anzunehmen, dass nicht nur die einzelnen Organismen, sondern auch die Natur als Ganzes einer Absicht folgt und dass [790 I Die Erfahrung der Freiheit 565" sie, wenn dem so ist, einen Zweck, einen Sinn hat. Im weiteren Verlauf scheint Kant ein wenig vor dem Anspruch zurückzuscheuen, organisierte Wesen zu verstehen, bis er am Schluss den gleichsam protodarwi-nistischen Gedanken entwickelt, vielleicht ließen sich die Organismen rein aus den mechanischen Gesetzen der Natur erklären, mit Ausnahme der Möglichkeit des Lebens selbst. (§§ 80f.). Der entscheidende Kern von Kants Argument aber folgt in einem Abschnitt, den er irreführend »Anhang« zur Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft nennt (vor allem §§ 82-84). Darin stellt er fest, dass wir nur dann die Natur als nichtwillkürliches System betrachten können, wenn wir an etwas denken, das einem uneingeschränkten »Endzweck« folgt, und dies kann nur der Mensch als moralisches, nicht als rein natürliches Wesen sein (§ 84). Um aber unsere moralische Entwicklung als Endzweck der Natur ansehen zu können, müssen wir davon ausgehen, dass das Objekt unserer Moralität in der Natur verwirklicht ist. Aus diesem Grund müssen wir nicht nur die Entwicklung unserer Fähigkeiten zur Formulierung moralischer Absichten im Auge behalten, sondern auch den gesamten Gegenstand der Moral, die systematische Verwirklichung menschlichen Glücks, das »höchste Gut«, wie Kant es nennt. Dies wiederum kann nur erreicht werden, wenn wir die Natur als Produkt eines Schöpfers betrachten, der die Gesetze der Moral und der Natur verfaßt (§§ 86-87). So schließt die dritte Kritik mit der Wiederholung der Argumente für die Existenz Gottes als eines Postulats der praktischen Vernunft, mit denen Kant schon die ersten beiden Kritiken abgeschlossen hatte. Keines dieser Argumente beabsichtigt, in Konkurrenz zum theoretischen Wissen zu treten, das wir aus den Naturwissenschaften beziehen. Eher zielen sie darauf ab, als Richtschnur für unsere eigenen moralischen Anstrengungen zu dienen. Und so kommen die beiden Hälften der Kritik der Urteilskraft zusammen: Die Erfahrung von Schönheit bestärkt in uns den Glauben, dass die Freiheit des Willens, auf der die Moral beruht, möglich ist, und die Erfahrung des offenbaren Endzwecks in der Natur verleiht uns den Mut zu glauben, dass die moralischen Anstrengungen, die wir unternehmen, auch in der Natur wirken, eben weil wir über einen freien Willen verfügen. Kants dritte Kritik bildet den Höhepunkt des Optimismus in der europäischen Aufklärung. Diese dritte Kritik hat in Deutschland und darüber hinaus einen ungeheuren Einfluss ausgeübt. Die Vorstellung von der Erfahrung des Schönen als Erfahrung der Freiheit der Einbildungskraft legte die Grundlage für die Ästhetik von Schopenhauer bis zu den Theoretikern des L'an pour l'art. Sie inspirierte auch all jene, die in der ästhetischen Erfahrung die Vorbereitung zur praktischen Ausübung menschlicher Freiheit sehen -nämlich zur Verbesserung der Gesellschaft — von Schiller über Schelling bis zu den Philosophen der Frankfurter Schule. Kants Gedanke der Erfahrung von Organismen als Erfahrung einer zumindest mutmaßlichen Absicht hinterließ ihre Spur auch in Goethes Vorstellung der organischen c66 jo. September 1791 | Jenseits der Sprache 30. September 1791 | Jenseits der Sprache 567 Form, ein Gedanke, der wiederum in John Deweys Art and Experience (icyj dt. Kunst und Erfahrung) Widerhall fand. Wie schon erwähnt, beeinflusste' Kants anfängliche Partneinahme für den ästhetischen Formalismus, die er später allerdings wieder zurücknahm, die Theoretiker der modernen Malerei; seine Theorie des Erhabenen ist, wenn auch missverstanden, von postmodernen Literaturtheoretikern aufgegriffen worden. Kants Werk ist und bleibt Gegenstand intensiver philosophischer und literaturtheoretischer Studien, und es gibt Grund zu der Annahme, daß die Faszination dieses Werkes auch weiter anhalten wird. Paul Guyer : Siehe auch 1730, 26. August 1792, 1796-1797, Winter 1828, 1853, 1947 Bibliographie: Immanuel Kant. Werlte. Akademie-Ausgabe (AAJ, unveränderter photomecha-nischer Nachdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften, 23 Bde., Berlin 1968 (Bd. c: Kritik der Urteilskraft). - Ders., Kritik der Urteilskraft, hg. von Jens Timniermann. Heiner F. Klemme, Hamburg [998 (= Philosophische Bibliothek 505). - Paul Gttyer, Kant and the Claims of Taste, Cambridge 21997. - Ders., Kant and the Experiment of Freedom, Cambridge 1993. - Jolin H. Zammito, The Genesis of Kant s Critique of Judgement. Chicago 1992. *** 30. September 1791 | Emanuel Schikaneders Zauberflöte mit der Musik von Wolf-gang Amadeus Mozart hat in Wien am Theater auf der Wieden Premiere Jenseits der Sprache Die Zaubeiflö'te war in Wien Mozarts einziges größeres Opernprojekt, das nicht vom Wiener Hof finanziert und nicht für das Burgtheater geschaffen wurde. Das Theater auf der Wieden, das seit 1787 bestand und seit 1789 von Emanuel Schikaneder geleitet wurde, war ein modernes kapitalistisches Unternehmen mit einem reichen privaten Geldgeber. Wie verschiedene andere Spielstätten, die in den achtziger Jahren des 18.Jahrhunderts entstanden, führte es die in Wien bestehende Tradition der Völkskomödie fort, mit einem häufig parodistischen Bezug zum Burgtheater. Durch sein buntes Repertoire von Theaterstücken und Opern in deutscher Sprache hatte es sich eine genauso bunte Klientel herangezogen (es bot Platz für fast tausend Zuschauer), zu der sowohl Bürgerliche als auch Adlige zählten. Vor allem diese sonst nicht übliche enge Verbindung zwischen hoher und niedriger Kunst bestimmt auch den Grundton der Zauberflöte. Die Verknüpfung der »ägyptischen« Geheimnisse des Freimaurerrituals mit den »Hanswurstiaden« der einprägsamsten Gestalt der ganzen Oper, des Papageno - eine Verknüpfung, die bereits in der Ouvertüre anklingt, wo der komische Lauf des Basses mit der gelehrten fugalen und kontrapunktischen Ernsthaftigkeit von Sakralmusik behandelt wird -, wurde sofort bemerkt. Und sie hat die Menschen von damals bis heute gleichermaßen entzückt wie verärgert. Solange die Oper gespielt wurde, glich Schikaneders Theater in gewisser Weise dem GlobeTheatre Shakespeares. Prinz Tamino bricht in Begleitung des Vogelfängers Papageno auf, um Pamina zu retten; sie ist die Tochter der Königin der Nacht und zugleich das Mädchen, das er liebt. Pamina ist von Sarastro entführt worden, einem »mächtigen bösen Dämon«, der sie auf seinem Schloss gefangen hält. Die Mission scheitert, als die Möchtegern-Retter entdeckt und von Monostratos gefangengenommen werden, einem Mohr, der Sarastros Wache leitet und Pamina ebenfalls begehrt. Wie sich jetzt herausstellt, ist Sarastro gar kein unmenschlicher Tyrann, sondern ein außerordentlich wohlwollender Herrscher und der Hohepriester im Tempel der Weisheit. Da er Pamina nicht dazu zwingen will, ihn zu lieben, überlässt er sie Tamino. Wäre die Geschichte hier nach dem 1. Akt zu Ende, hätte die Zuuber-flöte das Geschehen von Mozarts 1782 uraufgeführtem Singspiel Die Entführung aus dem Serail wiederholt, wo das Vorhaben von Belmonte und seinem Diener Pedrillo, Belmontes geliebte Konstanze aus der Sklaverei im Harem von Pascha Selim zu befreien, zunächst vereitelt wird, dann aber durch den großzügigen Verzicht des Paschas doch noch zu einem guten Ende kommt. Doch die Zauberftöte endet da nicht. Wenn der erste Akt eine Wiederholung der Entführung ist, so ist der zweite eine Überarbeitung von Mozarts einziger großer ernster italienischer Oper Idomeneo (1781). In Idomeneo müssen der junge Prinz Idamante und die ihm feindlich gesinnte Prinzessin Ilia beweisen, dass sie bereit sind, dem Tod ins Auge zu sehen, bevor sie für wert befunden werden, einander anzugehören, und er seinem Vater auf dem Thron folgen kann. Im zweiten Akt der Zauberflöte wird ein ähnliches Bildungsdrama inszeniert. Tamino und Pamina bekommen ihr Happyend nicht einfach geschenkt wie die Liebenden in der Entführung. Vielmehr müssen sie wie die Protagonisten in Idomeneo eine Reihe von Prüfungen bestehen, um sich der Heirat, der Aufnahme in Sarastros Bruderschaft und der zukünftigen Herrscheraufgabe würdig zu erweisen. Kritiker halten diesen Bruch in der Geschichte immer schon für das Hauptproblem der Oper: Die ihrer Tochter beraubte Mutter stellt sich als die Böse heraus, der Tyrann als der Gute. Aber dieser Bruch ist eigentlich nicht das Problem; er ist vielmehr der springende Punkt. Die Zauberflöte handelt von einer Umkehrung der Werte, die hervorgerufen wird durch den Niedergang eines alten Systems, in dem das Glück der Jungen und Machtlosen von den Alten und Mächtigen abhängig war. Sie handelt davon, dass die alte Ordnung durch eine neue ersetzt wird, in der die jungen Menschen ihr Glück durch ihre eigenen autonomen Taten und Entscheidungen suchen können; Autonomie ersetzt Gnade (Ivan Nagel). So wie die Protagonisten sollen auch die Zuschauer erzogen werden. r68 30. September 1791 | Jenseits der Sprache 30. September 1791 | Jenseits der Sprache 569 Außerdem handelt die Oper vom Übergang von einer kriegerischen in eine friedliche Welt. Auch hierin ähnelt sie Idomeneo, wo der allgemeine Frieden schließlich durch eine Heirat wiedererlangt wird. Eine der großen Mythen oder Meta-Erzählungen der Moderne - von Rousseau bis zu Hegel und Marx — wird hier weitergesponnen: von einer Welt die einst ganz war, dann aber auseinanderbrach, so dass sie jetzt bis ins Innerste zerrissen ist, in Zukunft aber wieder vereinigt sein wird. Die Zauberflöte bringt eine Version dieses Mythos auf die Bühne. Als der Gatte der Königin der Nacht, der Besitzer des »siebenfachen Sonnenkreises« noch lebte, war die Welt ganz. Sonne und Mond, Mann und Frau waren noch eins. Auf dem Sterbebett hatte der Gatte jedoch Sarastro und den Mitgliedern seiner Loge den Sonnenkreis vermacht und der Königin der Nacht und ihrer Tochter befohlen, sich der Führung dieser Weisen zu unterwerfen. Doch die Königin will sich nicht unterwerfen; vielmehr will sie die Bruderschaft zerstören, Sarastro den Sonnenkreis abringen und allein herrschen. Diese Welt des Konflikts zwischen Sarastro und der Königin, zwischen Sonne und Mond, Mann und Frau, muss durch die Vereinigung der Jungen wieder ein Ganzes werden: durch den Schüler Sarastros und die Tochter der Königin. In einer Bildungsgeschichte steht zu erwarten, dass die herrschende Verwirrung um die Werte allmählich einer zunelimenden Klarheit weicht. Die Problematik der Oper, falls man denn eine sehen will, liegt anderswo, nicht in dem mittendrin sich vollziehenden Wandel der Werte. Wie sollen wir den Ausgang des kosmischen Konflikts zwischen unvereinbaren Gegensätzen verstehen - zwischen weiblich und männlich, Dunkel und Licht, Natur und Kultur, Leidenschaft und Vernunft, Aberglaube und Wahrheit, Laster und Tugend, Rache und Vergebung, Tod und Liebe? Endet dieser Konflikt mit dem vollständigen Sieg des Tages über die Nacht, wie die letzte Szene es nahelegt, in der die besiegte Königin »in die ewige Nacht hinabgestoßen wird« und Sarastro verkündet, »die Strahlen der Sonne vertreiben die Nacht«? Oder endet er mit irgendeiner Form von Versöhnung zwischen den gegensätzlichen Prinzipien, wie es die Vereinigung von Pamina und Tamino nahelegt? Die innere Logik der Handlung, die auf eine dynastische Heirat hinausläuft und darauf, dass die Jungen an die Stelle der Alten treten, spricht für letztere Lesart. Doch wenn man an Sarastros Schlussapotheose denkt, lassen sich Zweifel an dieser Auslegung nicht ganz ausmerzen. Tamino und Pamina können sich durch die gefahrlichen Elemente Feuer und Wasser kämpfen, weil sie beschützt sind durch den Klang der Zauberflöte, die Paminas Vater aus einer »tausendjährigen Eiche« geschnitzt hat, womit wahrscheinlich der Mythos vom Baum des Lebens angesprochen ist. So wird die Musik zum Symbol einer Versöhnung in Harmonie, in der die Kultur die Grenzen der Natur überschreitet. Indem Tamino die Macht der Musik nutzt, um den Klauen des Todes neues Leben abzuringen, wird er zu einem späten Bruder des Orpheus - im Unterschied zu seinem Vorgänger trägt aber er am Ende den Sieg davon, vmd seine Musik kommt von einem Instrument, nicht von der Stimme (er ist der Orpheus, der nicht singt). Sein Erfolg kann vielleicht als Zeichen für den politischen und kulturellen Optimismus gelten, der in dem kurzen historischen Augenblick zwischen 1789 und 1793 herrschte, einen Optimismus, der zweihundert Jahre zuvor, als der »Orfeo« Mon-teverdis zum ersten Mal sang, noch undenkbar war. Es war der aus dem Geist der Französischen Revolution geborene optimistische Glaube, man könne die Welt erneuern, und »dann ist die Erd' ein Himmelreich, und Sterbliche den Göttern gleich« (so die Worte, die den ersten Akt beenden und zu Beginn des zweiten Finales noch einmal auftauchen). Das wirklich Neue dieser neuen orphischen Musik hat seinerseits mit einer anderen Revolution zu tun, die eher ästhetischer als politischer Natur ist, die sich in Wien, nicht in Paris abspielt und Mozart, nicht Mirabeau zum Mittelpunkt hat. Ein entscheidender Aspekt der Zauberflöte ist der, dass die Musik, die von den im Spiel auftretenden Personen gehört wird - im Unterschied zu der, die allein von den Besuchern als Musik gehört wird — rein instrumental ist: Taminos Flöte, Papagenos Glockenspiel und Panflöte, die Hörner der Priester. Bevor die Zauberinstrumente aber im Quintett des ersten Aktes vorgestellt werden, kommt ein anderes »Instrument« ins Spiel: das goldene Schloss, mit dem man dem Vogelfänger den Mund verschließt, damit er nicht dauernd »plaudert«. Die ersten drei Teile des ersten Finales wiederholen diese Sequenz: Zuerst werden die Vorzüge des Schweigens gepriesen, dann zeigen die Instrumente ihre Fähigkeiten - der Klang der Flöte zähmt wilde Tiere, der des Glockenspiels die Sklaven. Dass die Rede verstummt, scheint eine Voraussetzung für die Wirksamkeit des musikalischen Zaubers zu sein. In den zweihundert Jahren vor der Premiere der Zauberflöte wurde die Musik hauptsächlich als eine mimetische Kunst aufgefasst, die untrennbar mit Sprache verbunden war und dazu diente, menschliche Leidenschaften darzustellen. Die Musik brachte leidenschaftliches menschliches Sprechen zur Aufführung und steigerte so dessen rhetorische Überzeugungskraft. Diese Auffassung von Musik, die mit der Geburt der Oper begann, wurde 1607 in den Rang eines Mythos erhoben, der für die Oper das allgemeine Grundgerüst bildete, und zwar durch Monteverdis Orfeo, wo der Gesang des Protagonisten sogar die Mächte der Unterwelt zu bezwingen vermag. Vor 1791 hatten Haydn und Mozart allerdings auch schon Instrumentalmusik von höchster ästhetischer Qualität geschaffen, und zu dieser neuen Wiener Musik hatten in den folgenden fünfundzwanzig Jahren Leute wie E.T.A. Hoffmann und Arthur Schopenhauer eine neue ästhetische Theorie verfasst. Für diese Männer hatte die Musik, wenn sie nicht mit Sprache verbunden und daher eher abstrakt als mimetisch war, die Kraft, den Schleier der realen Welt zu durchdringen und so wie kein anderes Medium die darunterliegende reine Ideenwelt zu enthüllen. Das wichtigste Thema 570 30. September 1791 | Jenseits der Sprache 30. September 179t | Jenseits der Sprache 571 der Musik war nicht mehr die menschliche Leidenschaft, sondern der unendliche Gesamtzusammenhang, der den metaphysischen Grund des Seins bildet. Indem Taminos Flöte von diesem Zusammenhang kündet, schützt sie ihn und Pamino vor der Zerstörung durch die Naturgewalten der realen Welt. In der Zauberflöte schafft sich die moderne abstrakte Musik ihren eigenen grundlegenden Mythos, genau wie das abstrakte, autonome Ich in der modernen Gesellschaft seine eigene Ausdrucksform in der neuen abstrakten, autonomen Kunst findet. Am 6. November 1791 schrieb Karl Graf von Zinzendorf, nachdem er die 24. Aufführung der Oper gesehen hatte, in sein Tagebuch: »Die Musik und die Dekorationen sind hübsch, der Rest eine unglaubliche Farce. Riesige Zuhörermenge.« Dies fasst im Kern die Rezeption der Zauberflöte von Mozarts Zeit bis in unsere Tage zusammen: Das Libretto ist häufig zur Zielscheibe verächtlicher Bemerkungen geworden. Doch die unabhängigen Denker jener Zeit - Goethe, Beethoven, Hegel - waren anderer Meinung. Hegel betonte in seinen Vorlesungen über die Ästhetik, dass bei einer Oper, wo ja »die Musik das Wichtigste ist, obwohl ihr der Inhalt durch die Poesie gegeben wird«, ein gutes Libretto auf der einen Seite von trivialen, wertlosen Gefühlen Abstand nehmen sollte, auf der anderen aber auch von zu großer gedanklicher Tiefe, um dem Komponisten nur »ein allgemeines Fundament« zu liefern, »auf dem er sein Gebäude errichten kann«. Im Gegensatz zu den Kritikern betrachtete Hegel das Libretto der Zauberflöte als eines der besten Opernlibretti. Schi-kaneders Dramaturgie betonte das Nonverbale; und der beste Hinweis auf die Kraft, die der Musik innewohnt, ist am Ende die Transfigura-tion der Dunkelheit ins Licht. Die eigentliche Schwierigkeit bei dieser Oper ist eher, dass das Spektakuläre und das Musikalische das Mitgeteilte zuschütten und damit die ausdrücklichen Ziele des Textes untergraben, nämlich die Lehre, dass die Vernunft über Gelüste, Sinnlichkeit und Leidenschaft siege. Plato wird hier zwar gepredigt, aber nicht praktiziert. Wie dem auch sei, wenn die Oper den Übergang vom dunklen Niederen zum hellen Höheren vollzieht - ob in der Modulation von c-moll nach C-Dur im ersten Akt oder, noch wichtiger, in nochmals derselben Modulation bei der zentralen Gerichtsszene im zweiten Finale, wo ein altertümlicher bachscher Kontrapunkt in einen modernen homophonen Chor übergeht -, so stellt das für alle Interpreten, die zum Allegorisie-ren neigen, eine unwiderstehliche Versuchung dar. Schon 1794 hatten sich drei verschiedene Interpretationen herausgebildet. Im französisch besetzten Rheinland beschrieb ein anonymer Kritiker Schikaneder und Mozart als jakobinische Volksführer im Dienst der Revolution und die Oper als Allegorie auf die Befreiung des französischen Volkes (Tamino) vom Despotismus des Königshauses (Königin der Nacht) durch weise Gesetzgebung (Sarastro). Pamina, die Tochter des Despotismus, wird als Allegorie auf die Freiheit verstanden. In Österreich hingegen stellte Johann Valentin Eybel, der wohl von den Ereignissen der Französischen Revolution beunruhigt war, eine antijakobinische Interpretation vor: Die Philosophie der Jakobiner (Königin der Nacht) gebiert die Republik (Pamina), die von der göttlichen Weisheit (Sarastro) entführt und gefangen gehalten wird, bis die Nacht vertrieben und der Glanz der gesetzlichen Ordnung durch die Heirat der Republik mit einem königlichen Prinzen (Tamino) wiederhergestellt ist. Aus Preußen schließlich, das durchaus für Gesetz und Ordnung war, sich aber von der Aufklärung nicht groß erschrecken ließ, stammt der erste Versuch einer Interpretation im Sinne der Freimaurer, die dann bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Oberhand über alle anderen allegorischen Auslegungen gewann. In einer Kritik nämlich, die Ludwig von Batzko aus Königsberg an das Weimarer /ouraal des Luxus und der Moden schickte, stellt er den uranfänglichen Kampf zwischen Licht und Dunkelheit, Gut und Böse, Aufklärung und Vorurteil in den Mittelpunkt und weist nur kurz darauf hin, dass dies ein Thema der Freimaurer sei. Tatsächlich gibt es zahlreiche Belege für Schikaneders und Mozarts Sympathien für die Logen. Bereits 1860 erblickten Liberale, die den in den 1780er Jahren durchgeführten und der Aufklärung zu verdankenden Reformen Kaiser Josephs 11. große Achtung entgegenbrachten, in der Oper eine Darstellung des Kampfes zwischen Kaiser und Kirche um die Ideale der Logen. Die Flut von Interpretationen im Sinne einer Allegorie auf das Freimau-rertum hält bis heute unvermindert an. Zum Entstehen der Zauberflöte trugen die unterschiedlichsten Traditionen bei, was ihren einzigartigen Zauber ausmacht: das aus dem Barock stammende improvisierte Wiener Volkstheater, die Märchen Christoph Martin Wielands, die Märchenspiele Carlo Graf Gozzis, die atemberaubende Bühnenmaschinerie der Barockoper und natürlich das Singspiel. Diese Bestandteile lösten sich bald wieder voneinander; die volkstümliche Wiener Sprechkomödie Johann Nestroys und die deutsche romantische Oper Carl Maria von Webers gingen getrennte Wege. Die künstlerischen Erben der Zauberflöte - Beethovens Fidelio, Wagners Parsival und Die Frau ohne Schatten von Hofmannsthal und Strauss - versuchten ausnahmslos, das Erhabene vom Komischen wieder zu befreien. Beethoven hielt diese Oper für Mozarts großartigste, was nicht nur durch den Fidelio selbst bezeugt ist, sondern auch durch die Handlung dieser Oper. Dass Beethovens Heldin in einen unterirdischen Kerker hinabsteigt, um ihren gefangen gehaltenen Gatten zu befreien, erinnert an die Aufgaben von Pamina und Tamino, die Hindernisse überwinden müssen, um schließlich ans Licht zu gelangen. Doch was noch wichtiger ist: Der grundlegend optimistische, auf die Befreiung - von Moll zu Dur, von Dunkelheit zu Licht - hin angelegte Spielverlauf von Mozarts Oper wird von Beethoven in seiner fünften und seiner neunten Symphonie wieder aufgenommen und entwickelt sich auch ganz allgemein zum beispielhaften, allgemein befolgten Verlaufsmuster der österreichischdeutschen Absoluten Musik - bis dann die pessimistischen, nach Ab- C72 jo. September 1791 | Jenseits der Sprache 1792 ) Identität und Gemeinschaft 573 schied klingenden Finalsätze der Symphonien von Brahms und Mahler kommen. Sehr bedenkenswert ist, dass die Oper im Werk Goethes auf fast gespenstische Weise präsent ist. Goethes Inszenierung der Zouberflö'te in Weimar, die am 16. Januar 1794 Premiere hatte, war unter den Vorstellungen, die er als Direktor des dortigen Hoftheaters auf die Bühne brachte, die mit den meisten Aufführungen. Obwohl er 1798 seine Hoffnung aufgeben musste, eine Fortsetzung, Der Zauberflöte zweiter Teil, zu Ende zu führen, schätzte er seine fragmentarische Skizze doch hoch genug, um sie in seine Gesammelten Werke von 1807/08 aufzunehmen. Inhaltliche und formale Spuren dieses Fragments sind in Goethes späterem Werk überall zu finden, vor allem im Faust II, der ja eigentlich auch eine Art Zauberoper ist. Goethe selbst wies auf die Ähnlichkeit gerade des Helena-Aktes mit Mozarts Oper hin (Eckermann, 29. Januar 1827). Aber das Vorhaben, eine Fortsetzung zu schreiben, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Der einzige Komponist, der diese Arbeit zum Leben hätte erwecken können - der ideale Komponist auch für den Faust, wie Goethe Eckermann gestand (12. Februar 1829) -, war leider zu früh gestorben. Die weit verbreitete Vorstellung von Mozart als dem »ewigen Kind« mag auch Goethes Entscheidung beeinflusst haben, sein Fragment, so wie es veröffentlicht wurde, mit einem außerordentlich bewegenden Schlussbild auszustatten: Das Kind Genius, Sohn vonTamino und Pamina, bricht aus seinem Sarkophag hervor wie ein Schmetterling aus seiner Larve. Als es befreit ist, nicht durch den Klang der Flöte übrigens, sondern durch die Worte seiner Eltern, löst sich das geflügelte Kind wie Ariel in Luft auf. Auf diese Weise drückt die unvollendete Fortschreibung ihre Klage über das Hinscheiden jenes Künstlers aus, dessen Anwesenheit die notwendige Bedingung dafür war, dass sie selbst überhaupt entstand. karol berger : Siehe auch 1773, 1818, Winter 1828, 1831, 183-3, l876, '9H Bibliographie: Wolfgang Amadeus Mozart, Die Zauberflöte, KV 620, hg. von Gernot Gruber und Olfred Orel, Neue Ausgabe sämtlicher Werke, II:c/xix, Kassel 1970. - Emil Karl Elümml, »Ausdeutungen der >Zauberflöte«<, Mozart-Jahrbuch 1 (1923). S. 109-146, - Dieter Borch-meyer, Goethe, Mozart und die Zauberflöte, Veröffentlichung der Joachim Jungius-GeseU-schafl der Wissenschaften Hamburg 76, Göttingen 1994. - Peter Branscombe, WA Mozart: »Die Zauberflöte«, Cambridge 199t. - Hans-Georg Gadamer, »Die Bildung zum Menschen. Der Zauberflöte anderer Teil«, in: ders., Kleine Schriften, Bd. 2, Tübingen 1967, S. 118-133-. - Johann Wolfgang von Goethe, »Der Zauberflöte zweiter Teil: Fragment«, hg. von Dieter Borcbnieyer und Peter Huber, in: Sämtliche Werke 1.6, Frankfurt am Main 1993, S. 221-249. _ Norbert Miller, »Die Erben von Zauberflöte und Glockenspiel: Peter von Winters »Labyrinth* und das Märchentheater Emanuel Schikaneders«. in Carl-Dahlhaus und Norbert Miller. Europäische Romantik in der Musik, Bd. I, Smttgarl/Weimar 1999. S.497-538. - Ivan Nagel, Autonomie und Gnade. Über Mozarts Opern, München/Wien 1988. - Jean Starobinski, 1789. Die Embleme der Vernunft, Paderborn 1981. 1792 I Solomon Maimon schreibt seine Lebensgeschichte Identität und Gemeinschaft Die Gestalt des Ostjuden, des Juden aus Osteuropa, war lange Zeit ein Stereotyp in der deutschen - auch der deutsch-jüdischen - Vorstellungswelt. Seine Reise von Ost nach West kann im Lichte dieser Vorstellung niemals zu einer Bildungsreise werden. Welche Anstrengungen er auch unternehmen mag, er kann sich niemals von seinem östlichen Ursprung lösen, kann niemals seinen Mangel an Bildung im westlichen Sinne beheben. Entscheidend für das Zustandekommen dieses Bildes war die Lebensgeschichte des jüdischen Philosophen Salomon Maimon aus dem 18. Jahrhundert (1792). Maimons Autobiographie ist die Geschichte seiner umständlichen Reise von Ost nach West, die, wie er uns mitteilt, gleichzeitig eine Reise aus der Dunkelheit ins Licht war. Seine Beschreibung des von Polen beherrschten Litauen zeigt das Bild einer verkehrten Welt der Unvernunft, wie aus einer Anekdote über seinen Großvater ersichtlich wird. Als Pächter eines Landguts, auf dem es eine reparaturbedürftige Brücke gab, zog er sich den Zorn jedes polnischen Adligen zu, der mit seinem Gefolge in dem Sumpf unterhalb der Brücke landete. »Mein Großvater tat daher so viel in seinem Vermögen war, um dieses Übel in der Zukunft zu verhüten. Zu diesem Behuf bestellte er einen von den Hausleuten, der an dieser Brücke beständig Wache halten mußte, daß wenn ein solcher Herr über die Brücke passieren und sich ein Unglück dieser Art ereignen sollte, diese Schildwache alsdann den Vorfall aufs eiligste im Hause melden möchte, damit er Zeit habe, sich mit seiner ganzen Familie im nächsten Gebüsch zu retten« (S. 8). An eine Reparatur der Brücke war nicht zu denken. Ebenso wenig an eine Ausbildung in moderner Mathematik und Philosophie für den jungen Salomon. Seine formelle Ausbildung war auf den Talmud und die jüdischen Gesetze beschränkt. Die Kenntnisse, die er sich in den modernen Naturwissenschaften aneignen konnte, waren nur Bruchstücke, die er heimlich aus den ihm verbotenen Büchern seines Vaters oder aus Lehrbüchern entwendete, die Reisende aus dem Westen mit zurückbrachten. Er musste diese Texte mühsam entziffern, was ihm dadurch gelang, dass er sich neben dem hebräischen mit dem lateinischen Alphabet vertraut machte. Erst Jahre später, nachdem er sich die spekulative Theosophie der Kabbala und den aristotelischen Rationalismus des Maimonides angeeignet hatte, gelang es ihm nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen, den Zugang zum Westen und zu dessen Bildungsgütern zu finden, zuerst in Berlin unter der Ägide von Mendelssohn, dann — als nun schon bekannter Freidenker, der keinen Wert auf Broterwerb zu legen schien - als Studienrat am Gymnasium zu Altona. Die Autobiographie endet damit, dass Maimon stolz die Anfänge seiner Laufbahn als Verfasser philosophischer Werke in Deutschland schildert. Doch, wie er selbst eingesteht, hat er weder die deutsche 574 '792 I Identität und Gemeinschaft 1792 I Identität und Gemeinschaft 575" Sprache noch die deutschen Umgangsformen jemals vollständig beherrscht, vermochte er sich nicht völlig von seiner Herkunft zu lösen. Denn Maimon selbst sagt, dass die Gedanken der »neuankommenden polnischen Juden größtenteils verworren, und deren Sprache ein unverständlicher Jargon sei« (S. 224). Falls solch eine Beschreibung von einem Deutschen oder auch von einem deutschen Juden käme, würde sie als offensichtlicher Ausdruck eines Vorurteils angesehen, von einem Ostjuden aber konnte man sie nicht als eine Tatsachenfeststellung akzeptieren. In der Mitte des 19. Jahrhunderts brauchte sich Kuno Fischer, ein Philosophiehistoriker, der Maimons philosophische Leistung schätzte, für die folgenden Ausführungen über Maimon nicht zu rechtfertigen: Sein ungewöhnlicher Scharfsinn hatte wohl die Absicht, seinen Untersuchtingen die einleuchtende und durch dringende Kraft einer methodischen Darstellung zu geben, aber nicht die nötige Zucht und Bildung. Er schrieb nach seiner talmudistischen Weise am liebsten commentirend und disputirend, ohne eigentliche Sichtung und Ordnung der Materien. Zu diesen Mängeln kommen die Sprachfehler der Schreibart. Es ist bewunderungswürdig, daß er das Deutsche so schreiben lernte, wie es der Fall ist; es kommen in seinen Schriften Stellen yor, in denen der Gedanke mit einer wahrhaft aufleuchtenden Kraft durchbricht und die Sprache bezwingt, sogar in überraschenden Wendungen mit ihr spielt, aber ein deutscher Schriftsteller ist Maimon niemals geworden, und zu einem philosophischen Schriftsteller fehlte ihm völlig ein gewisser für die Darstellung unentbehrlicher Ordnungssinn: er kann bisweilen sehr gut formuliren, aber gar nicht ordnen. (S.70) Hat sich Fischer eigentlich nie darüber Gedanken gemacht, dass Moses Mendelssohn, der für seinen Stil und seine Methode berühmt war, ebenfalls von Hause aus Jiddisch sprach und eine talmudische Erziehung genossen hatte, auch wenn er einige hundert Kilometer westlich von Maimons Geburtsort das Licht der Welt erblickt hatte? Oder hat er jemals die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass Maimons Beschreibung des Ostjuden bestenfalls ein Ausdruck mangelnden Selbstwertgefühls, schlimmstenfalls eine schlaue Taktik war, um seine eigenen Erfolge herauszustreichen und seine Fehler zu entschuldigen? Es ist reizvoll, Maimons Autobiographie mit dem ersten deutschen Buch über jüdisches Leben zu vergleichen, Der gantz judisch Glaub von Antho-nius Margaritha, zuerst veröffentlicht im Jahre 1530. Verfasst von einem Konvertiten zum Christentum, gibt das Buch den deutschsprachigen Christen einen fundierten Überblick über das liturgische Jahr und den Lebensablauf der Juden, wobei es sich auf die Frage der Konversion konzentriert, die den Höhepunkt im Leben des Verfassers bildet. Nun hatte sich zwar im Jahre 1792 vieles gegenüber früher verändert, aber ein Vorwort von Maimons Freund Karl Philipp Moritz, der die Autobiographie angeregt hatte, erscheint wie eine modernisierte Fassung des Margaritha-Vorbildes. Moritz sieht in Maimons Biographie die Geschichte einer individuellen Aufklärung unter den schwierigsten Bedingungen: »Diese Lebensbeschreibung bedarf keiner Anpreisung, um gelesen zu werden. Sie wird für einen jeden anziehend sein, dem es nicht gleichgültig ist, wie die Denkkraft, auch unter den drückendsten Umständen, sich in einem menschlichen Geiste entwickeln kann, und wie der echte Trieb nach Wissenschaft sich durch Hindernisse nicht abschrecken läßt, die unübersteiglich scheinen.« Aber Moritz hält Maimons Lebensgeschichte auch deshalb für besonders wertvoll, weil sie die Aufklärung eines Juden zum Gegenstand hat - »Was aber diesem Buche noch in andrer Rücksicht einen besondern Wert gibt, ist eine unparteiische und vorurteilsfreie Darstellung des Judentums, von der man wohl mit Grunde behaupten kann, daß sie die erste in ihrer Art ist und deswegen, besonders zu den jetzigen Zeiten, wo die Bildung und Aufklärung der jüdischen Nation ein eigener Gegenstand des Nachdenkens geworden ist, vorzügliche Aufmerksamkeit verdient.« Moritz' Satz von der »Bildung und Aufklärung der jüdischen Nation« ließ verschiedene Interpretationen zu, je nach dem Standpunkt, den man in der Debatte einnahm, auf die er anspielt. Gemäß einer Auffassung, die nicht nur von Christen, sondern auch von einigen Juden vertreten wurde, lief die Aufklärung der Juden auf das hinaus, was Kant die »Euthanasie des Judentums« genannt hatte. Sie würde in der Tat eine Konversion zur Religion der Vernunft darstellen. Unter denen, die dieser Auffassung waren, gab es auch einige, die die Aufklärung der Juden für unmöglich hielten, so wie einige Vertreter in früheren Generationen die Möglichkeit einer wahrhaften Bekehrung vom Judentum zum Christentum geleugnet hatten. Andere hielten die Aufklärung der Juden für eine reale Möglichkeit, die entweder angestrebt oder, für die loyalen Vertreter des Judentums, unter allen Umständen verhindert werden musste. Gemäß einer noch anderen Auffassung würde ein aufgeklärtes jüdisches Volk einen aufgeklärten Judaismus praktizieren. Man denkt hier in erster Linie an Mendelssohns Jerusalem, einen anderen interessanten Vergleichspunkt für Maimons Autobiographie. Das Unterscheidungsmerkmal des Judaismus von der natürlichen Religion lag nach Mendelssohn nicht in seinen Glaubenssätzen, die durchaus rational waren, sondern in einem System geoffenbarter Lebensregeln, die für das jüdische Volk ewige Gültigkeit beanspruchten. Anders als Maimon war Mendelssohn ein anerkannter Meister der deutschen Sprache und der deutschen Umgangsformen, wobei er eine beobachtende Stellung innerhalb der jüdischen Gemeinde beibehielt. Er drängte sich nicht nach der Rolle eines öffentlichen Verteidigers des Judentums. Die wurde ihm erst 1769 aufgezwungen, als Johann Caspar Lavater ihn aufforderte, sich entweder zum Christentum zu bekennen oder aber seine Gründe für den Verbleib ün Judentum darzulegen. Die Schilderung des Judentums in Jerusalem ist in gewisser Weise der Höhepunkt von Mendelssohns öffentlicher Weigerung zu konvertieren. An welcher Stelle des Raumes, der von Margaritha, Kant und Mendelssohn umschrieben wird, befindet sich Maimons Autobiographie? So- 1 C76 1792 I Identität und Gemeinschaft fern sie die Gestalt einer Konversionsgeschichte hat, ist sie die Erzählung eines allmählichen Übergangs, ohne jede Vision auf der Straße nach Da-maskus und ohne einen klar erkennbaren Entschluss. Aber ein Übergang von welchem Ausgangspunkt und zu welchem Ziel? Ein Höhepunkt der Erzählung ist Maimons Versuch, in einem Augenblick höchster Verzweiflung zum Christentum zu konvertieren. Da er sich aber mündlich nicht gut ausdrücken kann, setzt Maimon einen Brief auf, den er dann einem lutheranischen Pfarrer vorlegt. Er enthält die folgende Erklärung: Ich bin aus Polen gebürtig, von der jüdischen Nation, nach meiner Frzichung und meinem Studium zum Rabbiner bestimmt, habe aber in der dicksten Finsternis einiges Licht erbhckt. Dieses bewog mich, nach Licht und Wahrheit weiter zu forschen und mich ] aus der Finsternis des Aberglaubens und der Unwissenheit völlig loszumachen; [-..]. Ich bin daher entschlossen, um meine zeitliche sowohl als ewige Glückseligkeit, welche von der Erlangung der Vollkommenheit abhängt, zu erreichen, und um sowohl mir selbst als andern nützlich zu werden, die christliche Religion anzunehmen. Die jüdische Religion kommt zwar in Ansehung ihrer Gldubemortikel der Vernunft näher als die christliche. Da aber diese ] hl Ansehung des praktischen Gebrauchs einen Vorzug vor jener hat und die Moral, die nicht in Meinungen, sondern in Handlungen besteht, der Zweck aller Religionen überhaupt ist, so 1 kommt die letztre offenbar diesem Zwecke näher als die erstre. Ich halte übrigens die Ge- 1 heimntsse der christlichen Religion für das, was sie sind, für Geheimnisse, d.h. allegorische Vorstellungen det für den Menschen wichtigsten Wahrheiten, wodurch ich nieinen Glauben an dieselben mit der Vernunft übereinstimmend mache; ich kann sie aber unmöglich ihrem gemeinen Sinne nach glauben. Ich bitte also gehorsamst mir die Frage zu beantworten, ob ich nach diesem Bekenntnisse der christlichen Religion würdig bin oder nicht? Im erstem Falle bin ich bereit, mein Vorhaben ins Werk zu setzen. Im zweiten aber muss ich allen Anspruch auf eine Religion aufgeben, die mir zu lügen befiehlt, d.h. mit Worten ein Glaubensbekenntnis abzulegen, das meiner Vernunft widerspricht. (S. 2C/4 f.) Ist dies nun ein Entschluss, in der Nachfolge Margarithas zu konvertieren? 1 Oder Mendelssohn in der Ablehnung der Konversion zu folgen, ohne die Dinge jedoch beim Namen zu nennen? Angesichts der Schwierigkeit, hierauf eine Antwort zu geben, ist es kein Wunder, dass der Pfarrer Maimon zurückweist, wie dieser es ausdrückt, als »ein räudiges Schaf und der Aufnahme in die christliche Herde unwürdig« (S. 126). Maimons Brief zeigt eine deutliche Vorliebe für den jüdischen Glauben gegenüber dem christlichen, während er gleichzeitig eine grundsätzliche Bereitschaft bekundet, religiöse Mysterien allegorisch zu interpretieren. Nicht von ungefähr hat Maimon sich seinen Nachnamen aus Verehrung für Maimonides zugelegt, von dem er diese Art der Interpretation gelernt hat und dessen Philosophie er in seiner Lebensbeschreibung einhundertfünfzig Seiten widmet. Wenn seine Autobiographie ein Ziel verfolgt, so besteht dies neben ihrem Beitrag zu der neu entdeckten empirischen Psychologie vor allem in dem Wunsch, einer deutschen Leserschaft die ] zentralen Ideen des Maimonides nahezubringen. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass Maimons Stellung zum Judentum sich während der Zeit, die durch seine Autobiographie abgedeckt ist, dramatisch veränderte. Vor .1 seiner Begegnung mit dem Pfarrer hatte er bereits aufgehört, die ju- > 1791 I Identität und Gemeinschaft C77 tuschen Gesetze zu befolgen, was er mit einer radikalen Auslegung der Lehren sowohl von Maimonides als auch von Mendelssohn rechtfertigte. Indem er Maimonides' Kritik des Anthropomorphismus auf die Spitze treibt, lehnt Maimon es ab, nach dem Essen den Segen zu sprechen, mit der Begründung, dass es ihm unmöglich sei, »ohne merklichen Widerwillen das Gebet zu sprechen, das er als Folge eines anthropomorphisti-schen Systems der Theologie ansehe« (S. 246). In Übereinstimmung mit Mendelssohns Beurteilung des Judentums als eines Gesetzwerkes erklärt Maimon »die Handlungsweise derjenigen Juden für unrechtmäßig, die sich aus Familienanhänglichkeit und Interesse zur jüdischen Religion bekennen und dennoch ihre Gesetze (wo sie ihrer Meinung nach jenen Bewegungsgründen nicht im Wege stehen) übertreten.« Er stimmt auch Mendelssohns Bemerkung zu, »daß dadurch, daß ein Jude zur christlichen Religion übergeht, er deswegen sich von seinen Religionsgesetzen nicht befreien könne; weil Jesus von Nazareth selbst dieselben befolgte und seinen Anhängern zu befolgen befahl« (S. 230). Er fährt dann jedoch fort: Wie aber, wenn ein lüde nicht mehr Mitglied dieses theokratischen Staats sein will und zur heidnischen oder zur philosophischen Religion übergeht, die nichts mehr als die reine natürliche Religion ist? Und wenn er sich bloß als Mitglied eines bürgerlichen Staats seinen Gesetzen unterwirft und von demselben wiederum seine Rechte fordert, ohne sich über seine Religion im mindesten zu erklären, da der Staat vernünftig genug ist, von ihm keine Erklärung (die ihn nichts angeht) abzufordern? Ich glaube nicht, daß Mendelssohn noch in diesem Falle behaupten würde, daß dieser Jude dennoch in seinem Gewissen verpflichtet sei, die Gesetze seiner väterlichen Religion bloß deswegen zu befolgen, weil sie die Gesetze seiner väterlichen Religion sind. (Ebd.) So findet Maimon zu einer neuen Identität. Zunächst einmal ist es die Identität eines Philosophen. Aber diese Identität bleibt in gewissem Sinne jüdisch, nicht nur wegen seiner jüdischen Herkunft und seiner mai-monidischen Auflassung von einer natürlichen Religion, sondern auch, weil es den aufgeklärten bürgerlichen Staat noch nicht gibt. Er kommt nicht umhin, als Angehöriger der jüdischen Gemeinschaft angesehen zu werden, zu der er nicht mehr gehört. In seiner Antwort auf des Pfarrers Ablehnung seines Gesuches formuliert Maimon seine heterodoxe Auffassung von jüdischer Identität, wobei er einer biblischen Aussage mit einer langen christlichen Interpretationsgeschichte eine neue Wendung gibt: »Wenn dem so ist, so muß ich gestehn, Herr Pastor, daß ich zum Christentum nicht qualifiziert bin. Das Licht, das ich empfangen werde, werde ich immer mit dem Licht der Vernunft beleuchten. Ich werde nie glauben, auf neue Wahrheiten geraten zu sein, wenn ihr Zusammengang mit den mir schon bekannten Wahrheiten nicht einzusehn ist. Ich muß daher bleiben, was ich bin: ein verstockter Jude« (S. 257). Verstockt zu sein, nicht nur im Hinblick auf das Christentum, sondern auch auf das Judentum, hat eine lange jüdische Tradition. Zusätzlich zum theoretischen Problem einer Identität musste Mai- 578 26. August 1792 I Eine ästhetische Revolution 26. August 1792 I Eine ästhetische Revolution 579 monides das praktische Problem seines Lebensunterhalts lösen. In seiner Autobiographie heißt es: »Der größte Teil der polnischen Juden besteht aus Gelehrten, das heißt aus Menschen, die dem Müßiggange und der kontemplativen Lebensart ergeben sind«, und ein Gelehrter, der das Glück hat, eine tüchtige Frau zu finden, »verbringt sein gesamtes Leben in gelehrtem Müßiggange« (S.44). Das Ansinnen deutscher Juden, einen Brotberuf zu erlernen, lehnte Maimon ab, und stattdessen versuchte er nach Art der osteuropäischen Juden finanzielle Unterstützung von jüdischen Mäzenen zu erhalten. Das wurde zweifellos schwieriger, nachdem er sich aus der jüdischen Gemeinde zurückgezogen hatte; andererseits kam eine Universitätsstellung für ihn nicht in Betracht, da er kein Christ war. Drei Jahre nach der Veröffentlichung seiner Autobiographie fand Maimon schließlich einen nichtjüdischen Gönner, den Grafen Adolph von Kalckreuth, auf dessen schlesischem Gut er seinen Wohnsitz nahm. Hier trank er sich in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts zu Tode. Nach einem Bericht wurde er außerhalb des jüdischen Friedhofs von Glogau bestattet. Das erscheint angemessen. Denn Maimon war immer noch durch sein Ausscheiden aus der jüdischen Gemeinschaft definiert. Selbst im Deutschland des 18. Jahrhunderts, dem westlichen Land der Aufklärung, gab es noch keine Gemeinschaft, der er sich zugehörig fühlte. Paul Franks : Siehe auch 1767, 177c, 1782, 1790 Bibliographie: Solomon Maimon's LebeiKgeKhichte.Von ihm selbst geschrieben und herausgegeben von K.P. Moritz, Berlin 1792. - Immanuel Kant, Der Streit der FakuMten. Akademie-Ausgabe, Bd. vn. -Moses Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum, Berlin 1783; in: Gesammelte Schriften.Jubiläumsausgabe, Bd. 8, Stuttgart 1983. - Karl Philipp Moritz, »Vorrede«, in: Gnoihi samon oder Mupazin zur Prfahrimgsseclenkunde, 10 Bde.. 1783-1793; Nachdruck, hg. von Anke Bennholdt-Thomsen und Alfredo Guttoni. Lindau 1979. - Kuno Fischer, Fichtes Leben, Werke und Lehtc. Geschichte der neuem Philosophie. Bd. 6, Heidelberg 1869. - R Po-chia Hsia, The Myth of Ritual Murdcr: Jews and Magic in Reformation Germany, New Häven, Conn. 1988, 26. August 1792 I Die Französische Nationalversammlung verleiht »le sieur Giller, publicisté allemand« den Ehrentitel eines Citoyen francais Eine ästhetische Revolution Wie viele deutsche Intellektuelle seiner Zeit teilte der Dichter Friedrich von Schiller (175-9-1805) die Ideale und Hoffnungen der Französischen Revolution. Er schreckte jedoch vor der Brutalität der revolutionären Ereignisse zurück, und schon um 1793 war er entsetzt über ihre blutige Logik. Die Französische Revolution erschütterte sein optimistisches Geschichtsbild und veränderte seinen teleologischen Glauben an die Vervollkommnung des Menschengeschlechts. Ein Vergleich des Lobes, das er bei seiner Antrittsvorlesung 1789 »unserem aufgeklärten Zeitalter« spendet, mit seiner KyiWkritik zu Beginn der »Ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts« von 179c macht diese Veränderung deutlich. Sieben Wochen vörTCu^bruch der Französischen Revolution zeichnete Schiller vor seinen Studenten ein idealisiertes Bild »unseres humanitären Zeitalters«. Dieses gipfelte im Lob der »produktiven Mittelklasse, der Schöpferin unserer gesamten Kultur, die ein dauerndes Glück der Menschheit antizipiert«. Als dieselbe Mittelklasse in Frankreich den ersten Schritt unternahm, um sich von der bedrückenden Alten Ordnung zu befreien und ihren kulturellen Einfluss auf die politische Sphäre auszudehnen, beharrte Schiller immer noch auf dem Ideal der Aufklärung einer »Herrschaft_cjer Vernunft«, unter der das Wohl der Untertanen mit der Herrschaft eines aufgeklärten Absolutismus in Einklang gebracht werden sollte. Ironischerweise erreichte das offizielle Dokument von Schillers französischer Ehrenbürgerschaft ihn erst sechs Jahre später, als er seine Ansichten über die Französische Revolution schon lange geändert hatte. In Frankreich wurde der Dichter von Die Räuber jedoch als Sympathisant der Französischen Revolution betrachtet, ja sogar als Revolutionär. Das könnte ein produktives Missverständnis gewesen sein. Schillers Räuberphantasien konnten in der Tat als ein revolutionäres Drama inszeniert werden - und als ein solches wurden sie in Paris im Jahre 1792 aufgeführt. Als er das Stück schrieb, dachte Schiller nicht an eine konkrete politische Situation, und es waren nur wenige Änderungen nötig, um Karl Moors radikale Auflehnimg gegen die Gesellschaft in ein Musterdrama für jede Revolution umzuformen. Obwohl der Held als ein zögernder Rebell erscheint, sind seine Handlungen als Räuber gegen all diejenigen gerichtet, die ihre privilegierte Stellung missbrauchen, um ihren Hunger nach Macht und Reichtum zu befriedigen. Das Stück schildert den anarchistischen Kampf eines rechtschaffenen Einzelnen gegen ein »tintenklecksendes Säculum«. Karls Auflehnung zeigt, dass persönliche Kränkung zur Unzufriedenheit führt und danach erst zum Kampf gegen die soziale Ungerechtigkeit. Und doch gibt es da diese berühmten Zeilen, die aus einer Räuberbande tugendhafte Republikaner machen: »Stellt mich an die Spitze einer Armee von Männern, und ich werde aus Deutschland eine Republik machen.« Es waren diese rebellische Haltung und das moralische Pathos des Stückes im Ganzen, die Schiller die französische Ehrenbürgerwürde eintrugen. Die nächsten drei Schauspiele Schillers (ein »bürgerliches Trauerspiel«, Kabale und Liebe, ein »republikanisches Trauerspiel«, Fiesco, und ein historisches Drama, Don Carlos) begründeten dauerhaft seinen Ruf als »Dichter der Freiheit«, wenn nicht gar der Revolution. Das Publikum des Mannheimer Nationaltheaters verstand diese Werke unzweifelhaft als zeitgenössische Stücke und als Anklage gegen die bestehende politische c8o 26. August 1792 I Eine ästhetische Revolution 26. August 1792 I Eine ästhetische Revolution cSi und gesellschaftliche Ordnung. Schiller selbst sprach von Büchern, die von den Behörden verbrannt werden müssen. Gemeinsam sind all diesen frühen politischen Dramen idealistische Adlige, die sich gegen eine herrschende Ordnung auflehnen. Ihr revolutionäres Handeln und ihr Freiheitspathos erschüttern die Grundlagen eines despotischen Absolutismus, aber zum Schluss werden sie entweder besiegt oder gezwungen, sich der alten Ordnung zu unterwerfen. Bei genauerer Untersuchung stellt man fest, dass Schillers frühe politische Dramen in seine widersprüchlichen Ansichten über den aufgeklärten Absolutismus verstrickt bleiben. Das ist am deutlichsten zu sehen im Don Carlos (1786). Das Drama ist berühmt für seinen Höhepunkt, Szene 10 im dritten Akt. Marquis Posa, der politische Idealist, plädiert vor König Philipp n, von Spanien für »Gedankenfreiheit«. Posas berühmte Worte - »Stellen Sie der Menschheit verlornen Adel wieder her, Sire, geben Sie Gedankenfreiheit« - wurden zur Kurzformel für den Sinn des Stückes und zum eigenständigen Sprichwort. Aber wie es oft mit Extrakten dieser Art geht, geben sie weder die Bedeutung des Stückes noch den Sinn der Szene wieder. Gedankenfreiheit wäre ein zu bescheidenes Ideal für Posa, der weit mehr im Sinne hat, nämlich die politische Freiheit der Niederlande. Gegenüber dem Despoten muss er Vorsicht walten lassen. Gedankenfreiheit erscheint harmlos im Vergleich zu der republikanischen Freiheit, die er anstrebt, von der er aber in der gegebenen Situation unmöglich reden kann. Für Philipp sind selbst Posas vorsichtige Äußerungen unerhört und stellen schon selbst eine gefährliche Form der Gedankenfreiheit dar. Allerdings ist es zweifelhaft, ob Philipp die Worte Posas überhaupt bewusst aufnimmt, denn er ist mit seinen Gedanken ganz woanders. Wie aus der vorhergehenden Szene deutlich wird, sucht Philipp verzweifelt jemanden, auf den er sich verlassen kann, einen Vertrauten, der seinem eifersüchtigen Geist Klarheit verschaffen soll. Das Ende dieser Szene steht in starkem Gegensatz zu ihrem Anfang: Die Betonung liegt jetzt mehr auf der unglücklichen Seelenverfassung des Königs als auf Posas politischen Reformvorstellungen. Posa wird Philipps persönlicher Ratgeber und erhält den Auftrag, das Verhältnis zwischen der Königin und Don Carlos auszuforschen. Das Private ist an die Stelle des Politischen getreten. Posa hat nun die Macht, seine eigenen politischen Pläne zu fördern, und mit jedem Schritt, den er unternimmt, wird seine Strategie deutlicher. Er konspiriert heimlich gegen die Spanische Krone, um für die Niederlande die Selbständigkeit zu erreichen und für Spanien »die größtmögliche Freiheit des Individuums in einem blühenden Staatswesen«. Don Carlos, der Kronprinz, ist seine Hoffnung und sein Werkzeug zur Durchsetzung seiner politischen Ziele. Zum Schluss, als ihre Träume zunichte gemacht worden sind, erkennt der Zuschauer, wer ihre Gegner gewesen sind. Der Triumph der Inquisition wirft ein neues Licht auf die Tragödie als Ganzes. In seinen »Briefen über Don Carlos« erklärt Schiller, dass er die entwürdigte Menschheit rächen wollte, indem er die Macht und die Infamie der Inquisition bloßgestellt habe: »Das Drama zeigt die Auseinandersetzung eines absoluten Despoten, der von der Inquisition kontrolliert wird, mit dem Ideal einer kosmopolitischen Republik, in der Toleranz und religiöse Freiheit herrschen.« Die Art, wie Posa die Verbindung zwischen dem Aufstand in den Niederlanden und seinem Ideal eines »neuen freiheitlichen Staates« herstellt, erscheint bisweilen revolutionär, aber er ist weder ein Danton noch ein Robespierre. Was Schiller in seinem Drama historisiert, sind die herausragenden Ideen der Aufklärung, provozierend unter den Verhältnissen im Deutschland seiner Zeit, aber immer noch vorrevolutionär. Das Stück hält denjenigen Königen und Fürsten einen Spiegel vor, die sich für aufgeklärt halten, ohne den universellen Ideen von menschlicher Freiheit und Würde gerecht zu werden. Was Schiller fordert, ist nicht weniger, aber auch nicht mehr als eine politische Reform: religiöse Toleranz selbst unter einer Staatskirche, Gedankenfreiheit als Voraussetzung für eine bürgerliche Öffentlichkeit und das ungehinderte Streben nach Glück unter einem aufgeklärten Absolutismus. Das ist Schillers Utopia, ein aufgeklärter »neuer Staat«, in welchem eine konstitutionelle Monarchie Freiheit, Gerechtigkeit und Glück für die Untertanen garantiert. Ein Jahr später, in der Einleitung zur Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung geht Schiller noch einen Schritt weiter und preist die »neue Republik« als ein Beispiel dessen, »was Menschen für eine gerechte Sache zu unternehmen wagen und was sie durch Einigkeit erreichen können«. Die Erhebung wird hier als Modell für unterdrückte Völker unter ähnlichen Umständen dargeboten, und er kommt zu dem Schluss, dass der glückliche Ausgang dieser waghalsigen Rebellion »uns nicht versagt werden wird, falls die Zeit auf unserer Seite ist und die Umstände von uns solches Handeln verlangen«. So nahe ist Schiller nie wieder der Legitimierung einer Revolution gekommen. Als er den Text im Jahre 1801 wiederauflegen ließ, verzichtete er vorsichtshalber auf diese Sätze. Er wandte sich im Folgenden der ästhetischen Theorie als einem Ersatz für die Historie zu und versuchte, mit ihrer Hilfe die politischen und sozialen Probleme seiner Zeit in den Griff zu bekommen. Schillers ästhetische Wendung erfolgte zu Beginn des Jahres 1793, wie aus den Briefen an seinen Freund Christian Gottfried Körner hervorgeht, in denen er seinen Abscheu vor der Hinrichtung Ludwigs xvi. zum Ausdruck bringt und sein ästhetisches Projekt erwähnt. m~elnem Brief vom 8. Februar 1793 entwickelt er zum ersten Mal seinaJdee des Schönen, die er in die berühmte Definition zusammenfasst: »Schönheit ist nichts als Freiheit in der Erscheinung.« Was an dieser originellen Definition, trotz ihrer problematischen Ableitung, überrascht, ist die Tatsache, dass Schiller das moralische und politische Konzept der Freiheit benutzt, um es zum Bestandteil seiner Ästhetik zu machen. Da Schönheit eine subjektive Erfahrung ist und Freiheit auf die Erscheinung des schönen 582 26. August 1792 I Eine ästhetische Revolution 26. August 1792 I Eine ästhetische Revolution ^83 Objekts projiziert wird, kann Freiheit nur eine innere Erfahrung sein; oder wie er im zweiten Brief von Über die ästhetische Erziehung des Menschen erklärt: »Ich hoffe, Sie zu überzeugen, daß diese Materie weit weniger dem Bedürfnis als dem Geschmack des Zeitalters fremd ist, ja daß man, um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muß, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert«. Schillers Essay in Briefform, den man auch unter der Bezeichnung »Ästhetische Briefe« kennt, ist mehr als nur eine Ontotogie des Schönen, wie er oft interpretiert wird, denn er sucht eine langfristige ästhetische Lösung für eine gefährliche politische Situation. In einem programmatischen Brief vom 13. Juli 1793 an den Fürsten von Augustenburg, seinen dänischen Wohltäter, stellt Schiller eine klare Verbindung zwischen Politik und Ästhetik her, zwischen seinen enttäuschten Hoffnungen auf die Französische Revolution und der Notwendigkeit einer ästhetischen Erziehung. Obwohl er in der Französischen Revolution den Versuch sieht, eine Herrschaft der Vernunft zu errichten, bezweifelt er, dass sie dieses Ziel erreicht hat. Schon um 1793 geht Schiller davon aus, dass die Französische Revolution gescheitert ist. Ausgehend von dieser Feststellung entwickelt er seine Kulturkritik und seine ästhetische Theorie, wodurch er der Geschichte seiner Zeit eine utopische Perspektive eröffnet. Da er den gewaltsamen Umsturz bestehender Staatsformen ebenso ablehnt wie jeden Versuch, das despotische Feudalsystem zu neuem Leben zu erwecken, setzt er sich für die ästhetische Erziehung als eine dritte Lösung ein. Indem man das ethische Bewusstsein auf den höchsten Stand erhebt, müsste ein allmählicher Übergang vom Absolutismus zu einem aufgeklärten Staat möglich sein. Diese scheinbar seltsame Wechselbeziehung von Ästhetik und Politik bestimmte von nun an Schillers ästhetische Geschichtsphilosophie. Die zentrale Idee der »Ästhetischen Briefe« ist enthalten im Begriff der autonomen Kunst, der die Kunst in Gegensatz stellt zur Wirklichkeit, besonders zu politischen und sozialen Anliegen. Diese Idee ist dem Vorwurf der Ideologie ausgesetzt, einem Vorwurf, der wiederholt gegen sie erhoben worden ist. Dabei wird in folgender Weise argumentiert: Der Begriff der Autonomie rechtfertigt den Rückzug der Kunst aus der Wirklichkeit, indem er die Kunst vom Leben trennt, und entschädigt für das, was der Gesellschaft abgeht - Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit -, ohne diese zu verändern. Man wird jedoch feststellen müssen, dass Schiller den neuen Begriff von der Autonomie der Kunst in ganz anderer Weise verwendet. Er kompensiert sozusagen mit gutem Gewissen. Im Zusammenhang seiner Politik- und Kulturkritik hat Autonomie eine kritische Funktion. Die Ablehnung der politischen und sozialen Realität erfordert die Vorwegnahme einer besseren Welt. Die Autonomie der Kunst schafft Freiheit von äußeren Zwängen, und die Kunst projiziert in die Zukunft, was noch keine Wirklichkeit ist. Die Autonomie der Kunst verhält sich zu Schillers Kulturkritik wie seine ästhetische Erziehung zur utopischen Funktion der Kunst. Da er die Entwicklung der Zivilisation als Ursache für den beklagenswerten Zustand der kulturellen Verhältnisse ansieht, muss Schiller nach Mitteln suchen, um diesen Prozess zu überwinden. Anthropologisch betrachtet, ist diese Krise das Ergebnis widerstreitender Kräfte innerhalb der menschlichen Natur. In typisch kantischer Manier formuliert Schiller einen Dualismus zwischen Natur und Freiheit, Sinnlichkeit und Vernunft oder in seinen eigenen Worten: Stofftrieb und Formtrieb. Die Krise der modernen Zivilisation wurde durch die Entfremdung der Vernunft von der Natur heraufgeführt. Der vorherrschende Form trieb ist verantwortlich für einen Zustand, in dem eine repressive Vernunft die Sinnlichkeit unterdrückt, um die kulturelle Produktivität zu steigern. Das Ergebnis ist eine rationalistische Kultur, in der die Vernunft die Natur beherrscht, indem sie die äußere Natur ausbeutet und die innere Natur unterdrückt. Entfremdete Arbeit, Spezialisierung und der Verlust der Totalität sind die Folgen des Verzichts auf Sinnlichkeit. Da das harmonische Zusammenspiel der beiden grundlegenden Triebe im Prozess der Zivilisation verlorengegangen ist, muss eine dritte Kraft sie wieder versöhnen, indem sie die Sinnlichkeit vernünftig und die Vernunft sinnlich macht. Für Schiller kann nur der Spieltrieb, dessen Gegenstand die Schönheit und dessen Ziel die Freiheit ist, diese Aufgabe wahrnehmen. Er geht sogar so weit zu versprechen, dass der Spieltrieb nicht nur das gesamte Geflecht der Schönen Künste, sondern auch die »noch schwierigere Lebenskunst« tragen wird. An diesem Punkte tritt die revolutionäre Dimension von Schillers ästhetischer Erziehung in Erscheinung. Da das Leben unter der Herrschaft des Spieltriebs »seinen Ernst verliert« und »von den Banden jeden Zwecks, jeder Pflicht, jeder Sorge« befreit ist, wird es zu einer sorglosen Existenz, ohne das Gebot der Not oder den Zwang der Arbeit. Es wird zu dem gesegneten Bewusstseinszustand, den die Griechen in den »Olymp versetzten, der aber eigentlich auf der Erde hätte verwirklicht werden sollen«, In der Erfahrung der Kunst spielt die Menschheit mit ihren Möglichkeiten und realisiert spielerisch ihr volles Patential. Wenn die Kunst das Individuum zeitweilig befreit und wenn der Spieltrieb die befreiende Kraft für die Schaffung einer neuen Zivilisation ist, erhebt sich die Frage, wie ein »ästhetischer Staat« aussehen würde. Schillers Antwort am Schluss seines umfangreichen Essays ist ziemlich kurz und ein wenig kryptisch: »In dem ästhetischen Staate ist alles -auch das dienende Werkzeug ein freier Bürger, der mit dem edelsten gleiche Rechte hat. [...] Dem Bedürfnis nach existiert er in jeder feingestimmten Seele, der Tat nach möchte man ihn wohl nur, wie die reine Kirche und die reine Republik, in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finden [...].« Das ist gewiss weniger, als man von einem Gegenmodell zur Französischen Revolution erwarten würde. Es scheint auch das Urteil jener zu erhärten, welche die abstrakte und esoterische Natur des Essays 584 26. August 1792 I Eine ästhetische Revolution kritisieren. Aber auch hier gibt es mehr zu entdecken, als dem unge schulten Auge offenbar wird. Die »feingestimmte Seele« entspricht der Individualisierung und Internalisierung einer ästhetischen Erziehung. Denn Schiller macht von Anfang an deutlich, dass »alle Verbesserung in der politischen Sphäre von der Veredlung des Charakters ausgehen muß«. Wenn man überhaupt von Revolution sprechen kann, ist es »eine totale Revolution der gesamten Art der sinnlichen Wahrnehmung«, das heißt eine ästhetische Revolution. Diese Revolution schließt die Abschaffung der repressiven Kontrollen ein, welche die Zivilisation der Sinnlichkeit auferlegt hat. Die Kunst ist der Weg, diese Bewusstseinsänderung herbeizuführen, die der politischen Veränderung vorausgehen wird. Was die »wenigen auserlesenen Zirkel« betrifft, die bereits die Voraussetzungen des ästhetischen Staates realisiert haben, so könnte man an die Höfe von Kopenhagen und Weimar, die romantischen literarischen Zirkel oder die jüdischen Salons in Berlin denken. Die Mitglieder dieser Zirkel sind bereits frei von Not und Bedürftigkeit und dem Zwang des Daseinskampfes entronnen, und ihre Lebensweise nimmt vorweg, wie »künftige Generationen in gesegneter Muße leben [...] und die freie Entwicklung ihrer Humanität fördern werden«. Diese Zirkel sind der Kern eines zukünftigen ästhetischen Staates, in welchem das Individuum durch Schönheit zur Freiheit geführt wird. Schillers ästhetischer Staat ist nicht ein soziales Utopia, sondern ein utopisches Modell harmonischer Menschlichkeit, in dem die gegensätzlichen Kräfte von Natur und Freiheit, Sinnlichkeit und Vernunft, Individuum und Staat im Gleichgewicht sind. »[...] der ästhetische Staat allein kann sie wirklich machen, weil er den Willen des Ganzen durch die Natur des Individuums vollzieht.« - Und sein Grundgesetz ist »Freiheit zu geben durch Freiheit«. Schillers ästhetische Erziehung ist eine idealistische, spezifisch deutsche Antwort auf die Französische Revolution. Sie ersetzt die politische Erziehung durch eine ästhetische und verändert lediglich unsere Vorstellung vom Schönen. Diese Veränderung ist allerdings eine radikale. Die Kunst wird autonom, und es wird ihre Aufgabe, die Menschheit umzuformen, um Freiheit möglich zu machen. Schillers Kritik an der bestehenden politischen Ordnung führt ihn dazu, »Gedankenfreiheit« zu fordern, die auf eine bürgerliche Öffentlichkeit und letztlich auf eine aufgeklärte konstitutionelle Monarchie abzielt. Seine Kulturkritik und sein ästhetischer Lösungsweg sind im wahrsten Sinne des Wortes utopisch: Schillers ästhetisches Utopia zielt auf die Befreiung der Menschheit von Not und Bedürfnis und die Herstellung eines Zustandes von Freiheit, der sie über das Schicksal erhebt. Dieses Ideal der Humanität ist etwas Unendliches, »dem wir uns im Verlaufe der Zeit immer mehr annähern können, ohne es jemals zu erreichen«. Es ist eine regulative Idee, die nach dem verlangt, was noch nicht ist, aber kommen wird. Die Kunst hält dieses Ideal aufrecht, erleuchtet den Weg der Menschheit und stärkt April 1796 I Der »deutsche« Shakespeare 585 das utopische Verlangen. Die ästhetische Vision wird zur »Vor-Schau«, die die menschliche Freiheit in der ästhetischen Sphäre vorwegnimmt, wo sie unangreifbar wird. Die ästhetische Erfahrung ermöglicht, wenigstens vorübergehend, das Gefühl menschlicher Vollkommenheit; sie erhält, stärkt und motiviert das Individuum; sie nimmt künftige Möglichkeiten vorweg und eröffnet neue Perspektiven. Das ist weit mehr, als bisher jemals von der Ästhetik erwartet worden ist. Klaus L. Berghahn : Siehe auch 1796-1797, 1800, 1833, 1835 Bibliographie: Friedrich Schiller, Werke und Briefe, 12 Bde.. Frankfurt am Main. - Ders.. Über die ästhetische Erziehung des Mencheti in einer Reihe von Briefen, Stuttgart 1995. April 1796 Werken August Wilhelm Schlegel fordert eine poetische Übersetzung von Shakespeares Der »deutsche« Shakespeare August Wilhelm Schlegel (1767-1845) wollte, dass man seiner gedenke als »Der Erste, der's gewagt auf deutscher Erde / Mit Shakspear's Geist zu ringen und mit Dante, / Zugleich der Schöpfer und das Bild der Regel« (Sämtliche Werke, Bd. i, S. 303). Dieser Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Der Ruhm, den er sich mit der Übersetzung in Blankvers von 14 Dramen William Shakespeares - veröffentlicht zwischen 1797 und 1810 - erworben hat, lässt seine Errungenschaften als Dichter, Literaturhistoriker, Kritiker und einer der Begründer der deutschen Romantik stark in den Hintergrund treten. Während sich nur noch Spezialisten mit Schlegels Dichtung und seinen literaturwissenschaftlichen Schriften befassen, sprechen seine Shakespeare-Übersetzungen - trotz aller Versuche seit dem frühen 19. Jahrhundert, ihnen ihren Nimbus zu nehmen - immer noch zu deutschen Lesern und zum deutschen Theaterpublikum, wie die Flut moderner Shakespeare-Ausgaben zeigt, die Schlegels Text zugrunde legen. Um die historische Bedeutung dieser Übersetzungen zu erfassen, die Schlegel selbst für einmalig hielt - so gewagt wie Jakobs Ringen mit dein Engel Gottes —, müssen wir uns nicht nur sein Shakespeare-Verständnis ansehen, sondern auch die zentrale Rolle, die Shakespeare in der Entwicklung der deutschen Literatur und Kultur vor allem im 18. Jahrhundert spielte. Schlegel verkündete seine Absicht, Shakespeare in Versform zu übersetzen, in seinem Essay »Etwas über William Shakespeare bey Gelegenheit Wilhelm Meisters«, der in der April-Ausgabe des Jahres 1796 in Friedrich Schillers Monatsschrift Die Hören veröffentlicht wurde. Zu diesem Zeitpunkt war der elisabethanische Autor schon lange eine viel- c86 April 1796 I Der »deutsche« Shakespeare diskutierte Figur in Deutschland. Seit er zuerst in Daniel Georg Morhofs Unterricht von derTeutschen Sprache und Poesie, deren Uhrsprung, Fortgang und Lehrsätzen (1682) erwähnt worden war, hatte man Shakespeare als eine zentrale Gestalt in der deutschen Variante der quereile des anciens et des modernes angesehen. Während er von denjenigen abgelehnt wurde, die sich wie der Literaturtheoretiker Johann Christoph Gottsched in Fragen der Ästhetik und des Geschmacks an den Regeln des französischen Klassizismus und der Antike, speziell des Horaz, orientierten, wurden Shakespeares Werke als Beispiele des Modernen und des Neuen, des Originalgenies, welches Vernunft und Etikette über den Haufen wirft, von all denjenigen angesehen, die bestrebt waren, eine anti-klassizistische Ästhetik zu entwickeln welche sich auf spontane Kreativität, Genie und Lebensnähe gründen sollte. An der Spitze dieser Bewegung standen Johann Gottfried Herder Jacob Michael Reinhold Lenz und Johann Wolfgang Goethe. »Natur! Natur! nichts so natürlich wie Shakespeares Charaktere«, rief der junge Goethe 1771 in einem Bekenntnis aus, das beispielhaft war für die Faszination, die Shakespeare auf die Sturm-und-Drang-Generation ausübte, die dem frankophilen preußischen Absolutismus kritisch gegenüberstand. Es waren unter anderem Shakespeares anerkannter Realismus und Geschichtssinn, seine tiefgründigen Darstellungen der Leidenschaft und ihrer Folgen, die Verletzung der Etikette und des guten Tons durch seine Figuren - selbst der Aristokrat Hamlet kann roh und obszön mit Ophelia reden - und schließlich seine Missachtung der Einheit von Ort und Zeit bei der Komposition seiner Dramen, die solche ehrgeizigen anti-klassizistischen Autoren und Theaterpraktiker wie Lenz, Goethe und Schiller begeisterten. Vor allem Hamlet - mit dem wachsenden Konflikt von Denken und Handeln im Zentrum der Tragödie - rüttelte eine Generation auf, die schon im Banne von Goethes Die Leiden des jungen Werther stand. Es war eine Generation voller Tatendrang, die jedoch vom festen Griff eines Monarchen zurückgehalten wurde, der die Bestrebungen seiner Untertanen genau beobachtete und jede Verletzung bestehender ästhetischer Regeln als Bedrohung der staatlichen Ordnung ansah, wie das negative Urteil Friedrichs des Großen über Goethes Götz von Berlichingen zeigt. Shakespeares Wirkung auf die deutschen Zuschauer war so gewaltig, dass Theaterbesucher bei seinen Tragödien ohnmächtig wurden und dass die Stücke - wie bei der Aufführung des Othello in Hamburg im Jahre 1779 - etliche Fehlgeburten ausgelöst haben sollen. Am Ende des 18. Jahrhunderts war Shakespeare auf der deutschen Bühne so fest etabliert, dass Schlegel sich berechtigt fühlte, in dem vorstehend erwähnten Aufsatz die Feststellung zu treffen, »daß er nächst den Engländern keinem Volke so eigentümlich angehört wie den Deutschen, weil er von keinem im Original und in der Kopie so viel gelesen, so tief studiert, so warm geliebt und so einsichtsvoll bewundert wird« (Sprache, S. 99). In einem berühmten Fragment aus dem Jahre 1790 erklärt Friedrich Schle- April 1796 I Der »deutsche« Shakespeare 587 gel mit dem gleichen Enthusiasmus, der auch seinen Bruder beseelt, »Shakespeares Universalität ist wie der Mittelpunkt der romantischen Kunst« (Werke, S. ss)- Überraschenderweise hatten Shakespeares Werke bei den Deutschen Anklang gefunden, obwohl es keine poetische Übersetzung gab, die es ihnen ermöglicht hätte, ihren vollen Zauber in deutscher Sprache zu entfalten - wobei die Unterschiedlichkeit der Sprachen zunächst einmal außer Betracht bleiben soll. Mit Ausnahme einer kleinen Gruppe, die in der Lage war, Shakespeare im Original zu verstehen, hatten alle Übrigen seine Stücke zum größten Teil in gereinigten Versionen und in Bühnenbearbeitungen gelesen oder gesehen, die auf eine kleine Zahl, wie Schlegel erklärte, unzulänglicher deutscher Fassungen zurückgingen. Unter diesen fanden sich Caspar Wilhelm von Borcks Julius Caesar (1741), die erste deutsche Shakespeare-Übersetzung (in Alexandrinern) überhaupt, und Christoph Martin Wielands Prosafassungen von 22 Stücken (1762-1766), vervollständigt und überarbeitet (177s-1777) durch Johann Joachim Eschenburg. Als Schlegel eine poetisch getreue Übersetzung von Shakespeares Werken forderte, ließ er sich auf ein Unternehmen von außerordentlicher literarischer und kultureller Bedeutung ein: demjenigen fremdländischen Dichter eine angemessene deutsche Stimme zu verleihen, der die deutsche Vorstellungskraft in seinen Bann gezogen hatte und der als der »größte dramatische Dichter« galt (Sprache, S.88). »Solche Übersetzung«, behauptete Schlegel mit einer Spitze gegen Wieland, Eschenburg und Goethe - dessen Wilhelm Meister sich für seine Hamlet-Inszenierung der Prosafassung Wielands bedient —, »könnte in gewissem Sinne noch treuer sein als die treueste prosaische« (Sprache, S. 116). Schlegel gelang es nur teilweise, seine Absichten zu verwirklichen. Zwischen 1797 und 1801 übersetzte er - mit Unterstützung seiner Gemahlin Caroline (1763-1809) - dreizehn von Shakespeares Stücken, darunter A Midsummer Night's Dream, Romeo and Juliet, Julius Caesar, TheTempest, Hamlet und The Merchant of Venice. Wegen eines Zerwürfnisses mit seinem Verleger und des Scheiterns seiner Ehe musste Schlegel das Projekt unterbrechen und es schließlich im Jahre 1810 endgültig aufgeben, nachdem er vorher noch seine Version von Richard III. veröffentlicht hatte. Die Ausgabe wurde erst 1833 unter der Leitung von Ludwig Tieck von dessen Tochter Dorothea und Wolf Graf von Baudissin fertiggestellt. Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit - der sogenannte Schlegel-Tiecksche Shakespeare - sollte der klassische deutsche Shakespeare werden und uneingeschränkt den Anspruch Schlegels rechtfertigen, »das Bild Shakespeares« in Deutschland geprägt zu haben. Tatsächlich ist es Schlegels Sprachgebung zu verdanken, dass sich so denkwürdige Verse aus Shakespeares Werk wie Hamlets »Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage« oder Escalus' Schlussworte »Denn niemals gab es ein so hartes Los / als Juliens und ihres Romeos« - um nur zwei Beispiele zu nennen - ins Gedächtnis des gebildeten deutschen Publikums eingegraben haben. April 1796 I Der »deutsche« Shakespeare April 1796 I Der »deutsche« Shakespeare C89 Verschiedene Faktoren trugen zur Wirksamkeit und Langlebigkeit von Schlegels Bemühungen bei. Zunächst einmal musste Schlegel nicht wie Borck und Wieland bei null anfangen. Er konnte nicht nur die Früchte einer jahrhundertelangen Beschäftigung mit Shakespeare ernten, sondern er fand auch wertvolle frühere Übersetzungen vor, auf die er sich stützen konnte. In der Mitte der 1790er Jahre hatte er bereits (gemeinsam mit Gottfried August Bürger) den Versuch unternommen, A Midsummer Nights Dream zu übertragen (1788/89), desgleichen den Hamlet (1793); er war so in der Lage, von den Irrtümern der Vergangenheit zu profitieren. Da sein prospektives Publikum durch die leicht zugänglichen und lesbaren Ubersetzungen seiner Vorgänger mit Shakespeare wohlvertraut war, konnte Schlegel darangehen, bis dahin unerhörte ästhetische Anstrengungen zu unternehmen, die dem Rang von Shakespeares semantischer und prosodischer Artistik entsprachen und ausreichend raffiniert und anziehend waren, um ihre Wirkung bis auf den heutigen Tag zu bewahren. Schlegel kam außerdem die Tatsache zugute, dass sich im Laufe des 18. Jahrhunderts dank der Werke Gottscheds, Lessings, Klopstocks, Herders, Goethes und anderer und dank einer zunehmenden Zahl von Obersetzungen neben den Shakespeareübertragungen -Wielands Horaz (1782/1786) und Johann Heinrich Voss' (17CI-1826) Homer (1781/1793) sind besonders hervorzuheben - eine kultivierte deutsche Sprache entwickelt hatte, die geschmeidig und reich genug war, um sich den Schwierigkeiten fremder Sprachen und individueller Stilformen anzupassen und diese wiederzugeben. Das Übersetzen hatte eine derart zentrale kulturell-ästhetische Bedeutung gewonnen, dass Novalis am 30. November 1797, nachdem er Shakespeare in der Schlegelschen Übertragung gelesen hatte, an diesen schrieb: »Nur für uns sind Übersetzungen Erweiterungen gewesen. [...] Übersetzen ist so gut dichten, als eigene Werke zustande bringen - und schwerer, seltener. Am Ende ist alle Poesie Übersetzung. Ich bin überzeugt, daß der deutsche Shakespeare jetzt besser als der englische ist« (Apel, S.99). Und in seinem Roman aus dem Jahre 1801, Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter, ging Clemens Brentano so weit, zu behaupten, dass »das Romantische selbst eine Übersetzung sei« (Kap. 8). Die Gleichsetzung von Dichtung und Übersetzung durch die Romantiker ging Hand in Hand mit ihrem Verständnis der Dichtung als Selbstbespiegehmg oder, wie Schlegel es ausdrückte, als »Poesie und Poesie der Poesie« (Werke, S.53). Daher musste eine poetische Übersetzung, die ja wesentlich Dichtung von der Dichtung war, und besonders die poetische Übersetzung eines der größten modernen Dichter, Shakespeares, zur Schöpfung der höchsten Form von Dichtung überhaupt führen. Alle diese Faktoren -historische, kulturelle und ästhetisch-poetologische - trugen dazu bei, ein außerordentlich anregendes, produktives Umfeld für Schlegels Vorhaben zu schaffen. Letztendlich war es jedoch seine eigene Genialität als Übersetzer, seine Fähigkeit, die Ideen und ästhetisch-kulturellen Er- rungenschaften seiner Zeit für seine Zwecke als Dichter eines Dichters dienstbar zu machen, die diese Faktoren zusammenführte und lenkte, bis sie in seine Vision von Shakespeare mündeten. 1. Schlegel, dessen höchstes Ziel es war, »alles sorgfältig zu entfernen, was daran erinnern könnte, daß man eine Kopie vor sich hat« (Sprache, S. 117), hielt sich an drei grundlegende Prinzipien: In der Sprache im Allgemeinen und in der Dichtung im Besonderen sind Form und Inhalt untrennbar miteinander verbunden. Das bedeutete, dass Shakespeares jambische Pentameter als organischer Bestandteil des Gehalts seiner Stücke angesehen werden mussten, dass »der wiederkehrende Rhythmus« seiner Dichtung als »der Pulsschlag ihres Lebens« (S. 112) zu behandeln war. Deshalb musste die neue Übersetzung in jambischen Pentametern erfolgen und nur auf die Prosa zurückgreifen, wo Shakespeare selbst diese benutzte. Angesichts Schlegels erklärter Absicht, den ganzen Shakespeare zu übersetzen, bedeutete dies, dass die Deutschen zum ersten Mal eine solche Annäherung an die Shakespearesche Sprachkunst erleben würden, wie sie in den Grenzen der deutschen Sprache überhaupt nur möglich war. Die Tatsache, dass der Blankvers - der ursprünglich aus England stammte - am Ende des 18. Jahrhunderts im deutschen Schrifttum fest verankert war, kam Schlegel dabei sehr entgegen. 2. So getreu wie möglich zu übersetzen. Angesichts der Größe von Shakespeares Genie mussten seine Texte mit der größtmöglichen Sorgfalt und Ehrerbietung behandelt werden. Das bedeutete, dass Shakespeares Übersetzer »Schritt vor Schritt dem Buchstaben des Sinnes« (S. 101) zu folgen hatte, ungeachtet sprachlicher Abweichungen, die durch idiomatische Unterschiede bedingt waren und mehr noch durch das nicht immer einlösbare Erfordernis von gleichzeitiger prosodischer und semantischer Annäherung. »Hart möchte die Treue des Übersetzers zuweilen sein«, räumte Schlegel ein, doch »er müßte sich den freiesten Gebrauch unserer Sprache in ihrem ganzen Umfange nicht vorwerfen lassen« (S. 116f.). Und obwohl er »nicht immer Vers um Vers werde geben können«, wird er versuchen, »den Raum, den er an einer Stelle einbüßt, an einer anderen wiederzugewinnen« (S. 117). 3. Die Leichtigkeit und Beweglichkeit von Shakespeares »einfältigem, kräftigem, großen und edlen« Stil zu wahren (S. 115). Die Übersetzung darf »nie schwerfällig werden« (S. 117), sondern muss in der ungekünsteltsten »unmittelbarsten, natürlichsten Sprache« (S. 110) erfolgen. Der Übersetzer »sollte lieber eine widerspenstige Kleinigkeit überhüpfen als daß er in Umschreibungen verfallen sollte« (ebd.). Schlegel hatte sich selbst natürlich eine unlösbare Aufgabe gestellt: so getreu wie möglich zu übersetzen und einen Text zu schaffen, dessen Ruhm auf seinen Verdiensten in der Zielsprache basieren sollte. Was seinen Umfang, seine Zielsetzung und seine Vollständigkeit betrifft, war das Vorhaben tatsächlich beispiellos. Und wenn es Schlegel auch nicht immer gelungen sein mag, allen seinen Grundsätzen gleichzeitig gerecht 590 April 1796 I Der »deutsche« Shakespeare 10. Juni 1796 I »Fremd wie einer, der aus dem Mond gefallen ist« zu werden, so bestätigen seine Übersetzungen auf der Höhe ihrer Kunst doch das Urteil Schillers, der in einem Brief an Schlegel vom 11. März 1796 schrieb: »[...] der Himmel lohn es Ihnen, daß Sie uns von dem traurigen Eschenburg befreyen wollen« (Blinn, Bd. 2, S. 38). Als Beispiel sei hier der in besonderer Weise sich selbst reflektierende Wortwechsel zwischen Polonius und Gertrude aus dem Hamlet (2.Akt, 2.Szene,Y 96-110) angeführt: Polonius: [...] hier zu erörtern. Was Majestät ist, was Ergebenheil, Warum Tag Tag; Nacht Nacht; die Zeit die Zeit: Das hieße, Nacht und Tag und Zeit verschwenden. Weil Kürze denn des Witzes Seele ist. Weitschweifigkeit der Leib und äußre Zierat, Fass' ich mich kurz. Eu'r edler Sohn ist toll, Toll nenn' ich's: denn worin besteht die Tollheit, Als daß man gar nichts anders ist als toll? Doch das mag sein. Königin:Mehr Inhalt, wen'ger Kunst! Polonius: Auf Ehr", ich brauche nicht die mindste Kunst. Toll ist er, das ist wahr; wahr ist's, 's ist schade; Und schade, daß es wahr ist. Doch dies ist 'ne törichte Figur: sie fahre wohl, Denn ich will ohne Kunst zu Werke gehen. Polonius: To expostulate What majesty should be, what duty is. Why day is day, night night, and time is time. Were nothing but to waste night, day, and time. Therefore, since brevity is the soul of wit, And tediousness the limbs and outward nourishes, I will be brief.Your noble son is mad: Mad call I ist; for to defined true madness, What is't but to be nothing else but mad? But let that go. Queen: More matter, with less art. Polonius: Madam, I swear I use no art at all. That he is mad, 'tis 'tis true: a foolish figure; But farewell it, for I will use no art. MICHAEL ESKIN : Siehe auch 173c, 1773, 1774, 1778, 1784, 26. August 1792, Januar 1800 Bibliographie: August Wilhelm Schlegel, Summ tliche Werke, hg. von Eduard Bücking, 12 Bde., Leipzig 1846/47. - Ders., Sprache und Poetik, hg. von Edgar Lohner, Stuttgart 1962. - Friedrich Schlegel, Werke in einem Band, hg. von Wolfdietrich Rasch, München 1971. - William Shakespeare, SömtlicheWerke, Englisch-Deutsch, übers, von August Wilhelm Schlegel u.a.. hg. von L.L.Schücking, 12 Bde, Wiesbaden o. J. - Friedmar Apel, Sprachbewegung. Eine h' torisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens, Heidelberg 1982. - Hansjürgen Blinn (Hg.), Shakespeare-Rezeption. Die Diskussion um Shakespeare in Deutschland, Bd. [: Ausgewählte Texte von 1741 bis 1788; Bd. 2: Ausgewählte Texte von [793 bis 1827, Berlin: 1982/1988. 10. Juni 1796 I Jean Paul trifft in Weimar ein, nachdem er den Weg aus seiner Heimatstadt Hof zu Fuß zurückgelegt hat »Fremd wie einer, der aus dem Mond gefallen ist« Am 10. Juni 1796 beendete Jean Paul die Fußreise aus seiner erbärmlichen Behausung in Hof ins kulturelle Mekka Weimar. Er war zu einem kurzen Aufenthalt von Charlotte von Kalb eingeladen worden, einer bedeutenden Mäzenin der Weimarer Hofgesellschaft. Seine Ankunft wurde von allen mit großer Spannung erwartet. Jean Pauls zweiter Roman, Hes-perus, war ein Jahr zuvor veröffentlicht worden und hatte die deutsche Literaturwelt im Sturm erobert, wobei sowohl die Verkaufszahlen als auch das öffentliche Interesse größer waren als bei Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahren und Ludwig Tiecks William Lovell, die zur gleichen Zeit erschienen. Jean Paul, der Schriftsteller, war in aller Munde, Jean Paul, der Privatmann, war eine unbekannte Größe. Die Anekdoten, die seinen Empfang beschreiben, geben jedoch, nach den Worten von Max Kommerell, eher den Stoff ab für eine große, ungeschriebene Komödie als für den glücklichen Ausgang der Geschichte eines Emporkömmlings. Wieland, ein Bewunderer seines Werkes und später ein enger Freund, hörte mit verständnislosem Unbehagen zu, wie Jean Paul die alten Griechen als kindisch und unmaßgeblich für die Gegenwartsliteratur abtat. Goethe spielte vor Arger mit seinem Essensteller, während Jean Paul seine Theorie der Tragödie entwickelte; und Schiller lieferte anlässlich seiner Begegnung mit ihm das bleibende Bild von Jean Paul in Weimar: »[...] fremd wie einer, der aus dem Mond gefallen ist«. So wie er in Weimar ankam, blieb er auch als Gestalt in der Literaturgeschichte: ein Fremdling, ein Außenseiter, ein Schriftsteller sui generis. Der metaphorische Weg, der Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter, 1763-i82j) nach Weimar führte, war länger als die Strecke, die er zu Fuß zurücklegte. Nach der Veröffentlichung einer gänzlich erfolglosen Sammlung satirischer Schriften - Grönländische Prozesse (1783) - im Alter von zwanzig Jahren verbrachte er ein Jahrzehnt in Armut und Bedeutungslosigkeit, entschlossen, von seiner schriftstellerischen Tätigkeit zu leben, aber nicht bereit, sich von der erfolglosen satirischen Gattung zu lösen. Erst nachdem ein wohlwollender Verleger ihn dazu ermutigt hatte, seinen Reichtum an witzigen Einfällen in die Romanform zu bringen, gelang Jean Paul der Durchbruch mit einer anerkennenden Zuschrift von Karl Philipp Moritz, der damit auf das unaufgefordert übersandte Manuskript seines ersten Romans Die unsichtbare Loge (1793) reagierte. Nachdem er darüber spekuliert hatte, ob vielleicht Wieland oder Herder sich mit dem Manuskript einen Spaß erlaubt hätten, rief Moritz aus, dass das Werk Goethe übertroffen habe, und stellte dem unbekannten Autor eine Frage, die noch heute ihre Berechtigung hat: »Wer sind Sie?« Jean Paul war zu seiner Zeit eine bedeutende literarische Gestalt; $92 [o. Juni [796 I »Fremd wie einer, der aus dem Mond gefallen ist« er war einer, der seinen eigenen Weg fand, indem er sich bewusst sowohl von der Klassik als auch von der Romantik distanzierte. Während die meisten seiner Zeitgenossen sich an den alten Griechen orientierten wählte Jean Paul entschieden modernere Vorbilder: die englischen Autoren Swift, Sterne, Fielding und Richardson. Obwohl sich seine literarische Tätigkeit auf die Prosa beschränkt, kann man seine sechs Hauptwerke nicht ohne weiteres als Romane klassifizieren. Durchsetzt mit nachgeschobenen Vorworten, vielfachen Anhängen, Unterbrechungen satirischen »Extra-Seiten«, Gefühlsausbriichen und komischen Wechselbädern, erfuhr die Gattung des Romans durch die Feder Jean Pauls eine völlige Verformung. Wie ein Organist, der durch alle Töne und Register hindurch improvisiert, unterbreitet Jean Paul seine immer wiederkehrenden Themen - Gott und Tod, das »Ich« und der Körper - in beständig wechselnden Ausdrucksformen, als ob er nach der rechten Phrasierung oder Tonart suchte. Im Mittelpunkt seiner literarischen Welt steht ein isolierter, verlassener Charakter mit all seinen Stimmungen und Eigenarten, der versucht, sich mit der Welt, mit seinen Mitmenschen, seiner eigenen Endlichkeit und der Möglichkeit einer »anderen Welt« auseinanderzusetzen. Die literarische Sprache schillert - oft in einer abrupt kontrapunktischen Weise - zwischen einem Übermaß an dunklen, witzigen Analogien (die dem heutigen Leser oft unverständlich bleiben) und Augenblicken lyrischer Ausdrucksstärke, die die Grenzen von Poesie und Prosa verfließen lassen. Ein Roman von Jean Paul ist deshalb anstrengend. Goethe beklagte sich über »Gehirnkrämpfe«, wenn er ihn las. Ein Rezensent verglich seine Prosa mit einer »Ansammlung von Ruinen«. Und selbst seine Bewunderer, unter ihnen der Philosoph Friedrich Theodor Vischer, klagten über die Knochenarbeit, die es erfordere, sich durch sein Werk zu arbeiten. Jean Paul war sich der abschreckenden Wirkung seines literarischen Stils durchaus bewusst. In einem Anhang zu den Biographischen Belustigungen (1796) machte er sogar seinem eigenen Stil den Prozess, wobei er gleichzeitig als Angeklagter, als Staatsanwalt und als Richter agierte und sich schließlich selbst dazu verurteilte, von derartigen Exzessen Abstand zu nehmen. Dieses Urteil wurde jedoch niemals in die Tat umgesetzt. Angesichts des komplizierten Aufbaus und der Sprache von Jean Pauls Romanen war Schiller nicht lediglich zynisch, als er die Beliebtheit des Hesperus für »psychologisch eigenartig« erklärte. Obwohl Hesperus eines der gefühlvollsten Werke der deutschen Literatur ist, bei dem auf fast jeder Seite die Tränen rinnen, verläuft die Haupthandlung entlang der Linien einer Godot-ähnlichen Struktur, wobei der Erzähler auf einer Insel darauf wartet, dass ein Hund an Land schwimmt, der Berichte über die Romanfiguren erstattet, die dann zu Kapiteln mit der Bezeichnung »Hundpost« ausgestaltet werden. Daher der Untertitel 45 Hundposttage. Der Hund kommt, wie nicht anders zu erwarten, oft zu spät, wobei dann dem Erzähler, einem gewissen »Jean Paul«, nichts anderes übrig- 10. Juni 1796 I »Fremd wie einer, der aus dem Mond gefallen ist« r/93 bleibt, als sich die Zeit mit abschweifenden Gedanken über alle möglichen Gegenstände außerhalb der Handlung zu vertreiben. Während die Erzählung gegenüber den ausschweifenden Gedankenspielen des Erzählers zweitrangig ist, entbindet Hesperus ebenfalls eine sentimentalpoetische Kraft, wie es sie bisher in einem Prosawerk nicht gegeben hatte. Herder zum Beispiel war tagelang unfähig zu arbeiten oder sich zu konzentrieren, nachdem er den Roman gelesen hatte. Jean Pauls Mobilisierung intensiver Gefühle sprengt die Grenzen des empfindsamen Romans. Die Gefühle sind oft solche der Verlassenheit, als ob die Figur versuchte, sich zu orientieren, während sie in einen Abgrund stürzt. Viktor, der Protagonist, hält eine Pseudo-Leichenrede über eine Wachsnachbildung seiner selbst, die als ein Jux beginnt und mit einem »Schauder seines Ich« endet: »Ich! Ich! du Abgrund, der im Spiegel des Gedankens tief ins Dunkle zurückläuft - Ich! du Spiegel im Spiegel - du Schauder im Schauder!« (SW, Bd. i, S.939). Und Emanuel, ein indischer Mystiker und Viktors Lehrer, wird auf seinem Weg ins Grab nicht vom sanften Flügelschlag der Engel begleitet, sondern vom grausigen Schweigen des Himmels: »Die Stille ist die Sprache der Geisterwelt, der Sternenhimmel ihr Sprachgitter — aber hinter dem Sternengitter erschien jetzt kein Geist, und Gott nicht« (SW, Bd. 1, S. 113j). Der Dichter Paul Celan zum Beispiel erkannte Jean Pauls tiefe Einsicht in die transzendentale Einsamkeit. Obwohl er nie wieder den Erfolg von Hesperus erreichte, war Jean Paul der erste deutsche Autor, der auf eine Berufstätigkeit verzichten und ausschließlich von der Schriftstellerei leben konnte. Sein Werk, vor allem, wenn man seine unveröffentlichten Aphorismen, Notizen, Entwürfe und Exzerpte einrechnet, ist außerordentlich umfangreich: sechs dickleibige Romane, drei Idyllen, eine größere ästhetische Abhandlung, ein Buch über Pädagogik, politische Essays und zahlreiche kurze Prosastücke und theoretische Schriften. Sein dritter Roman, Siebenkäs (1797), ist vielleicht heutzutage der lesbarste. Siebenkäs und Leibgeber sind Doppelgänger (ein Wort, das von Jean Paul in diesem Zusammenhang erfunden wurde); sie sind so gute Freunde und so ähnlich im Aussehen, dass sie beschließen, ihre Namen auszutauschen. Siebenkäs (der in Wahrheit Leibgeber ist) gelangt als Folge davon nicht in den Genuss einer Erbschaft und schafft damit die Grundlage für das Scheitern seiner soeben eingegangenen Ehe. Als Armenanwalt kann Siebenkäs seinen Lebensunterhalt nicht verdienen, und so versucht er sich als Schriftsteller. Sein Bemühen, kontinuierlich zu schreiben, scheitert am Drang seiner lieben, aber einfältigen Frau, zu putzen und zu kehren; jeder Schwung des Besens und jedes Gleiten des Putzlappens reißen den überempfindlichen Schreiber aus seiner Konzentration. Selbst der Versuch, beim Schein der Kerze gemeinsam zu arbeiten - er schreibt, sie näht -, endet in einem witzigen Streit, weil sie erst den Docht zu spät, dann zu früh richtet. Schließlich wird Hiobs Misthaufen in Siebenkäs' Wohnzimmer verlegt: »Im 12ten Jahrhundert zeigte man noch den nachgelassenen Misthaufen, 594 io. Juni 1796 I »Fremd wie einer, der aus dem Mond gefallen ist« worauf Hiob geduldet hatte. Unsere zwei Sessel sind die Misthaufen und sind annoch zu sehen« (SW, Bd. 2, S. 114). Siebenkäs zeigt Jean Paul auf der Höhe seiner präzisen Komik, durch die er nach und nach den Anschein des häuslichen Glücks demontiert, wobei seine Art von gewissenhaftem Humor das zugrunde liegende Elend gleichzeitig enthüllt und erträglich macht. Für Siebenkäs gibt es nur einen Ausweg: nicht den Tod, sondern die zweitbeste Lösung - die Vortäuschung des Todes. Mit Leibgebers Hilfe stirbt Siebenkäs und eröffnet so für sich selbst und für seine Frau den Weg zu neuem Leben und zu neuer Liebe. Der kritische Impuls von Jean Pauls komischem Realismus tritt jedoch am Ende des Romans deutlich zutage: »Denn der Traum des Lebens wird ja auf einem zu harten Bette geträumt« (SW, Bd. 2, S. 564). Eingeschoben in den Siebenkäs ist Jean Pauls berühmtestes und einflussreichstes Werk: die gespenstische Traumvision »Die Rede des toten Christus«. Als ein Vorläufer von Dostojewskis »Der Großinquisitor« und Nietzsches »Der Wahnsinnige« schildert dieser kurze Text einen Traum, in dem der noch nicht auferstandene Christus seinen Anhängern verkündet, dass es keinen Gott gebe; er, ein armer Zimmermann, sei ebenso getäuscht worden wie alle anderen. Ihres himmlischen Vaters beraubt, findet sich die Menschheit verwaist in einem Universum, das vom Zufall beherrscht wird. Während die Welt ins Chaos stürzt, erwacht der Erzähler aus seinem Traum, erleichtert, dass er in diesem Leben noch zu Gott beten kann. Obwohl Jean Paul hier einen der ersten Totenscheine für Gott ausstellte, schrieb er diesen Text im Geiste Jacobis, Herders und Hamanns, seiner philosophischen Gesinnungsfreunde, und im Dienste eines pietistisch gefärbten Eifers, eine derartige Furcht vor dem Verlust Gottes zu wecken, dass daraus notwendigerweise ein neuer Glaube entstehen müsse. Die abschließende Bekräftigung des Glaubens ist jedoch im besten Falle zweideutig: Das subjektive Bedürfnis nach einem Gott überdeckt völlig die Frage nach seiner objektiven Existenz. Selbst wenn es keinen Gott gibt, sollte man glauben, um dieses Leben erträglich zu machen, so lautet der Gedankengang Jean Pauls, von dem er nie abließ. »Die Rede des toten Christus« entfaltete jedoch nicht in erster Linie als religiös-philosophischer Text ihre Wirkung: Durch Madame de Staels Übersetzung ins Französische im Jahre 1811 (die das Erwachen aus dem Traum auslässt) übten ihre literarischen Bilder und existentiellen Ideen starken Einfluss auf verschiedene französische Dichter aus, unter anderen auf Gerard de Nerval, Victor Hugo, Honore de Balzac, Jules Michelet, Charles Baudelaire und Gustave Flaubert. Jean Paul war niemals verlegen um seltsame, humorvolle oder monströse Ideen, um seine Texte zu konfigurieren: So schreibt er eine Erzählung mit Fußnoten, die keinen Bezug zum Text haben (Des Feldpredigers Schmelze Reise nach Flätz, 1809); ein Arzt sammelt natürliche Missbildungen - sechsfingrige Hände, achtbeinige Kaninchen - und träumt davon, mit siamesischen Zwillingen auf dem Rücken geboren zu werden 10. Juni 1796 I »Fremd wie einer, der aus dem Mond gefallen ist« 595 (Dr. Katzenbergers Badereise, 1809). Selbst seine fragmentarische Autobiographie wird von einem »Professor für die Geschichte seiner selbst« dargeboten (Selbsterlebensbeschrei bung, 1819). Aber sein witzigstes Geisteserzeugnis ist auch seine meistgelesene Geschichte: die Idylle Leben des vergnügten Schul-meisterlein Maria Wutz in Auenthal, eingeschoben als Anhang in seinen ersten Roman, Die unsichtbare Loge von 1793. Begierig, auf der Höhe des rasch fortschreitenden Zeitgeistes zu bleiben, aber zu arm, um sich Bücher leisten zu können, schreibt Wutz sich seine eigene Bibliothek, die er mit Titeln füllt wie Kants Kritik der reinen Vernunft oder Goethes Die Leiden des jungen Werther. Obwohl Wutz seine exzentrische Bibliothek mit der Liebe eines Philologen behandelt, kann sein geistiges Vermögen seinem literarisch-philosophischen Ehrgeiz nicht gerecht werden. In seinem Essay über Raum und Zeit beispielsweise handelt er von nichts als vom »Schiffs-Raum und der Zeit, die man bei Weibern Menses nennt« (SW, Bd. 1, S. 426). Wutz ist zugegebenermaßen ein wenig lächerlich. Aber dieser kindliche Narr besitzt inmitten seines Elends einen Willen zum Glück, der in dem Untertitel der Erzählung zum Ausdruck kommt, Eine Art Idylle. In Wutz (und später in Quintus Fixlein und Leben Fibels) reformiert Jean Paul die Gattung der Idylle grundlegend. Obwohl er die Idylle als »vollendetes Glück in der Beschränkung« definiert, sind die Beschränkungen (für gewöhnlich sozioökonomischer Natur) gewaltig, während das Glück sehr subjektiv und hart erkämpft ist. Man muss beim Alltäglichen verweilen und »mikroskopische Vergnügungen« entdecken, da andere nicht vorhanden sind. Obwohl der Biedermeierstil dort ansetzte, wo Jean Paul in seinen Idyllen geendet hatte, war Nietzsche nur teilweise im Recht, wenn er Jean Paul ein »Verhängnis im Schlafrock« nannte. Das Licht, das Jean Paul über dem Alltag verbreitet, ist nicht identisch mit dem kleinbürgerlichen Lob der Einfachheit, sondern ist der erste Glanz der Erlösung, der über die Trivialität des Alltäglichen ausgegossen wird. Im Verlaufe seines Schriftsteller leben s spielte das Komische eine immer bedeutendere Rolle im Werke Jean Pauls. In seiner ästhetischen Abhandlung Vorschule der Ästhetik (1804) stellte Jean Paul als erster Schriftsteller Gedanken über das Komische in das Zentrum seiner ästhetischen Überlegungen. Erörterungen über das Schöne und das Erhabene weichen ausführlichen Erklärungen des Lächerlichen (»das unendlich Kleine« und »der Erzfeind des Erhabenen«), des Witzes (»der verkleidete Priester, der jedes Paar einsegnet«) und des Grundsteins von Jean Pauls Theorie und Praxis: des Humors. Jean Pauls Humorist ist immer, wenigstens teilweise, ein Melancholiker, der über die Bühnen des Lebens Wandelt, »oft mit der tragischen Maske, wenigstens in der Hand« (SW, Bd. j, S. 129). Humor ist nicht nur eine ästhetische Kategorie, sondern eine ganze Weltanschauung: »Wenn der Mensch, wie die alte Theologie tat, aus der überirdischen Welt auf die irdische herunterschauet: so zieht diese klein und eitel dahin; wenn er mit der kleinen, wie der Humor tut, die unendliche ausmisset und verknüpft: so entsteht jenes Lachen, C96 lo. Juni 1796 I »Fremd wie einer, der aus dem Mond gefallen ist« 1796-1797 I Ein neues Programm für die ästhetische Erziehung der Menschheit] worin noch ein Schmerz und eine Größe ist« (ebd.). Die Perspektive des Humors besteht nicht darin, von den Wolken auf die Erde hinab-zublicken und ihre Sinnlosigkeit zu verspotten. Vielmehr sammelt der Humorist, der fest auf dem Boden der Realität steht, all die Momente der Begrenztheit und sucht mit ihrer Hilfe die unendliche Entfernung zu der grenzenlosen Welt zu ermessen. Zum Scheitern verurteilt, biegt sich der Humorist vor überlegenem Lachen, das zugleich schmerzt und erhebt, angesichts der Lächerlichkeit des Vorhabens. Der Humor unterliegt dem, was Jean Paul eine lex inversu nennt: »seine Höllenfahrt bahnet ihm die Himmelfahrt« (ebd.). Gemeinsam mit Hölderlin und Kleist gehört Jean Paul zu einem Triumvirat von Schriftstellern, das zwischen Klassik und Romantik nicht einzuordnen ist. Aber während Hölderlin und Kleist zu ihrer Zeit relativ unbekannt waren und von der Literaturkritik erst im 20. Jahrhundert anerkannt wurden, war Jean Paul schon zu Lebzeiten ein literarisches Phänomen. Und doch hat Jean Paul, abgesehen von den grundlegenden wissenschaftlichen Arbeiten Max Kommereils, Kurt Wölfeis und einiger anderer, nicht das wissenschaftliche Interesse gefunden, das den beiden anderen zuteil geworden ist. Seit seinem Tode ist Jean Paul vor allem von denjenigen Lesern wahrgenommen worden, auf die es vielleicht am meisten ankommt: von den Schriftstellern. Mit Ausnahme von Goethe hat wohl kein Autor einen größeren Einfluss auf die deutsche Literatur gehabt als Jean Paul. Unter seinen Bewunderern finden sich Gottfried Keller, Adalbert Stifter, Robert Walser, Hugo von Hofmannsthal, Oskar Loerke, Paul Celan und Thomas Bernhard. Aber es war Stefan George, der die Bedeutung Jean Pauls am tiefsten erfasste. In einer Huldigungsrede aus dem Jahre 1896 führte George Jean Paul und Goethe wieder zusammen, so wie sie sich ein Jahrhundert zuvor in Weimar begegnet waren. Diese erneute Begegnung zeitigte jedoch ein anderes Ergebnis. George unternahm eine radikale Neubewertung der deutschen Literaturgeschichte, in der er zwei Gravitationszentren ausmachte - eines, das von Goethe, und ein anderes, das von Jean Paul eingenommen wird. Goethe muss, alles in allem, Jean Paul die Hälfte des Denkmalsockels überlassen. Während der große Beobachter Goethe der Meister der Klarheit, der Genauigkeit und der ausgewogenen Konstruktion ist, liefert der Träumer Jean Paul die Aura, die Farben, die Schattierungen und Tönungen der Gegenstände. Für den Dichter George ist Goethe ein Architekt der deutschen Sprache, Jean Paul ihr Musiker. Bei dieser zweiten, virtuellen Rückkehr nach Weimar erscheint Jean Paul nicht länger als einer, »der aus Mond gefallen ist«, sondern als der »am stärksten vernachlässigte« deutsche Autor. paul fleming : Siehe auch 1773, 1782. 26.August 1792, 1786, 1796-1797, 1806, 1882, 1897 Bibliographie: Jean Paul, Sämtliche Werke fSW]. hg von Notiert Miller u. a., 10 Bde., München 1995. - Stefan George, »Jean Paul«, in: ders., Tage und Taten. Berlin 1927. - Hugo von Hofmannsthal. »Blick auf Jean Paul«, in: ders., Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze I, Frankfurt am Main 1979. - Max Kommereil, Jean Raul, Frankfurt am Main 1977. - Kurt Wölfel, Jean Paul-Studien, Frankfurt am Main 1989. Ralph Rainer Wuthenow, Des Luftschiffers Gianowo Seebuch und Über die natürliche Magie der Einbildungskraft, Frankfurt am Main 197c. 1796-1797 I Ein unbekannter Verfasser entwirft auf einer einzigen Seite ein Programm des deutschen Idealismus Ein neues Programm für die ästhetische Erziehung der Menschheit? Als Franz Rosenzweig dieses einzelne Blatt Papier, beidseitig in Hegels Handschrift beschrieben, 1917 veröffentlichte, löste das unter Philosophen eine kleine Sensation aus. Seitdem haben es Wissenschaftler in Hunderten von Artikeln behandelt. Rosenzweig gab dem Fragment den Titel »Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus«. Er behauptete, der Text sei eine Kopie und sein wirklicher Verfasser nicht Hegel, sondern Schelling. Dies wurde von Wilhelm Böhm in Frage gestellt, der Hölderlins Stimme in dem Text entdeckt haben wollte. Insbesondere die Passagen zur Ästhetik in der zweiten Hälfte des Systemprogramms, so argumentierte er, enthielten Ideen, die zu jener Zeit nur Hölderlin vertrat. Ludwig Strauß stimmte Böhm zwar zu, versuchte aber ein Jahr später der Schelling-These neues Leben einzuhauchen. Zwar seien die fraglichen Passagen eindeutig Ergebnis von Schellings Gesprächen mit Hölderlin in der zweiten Hälfte des Jahre 1795", das reiche aber nicht aus, um die Autorschaft des Letzteren zu behaupten. 1965 gab Otto Pöggeler der Debatte eine neue Richtung, als er erklärte, der Text sei überhaupt keine Kopie, sondern von Hegel selbst geschrieben. Diese Auffassung wurde mit Nachdruck vom Hegel-Archiv verbreitet, dessen Direktor er war. Sie ist jetzt die weitestgehend akzeptierte Version. Ein wirklicher Konsens wurde aber nie erreicht, und das Systemprogramm taucht nach wie vor in den Werkausgaben aller drei Denker auf. In diesem Streit steht allein der Zeitraum, in dem das Blatt geschrieben wurde, mit einiger Sicherheit fest. Ausgehend vom Wasserzeichen des Papiers und weiteren Hinweisen einigte man sich: Ende 1796 oder Anfang 1797, die Zeit, in der Hegel seinen Freund Hölderlin in Frankfurt aufsuchte. Der Hauptgrund dafür, dass es so schwierig ist, den Verfasser festzustellen, liegt in der rhetorischen und programmatischen, ja agitatorischen Natur des Schriftstücks. Mit großer Selbstsicherheit erklärt der Verfasser, was in der Philosophie nach Kant getan werden müsse, und kündigt an, es selbst zu vollbringen.Teile des Dokuments klingen wie Losungen, die für jene Zeit nicht unbekannte Ideen enthalten. Verschiedene Autoren im Deutschland des ausgehenden 18. Jahrhunderts hätten sie benutzen kön- £98 1796-1797 I Ein neues Programm für die ästhetische Erziehung der Menschheit? L796-1797 I Ein neues Programm für die ästhetische Erziehung der Menschheit? 599 nen (und haben sie benutzt). Der Verfasser des Fragments schließt mit dem Versprechen, er wolle dem Publikum etwas vorlegen, das »allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister« herstellen und den Schlüssel zum »letzten, größten Werk der Menschheit« bilden werde. Auch dafür lassen sich zeitgenössische programmatische Parallelen finden, am eindeutigsten in Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Viele Kommentatoren haben versucht, die Autorenschaft ihres bevorzugten Denkers nachzuweisen, indem sie Sätze oder Worte aus dessen veröffentlichten Werken zitierten, die Schlüsselphrasen oder -Wörtern im Systemprogramm entsprechen. Wen wundert es, dass derartige Bemühungen kaum von Erfolg gekrönt waren? Zu viele der Passagen stimmen mit ähnlichen Aussagen zahlreicher Autoren überein, als dass man dadurch den Urheber des Fragments mit einiger Sicherheit feststellen könnte. Keine einzige findet sich allein in einem Werk der drei Kandidaten wieder. Als vernünftige Alternative bietet sich daher an, die Stellen genauer zu betrachten, für die keine Entsprechungen gefunden wurden.Vor allem zwei kommen weder in Werken von Schelling, Hölderlin oder Hegel vor. Daher haben die meisten Interpreten sie im Wesentlichen mit Schweigen übergangen. Die erste der genannten Passagen steht gleich am Anfang des Fragments: »Ich möchte unserer langsamen an Experimenten mühsam schreitenden - Physik, einmal wieder Flügel geben. So - wen die Philosophie der Ideen, die Erfahrung die Data angibt, könen wir endlich die Physik im Großen bekomen, die ich von spätem Zeitaltern erwarte. Es scheint nicht dass die jezige Physik einen schöpferischen Geist, wie der unsrige ist, oder seyn soll, befriedigen köne« (S. n). Die zweite Stelle, die noch rätselhafter klingt, findet sich in der zweiten Hälfte des Textes: »Monotheismus der Vernunft und des Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst, dis ists, was wir bedürfen!« Solange wir uns nur auf die Arbeiten der drei möglichen Verfasser des Systemprogramms beschränken, sind diese Passagen nicht zu verstehen. Die in der ersten Textstelle angesprochene Physik ist durchaus nicht identisch mit dem spekulativen »Spinozismus der Physik«, für den Schelling später berühmt wurde. Was die zweite Textstelle betrifft, so findet sich in den Werken der drei genannten Denker auch nicht die leiseste Andeutung. Sobald wir aber unseren Horizont erweitern, stellen wir fest, dass beide Passagen Anspielungen auf Goethe enthalten. Die zweite beispielsweise kann als Variation auf einen von Goethes Lieblingsaussprüchen aufgefasst werden, der sich unter anderem in seinen Maximen und Reflexionen sowie in einem Brief an F. H. Jacobi vom 6. Januar iS13 findet. Die erste nimmt Goethes Theorie der Physik, insbesondere seine Kritik an einzelnen Versuchen zur Erforschung der Natur auf. Er hat sie in seinem Essay »DerVersuch als Mittler von Objekt und Subjekt« (1792), aber auch in seiner »Vorarbeit zu einer Physiologie der Pflanzen« (179c) dargelegt, offenbar als Ergebnis seiner Gespräche mit Schiller. Als das Systemprogramm geschrieben wurde, waren beide Texte noch nicht gedruckt erschienen. Auch nicht die Passage zum Monotheismus. Wer immer diese Sätze in das Systemprogramm hineingeschrieben haben mag, muss mit Goethe in Kontakt gestanden oder Zugang zu dessen damaligen Gedanken gehabt [ haben, Von den drei Kandidaten erfüllt diese Voraussetzung nur Hölderlin. Im November 179c, als Schelling noch am Tübinger Stift studierte und Hegel Hauslehrer in der Schweiz war, ging Hölderlin nach Jena, wo er in Schillers Umkreis lebte und fast täglich in dessen Haus zu Gast war. Dabei begegnete er häufig auch Goethe. So schrieb er am 28. April 1795 an seinen Freund Neuffer, er schaue häufig bei Schiller herein, wo er regelmäßig Goethe treffe. Von den etwa 18 Wochen, die Hölderlin in Jena verbrach-I te, war Goethe während siebeneinhalb Wochen anwesend. Vor allem die I wissenschaftlichen Interessen führten ihn nach Jena: Er führte anatomische und optische Versuche sowie Pflanzenbeobachtungen durch und besichtigte natürlich den neuen botanischen Garten. Ein weiterer Grund für Goethes häufige Besuche in Jena waren seine Freundschaft und Zusammenarbeit mit Schiller, die von ihrem berühmten Zusammentreffen auf einer Tagung der Naturforschenden Gesellschaft in Jena im Juli 1794 herrührte. Dabei hatte Goethe versucht, die Metamorphose der Pflanzen mit einer symbolischen Zeichnung zu illustrieren. Schiller hatte tief skeptisch mit der Bemerkung reagiert: »Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee.« Darauf erwiderte Goethe etwas verärgert: »Das kann mir sehr lieb sein, wenn ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit 1 Augen sehe.« Zwar schienen Goethes scientia intuitive und Schillers strikter Kantianismus auf den ersten Blick schwer vereinbar zu sein, beide erkannten jedoch, dass der Grundstein für fruchtbare gemeinsame Unternehmungen gelegt war. Als Schiller daher seine Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen zur Publikation vorbereitete, bemühte er sich, seine Gedanken für Goethe annehmbarer zu formulieren. Das ist zum Beispiel in der Fußnote zum dreizehnten Brief zu erkennen, wo Schiller eine Erklärung Goethes für den »langsamen Fortschritt« der Naturwissenschaften im Hinblick auf deren Hang zu teleologischen Urteilen anführt, gegen die Goethe in der Tat eine bekannte Aversion hegte. Allerdings sah Goethe den Hauptgrund für den langsamen Fortschritt der Physik in etwas anderem, nämlich in deren Abhängigkeit von einzelnen Experimenten - eine Auffassung, die er in dem erwähnten Essay »Der Versuch als Mittler von Objekt und Subjekt« im Einzelnen ausführte. Da Hölderlin sich in Jena aufhielt, wurde er Zeuge dieser Debatten zwischen Goethe und Schiller. Wenn man die Passage in dem Systemprogramm über die »langsame an Experimenten mühsam schreitende Physik«, die wieder einmal Flügel erhalten soll, Hölderlin zuschreibt, dann erscheint sie plötzlich in einem ganz anderen Licht. Es wäre eine Stellungnahme Hölderlins in der Debatte, in der er Schillers Erklärung im 6oo 1796-1797 j Ein neues Programm für die ästhetische Erziehung der Menschheit? 1796-1797 I Ein neues Programm für die ästhetische Erziehung der Menschheit? 601 dreizehnten Brief ausdrücklich von Goethes Standpunkt her kritisiert. Aber warum hätte Hölderlin dazu überhaupt eine Meinung äußern sollen? Er arbeitete angestrengt an seinem Roman Hyperion und hatte Pläne für ein Werk, das er »Ideal einer Volkserziehung« nennen wollte, wie er aus Jena an Hegel schrieb. Als man ihn aufforderte, Artikel für Niethammers neue Zeitschrift zu liefern, versprach er »philosophische Briefe« zu diesem Thema, genauer gesagt, Neue Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Aber Hölderlin war nicht der Einzige, der in Erziehungsfragen mit Schiller wetteiferte. Goethe veröffentlichte eine Reihe Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter in Schillers Zeitschrift Hören, in denen er eine Alternative zu Schillers Erziehungsideal entwickelte und dieses ausdrücklich kritisierte. Außerdem war da noch Fichte, der in seinen Vorlesungen eine Theorie entwickelte, die mit der Schillers unvereinbar war. Das führte bald zu dem bekannten Horenstreit, der wiederum dazu führte, dass Schiller sich mit Fichte überwarf und auch Fichtes Verhältnis zu Goethe zeitweilig abkühlte. Hölderlin, der Fichtes Vorlesungen besuchte und allen dreien so nahe stand, dass er gewusst haben muss, was kommen würde, verließ Jena, kurz bevor der Konflikt ausbrach. Es war eine Flucht »vor Menschen und Büchern«, wie er es einmal in einem Gedicht ausgedrückt hat. Damit aber drängt sich eine andere überlegenswerte Hypothese auf: Könnte das Systemprogramm eine Skizze oder ein Plan für Hölderlins Neue Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen gewesen sein? Da der fragliche Zeitraum mit Hegels Ankunft in Frankfurt zusammenfällt, wurde es vielleicht geschrieben, weil Hölderlin seine literarischen Pläne mit einem Freund besprechen wollte, den er mehrere Jahre lang nicht gesehen hatte. Wenn wir dieser Hypothese weiter nachgehen, drängt sich eine ganz andere Strategie für das Lesen des Textes auf. Statt nach Passagen zu suchen, die mit den Werken vermeintlicher Autoren übereinstimmen, ist es möglicherweise fruchtbarer, nach Stellen in den Schriften von Autoren zu forschen, denen Hölderlin seine Position entgegenhielt und die den Hintergrund für sein Programm der Erziehung darstellten - Schiller, Fichte und Goethe. Bezüge zu Goethe und Schiller haben wir in zwei Passagen bereits festgestellt. Was ist mit den Übrigen? Es fallt auf, dass alle Schlüsselideen des ersten Absatzes bis hin zu der Passage über die Physik Auffassungen Fichtes wiedergeben oder variieren, die dieser in seinen Vorlesungen in Hölderlins Anwesenheit darlegte oder die Hölderlin in schriftlicher Form zur Kenntnis nehmen konnte: dass alle künftigen Probleme der Philosophie unter die Moral fallen, dass die Vorstellung vom Selbst eine Idee sei, dass die Welt mit dem Selbst als »Schöpfung aus dem Nichts« hervortrat. All das sind zentrale Bestandteile von Fichtes Theorie des Bewusstseins, die dieser in seinen Vorlesungen entwickelte und die der Verfasser des Systemprogramms unterstützt. Nach seiner Abschweifung in die Goethesche Naturtheorie wendet sich der Autor des Systemprogramms einem anderen Thema zu, das ebenfalls in Fichtes Vorlesungen (sowie bei einigen anderen Autoren) auftauchte, dass nämlich Humanität ein Ideal und der Staat etwas Mechanisches, lediglich ein Mittel zur Realisierung einer wahrhaft humanen Gesellschaft sei, etwas, das letzten Endes überwunden und abgeschafft werden müsse. Das Systemprogramm nimmt hier eine eigene Position ein. Zwar propagiert es keinesfalls die Anarchie, unterstützt aber auch nicht Fichtes Auffassung von der Überlegenheit der Moral über die Natur, wonach das physikalische Reich lediglich das sinnliche Material für die Realisierung unserer Pflicht abgibt. Im Gegenteil, die Ideen der Natur wie jene, die als »Menschenwerk« bezeichnet werden, also Regierung, Gesetzgebung und Ideen einer »moralischen Welt« mit eigenen Gesetzen - all das wird nachdrücklich einer höheren Idee unterstellt, die sie alle vereint. Eine derartige Unterordnung aller moralischen Gesetze unter ein höheres Reich »ungeschriebenen Rechts« wird von Hölderlin in einem Fragment thematisiert und ausgearbeitet, das aus derselben Zeit wie unser Text stammt. Es trug zunächst den Titel »Über Religion«, gilt aber heute als Entwurf für seinen Essay Neue Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Diesen Gedanken finden wir im Systemprogramm dergestalt wieder, dass »Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind ... der Schönheit in höherem platonischem Sinne«. Nahezu alle, die das Systemprogramm kommentiert haben, sind sich darin einig, dass die Gedanken von der Schönheit »in höherem platonischem Sinne« dem Geiste nach von Hölderlin stammen. Sie bilden auch den Kern der Rede über die Athener in Hölderlins Roman Hyperion und durchziehen die meisten seiner lyrischen Werke. Noch vor seinem Jena-Aufenthalt hatte Hölderlin an Neuffer geschrieben, er plane einen Essay über »ästhetische Ideen«, die er auf Überlegungen zu einer Passage aus Piatons Phdidros (wahrscheinlich 2t;od-2c;i a) stützen wollte. Der Autor des Systemprogramms verbindet nun den Gedanken einer platonischen Ideenhierarchie, an deren Spitze Schönheit steht, mit dem Programm einer Erziehung der Menschen und dem Ziel der »allgemeinen Freiheit und Gleichheit der Geister«: »Ehe wir die Ideen ästhetisch d.h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse und umgekehrt ehe die Mythologie vernünftig ist, muss sich der Philosoph ihrer schämen.« Die berühmten feurigen Schlusspassagen des Systemprogramms, in denen eine neue Mythologie, eine Mythologie der Vernunft als letztes und größtes Werk der Menschheit gefordert wird, sind häufig Schelling und Hegel zugeschrieben worden. Immerhin war es Hegel, der bereits 1793 in seinem sogenannten »Tübinger Fragment« auf die Notwendigkeit einer neuen Mythologie hinwies. Auch Schellings Interesse an der Mythologie kann bis in dessen Studienzeit zurückverfolgt werden. Diesen Teil des Textes einem der beiden Philosophen zuzuordnen, was offenbar auf der Hand liegt, hieße allerdings, dass wir die erstaunliche Aussage des Systemprogramms nicht ernst nehmen, die Mythologie der Vernunft sei nicht von einem Philosophen zu erwarten. Und zwar deswegen 6o2 1796-1797 I Ein neues Programm für die ästhetische Erziehung der Menschheit? Juni 1799 I Holistische Betrachtungsweise und Kolonulismuskritik 603 nicht, erklärt der Verfasser des Systemprogramms einige Zeilen zuvor, weil alle Philosophie aufhören muss, wie auch die Geschichte und der politische Staat: »Die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben.« »Ein höherer Geist vom Himel gesandt, muss diese neue Religion unter uns stiften.« Merkwürdigerweise wird diese neue Religion im gleichen Atemzug als »das lezte, gröste Werk der Menschheit« gepriesen. Wenn also der Verfasser des Fragments das vorgestellte Projekt selbst ausführen will, muss er Philosoph genug sein, um es hinsichtlich der Erfordernisse der Erziehung der Menschheit mit Schiller, Goethe und Fichte aufzunehmen. Zudem muss er sich als Dichter sehen, einen »höheren Geist, vom Himmel gesandt«, aber auch als Glied der Menschheit. Bei wem finden sich alle diese Eigenschaften vereint? Nur bei Hölderlin. Schelling und Hegel sahen ihn als ebenbürtigen Philosophen. Eine Zeitlang plante er, neben Fichte und Schiller an der Jenaer Universität Vorlesungen zu halten. Nur Hölderlin kann sich selbst auch als Gottesboten vorstellen: »Heilige Gefäße sind die Dichter« (Buonaparte). Die Überzeugung, dass die Werke des Poeten göttliche Eingebungen seien, fand klassischen Ausdruck in Piatons Phaidros, wo es zur Dichtkunst als Gottesgabe heißt: »Nun aber entstehen uns die größten Güter aus dem Wahnsinn, der jedoch durch göttliche Gunst verliehen wird« (244a). In dieser Tradition sieht sich Hölderlin: Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, Ihr Dichter! Mtt entblößtem Haupte zu stehen. Des Vaters Strahl, ihn selbst, mit eigener Hand Zu fassen und dem Volk ins Lied Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen. (Wk wenn am Feicrtdge ...) Entsprechend sieht er seine Berufung »in höherem platonischem Sinne« (Systemprogramm): »Der höchste, der ists, dem wir geeignet sind.« (Dichterberuf). Und: »Spotten des Spotts mag gern frohlockender Wahnsinn« (Brot und Wein), um »Lehrer der [...] Menschheit« (Systemprogramm) zu sein. Wenn dies so ist, dann müssen wir das Systemprogramm als Hölderlins Vision seiner Neuen Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen lesen, eines Werks, das leider ein Fragment bleiben sollte. ECKART FÖRSTER : Siehe auch 1786, 1790, 26, August 1792, 1808, Winter 1828, 1913 Bibliographie: Christoph Jamme und Helmut Schneider (Hg.), Mythologie der Vernunft. Hegels ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus, Frankfurt am Main [984. Juni 1799 I Alexander von Humboldt und Aime Bonpland brechen zu einer Forschungsreise nach Südamerika auf Holistische Betrachtungsweise und Kolonialismuskritik Obwohl er zu Lebzeiten internationalen Ruhm genoss, ist Alexander von Humboldt (1769-1859) seitdem ziemlich in Vergessenheit geraten. In gewisser Hinsicht könnte man dieses Verblassen des Ruhms der Tatsache zuschreiben, dass seine Forschungstätigkeit sich nicht in ein spezielles wissenschaftliches Gebiet einfügte, sondern viele Bereiche umfasste, wie Botanik, Chemie, botanische Geographie, physikalische Geographie, Zoologie, Wirtschaftswissenschaften und Kultur- und Literaturgeschichte, die inzwischen alle zu autonomen Disziplinen geworden sind. Die Spezialisierung hatte schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begonnen, aber in dieser frühen Phase konnten die individuellen Disziplinen noch unter der Überschrift Naturphilosophie miteinander verbunden werden. Es gibt jedoch tiefere philosophische Gründe für Humboldts ganzheitliche Anschauungen. Vor allem müssen wir seine Arbeit als einen Versuch verstehen, ein umfassendes Bild des Menschen im Kosmos zu vermitteln, welches schon durch die Art seiner Formulierung die Dichotomien auflösen sollte, die seit der Zeit der alten Griechen die Naturwissenschaften und die Philosophie belastet hatten. Humboldt weist auf den umfassenden Charakter seiner Sichtweise schon ganz am Anfang seines Hauptwerkes, Kosmos (184C-1862), hin. Von den Tiefen des Alls und den entferntesten Sternennebeln aus werde er stufenweise durch die Sternenwelt, zu der unser Sonnensystem gehört, hinabsteigen bis zu unserer Erdatmosphäre, die Luft und Ozean umschließt, um sodann unsere Aufmerksamkeit auf ihre Form, Temperatur und magnetischen Ströme zu lenken und die Fülle des organischen Lebens zu betrachten, das sich auf ihrer Oberfläche unter dem belebenden Einfluss des Lichtes entfaltet. In einem Brief vom f. Juli 1799 aus La Coruna beansprucht Humboldt für seine Forschungsreise ein weiter gestecktes Ziel als die nur vordergründigen Absichten, astronomische Vermessungen vorzunehmen, Fauna und Flora zu beobachten und Fossilien zu sammeln; Sein Streben ziele vielmehr darauf ab, die Wechselbeziehungen zwischen belebter und unbelebter Natur zu entdecken und die Harmonie festzustellen, die ihre Existenz bestimmt. Diese Prinzipien liegen seinen zwei Werken der Synthese Ansichten der Natur (1807) und Kosmos zugrunde. Sein Ziel, wie er es in Ansichten der Natur formuliert, ist kein geringeres, als den Einfluss der physischen Welt auf die moralische, das geheimnisvolle Ineinanderwirken des Sinnlichen und des Außersinnhchen, von einem höheren Standpumnkt aus betrachtet, zu entdecken. Das Geheimnis, das er zu entschleiern sucht, ist das des Ineinandervvirkens der intelligiblen und der sinnlichen Welt. Derselbe Gedanke wird in ausführlicherer Form im französischen Vorwort zu Kos- 604 Juni 1799 I Holistische Betrachtungsweise und Kolonialismuskritik Juni 1799 J Holistische Betrachtungsweise und Kolonialismuskritik 60c mos behandelt, wo er darlegt, dass das Wechselspiel zwischen Geist und Natur die schöpferischen Kräfte des menschlichen Beobachters weckt Humboldt war so in diese romantische Sichtweise vertieft, dass seine ganzheitlichen Ziele nicht durch rein naturwissenschaftliche Forschung erreicht werden konnten. In den meisten seiner synthetischen Arbeiten versucht Humboldt, die wissenschaftliche Beobachtung mit einer phantasievollen und emotionalen Antwort zu verknüpfen, die er im Leser zu erwecken hofft. Mit anderen Worten, er argumentiert gegen Descartes' Unterscheidung der Idee, verstanden als die genaue Wiedergabe des beobachteten Phänomens, und des Bildes, als einer Wiedergabe, die durch das Einwirken von Gefühlen beeinträchtigt ist. Dennoch war diese Methode grundverschieden von derjenigen von Novalis, der, obwohl er ebenfalls Naturwissenschaftler war, daran glaubte, dass die mystische Erforschung die aus seiner Sicht bestehende Armut der Naturwissenschaften überwinden könne. Humboldts »ganzheitliche« Sicht weist Anklänge an Goethe auf, der die Ehrfurcht des Menschen vor dem Zusammenhang der die Natur regierenden Gesetze betonte. Dadurch, dass er wissenschaftliche und sinnliche Erfahrung dem Wirken einer gemeinsamen Ästhetik unterstellte, wurde Humboldts Holismus zu einem utopischen Projekt. Das ist vielleicht der tiefere Grund, weshalb er von den modernen Lesern kaum noch beachtet wird. Humboldts Ausbildung war eine ausgezeichnete Vorbereitung für seine Reise nach Südamerika. Er erhielt seine naturwissenschaftliche Schulung an der Universität Göttingen und an der Freiberger Bergakademie, wo er bei Abraham Werner studierte, dem Begründer einer neuen historischen Geologie. Humboldt studierte auch unter den Botanikern Christian Wilhelm Dohm und Carl Ludwig Willdenow. Im Zusammenhang mit seinem Studium erwarb er geographische und astronomische Instrumente und erlernte ihren Gebrauch, und er war stark beeinflusst von seiner persönlichen Bekanntschaft mit Georg Forster, der an Kapitän Cooks zweiter Forschungsreise teilnahm. In Forsters Begleitung nahm Humboldt an einer vorbereitenden Exkursion durch Deutschland, die Niederlande, Frankreich und England teil. Vor diesem Hintergrund und mit der Möglichkeit, über ein beträchtliches Privatvermögen zu verfügen, beschloss Humboldt, seine Laufbahn als Forschungsreisender zu beginnen. Im Jahre 1798 weilte er in Paris, wo er sich mit dem französischen Botaniker Ahne Bonpland (17.C3-18C8) zusammentat, der ihn auf seiner Südamerikareise begleiten sollte. Anfänglich suchten sie den Kontakt zu Bougainville, um ihn auf seiner Reise zum Südpol zu begleiten, und später zu Kapitän Baudin, der eine Weltumsegelung vorbereitete. Als beide Versuche fehlgeschlagen waren, beschlossen Humboldt und Bonpland, sich auf die spanischen Kolonien in Südamerika zu konzentrieren. Von Januar bis Mai hielt sich Humboldt in Spanien auf, wo er vorbereitende Luftdruckmessungen durchführte. Im März desselben Jahres erhielt Humboldt dank seiner Beziehungen zu dem aufgeklärten Minister Mariano Luis de Urquijo und nach einer Audienz bei König Karl vi. von Spanien und seiner Gemahlin, Maria Luisa, einen speziellen Reisepass, der es ihm und Bonpland ermöglichte, ungehindert in der Neuen Welt Forschungen durchzuführen. Sie konnten auch auf die Hilfe des Marquis von Iranda, Simon de Arragora, rechnen, der die Madrider Bankiers Mendelssohn und Friedlander bewog, das Projekt zu unterstützen. Im Juni 1799 brachen Humboldt und Bonpland an Bord einer Korvette zu den Kanarischen Inseln auf. Am 13. Juli sichteten sie die südamerikanische Küste; in der Nacht des 14. gingen sie in Venezuela an Land. Dort begannen sie mit ihren Forschungsarbeiten, die sie zunächst nach Kuba, dann zurück nach Venezuela, Kolumbien, Ecuador, den Vizekönigreichen Peru und Nueva Espana (Mexico) und wieder nach Kuba führen sollten; von dort reisten sie weiter in die Vereinigten Staaten und dann nach Europa, wo sie im Juni 1804 im Hafen von Bordeaux eintrafen. Humboldt schätzte die gesamten Ausgaben für die Reise auf mehr als ein Drittel seines Privatvermögens. Nachdem er sich in Paris niedergelassen hatte, begann er mit der Abfassung des ersten Teils des umfassenden Reiseberichts, den er und Bonpland gemeinsam vorlegten; Relation historique du voyage aux regions equinaxiales. du Nouveau Continent. Die erste Ausgabe wurde in drei Bänden veröffentlicht (Paris 1814-182J-). Dieses Werk war der wichtigste Teil des sogenannten Cotpus americanurn, das von seiner Arbeit über die »Geographie der Pflanzen« aus dem Jahre 1807 über Essays betreffend die Politik in der Neuen Welt bis zur Geographischen Geschichte des Neuen Kontinents aus dem Jahre 1834 reichte. Diese Werke waren alle in französischer Sprache abgefasst und wurden in Paris veröffentlicht, aber einige, wie der politische Essay über »Das neue Spanien«, wurden bald ins Deutsche übersetzt. Die Aufnahme dieses gewaltigen Werkes in Südamerika war ebenso ehrenhaft, wie es die internationale Anerkennung für seine Werke der Synthese, Ansichten der Natur und vor allem Kosmos, gewesen war. Doch trotz des frühen Lobs seiner lebensnahen Beschreibungen und trotz neuerer Bewertungen Humboldts als einer zentralen Gestalt der lateinamerikanischen Kulturgeschichte ist bis heute kein Versuch unternommen worden, Humboldts Werk systematisch zu erforschen. Die Aufgabe wäre gewaltig angesichts der außergewöhnlichen Bandbreite von Humboldts und Bonplands Forschungsarbeiten; ihr Bericht über die verschiedenen Klimata der Gegenden, die sie untersucht hatten; ihre Vermessungen der Höhe von Gebirgszügen und Humboldts kritische Beobachtungen zu der Lebensform, die den Indianern von religiösen Missionsgesellschaften aufgezwungen wurde, und zu den politisch-ökonomischen Strategien, die Spanien verfolgte; und seine Prognosen hinsichtlich der politischen Zukunft und Unabhängigkeit der Kolonien und ihres wirtschaftlichen und kulturellen Potentials. Humboldt wandte sich gegen die Ansicht, die von vielen europäischen Naturforschern, Reisenden und Denkern vertreten wurde, die die Neue Welt gekennzeichnet sahen durch ungesunde 606 Juni 1799 I Holiscische Betrachtungsweise und Kolonialismuskritik Landstriche, eine entsetzliche Vegetation, schwächliche Tierarten und minderwertige Menschenrassen. Buffon (1707—1788), De Pauw (1739-1799), Raynal (1713-1796) und vor allem Hegel (1770-1831) sind einige der Denker, die den Neuen Kontinent als strukturell unfähig ansahen mit Europa gleichzuziehen. Hegel bemerkt in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1817), dass die Neue Welt nur eine »Beute Europas« sei. Demgegenüber repräsentiert die Alte Welt eine perfekte Dreiheif das stumpfe Afrika, »der nicht ins Bewußtsein tretende stumme Geist«-Asien, charakterisiert durch »die bacchantisch kometarische Ausschweifung«, und Europa, welches »das Bewußtsein, den vernünftigen Teil der Erde [bildet], das Gleichgewicht von Strömen und Tälern und Gebirgen dessen Mitte Deutschland ist«. Vier Jahre später macht Hegel ähnliche Anmerkungen in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Im Gegensatz zu Hegel vermied Humboldt Ausdrücke, die den neuen Kontinent herabsetzten. Hegels linearem Eurozentrismus stellte er eine komplexere Sichtweise der Eingeborenenkulturen Amerikas entgegen, indem er argumentierte, dass es falsch wäre, die Zivilisationen Mexikos und Perus nach den gleichen Maßstäben zu beurteilen, die wir anlegen, wenn wir vom antiken Griechenland oder Rom sprechen. Anders als viele seiner Zeitgenossen porträtierte Humboldt die neue Welt weder als ein Gelobtes Land noch beschuldigte er die Eroberer, ein zweites Griechenland zerstört zu haben. Tatsächlich versuchte Humboldt nicht, De Pauw oder Hegel zu bekämpfen. Er zeigte vielmehr, dass empirisches Wissen zu anderen Ergebnissen führt als abstrakte Spekulation. Im Historischen Bericht hält Humboldt einen Unterschied zwischen den alten und den neuen Formen der Kolonisation fest. In den Kolonien der Antike habe die geistige Kultur, beeinflusst durch die unterschiedlichen Regierungsformen, oft den Neid der Mutterländer erregt. »Durch diesen glücklichen Wettbewerb erreichten Künste und Wissenschaften in Ionien, auf dem griechischen Festland und in Sizilien ihre Blütezeit.« Dieser glückliche Wettbewerb hat sich in den modernen Kolonien, die von ihren Zentralen oft durch große Entfernungen getrennt waren, nicht wiederholt. Die Geschichte dieser Kolonien kennt nur zwei bemerkenswerte Ereignisse: ihre Gründung und ihren Bruch mit dem Mutterland. Humboldts Verständnis für die großen Schwierigkeiten, denen sich die neuen Kolonien gegenübersahen, hindert ihn daran, sie zu idealisieren. Da er in der Zeit der Unabhängigkeitskriege in Lateinamerika gelebt hat, ist sich Humboldt darüber im Klaren, dass einer der Gründe dafür, dass die Unabhängigkeit nicht einmütig von der Bevölkerung unterstützt wurde, in der Tatsache zu suchen ist, »dass einige wenige privilegierte Familien es vorzogen, einiger Rechte beraubt zu sein, statt diese mit anderen zu teilen«, und deshalb die Fremdherrschaft wählten »anstelle einer Autorität, die von Amerikanern einer niederen Schicht ausgeübt wurde. In derselben Passage äußert er sich zu den Folgen des Übergewichts des Landlebens über das Stadtleben. Da die Kolonisten den größten Teil tnd ihr Juni 1799 I Holistische Betrachtungsweise und Kolonialismuskritik 607 ihres Lebens auf den Feldern verbrachten, mit landwirtschaftlichen oder bergbaulichen Tätigkeiten beschäftigt waren, fehlte ihnen ein wirksamer Gemeinschaftsgeist, und obwohl sie eine autonome Regierung gewählt hatten, die ihnen »die volle Handlungsfreiheit« gewährte, hatten sie sich in Wirklichkeit für »den Müßiggang und die Gewohnheiten eines untätigen Lebens« entschieden. Diese Untätigkeit schloss im Weiteren einen Mangel an intellektueller Neugier ein. Im Gegensatz zu den Traditionen der nordamerikanischen Kolonisierung wurde die Kenntnis des Lesens und Schreibens nicht gefördert: Die Zahl der Menschen, die die Notwendigkeit der Alphabetisierung einsehen, ist nicht sehr groß, und das gilt selbst für diejenigen spanischen Kolonien, die einen Grad an Zivilisation aufweisen. Eine Politik der Zentralregierung, die kein Vertrauen in die Bevölkerung setzte, war für diesen Stand der Dinge verantwortlich. Als Folge davon war der Ehrgeiz unter den Kolonialbewohnern nur gering ausgeprägt: Man könnte sagen, dass sie nicht leben, um ihr Leben zu genießen, sondern nur um es zu verlängern. Es wäre also ein Fehler, anzunehmen, dass Humboldts Historischer Bericht lediglich eine Antwort auf willkürliche und abstrakte Versuche war, Südamerika verächtlich zu machen. Obwohl Humboldt natürlich begeistert war von der Möglichkeit, in dem riesigen unerforschten Raum unbegrenzte Forschungsarbeiten durchführen zu können, sympathisierte er, wenn auch verdeckt, mit den politischen Anliegen der spanischen Kolonien. Das machte ihn jedoch nicht zum Verbreiter der leyenda negra Spaniens in Europa. Die aktuelle Situation, der er sich gegenübersah, war weitaus komplexer. Man betrachte beispielsweise die Situation der schwarzen Sklaven. Einerseits kam Humboldt nicht umhin, die Milde der spanischen Gesetzgebung, verglichen mit den die Schwarzen betreffenden Regelungen der meisten Kolonisten in den beiden Indien, anzuerkennen. Auf der anderen Seite ändere dieser relativ positive Aspekt nichts an der Tatsache, dass die Behörden in allem, was die häusliche Sklaverei betrifft, praktisch machtlos seien. Nicht einmal die Macht der Gouverneure reichte aus, um die Missbräuche abzustellen, die dem europäischen Kolonialsystem wesensmäßig innewohnten. Zusätzlich zu seinen Interessen an naturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Forschung war Humboldt sehr daran gelegen, die präkolumbianische Geschichte zu erforschen. Indem er die Geschehnisse in Amerika mit den großen Veränderungen verglich, die sich in Zentralasien ereignet hatten und über die umfangreiche Erkenntnisse vorlagen, erklärte er, dass in Amerika die wirtschaftlichen Faktoren entscheidend gewesen seien. Obwohl die Steppen fruchtbarer waren als diejenigen in Asien, sind sie nicht als Weideland genutzt worden, weil es in den südamerikanischen Prärien keine Tiere gibt, die ausreichend Milch liefern. Folglich bestimmte das Wirtschaftsleben die Politik der großen präkolumbianischen Reiche, ihre Sitten und Gebräuche und die Art der Denkmäler und Kunstwerke, die sie hinterließen. Humboldt ar- 6o8 Juni 1799 I Holistische Betrachtungsweise und Kolonialismuskritik gumentierte, dass sich die präkolumbianischen Zivilisationen von der griechischen Zivilisation aus ganz konkreten Gründen unterschieden die im Gegensatz zu Hegels Interpretation keineswegs ein Zeichen von konstitutioneller Schwäche oder Minderwertigkeit waren. Humboldts Ganzheitlichkeit umfasst Forschungen auf dem Gebiet der allgemeinen Geographie (einschließlich der Untersuchung von Fauna und Flora) und der Geschichte (der wirtschaftlichen, sozialen und politischen, der zeitgenössischen, kolonialen und präkolumbianischen). Für europäische Leser war Südamerika ein entferntes Land, um das sich phantastische Assoziationen und Empfindungen rankten, die überwiegend aus dem 18. Jahrhundert stammten. Doch in den vielen tausend Seiten seines Reiseberichts bringt Humboldt niemals eine Szene nur wegen ihres exotischen Charakters zur Sprache. Seine politischen Abhandlungen über das Vizekönigreich Neu-Spa-nien und die Insel Kuba zeigen eine ähnliche Vorgehensweise. In seinem Essai politique sur la Nouvelle Espagne konzentriert sich Humboldt zunächst auf die Topographie. Einerseits weil infolge der Gebirge nur die Küstenstriche das warme Klima aufweisen, das für die Erzeugung derjenigen landwirtschaftlichen Produkte erforderlich ist, die denjenigen der Karibik entsprechen (Zucker, Indigo, Baumwolle und Bananen); andererseits befinden sich die riesigen Erzlagerstätten der Region auf niedrigeren Höhen als in Peru, was ihre Ausbeute erleichtert. Darüber hinaus fehlt es dem Neuen Spanien an schiffbaren Flüssen. Alles in allem ist aber Humboldts Bewertung durchaus positiv. Falls die natürlichen Reichtümer des Vizekönigreichs gut genutzt würden, könnte es die Welt mit allen benötigten tropischen Erzeugnissen versorgen (Zucker, Koschenillefarbe, Kakao, Kaffee und so weiter), ebenso wie mit Hölzern und Erzen, besonders Eisen und Kupfer. Die Mängel der Kolonialverwaltung behindern jedoch die Ausbeute dieser Naturschätze. Humboldts Kritik wird emphatisch, wenn er das Encomienda-System beschreibt, das bis zur Herrschaft Karls III. (175-9—1788) in Kraft war und das es Soldaten und Gelehrten, die sich bei der Eroberung ausgezeichnet hatten, gestattete, ganze Indianerstämme zur Zwangsarbeit heranzuziehen. Obwohl dieses System später abgeschafft wurde, blieben die Indios letztendlich dem dauernden Patronat der Landbesitzer unterstellt, da die bürgerlichen Rechte den Weißen vorbehalten waren. Humboldts vehemente Verurteilung dieser Situation wird in einem außerordentlich höflichen Ton vorgetragen. Er weist darauf hin, dass die Dezimierung der Azteken-Priester zur Unkenntnis der indianischen Bevölkerung über ihre eigene Kultur geführt habe. Unfähig, sich an ihren Eroberern zu rächen, dienten sie häufig als Hilfskräfte bei der Unterdrückung ihrer eigenen Brüder. In einer schneidenden Synthese charakterisierte Humboldt Mexiko als ein I Land übermäßiger Ungleichheiten. Kurzum, für Humboldt wären die Probleme, unter denen das koloniale Mexiko litt, leicht zu lösen, wenn es dort ein freies und gut re-~ 1800 J Andeutungen der Sterblichkeit 609 giertes Volk gäbe. Humboldt gab seinen freidenkerischen Idealen und liberalen politischen und wirtschaftlichen Ansichten in der Sprache seiner Zeit Ausdruck und beschloss sein Werk in der Hoffnung, dass seine Analysen die Machthaber überzeugen würden, dass die Wohlfahrt der Weißen langfristig nur gesichert werden könne, falls den Indios gleiche Rechte zugestanden würden - einer Rasse, die durch starke Unterdrückung zwar gedemütigt, aber nicht erniedrigt worden sei. LOUIS COSTA LIMA : Siehe auch 1647 (OJearius), 1784, 1789, 1800, Winter 1828, 1831 Bibliographie: Alexander von Humboldt, Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, c Bde., Stuttgart-Tübingen [841,-1862; Nachdruck, hg. von Ottmar Erte und Oliver Lubrich, Frankfurt am Main 2004. — Ders., Ansichten der Nfltur, 1807; hg. von Adolf Meyer-Abich. Stuttgart 1986. — Ders., Rdülion fiistorique du voyage aux regions equinoxiales du Nouveau Continent, fait en 1799, 1800, i8oi, 1802, [803 et 1804, Paris 1814-182$. - Ders.. StuJienäusgübe, hg. von Hanno Beck, 7 Bde., Darmstadt 1997. - G. W F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, 3 Bde., 1830; Frankfurt am Main 1980. - G. Brude-Firnau, »Alexander von Humboldt's Sociopolitical Intentions: Science and Politics«, in: David Wellbery und Nancy Kaiser (Hg.), Traditions of Expetiment from the Enlightenment to the Present: Essays in Honor of Peter Demetz, Ann Arbor 1992, S. 45-62. - Mary Louise Pratt, »Alexander von Humboldt and the Reinvention of America«, in: Imperial Eyes:Travel Writing andTrans-culturation, London and New York 1992, S. ni-143. *** 1800 I Die Veröffentlichung der »Hymnen an die Nacht« macht Novalis zum Propheten des romantisch Übernatürlichen Andeutungen der Sterblichkeit Man kann leicht den Eindruck bekommen, dass Friedrich von Hardenberg (1772-1801), besser bekannt als Novalis, Autor eines Werkes von gewaltigem Umfang gewesen sein müsse. Wie sonst sollte man die Beachtung erklären, die ihm in der Literaturgeschichte zuteil wird, den immer noch wachsenden Forschungsberg, der sich jedem Aspekt seines Werkes verschrieben hat, die wichtige Rolle, die er in der Phantasie von Schriftstellern, von Edgar Allen Poe und Gerard de Nerval bis Hugo von Hofmannsthal und Stefan George, gespielt hat? Dabei würden die wichtigsten Schriften Hardenbergs bequem in einem Taschenbuch Platz finden. Sein literarisches Schaffen würde nur etwa ein Drittel eines solchen Bandes einnehmen, und der Großteil davon entfiele auf seine beiden unvollendeten Romane Heinrich von Ofterdingen (1802) und Die Lehrlinge zu Sais (1802), die, geziert und allegorisch, wie sie sind, zwar solche Leser anziehen, die sich zu einer blumigen Romantik hingezogen fühlen, andere jedoch eher befremden. In dem schmalen verbleibenden Werk trifft man luf handwerklich gut gestaltete Gedichte und schöne, hingebungsvolle Lieder - nichts, was einen Autor unsterblich machen würde - bis man 6iO r8oo I Andeutungen der Sterblichkeit 1800 I Andeutungen der Sterblichkeit fei 1 zu dem Poem gelangt, das als Hymnen an die Nacht (1800) bekannt ist, ein Zyklus aus sechs mit Versen durchzogenen Prosagedichten, die sich mit der Sterblichkeit und ihrer Verklärung in religiöse Erleuchtung beschäftigen. Es ist keine Übertreibung, wenn man behauptet, dass Hardenbergs gewaltiger literarischer Ruhm hauptsächlich auf diesem Dutzend Seiten gründet. Dieser dichterische Zyklus besticht so stark durch seine Form, sein sprachliches Einfühlungsvermögen und die konzeptuelle Tiefe, dass selbst seine weithin anerkannte historische Bedeutung - als Meilenstein der deutschen, ja der europäischen Literatur - von seiner greifbaren literarischen Kraft weit übertroffen wird. Anders als viele andere Schriften des Novalis (und Schriften jener Zeit überhaupt) haben die »Hymnen« viel von ihrer affektiven Kraft bewahrt. Noch immer fesseln sie Leser mit der reich gestalteten Fülle ihrer Bilder; sie verblüffen nach wie vor; sie schneiden ins Fleisch und weigern sich, von der Geschichte, die ihre Objekte gern ordentlich aufreiht und sie damit gleichzeitig auf Distanz hält, einen Platz zugewiesen zu bekommen. Dieses Gedicht gestattet dem Leser nicht - selbst aus einer Entfernung von zweihundert Jahren, über einen Ozean hinweg und vermittelt durch eine andere Sprache -, ihm mit Adjektiven wie »wichtig« oder »beispielhaft« zu schmeicheln, denn was es zu sagen hat, ist dringlich, und diese Dringlichkeit ist deutlich hörbar. Doch die intensive Konzentration von Sprache und Gedanken, die das Gedicht auf einen imaginären Kern drängt, strahlt auch nach außen ab und richtet unser Verständnis von Hardenbergs gesamten Werk völlig neu aus. Da es der einzige bedeutende literarische Text ist, den der Autor vollendet hat - das einzige >Werk< im emphatischen Sinne des Wortes -, deutet es das Ausmaß seines dichterischen Ehrgeizes an und belebt daher die Rezeption jener Schriften, die er vor seinem Tod im Alter von 28 Jahren nicht vollenden konnte. Dieser Tod, knapp ein halbes Jahr nachdem die Hymnen zuerst gedruckt wurden, wirft einen langen Schatten über ihre Rezeption. Und aus gutem Grund; Da die Vorahnung des Todes das Hauptanliegen des Gedichts ist, fällt es schwer, es nicht als proleptische - ja sogar prophetische - Meditation über den Tod des Autors selbst zu lesen. Wahrscheinlich war Novalis bereits an Tuberkulose erkrankt, als er das Gedicht im Sommer 1800 in der, wie sich herausstellen sollte, letzten Ausgabe von Athenäum veröffentlichte, einer Zeitschrift, die von seinen Freunden Friedrich und August Wilhelm Schlegel herausgegeben wurde (und zum Synonym für die Jenaer Frühromantik geworden ist). Die thematische und zeitliche Nähe zu Hardenbergs eigenem Ende und dasTodesmotiv in den Hymnen haben nicht nur zu einer biographischen Interpretation des Gedichts ermutigt, sondern auch zu einem alternativen Verständnis der Romantik beigetragen. Die typisch romantischen Bilder - das glückliche Mittelalter zum Beispiel oder die blaue Blume romantischer Sehnsucht, ein Motiv aus Ofterdingen - werden nicht durch die idealisierte Sicht des dichterischen Genies verklärt, sondern von einem kranken Geist verdreht. »Der rosige Glanz in der Dichtung Novalis'«, schrieb Heinrich Heine ein paar Jahrzehnte später, »ist nicht die Farbe der Gesundheit sondern der Schwindsucht« (Die romantische Schule). Aber es ist nicht nur Hardenbergs Tod, der die Verschlingung von biographischen und poetischen Themen andeutet. Wenn die Hymnen von der Vorahnung der Sterblichkeit erfüllt sind, so war es sein Leben erst recht. Er erlebte den Tod zweier seiner sechs jüngeren Brüder, einer beging Selbstmord. Aber die tiefsten seelischen wie auch poetischen Spuren hinterließ der Tod seiner Verlobten Sophie von Kühn, auf den Novalis in den »Hymnen« direkt anspielt. Er hatte sich in sie verliebt, als sie noch ein Kind von zwölf Jahren war, und sie starb - ebenfalls an Tuberkulose - im März 1797 im Alter von fünfzehn. Ein paar Zeilen, die er in sein Tagebuch notierte, nachdem er ihr Grab besucht hatte, erscheinen wortwörtlich in der dritten Hymne. Die tote Braut hat in dem Gedicht eine so gewaltige Präsenz, dass wir uns dem Bild nicht entziehen können, wie der Geliebte am Grab seiner Geliebten trauert, wenn die erste Hymne erklärt: »In Thautropfen will ich hinuntersinken und mit der Asche mich vermischen.« Aber die biographischen Befunde sind bestenfalls mehrdeutig und somit ein unsicherer Führer bei der Lektüre der Hymnen. Bei der Niederschrift des Gedichts, vermutlich Ende 1799 bis Anfang 1800, war Sophie bereits seit zweieinhalb Jahren tot, und obwohl nicht vergessen, war sie doch ersetzt: Im Dezember 1798 gab Novalis seine Verlobung mit einer gewissen Julie von Charpentier bekannt. Bei Abschluss des Gedichts Anfang 1800 war er immer noch gesund, und seine Briefe und sein Tagebuch enthalten keine Andeutungen auf einen zu erwartenden frühen Tod. Im Gegenteil, jenes Jahr war angefüllt mit energischem Tun: Er schloss den ersten Teil des Ofterdingen ab und begann mit dem zweiten, beschäftigte sich mit Goethe und Jakob Böhme, einem Mystiker des 16.Jahrhunderts, unternahm in seinem Beruf als Mineninspektor eine geologische Feldstudie in den Salzminen der sächsischen Stadt Weißenfels, schrieb Gedichte, verfolgte seine wissenschaftlichen Studien und fand die Zeit, sich um einen höheren Posten zu bewerben, zu dem er nur drei Monate vor seinem Tod befördert wurde. In keiner Weise bewegte sich der Autor der Hymnen an die Nacht unweigerlich in Richtung einer Verbindung mit seiner toten Geliebten, wie manche Biographen nahegelegt haben. Auf einer Beschreibungsebene ist die große Bewegung des Gedichts deutlich: Es nimmt die gequälte Stimme des poetischen Subjekts - »einsam, wie noch kein Einsamer war, von unsäglicher Angst getrieben« — und löst diese atomisierte Angst vor dem Tod zur ersehnten Umarmung mit Christus im Tode auf. Ähnlich wie in Wordsworth' »Ode auf Andeutungen der Unsterblichkeit« versucht auch hier die Stimme des Dichters mit der Tatsache fertig zu werden, dass »die irdische Herrlichkeit [dahin floh]«. Während die »Ode« diesenVerlust dadurch betrauert, dass sie sich zum pastoralen Glanz der »Erinnerungen der frühen Kindheit« wendet, 6l2 1800 I Andeutungen der Sterblichkeit 1800 I Andeutungen der Sterblichkeit 613 um »Stärke zu finden in dem, was zurückbleibt«, überschneiden sich die beiden Vektoren, auf denen sich die Hymnen bewegen - vorwärts in der Zeit und abwärts im Raum - unvermeidlich im Grab, »in der Erde Schooß«. Die letzte Strophe lautet: Hinunter zu der süßen Braut, Zu Jesus, dem Geliebten -Getrost, die Abenddämmrurig graut Den Liebenden, Betrübten. Ein Traum bricht unsre Banden los Und senkt uns in des Vaters Schooß. Unschwer erkennt man die typische Form der christlichen Mystik: Die stark sexualisierte Verbindung mit Christus führt zu einem ozeanischen Gefühl, in dem das Subjekt - jetzt ein kollektives Wir im Gegensatz zum früheren Ich - »keine Banden [fühlt]« und zu einer Liebe verschmilzt, in der es »keine Trennung mehr« gibt. Die vollkommene Aufhebung jeglicher Unterscheidung - zweimal verglichen mit der vom Opium ausgelösten Betäubung - kann nur unter dem Mantel der Dunkelheit geschehen, denn das Licht, wie wir aus den Eröffnungsversen der Genesis wissen, ist die erste von Gott geschaffene Trennung im gleichförmigen Chaos vor der Schöpfung. Das Licht erhält nicht nur alles Leben - wie Novalis wiederholt sagt -, sondern, und grundsätzlicher, es schafft erst die Bedingung für alle vorzunehmenden Unterscheidungen. Der Wunsch, jeglicher »Trennung« ein Ende zu machen, verlangt damit eine Bewegung »weg aus des Lichtes Reichen«, wo uns keine Unterscheidungen plagen, am wenigsten die zwischen Leben und Tod. Doch spiegeln die von Novalis angewendeten sprachlichen Mittel den aufrichtigen Hunger des lyrischen Subjekts nach einer mystischen Verschmelzung nicht mit der erforderlichen Bestimmtheit. In der oben zitierten Strophe mag sich der Leser fragen, ob in den Zeilen »die Abend-dämmrung graut / Den Liebenden, Betrübten« grauen als Verdunkelung des Abendhimmels oder als Angst vor dieser Abenddämmerung gemeint ist. Die Mehrdeutigkeit von grauen spiegelt die psychologische Komplexität dieser Szene, denn ist die vollkommene Abwesenheit von Unterschieden - der Sturz in unbelebte Natur - nicht sogar für jene beängstigend, die sich davon Linderung erhoffen? Und kündigt der Traum der vorletzten Zeile, der »unsre Banden los [brechen]« soll, nicht eine ähnliche Komplikation an? Das Gedicht bemüht sich, den »heiligen Schlaf« von dem bloßen »Schatten, den du [gemeint ist die Nacht] in jener Dämmerung der wahrhaften Nacht mitleidig auf uns wirfst«, zu unterscheiden, denn sein Gedankengang fordert klare Unterscheidungen: hell und dunkel, falsche Nacht und wahre Nacht, der Schatten des Schlafs und »der ewge Schlummer«: schließlich Angst vor dem Tod und die Sehnsucht danach. Aber seine Bilder bewegen sich unvermeidlich in der Grauzone der Ambiguität. Schatten und Zwielicht benötigen eine Mischung aus hell und dunkel, und Schlaf, selbst in der ewigen Variante, in die das Subjekt in der letzten Strophe fällt, ruft Träume hervor, die von Komplikationen umgeben sind: »Ist nicht jeder, auch der verworrenste Traum, eine sonderliche Erscheinung, die auch ohne noch an göttliche Schickung dabei zu denken, ein bedeutsamer Riß in den geheimnisvollen Vorhang ist, der mit tausend Falten in unser Inneres hereinfällt?« (Ofterdingen, S. 19), lautet Heinrichs rhetorische Frage in Hardenbergs Romanfragment. Das soll nicht heißen, dass die vom Gedicht gefeierte religiöse Erlösung durch Mehrdeutigkeiten und sprachliche Volten völlig unterlaufen wäre. Die Bahn des Gedichts führt in der Tat zur Umarmung des Todes - im doppelten Sinn: vom Tod umarmt und den Tod umarmend -, aber besonders in seinen anfänglichen Teilen zeugt das Gedicht vielfaltig von Zögern, Zweifeln und Aufschüben. Die Ambivalenz erscheint gleich zu Beginn: Während der Titel uns einen Lobgesang auf die Nacht erwarten lässt, wird ihr Gegenteil, das Licht, gelobt: »Welcher Lebendige, Sinnbegabte, liebt nicht vor allen Wundererscheinungen des verbreiteten Raums um ihn, das allerfreuliche Licht« (S. 11).Trotz seiner Form ist dies keine Frage, sondern eine Wahrheitsaussage, von der das Ich des Gedichts sich nicht ausschließt. Wenn sich am Ende zeigt, dass die Dunkelheit die noch wunderbareren inneren Räume religiöser Liebe entfaltet, wurde das Licht des Anfangs nicht deshalb als falscher Schein auf der Oberfläche der Welt preisgegeben. Im Gegenteil, es ist eingebettet in die Ordnung der Dinge: »Wie des Lebens innerste Seele athmet es der rastlosen Gestirne Riesenwelt, und schwimmt tanzend in seiner blauen Flut - athmet es der funkelnde, ewigruhende Stein, die sinnige, saugende Pflanze, und das wilde, brennende, vielgestaltete Thier - vor allen aber der herrliche Fremdling.« Was hier erstaunt, ist nicht so sehr die Vorstellung, dass die beleuchtete Welt - Sterne, Wasser, Pflanzen, Tiere, Menschen - einen enormen Organismus ausmacht, der sich immer weiter belebt, je mehr er sich uns nähert. Dieses romantische Thema ist uns schon von dem Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling vertraut, den Novalis kannte und verehrte. Was dem Leser auffallt, ist nicht die Belebtheit von Dingen, sondern von Wörtern: Bilder wie »die sinnige, saugende Pflanze« und »das wilde, brennende, vielgestaltete Thier« sind von einer solch ungeheuerlichen Plastizität, dass es uns nicht erstaunen würde, sie in der Dichtung einer viel späteren Epoche zu finden, bei Rainer Maria Rilke etwa oder bei T.S.Eliot. Die Intensität, mit der der Glanz des Lichtes beschrieben wird, verhindert, dass es von der Nacht des Gedichts einfach ausgelöscht wird. Wenn das lyrische Ich auch später frohlockt: »getreu der Nacht bleibt mein geheimes Herz«, so gelobt es dennoch, indem es sich von der Dunkelheit abwendet und das Licht anspricht: »Gern will ich die fleißigen Hände rühren, überall umschaun, wo du mich brauchst - rühmen deines Glanzes volle Pracht - unverdrossen verfolgen deines künstlichen Werks schönen Zusammenhang - gern betrachten deiner gewaltigen, leuchtenden Uhr sinnvollen Gang - ergründen der 6i4 1800 I Andeutungen der Sterblichkeit Januar [800 | Die Entstehung von Literaturgeschichte und Literaturkritik 615 Kräfte Ebenmaß und die Regeln des Wunderspiels unzähliger Räume und ihrer Zeiten.« Noch einmal, Licht wird hier mit der von der rationalen Wissenschaft gegebenen mechanischen Regelmäßigkeit von Raum und Zeit assoziiert, aber das Gedicht lehnt es deshalb nicht ab. Die Spannung zwischen der eindeutigen Hinwendung zur mystischen Verbindung jenseits aller Unterscheidungen und die Doppeldeutigkeit der poetischen Mittel, die dieser Hinwendung Ausdruck verleihen ist wohl in der Metapher des »herrlichen Fremdlings« am greifbarsten. Schon früh im Gedicht schwelgt er im Glanz des Lichts und taucht in zahlreichen anderen Schriften von Novalis wieder auf. Auf einer Ebene können die »Hymnen« als Erzählung einer Heimkehr interpretiert werden: »Die Lust der Fremde ging uns aus / Zum Vater wollen wir nach Haus« heißt es in der sechsten Strophe. Das Gedicht macht deutlich, dass dieses Haus tatsächlich ein Heim ist, das einen machtvollen Sog ausübt: »Wir müssen nach der Heymath gehn / Um diese heiige Zeit zu sehn.« Aber der Weg, auf dem der Fremde seine Heimat sucht, der Prozess, durch den der Fremdling vertraut wird, passt nicht, wie Novalis selbst erkennt, auf den Weg der Poesie, schon gar nicht auf den der romantischen Poesie. In einem Notizbucheintrag von 1800 heißt es: »Die Kunst, auf eine angenehme Art zu befremden, einen Gegenstand fremd zu machen und dennoch bekannt und anziehend, das ist die romantische Poetik.« (Werke, S. 561) Der Raum zwischen dem Unbekannten und dem Vertrauten, dort, wo das Vertraute fremd und das Fremde vertraut wird, ist der Raum der romantischen Dichtung. An jener Stelle ist jedes Heim unheimlich, kein Ort der Erholung, sondern einer der rastlosen Bewegung über die Grenze zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten. Was diese Dichtung so beklemmend macht, ist, dass sie dem Wunsch Ausdruck verleiht, dem herrlichen Fremdling eine Heimat zu finden, mithin ihre eigene Bewegung aufzuheben, aber ihr Erfolg als Poesie verlangt das Versagen, eben-jenen Wunsch zu erfüllen, den es selbst zum Ausdruck bringt. In ihren stärksten Passagen verzeichnen die Hymnen den der poetischen Sprache eigenen Widerstand gegen das Verlangen, das Poesie überhaupt erst aufkeimen lässt. MICHEL CHAOULI : Siehe auch 1600, 1786, April 1796 , Januar 1800 , 1824, Februar 1922 Bibliographie: Novalis, Werke, hg. von Gerhard Schulz, München ! 1987. - Ders.. Hymnen an die Nacht, Köln 2006. — Heinrich Heine, Dir romantische Schule. Kritische Ausddfte. hg. von Helga Weidmann, Stuttgart 1976. - Ders., Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, hg, von Jürgen Ferner, Stuttgart 1997. - Raimund Borgmeier (Hrsg), Die englische Literatur in Text und Darstellung Bd. 1, Stuttgart 1982. - Siman Reynolds (Hg.), Novalis and the PoetsofPessimism, Norwich, U.K. 1995. Januar 1800 | Friedrich Schlegel vollendet Das Gespräch über die Poesie Die Entstehung von Literaturgeschichte und Literaturkritik 1799. noch während er an seinem Roman Lucinde arbeitete — einem typisch romantischen Versuch, einen Erzählstoff mit einer Romantheorie zu verquicken -, schrieb Friedrich Schlegel (1772-1829) an seine Schwägerin Caroline Schlegel (1763-1809), er sitze an einer Vorlesung über den Stil von Goethes früheren und späteren Werken und plane diese in einem umfassenderen Werk über Poesie aufzunehmen. Dieses Werk gilt heute als Wendepunkt in der Geschichte von Literaturkritik und Literaturtheorie. Im Januar 1800 fertiggestellt, erschien es noch im selben Jahr im dritten Band der Zeitschrift Athenäum, die Schlegel zusammen mit seinem Bruder August Wilhelm Schlegel (1767-1845-) herausgab. Betrachtet man das Athenäum als die maßgebliche Zeitschrift der Frühromantik - oft auch als Jenaer Romantik bezeichnet —, so stellt das Gespräch über die Poesie am umfassendsten die Auffassungen dar, die diese Bewegung von der Bedeutung der Literatur hatte. Das Gespräch über die Poesie setzt eine Diskussion zwischen zwei Frauen, Amalia und Camilla, sowie fünf Männern, Lothario, Andrea, Ludoviko, Antonio und Marcus in Szene. Diese Konversation bildet den Rahmen für vier Abhandlungen, die jeweils von einem der männlichen Gesprächsteilnehmer dargeboten werden. In der Einleitung wird das Thema der Poesie allgemein entwickelt und die Verbundenheit von Poesie und Natur behauptet, wobei, in einem typischen Umschlag ins Paradoxe, Letztere als »bewußtlose Poesie« definiert wird (KFSA, Bd. 11, S. 285"). Die präzisen Charakterisierungen, die theoretische Ambitioniertheit, die Gelehrtheit und der Geistesreichtum machen das Gespräch über die Poesie zu einem der reichhaltigsten und faszinierendsten Zeugnisse der deutschen Essaytradition. Die Form des Dialogs verweist auf Piatons Symposium, das im Gespräch auch als Vorwegnahme der »Übergänge aus Poesie in Philosophie und aus Philosophie in Poesie« (S.304) zitiert wird, ein Konzept, das von Schlegel hier und andernorts vertreten wird. Sie spielt auch auf die Atmosphäre des ungezwungenen intellektuellen Austauschs an, wie er in den romantischen Salons jener Tage gepflegt wurde. Diese Synthese von klassischer Form und ihrer modernen Entsprechung ist ein erklärtes Ziel von Schlegels Poetik im Gespräch über die Poesie. Immer wieder hat die Forschung bestimmte Personen aus dem Jenaer Kreis in Schlegels Text erkannt: August Wilhelm Schlegel, dessen Frau Caroline, Friedrich Schlegel und seine Geliebte, Dorothea Veit, wohnten in Jena im selben Haus, wo Ludwig und Amalie Tieck, Friedrich von Hardenberg (Novalis), Friedrich Schleiermacher und Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling als Besucher ein- und ausgingen. Doch kann man die fiktiven Figuren im Gespräch über die Poesie nicht einfach mit bestimmten Personen identifizieren. Vielmehr entwirft das Gespräch ein Modell romantischer 6l6 Januar 1800 | Die Entstehung von Literaturgeschichte und Literaturkritik Geselligkeit, als eine Autoreflexion der Gesellschaft innerhalb einer Gesellschaft. Für den Romantiker sind gesellschaftliche Differenzierungen ganz entschieden von jeglicher vorab gesetzten Zuschreibung zu einer Schicht abgekoppelt und werden mehr und mehr zu einer Frage der Bildung, so dass der gesellschaftliche Umgang selbst als eine ästhetische Herausforderung betrachtet wird. Schlegels Gesellschaftsästhetik im Gespräch konfrontiert verschiedene individuelle Perspektiven miteinander und zollt somit der modernenVerfasstheit mit ihrer zersplitternden Individualisierung Tribut. Zugleich versucht er jedoch, in der dichterischen Form des Gesprächs die kontroversen unterschiedlichen Perspektiven zu vereinen, verbindet das Individuelle mit dem Gemeinschaftlichen, das Subjektive mit dem Objektiven in einer neuen Organisationsform, mit der die relative Geschlossenheit der klassischen Form (auf gesellschaftlicher Ebene: der griechischen polis) unter den Bedingungen der modernen Zersplitterung neu erschaffen werden soll. Der erste und der vierte Beitrag zum Gespräch, Andreas »Epochen der Dichtkunst« und Marcus' »Versuch über den verschiedenen Stil in Goethes früheren und späteren Werken«, bilden den historischen Rahmen für die zweite und dritte Abhandlung - Dreh- und Angelpunkt von Schlegels romantischer Poetik -, Ludovikos »Rede über die Mythologie« und Antonios »Brief über den Roman«. In dem Abschnitt »Epochen der Dichtkunst« findet sich Schlegels Behauptung, »die Wissenschaft der Kunst ist ihre Geschichte« (S. 290). Der Beitrag skizziert die Entwicklung der Literatur von der griechischen Antike über das späte Mittelalter - eine Zeit, die für Schlegel und andere Romantiker den Beginn »moderner« Literatur darstellt - bis hin zur Epochenschwelle der zeitgenössischen Literatur. Auf diese Weise wird das Moderne als ein Konzept dargestellt, mit Hilfe dessen die Romantik sich selbst reflektiert und beschreibt: Es geht mit dem Romantischen einher. Die mittelalterliche Dichtung und mehr noch die frühe Literatur der Renaissance in Italien (Dante, Petrarca, Boccaccio, Ariost, Guarini), Spanien (Cervantes) und England (Shakespeare) werden so zu Bürgen für das Moderne oder Romantische. Shakespeare war schon für die Sturm-und-Drang-Bewegung zum Sinnbild für den Bruch mit den klassizistischen Regeln und den Ausbruch dichterischen Genies geworden; und Ariost und Guarini waren im 18. Jahrhundert vielgelesene Dichter. Dante erlangte allein durch August Wilhelm Schlegels Teilübersetzung der Göttlichen Komödie Bekanntheit, die Bedeutung von Cervantes' Don Quijote für die Entwicklung des modernen Romans wurde erstmals von Friedrich Schlegel und dem Jenaer Kreis erkannt. An Boccaccio lernte man den dialogischen, auf Konversation ausgerichteten Rahmen der Novellen erneut schätzen (S.297). Schlegel sah in ihm den Vorläufer literarischer Selbstreflexion, was er in seiner Schrift Nachricht von den poetischen Werken des Johannes Boccaccio (1801) weiter ausführt. Diese Tradition, so behauptet Andrea in seinem Beitrag »Epochen der Dichtkunst«, brach 1616 ab, wurdi Januar 1800 | Die Entstehung von Literaturgeschichte und Literaturkritik 617 aber in Deutschland erneuert durch Winckelmanns Würdigung der historischen Bedeutung von antiker Kunst, durch Goethes literarische Innovationen sowie durch Entwicklungen, mit denen sich der romantische Impetus selbst konturieren lässt: eine neue Verquickung von Philosophie und Poesie, Formen der Übersetzung, die selbst zur Kunst werden, und eine Kritik, die zur Wissenschaft geworden ist - kurz: Literaturkritik, wie Schlegel sie in und mit seinem Gespräch umreißt (S. 303). Ludoviko deutet in seiner »Rede über die Mythologie« das neue Mythologiekonzept des späten 18. Jahrhunderts als mächtige Ästhetik, die die Beziehung zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen, dem einzelnen Werk und seiner Gattung neu definiert. Die Emphase, mit der er die von einer neuen Mythologie beförderte »neue Morgenröte« (S.311) der neuen Poesie erwartet, überrascht zunächst, zieht man in Betracht, dass der Ruf nach einer neuen Mythologie keineswegs etwas Neues war: Schon Herder hatte sich in seinen Briefen über die neuere deutsche Litteratur (1767) gegen die Denunzierung der Mythologie durch die Aufklärung gestellt und ihre poetischen Qualitäten sowie ihren »heuristischen Wert« für eine Erneuerung der poetischen Einbildungskraft neu bewertet. In seinem Aufsatz »Literarischer Sansculottismus« (179s) hatte Goethe die politische Uneinigkeit Deutschlands und die deshalb fehlende Nationalliteratur bemängelt, da es keinen »Mittelpunkt gesellschaftlicher Lebensbildung« gebe. Eine Klage, die sich in Ludovikos eingangs geäußerter Bemerkung wiederfindet, der zeitgenössischen Dichtung fehle der entscheidende »Mittelpunkt«, den die Mythologie für die Antike geliefert hatte (S.312). Für Schlegel muss Mythologie mehr als nur ein Manual für poetische Bilder bieten, wie das bei Herder der Fall war. Im Gespräch bildet das Konzept einer neuen Mythologie die Grundlage der Literaturkritik und einer Theorie literarischer Formen. Da die griechische Literatur die Mythologie zu ihrem »Mittelpunkt« gemacht hatte, waren alle Einzelwerke miteinander verbunden und bildeten »ein einziges, unteilbares, vollendetes Gedicht« (S.313). Da der modernen, individualisierten Literatur ein solcher Mittelpunkt fehlt, muss mit anderen Mitteln eine strukturelle Entsprechung geschaffen werden, die die Rolle der antiken Mythologie übernimmt. Sie kann nur allegorisch auf das verweisen, was nicht darstellbar bleibt -und unaufhörlich dieses Verweisen thematisieren: das organische Ganze eines politisch geordneten Kosmos, was Schlegel hier »ein Werk« nennt. Die neue Mythologie soll, wie Ludoviko es darstellt, »aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das künstlichste aller Kunstwerke sein, denn es soll alle andern umfassen« (S. 312). Die neue Mythologie ist, kurz gesagt, als das intellektuelle und selbstreflexive Streben zu verstehen, das sich um eine sich selbst einbegreifende Beziehung zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen dreht und sich dabei auf die Erkenntnisse und die »dynamischen Paradoxien« der Physik (S. 322) stützt. Althergebrachte Mythologien waren hingegen Ausdruck der »ju- 6]8 Januar 1800 | Die Entstehung von Literaturgeschichte und Literaturkritik gendlkhen Phantasie« (S. 312) und sinnlicher Intuition, mit Hilfe derer die antiken Dichter ihre natürliche und kulturelle Umwelt fassen konnten. Die neue Mythologie wird als »diese reizende Symmetrie von Widersprüchen« gepriesen, die das Abbild eines modernen Ordnungskonzepts zu sein hat, in dem die Komplexität einbegriffen ist. Ihre Methode ist die einer »Beziehung und Verwandlung« (S. 318). Darüber hinaus befasst sich Ludoviko in seiner (schriftlichen) »Rede über die Mythologie« mit dem ihr eigenen medialen Status als gesprochenes Wort und als orale Diskursform. Die »Rede« bringt damit auf den Punkt, wie sich verschiedene Medien um 1800 durchkreuzen, was etwa in dem neu aufgeflammten Interesse der Romantiker für den mündlichen Diskurs in einer Ära expandierender Publikationstätigkeit und zunehmender Lesefähigkeit seinen Ausdruck fand. Das Kernstück von Schlegels Versuch, eine neue, kritische Theorie literarischer Gattungen zu entwerfen, lässt sich im dritten Beitrag zum Gespräch erkennen, Antonios »Brief über den Roman«. Er begreift den Roman nicht als eigenständiges, vom Drama oder dem Gedicht geschiedenes Genre. Er »verabscheue« den Roman als Einzelgattung und fordert vielmehr, dass alle Dichtung »romantisch« sein müsse - den Roman definiert er tautologisch als »ein romantisches Buch« (S. 33s). Schlegels Spiel mit der Bedeutung von »Roman« und »romantisch« bringt die einfacheren Ursprünge des Romans in der Volkskultur in den Blick und spielt auf das »Romantische« der einheimischen Romanzenliteratursprachen (im Gegensatz zur Gelehrtensprache Latein) an, auf die Volkstradition (epischer) Romanzen und auf den Epochenbegriff, mit dem nach der Mitte des 18. Jahrhunderts die mittelalterliche Literatur als der Ausgangspunkt des modernen Romantizismus bezeichnet wurde. Weil sich im Roman die moderne Individualisierung darstellt, wird die Gattung auf paradoxe Weise zur alles umfassenden Form, die alle anderen Genres in sich aufnehmen kann, den philosophischen oder kritischen Diskurs mit poetischer Fiktion, Diegese mit Mimesis kombiniert. Der Roman kann somit ein funktionales Äquivalent zur verlorengegangenen Totalität einer abbildbaren Welt herstellen, wie sie in der klassischen Mythologie gegeben war. Die Aufgabe des Romans ist, so hatte Schlegel bereits in den Notizen seiner Berliner und Jenaer Hefte zur Poesie festgehalten, »die Vermischung und Verflechtung sehr heterogener Bestandtheile und selbst aller Mythologien« (KFSA, Bd.xvi, 8.35-4, Nr-99)- Und im Gespräch lässt er Antonio wiederholen, dass der Roman »gemischt aus Erzählung, Gesang und anderen Formen« (KFSA, Bd. 11, S. 336) sein solle. Romane, die ein »romantisches Buch« in diesem emphatischen Sinn ergäben, müssten noch erscheinen. Ausgehend von einem Disput, den er und Amalia über unterhaltsame Romane hatten, zirkelt Antonio das zeitgenössische Terrain der Romanliteratur ab. Er lehnt Fielding und La Fontaine (die Amalia mag) als handlungsorientierte und belehrende Autoren im Geiste der Aufklärung ab, die nur passive Leser befriedigen, Januar 1800 | Die Entstehung von Literaturgeschichte und Literacurkritik solche, die »nur die Zeit zu töten« beabsichtigen. Er lobt Sterne, Diderot und Jean Paul (die Amelia nicht mag) als Autoren, die narrative »Grotesken« erschaffen, welche Antonio zu den wenigen »romantischen Erzeugnissen unseres unromantischen Zeitalters« (S. 330) zählt. Der Begriff »arabesk«, der abwechselnd mit »grotesk« verwendet wird, um den ausschweifenden Erzählstil dieser Autoren zu charakterisieren, stein für eine ornamentale und antimimetische Darstellung, die angesichts einer ausgeschlossenen oder unmöglichen anderen Darstellungsart angewandt wird. Im Zusammenhang erzählerischer Abschweifung wird das Arabeske zu einer Verfahrensweise (ähnlich wie Gewitztheit, Ironie und Paraba-se), mit der Schlegel die Idee fasst, die Ebene der Darstellung zusammen mit dem Objekt der Darstellung zu repräsentieren und diesen auf zwei Ebenen stattfindenden Prozess zu reflektieren. Abschweifung und diegetische Fragmentation bleiben bei Sterne, Diderot und Jean Paul jedoch zu sehr eine Frage der persönlichen Willkür: der »naiven« Arabeske und der »Naturpoesie«. Im Gegensatz dazu müsste der wahre romantische Roman »Kunstpoesie« sein und »einen sentimentalen Stoff in einer phantastischen Form« (S. 333) repräsentieren. Das Gegensatzpaar naiv/sentimental mag ein leises Echo von Schillers Unterscheidung dieser Begriffe als Signatur antiker und moderner Literatur sein, wie er es in Über Naive und Sentimentalische Dichtung (1796) entwickelt; Schiller hatte den Roman jedoch noch als ein unreines Medium angesehen. Schlegel eignet sich den poetologisch aufgeladenen Begriff »sentimental« an und definiert ihn neu, wobei er darauf achtet, ihn vom Sentimentalismus des 18. Jahrhunderts abzuheben. Durch »Liebe« und »Religion« geprägt - romantischen Konzepten, die auf die Vorstellung von Bindung oder, abstrakter gesprochen, reiner Beziehungsmäßigkeit ausgerichtet sind -, steht das »Sentimentale« nun für eine weitere Art und Weise, wie auf ein nicht darstellbares Absolutes oder Unendliches hingewiesen werden kann. Durch einen solchen Verweis auf das Absolute - sowohl formal (im Phantastischen) als auch inhaltlich (im Sentimentalen) - angereichert, bleibt die erzählerische »Willkür« nicht mehr länger, wie bei Sterne oder Jean Paul, persönlich gebunden, sondern transzendiert die individuelle Subjektivität. »Der Roman«, hat Schlegel in seinen »Fragmenten zur Litteratur und Poesie« notiert, sei »überhaupt die Vereinigung zweier Absoluter, der absoluten Individualität, und der absoluten Universalität« (KFSA, Bd.xvi, S. 121, Nr.436): Ein Plan für die Zusammenführung des Unendlichen und des Endlichen, worin die MetaGattung des selbstreflexiven romantischen Romans am ehesten dem Projekt einer »progressiven Universalpoesie« (KFSA, Bd. 11, S. 182, Nr. n6) entspricht. Sollten solche Romane tatsächlich entstehen, sagt Antonio im Gespräch, so würde die »Theorie des Romans selbst ein Roman sein müssen« (S. 337). Als eine Gattung, die andere Gattungen und Diskurse in sich einschließt, würde der neue romantische Roman sogar seine eigene Literaturtheorie beinhalten. Kurz vor ihrem Erscheinen nimmt die 620 Januar 1800 | Die Entstehung von Literaturgeschichte und Literaturkritik Romantheorie, wie sie im Gespräch vermittelt wird, die Form des Briefes an - ein dialogisches, kommunikatives Medium schriftlicher Ansprache-doch Schlegel sah den Brief als »Form der Gegenwart« und als »äusserst romantisch« an; er nannte den Roman »selbst eine Art von Brief« (KFSA Bd.xviii, S.494, Nr. 222). In einem abschließenden, kürzeren Beitrag mit dem Titel »Versuch über den verschiedenen Stil in Goethes früheren und späteren Werken« hebt Marcus Goethe als den »Stifter und das Haupt einer neuen Poesie« (KFSA, Bd. 11, S. 382) hervor. Er verfolgt Goethes literarische Entwicklung durch drei Phasen hindurch, die in etwa den späteren literaturgeschicht-lichen Einteilungen in Sturm und Drang, Vorklassik und Klassik entsprechen. Während er den Werther (1774) als »veraltet« bezeichnet, findet der Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (179C/96) seinen ganzen Beifall. Zwei Jahre zuvor hatte Schlegel bereits einen Aufsatz Über Goethes Meister (1798) publiziert, in dem er die »Ironie, die über dem ganzen Werke schwebt« hervorgehoben hatte (KFSA, Bd. Ii, S. 137). Er lobt Goethes »Universalität«, stellt ihn mit Cervantes und Shakespeare gleich und wiederholt im Gespräch eine frühere Beurteilung aus den Athenäum-Fragmenten, wo Goethes »rein poetische Poesie« und »vollständigste Poesie der Poesie«, Dantes »transzendentale« und Shakespeares »universale« Dichtung als die große Triade der Modernität bewertet worden waren (S. 206 Nr. 247). Goethe steht demnach für eine Erneuerung der romantischen Dichtung, wie der erste Beitrag über die »Epochen der Dichtkunst« bereits angedeutet hatte. Mehr noch, er ist der Vorbote der romantischen Verfasstheit der Zukunft, indem er einen »antike [n] Geist« »unter der modernen Hülle« darstellt und das Klassische und das Romantische in Einklang (S. 346) bringt - das höchste Ziel der Dichtung, wie Marcus bemerkt und auch die Abschlussdiskussion der Freunde bestätigt. Der Aufsatz »Versuch über den verschiedenen Stil in Goethes früheren und späteren Werken« bezeichnet seinen eigenen literaturkritischen Gehalt als etwas, das »unweigerlich unvollständig« (S. 340) und fragmentarisch bleibt, nimmt aber doch die in den vorangegangenen drei Beiträgen ausgelegten Fäden zur Geschichte der Entwicklung von der Antike zur modernen Literatur, zur notwendigen Erneuerung der antiken Mythologie unter modernen Vorzeichen und zum »progressiven« Charakter des Romans auf. Zwischen versuchter Integration und zugestandener Fragmentierung schwankend, endet Schlegels romantische Poetologie nicht mit einem Bild der Harmonie oder Synthese. Das Gespräch erinnert vielmehr an den mythischen Streit zwischen Marsyas und Apollo, schließt also mit einer modernen These in klassischer Verkleidung, gleichsam als selbstreflexiver Kommentar im Bewusstsein der miteinander im Widerstreit liegenden poetologischen Perspektiven. Damit eine neue romantische Dichtung und Poetologie erscheinen kann, muss sie die Regeln und Horizonte vorhergegangener Deutungen - manchmal einschneidend - ver- [804 I Die Nacht der Phantasie 621 ändern und, um das Ereignis ihres eigenen Entstehens zu kennzeichnen, die Vergangenheit als Vorläufer der gegenwärtigen poetologischen Ideale uminterpretieren oder umcodieren. BIANCA THEISEN : Siehe auch 26. August 1792, April 1796, 10. Juni 1796, 1800, Mai 1804, 1826, 1831 Bibliographie: Friedrich Schlegel, Gespräch über die Poesie, in Kritische Friedrich-Schleoel-Ausgobe [KFSA], Bd. 2, hg. Ernst Behler, Paderborn 1967, S. 284-351. 1804 I Die Nachtwachen des Bonaventura wird anonym in E Dienemanns Journal von neuen deutschen Original-Romanen veröffentlicht Ed Die Nacht der Phantasie Die Nacht gehört zu den Themen, mit denen sich die romantische Phantasie mit Vorliebe beschäftigt hat. Novalis' Hymnen an die Nacht (1800) und E.T.A. Hoffmanns Nachtstücke (1817), darunter »Der Sandmann«, sind weithin bekannte Zeugnisse, die diese Faszination bestätigen. Doch die vielleicht radikalste Erkundung der nächtlichen Phantasie aus dieser Zeit ist der Roman Die Nachtwachen des Bonaventura, der 1804 anonym veröffentlicht und dann so bedeutenden Dichtern wie Jean Paul und Hoffmann zugeschrieben wurde, heute jedoch üblicherweise für das Werk eines gewissen Ernst August Klingemann gehalten wird. Über Klingemanns Leben weiß man allerdings wenig, und seine Autorschaft konnte nie ganz bestätigt werden. Der Roman besteht aus sechzehn »Nachtwachen«, in denen ein Nachtwächter namens Kreuzgang seine nächtlichen Streifzüge, Grübeleien und Visionen erzählt. Diese Reflexionen heute zu lesen bedeutet, mit einer dunklen und gewalttätigen Seite der Phantasie konfrontiert zu werden, deren literarische Darstellung zu den bedeutendsten und provo-kativsten Errungenschaften der Romantik gerechnet werden muss. Ein Jahr nach der Veröffentlichung der Nachtwachen schrieb Hegel einen kurzen Text mit dem Titel Nacht der Welt, der einen Teil seines Manuskriptes für die Jenaer Realphilosophie darstellt. Die negativen Auswirkungen der Phantasie in den Vordergrund stellend — nämlich ihre Neigung zur Auflösung, die die zur Synthese überwiegt -, schreibt er: »Der Mensch ist diese Nacht, dies leere Nichts [...]- In phantasmagorischen Vorstellungen ist es ringsum Nacht; hier schießt dann ein blutiger Kopf, dort eine andere weiße Gestalt plötzlich hervor und verschwinden ebenso. Diese Nacht erblickt man, wenn man dem Menschen ins Auge blickt - in eine Nacht hinein, die furchtbar wird [...]« (Jenaer Realphilosophie, S. 181). Für Hegel ist Entzweiung - in der doppelten Bedeutung von Zwietracht und Trennung - die Quelle allen philosophischen Strebens, während das Erreichen des Absoluten ihr äußerstes Ziel ist. Zugleich ist es Hegels 622 l8o4 I Die Nacht der Phantasie vordringliches Anliegen, dieses Absolute, auf das alle philosophischen Anstrengungen ausgerichtet sind, als einen Urzustand zu kennzeichnen, als die Nacht, die vor dem Licht des Tages existiert. Demnach besteht das Ziel der Philosophie darin, die vom Tag bestimmte Existenz wieder ins nächtliche Nichts zu integrieren. Die Entzweiung, die in diesem Werden entsteht, ist mit dem Absoluten vermengt, dessen Erscheinungsform es ist, Hegel formuliert damit ein beliebtes Thema vieler Dichter der Romantik, vonTieck über Hoffrnann bis zu Arnim und Brentano. In der nächtlichen Phantasie betätigt sich jene Negativität, die in Wahnsinn und Selbstverausgabung ihren Ausdruck findet. Hier zersetzen die zerstörerischen Tendenzen des Geistes, was das Auge am Tage zusammenfügt - selbst wenn Hegels Formulierungen an dieser Stelle bisweilen einen ironischen oder gar parodistischen Ton annehmen. Kreuzgang, Bonaventuras Nachtwächter, benutzt die spielerischen Fluchten, auf die er sich während seiner nächtlichen Rundgänge begibt, um die absolute Leere auszudrücken, aus der alle Phantasie schöpft. Von Beginn an zieht er eine Parallele zwischen sich und dem Dichter, den er von der Straße aus beim Schreiben in seiner schlecht beleuchteten Kammer beobachtet. Und dennoch, obwohl er einräumt, dass sie beide Nachtwächter seien, sieht er sich selbst als einen »satirischen Stentor«, dessen Aufgabe es sei, in die »Träume von Unsterblichkeit« einzubrechen, die sein Bruder im Geiste »da oben in der Luft« ausarbeitet, und die kalte Wirklichkeit, die Heuchelei der Kirche und die politische Zensur anzuprangern, von denen die Welt vergiftet wird. Wie Kreuzgang zu seiner Stellung kam, ist schnell erzählt. Von seiner Mutter in einer Schatztruhe im Kreuzgang einer Kirche ausgesetzt, wurde er von einem Schuster aufgezogen. In seiner Jugend schreibt er politische Pamphlete, derentwegen er ins Gefängnis kommt. Aufgrund der Brillanz, mit der er sich selbst verteidigt, wird er rasch für verrückt erklärt und in eine Irrenanstalt eingewiesen. Dort begegnet er einer jungen Schauspielerin, die einmal, wie auch er, in einer Inszenierung von Hamlet eine Rolle hatte und für die die Realität bedauerlicherweise zur Poesie geworden war. In der Zurückgezogenheit der Anstalt erlebt er eine wild-ekstatische Liebesbeziehung mit ihr, bis seine Ophelia bei der Totgeburt ihres Kindes stirbt. Wieder in die Welt der Gesunden zurückgekehrt, wird Kreuzgang Direktor eines Puppentheaters, doch wird sein Stück Judith und Holofernes durch eine Polizeirazzia unterbrochen, und die Marionetten werden konfisziert, weil in der öffendichen Darstellung einer Enthauptung revolutionäres Potential stecke. Zuletzt nimmt er den soeben frei gewordenen Posten eines Nachtwächters an, weil ihm klar geworden ist, dass er so seinen wilden und unschicklichen Phantasien im Schutze der Dunkelheit freien Lauf lassen kann. Angefangen mit der ersten Nachtwache erscheint die Nacht als gefährlicher und zugleich produktiver Schauplatz, an dem sich Grenzüberschreitung, Tod, Wahnsinn und Dichtung vereinen. Für sich selbst wählt Kreuzgang die Rolle des shakespeareschen Narren und des me- 1804 I Die Nacht der Phantasie 623 lancholischen, Wahnsinn vortäuschenden Hamlet und entblößt so das grauenvolle Nichts, das den Kern der Welt ausmacht. Er tut dies, indem er die Masken herunterreißt, die es tagsüber routiniert verhüllen. Unter seiner zersetzenden Geisteshaltung verwandelt sich die Nacht in ein Szenario, in dem Täuschung und Heuchelei als Mittel schützender Verstellung anerkannt sind und wo die Unterscheidung zwischen schrecklicher Erkenntnis und fiebriger Halluzination verschwimmt. Kreuzgangs nächtlicher Blick durchschaut die Maske religiöser Gläubigkeit, hinter der sich der Teufel verbirgt und um die Seele eines Toten kämpft. Er erkennt in dem Richter, der nächtens Todesurteile unterzeichnet, eine mechanisch handelnde Marionette und einen gehörnten Ehemann, den er auffliegen lassen muss. Auf dem Sockel des Denkmals der Justitia stehend, bläst Kreuzgang ins Horn und ruft so den Hüter des Gesetzes an den Ort des Geschehens, wo dessen Frau Ehebruch begeht - ein Streich, der das Gesetz ebenso als fiktives Konstrukt bloßstellt wie zuvor die religiöse Autorität. Mit Hilfe des shakespeareschen Bildes von der Welt als Bühne behauptet er, dass alle Erscheinungen nichts anderes als Phantasmagorien und alle Ereignisse zufällig seien. Er legt dar, dass sich hinter den vielen Masken, die die Menschen tragen, kein einheitliches »Ich« verbirgt und dass das Individuum in einem Zustand völligen Nichts ganz und gar auf sich allein gestellt ist. Indem er sich als derjenige darstellt, der die bei Tageslicht praktizierte Falschheit der Gesetze und Konventionen durchschaut, sieht Kreuzgang, der umherwandernde Narr, seine im Zeichen der Narrenkappe vollbrachten Taten als Akte ethischen Handelns. Seme irre Inszenierung des Abweichlertums soll provozieren und die Gemüter erregen, soll sein Publikum aufbringen, weil, wie er feststellt: »sonst nichts mehr anschlägt, und die Menschheit im Ganzen so schlaff und boshaft geworden ist, daß sie's ordentlicherweise mechanisch betreibt, und ihre heimlichen Sünden aus bloßer Abspannung vollführt« (S. 135). Durch die gefährliche Überdehnung seiner nächtlichen Phantasie zeigt er, dass das Leben nichts ist als »nur das Schellenkleid, das das Nichts umgehängt hat, um damit zu klingeln und es zulezt grimmig zu zerreißen und von sich zu schleudern« (S. 141). Die Rolle des Narren anzunehmen erscheint so als einzige aufrichtige Haltung, da es letztlich hinter den Masken, die die Illusion einer einheitlichen symbolischen Gemeinschaft aufrechterhalten, nichts Substantielles gibt. Das Entfernen der diversen Masken kann als etwas gelesen werden, das im Geist der Aufklärung geschieht, die der Menschheit ein Bewusstsein für ihre im Kern leere Gesellschaftsordnung zu vermitteln suchte. Doch nur der Narr, als Philosoph der Nacht, hat die Stärke, den Blick ins Nichts auszuhalten. Denen, die sich dem Gesellschaftskodex verpflichtet fühlen, muss schon der leiseste Gedanke, weltliche Phänomene könnten reine Phantasmagorien sein, unerträglich vorkommen. Doch wenn Kreuzgang auch von der Absurdität alles Rationalen überzeugt sein mag, so scheint ihm seine eigene Vorstellung, die in den 624 i8o4 I Die Nacht der Phantasie 1804 I Die Nacht der Phantasie 62c nächtlichen Phantasmagorien die einzige den Menschen zur Verfügung stehende Realität erkennt, »vernünftiger [...] als die in Systemen dedu-cirte Vernunft« (S. 157). In diesem Sinn will seine Inszenierung des Andersseins nicht nur Narrheit über Weisheit stellen, Irrtum über Wahrheit oder den Tod über das Leben. Viel mehr noch, seine Behauptung, alle äußeren Erscheinungen - einschließlich des scheinbar authentischen Zeichens der Wahrheit: des menschlichen Schädels - seien Masken, untergräbt genau die Gegenpole, die den rationalen Diskurs in Gang halten. Indem er es aller ontologischen Bedeutung beraubt, werden abwertende Begriffe wie Torheit, Irrtum und Tod zum einzig gültigen Vokabular, mit dem das Absolute in seinen weltlichen Erscheinungsformen bezeichnet werden kann. Diese >Nacht des Selbst<, die Bonaventuras Nachtwächter bei seinen Wanderungen inszeniert, erinnert an die Art und Weise, wie die westliche Mythopoetik seit der Antike die Nacht allegorisiert hat. Die Gottheit Nyx, eine bedeutende kosmogonische Figur, wurde selbst von Zeus gefürchtet und respektiert. Hesiod beschreibt, wie sie aus dem Chaos geboren wird und dann selbst die Himmel und den Tag gebiert, und auch die Orphischen Theogonien berichten von ihrem immensen Einfluss auf die Schöpfung. In diesen Hymnen wird erzählt, wie Nyx in einer Höhle lebte und die jüngeren Göttergenerationen anwies, wie die Welt zu erschaffen sei. Durch ihre Orakelkräfte war ihr die Macht auch lange, nachdem sie das Szepter an ihren Sohn Uranus weitergereicht hatte, sicher. Und doch wurde diese Gottheit von Anfang an als ambivalente Ahnenfigur wahrgenommen. Nicht nur der Schlaf, der Tod, der Traum und die erotische Ekstase sind ihre Kinder, Vergnügen, Freundschaft und Mitleid, sondern auch das Altern, das Schicksal, Mord und Hader, Rache, Schmerz und Pein. So äußert Karl Philipp Moritz in seiner Götterlehre von 1791 die Vermutung, dass die mysteriöse Dunkelheit, die Nyx verkörpert, allegorischer Ausdruck der Tatsache sei, dass es etwas gibt, wovor selbst die Götter Ehrfurcht haben, weil es weit über all das hinausgeht, was durch die Gegenüberstellung von göttlicher und sterblicher Existenz erfasst werden kann. Sie repräsentiert das nicht Darstellbare, das nur als außerhalb und jenseits der Welt der Differenzierungen, beginnend mit der des Lebens vom Chaos, gedacht werden kann. Alles, was aus diesem kryptischen Raum kommt, sei es die Macht des Möglichen und des Schicksals oder aber die Macht einer zerstörerischen Vorstellungskraft, bezieht sich auf die zwei Aspekte der Nacht: den ursprünglichen, die absolute Negativität, die sich dem Blick der Menschen entzieht, und den nächtlichen, die Phantasmagorien, die eine von außen kommende Einschätzung dieses Abgrundes ermöglichen. Die Reise in die Nacht, wie sie in den Nachtwachen des Bonaventura durchgespielt wird, ist jedoch fern jeder mystischen Erfahrung göttlicher Nähe, wenn die Selbstverausgabung zu einem Augenblick echter Selbsterkenntnis führt. In den phantasmagorischen Erscheinungen, die Kreuzgang im Laufe seiner Nachtwachen präsentiert, erscheint das Nächtliche als das monströse Manko eines jeden Vernunftsystems. Tatsächlich erweisen sich die Synthesen des sinnlich Manigfaltigen und die ursprüngliche Macht der Zerstörung in den Nachtwachen als beiden Seiten der durchschlagenden Macht der Phantasie. Während Kreuzgang durch die Nacht geht, vollzieht er im Geiste das nach, was Hegel >die Nacht der Welt< nennt, die gewaltsame Zerstückelung und Zerstreuung synthetischer Wirklichkeit in geisterhafte Erscheinungen. Doch erschafft er dabei eine Überfülle synthetischer Rekonstruktionen und treibt die negativen, zerrüttenden Aspekte der Phantasie auf die Spitze. In der letzten Nachtwache beschließt Kreuzgang den Friedhof zur Bühne seines nächtlichen Theaters zu machen, mit dem Tod als Direktor. Er wird dabei nicht nur von der Dichterfigur begleitet, die den ganzen Text hindurch eine Art Bruder im Geiste darstellt, sondern auch von einer Zigeunerin, die behauptet, seine Mutter zu sein. Schließlich kommt er, am Grab eines Alchemisten, am steinernen Bildnis seines Vaters vorbei. In einer »bewegenden Familienszene« umarmt er die »dunkle Zigeunerin und den steinernen Vater« und lässt sich die Geschichte seiner Geburt erzählen. Einmal habe an Heiligabend, so berichtet die Mutter, der Alchemist beschlossen, den Teufel heraufzubeschwören. In genau dem Moment, als der Teufel erschien, sei ihr Sohn geboren worden. Das Angebot des Teufels, die Rolle des Taufpaten zu übernehmen, ausschlagend, habe die Mutter, die auch nicht willens war, das Kind in christliche Hände zu geben, es stattdessen dem Schatzsucher übergeben, der es dann in seiner Schusterwerkstatt aufgezogen habe. Im Verlauf der Erzählung öffnen die Anwesenden mit Hilfe einer Wahrsagerin das Grab von Kreuzgangs Vater und entdecken zu ihrem großen Erstaunen, dass der alte Geisterbeschwörer dort noch immer unversehrt auf dem Kissen liegt. Es ist, als hätte er, im »unteridischen Museum des Todes« eingelagert, erfolgreich dem Nichts getrotzt. Als Kreuzgang seinem Vater in die Augen schaut, erblickt er eine Nacht, die so grauenvoll ist, dass dieser Erscheinung des absoluten Negativen selbst eine noch so authentische Wiedergabe nicht gerecht werden könnte. Als er den Leichnam seines Vaters berührt, zerfällt dieser zu Asche, und es bleibt nur ein kleiner Haufen Staub auf der Erde zurück. Indem er eine Handvoll dieses Staubs in die Luft streut, beendet Kreuzgang seine Erzählung und setzt so das Rätsel in Szene, um das seine gesamte Reise in die Nacht sich drehte. Was unwiderruflich bleibt, ist »Nichts!« ELISABETH BRONFEN : Siehe auch 1782, 10, Juni 1796, 1800, 1818, Winter 1828 Bibliographie: August Klingemann, Die Nüchtwcichen des Boriorentura, hg. von Jost Schillemeit, Frankfurt am Main 1974. - Georg Wilhelm Friedrich Hegel, »Jenaer Realphilosophie«, in: Frühe philosophische Systeme, Frankfurt am Main 1974. - Karl Philipp Moritz, »Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten«, in Reisen. Schriften zur Kunst und Mythologie, Bd. 2, hg. Horst Günther, Frankfurt am Main 1981. 626 [8. Mai 1804 I Subjekt und Objekt der Mythologie 18. Mai 1804 ( Napoleon Bonaparte lässt sich zum Kaiser ausrufen Subjekt und Objekt der Mythologie Christa Wolfs Erzählung Kein Ort. Nirgends (1979) handelt von einem imaginären Treffen der Karoline von Günderrode (1780-1806) mit Heinrich von Kleist (1777-1811). Die fiktive Begegnung der beiden Schriftsteller findet im Juni 1804 auf einem Landsitz in Rahmen einer kleinen Nachmittagsgesellschaft statt. Zum Kontrapunkt ihres zögerlichen, tief bedeutsamen Gesprächs und ihrer dunklen, geheimen Gedanken wird die Ähnlichkeit ihrer literarischen Biographien, ihr Außenseitertum unter den Zeitgenossen der Romantik. Der von Christa Wolf gewählte Titel betont das beiden gemeinsame Gefühl, mit ihrer literarischen Berufung in der Geschichte und in der Gesellschaft am falschen Platz zu sein, einer Berufung, die nicht frei ausgelebt werden kann und im Fall beider Autoren innerhalb weniger Jahre ein frühes Ende im Selbstmord finden wird. Christa Wolf hat mit ihrer Erzählung nicht nur das Interesse an Günderrodes Werk wiederbelebt, sondern auch ein eigenartiges Rezeptionsmuster. Ihr intensiv imaginiertes Günderrode-cum-Kleist führt Fiktionen zusammen, die aus Werken von Günderrodes Zeitgenossen stammen. Günderrode war das Vorbild für die Titelfigur von Achim von Arnims Novelle Melück Maria Blainville, die Hausprophetin aus Arabien (1812) und für den Briefroman Die Günderrode (1840) von Bettina von Arnim. Auch die enigmatische Figur der Ottilie in Goethes Die Wahlverwandtschaften (1809) könnte auf sie zurückgehen. Wenn Günderrodes nachhaltige Attraktivität als literarische Figur auch bis in die jüngste Zeit hinein die kritische Würdigung ihres eigenen Werkes überschattet haben mag, so hat sie ihrer persönlichen Geschichte doch die dauerhafte Aura eines Mythos verliehen. Im Laufe ihrer kurzen literarischen Laufbahn hat Günderrode ihre Identität als Autorin selbst erschaffen. Ihre erste Sammlung, Gedichte und Phantasien (1804), erschien unter dem männlichen Pseudonym Tian, ebenso ihr zweiter Band Poetische Fragmente (1805) sowie weitere Prosa und dramatische Werke. Ein dritter Band mit dem Titel Melde, der nach Günderrodes Tod 1806 vom Druck zurückgezogen und erst ein ganzes Jahrhundert später erstmals veröffentlicht wurde, sollte unter dem Autorennamen Ion erscheinen. Während der Gebrauch derartiger Pseudonyme damals gang und gäbe war, spiegelte sich im Fall der Günderrode eine grundlegende Vielschichtigkeit ihres Leben und Arbeitens darin wider: die immer wieder auf dem Prüfstein stehende Frage ihrer gesellschaftlichen Rolle als Frau, die auffällige Androgynität ihrer Protagonisten und die zu ihrer Zeit herrschende Beschränkung von Schriftstellerinnen auf bestimmte festgelegte literarische Genres. Die anonyme Besprechung, die einen Monat nach Erscheinen der Gedichte und Phantasien Günderrodes wahre Identität enthüllte, schloss mit dem gut gemeinten Rat an die Dichterin, nicht weiter in den »Tiefen einer finstern Mystik« zu versin- i8.Mai 1804 j Subjekt und Objekt der Mythologie 627 ken, sondern in der »ihr eignen Sphäre des innigen Gefühls, der schönen und zarten Darstellung« zu verbleiben, wie es sich für eine Frau geziemt (SW, Bd.in, S.62). Die vom Rezensenten immer wieder erwähnte »Mystik« war eine Reaktion auf die eklektische Bildlichkeit und Form der Sammlung, ihr mythisch-phantastisches flair und ihre fatalistischen plots, was er auf den Einfluss der »Modepoesie« der romantischen Schule zurückführte. Diese Abwertung verkannte ganz und gar Günderrodes Einbettung und zugleich ihre idiosynkratische Stellung innerhalb der kulturellen Tendenzen um die Jahrhundertwende, insbesondere was die Quellen ihrer »Mystik« angeht - eines geradezu einzigartigen Rückgriffs auf Mythen und Legenden. Günderrode entwickelte ein poetisches Verfahren, das bei ihren Zeitgenossen die Identifikation von Dichtung mit dem Mythos erneuerte und zugleich den geschichtlichen Stellenwert des Mythischen auf ganz eigene Weise auslegte. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts ging das wissenschaftliche und archivarische Interesse, das zu Kompendien antiker Mythologien führte, mit einem neuartigen anthropologischen Untersuchungansatz einher, der Mythen als Ausdruck der menschlichen Phantasie verstand. J. G. Herder wurde ein einflussreicher Vertreter dieser beiden Tendenzen. Die von ihm gesammelten Volkslieder und Paramythen entstanden in den späten 1760er Jahren zusammen mit einer Reihe historio-poetischer Schriften, die Mythen als den Urgrund der Dichtung definierten und die Mythologie als inspirierende Quelle für moderne Dichter empfahlen. Diese zweifache Nutzung des poetischen Potentials im Mythos findet sich auch bei Karl Philipp Moritz, der ein Buch über Ägyptische Mythologie herausgab, ein von einer breiten Leserschaft geschätztes Kompendium griechischer und römischer Mythen verfasste und zugleich in seinem Roman Andreas Hartknopf (1786) eine Allegorie des Mythos als Träger der poetischen Inspiration anbot. Eine noch engere Zusammenführung von Dichtung und Mythos ging mit der Tendenz zum sogenannten Synkretismus einher, bei dem die Romantiker versuchten, die unterschiedlichen Rezeptionsweisen des Mythischen zu vereinen. In seinem Gespräch über die Poesie (1800) erklärte Friedrich Schlegel, dass Mythologie und Poesie »eins und unzertrennlich« seien und, der zentralen Stellung nach zu schließen, die beide einst in der antiken Kultur innehatten, fähig zur Revolutionierung der gesellschaftlichen Ordnung und zur Verschmelzung aller Künste und Wissenschaften. Wie auch immer die radikalen Forderungen lauteten, die »neue« Mythologie der Romantiker bewirkte nicht mehr und nicht weniger als eine Schwerpunktverlagerung in der Sehnsucht nach Kontinuität, wie sie sich in früheren mythographischen Diskursen geäußert hatte: Während die Künstler des Sturm und Drang gehofft hatten, im Mythos die erstrebte Authentizität poetischen Sprechens zu erzielen, und die fortdauernde Arbeit an Lexika und volkstümlichen Sammelwerken die Integrität die verschiedenen kulturellen Traditionen erhalten sollte, 628 18. Mai 1804 I Subjekt und Objekt der Mythologie 18. Mai 1804 I Subjekt und Objekt der Mythologie 629 arbeiteten die Romantiker an einer Theorie der Erneuerung der kulturellen Funktion des Mythos. Günderrodes Rückgriff auf Mythen, die zur Grundlage ihrer Dichtung werden, trägt Kennzeichen sowohl der archivarischen als auch der anthropologischen Rezeption des Mythos. Die weitreichende Aufmerksamkeit, die sie verschiedensten mythologischen Traditionen schenkte, hat ihrem CEuvre eine enzyklopädische Note verliehen, die Clemens Brentano - auf ihre erste Sammlung Bezug nehmend - als »gelehrten Anstrich« kritisierte (SW, Bd. I n, S. 63). Doch indem sie in der Folge wie ein Anthropologe historische Varianten auf einen zugrunde liegenden Kern zurückführte, destillierte sie aus der Vielfalt der Traditionen eine besondere Idee heraus: das Versprechen der Unsterblichkeit, das zum Zentrum ihrer Anverwandlungen von Geschichten über Götter, Helden und Liebende wurde. Auf diese Weise konnte sie die konventionelle Auffassung aufrechterhalten, Dichtung bedeute Bewahrung heroischer Taten in Liedform. In Günderrodes poetischen Fiktionen wird Ariadne zu Tode gebracht und in eine Göttin verwandelt; ein ängstlicher Mohammed hat die prophetische Eingebung, dass seine Taten unsterblich sein werden; die keltische Darthula empfiehlt sich als Bardin und stirbt kurz darauf im Kampf; und der Tod der Skandinavierin Mora ist nur durch die Barden, die ihn besingen, bezeugt. Wenn Günderrodes Stoffen ein Hang zu gewaltvollem Tod und Selbstaufopferung auch eigen ist, so verharren sie dort doch nicht. »Der Tod ist ein chemischer Prozeß«, bemerkt einer der Charaktere mit aller Autorität, »eine Scheidung der Kräfte, aber kein Vernichter« (SW, Bd.l, S. 33). Es ist der Durchgang durch den Tod, die Relativierung oder Transzendierung der Sterblichkeit und nicht ein endgültiges Ende, das Günderrode immer wieder dichterisch entwirft. Der Rekurs auf traditionelle Stoffe und die konventionelle Sicht von Dichtung als einer unsterblich machenden Niederschrift heroischer Großtaten stehen im Gegensatz zu der entschieden modernen Herangehensweise, die sich im Titelwort »Gedichte« ausdrückt: Es kennzeichnet nicht nur die poetischen Texte, die mehr als die Hälfte des Bandes ausmachen, sondern verkündet auch einen experimentellen, lyrischen Stil, der sowohl für die dramatischen wie für die Prosatexte bestimmend ist. So werden die heroischen Szenarien, um die sich die Dichterin so eindringlich bemüht, nicht in den heroischen Formen von Epos und Tragödie dargestellt. Der damals sowohl für nicht belletristische wie auch für literarische Publikationen modische Titel »Phantasien« - wie ihn auch Wilhelm Heinrich Wackeroders Phantasien über die Kunst (1799) und E.T.A. Hoffmanns literarisches Debüt Phantasiestücke in Callots Manier (1814/15) benutzt — charakterisiert eine Sammlung von Dichtungen, deren Zusammengehörigkeit nicht durch formale Mittel, sondern durch den idio-synkratischen Standpunkt des Autors geschaffen wurde. In Günterrodes Fall beruht diese Idiosynkrasie vor allem auf formalen Eingriffen, der Zergliederung und Neugestaltung übernommener Geschichten - im Blick auf die Unsterblichkeit. Die Art, wie sie mit den Mythen umgeht, entspricht der Tendenz der Romantiker zur Fragmentierung; der Begriff »Fragment« ist zwei Texten der Sammlung zugeschrieben und steht als Titel über der darauffolgenden zweiten Sammlung. Diese Vorgehensweise ergab ein eklektisch aus verschiedenen mythologischen Traditionen -der griechischen, nordischen, ägyptischen, persischen, indischen und anderen - zusammengesammeltes Manual von Fragmenten. Die Überzeugung, dass Lieder eine Form der Konservierung sind, beherrscht die Schriften Günderrodes und erhält eine entschieden moderne Wendung dadurch, dass sie einem philosophischen Grundsatz anhängt, der in Novalis' Schriften und Schellings Philosophie von der Natur als grundlegendem Gegensatz zur Stasis formuliert ist. Indem sie sich deren Terminologie von Entwicklung, unbegrenzter Selbstverwirklichung und notwendiger Verwandlung annähert, bestimmt Günderrode die dichterische Unsterblichmachung als einen dynamischen, geschichtlichen Prozess. In den philosophisch-didaktischen Texten in Gedichte und Phantasien nimmt sie diesen Gedanken wieder auf und betont, dass die Vergangenheit in der Gegenwart und Zukunft lebendig fortlebt und kein übernommenes und der nostalgischen Moderne anvertrautes Artefakt ist. Dementsprechend wandelt sich die Aufgabe der Dichtung von alleiniger Konservierung hin zu einer Kultivierung des Bewusstseins historischer Kontinuität; unterstrichen dadurch, dass diese Kontinuität an sich einen utopischen Charakter hat. Unsterblich zu sein - Anspruch und Wunsch so vieler Figuren der Günderrode - bedeutet, sich in die unendliche Bewegung der Geschichte einzuklinken, Günderrode hat diesen Grundgedanken in dem Dramolett Immorttilita allegorisiert und in dem Gedicht Des Wandrers Niederfahrt eine elliptische Neubearbeitung der epischen Reise in die Unterwelt aufgenommen. Sie trennt die traditionell besondere Rolle des Helden, die Aufhebung seiner Sterblichkeit, von jeglicher Vorstellung transzendenter Unwandelbarkeit. Die Unsterblichkeitserfahrung ihres Wanderers ist ausdrücklich als eine Lehre dauerhaften »Werdens« in der Oberwelt formuliert, der Sphäre, in der sich menschliches Handeln im zeitlichen Ablauf abspielt (SW, Bd.l, S. 73). Günderrodes Annäherung an die Mythen verbindet die Unsterblichkeit mit Wandelbarkeit, was sie in einem kaleidoskopischen, poetischen Arrangement festhält. Indem sie Mythen weder nur als Artefakte eines vergangenen Stadiums menschlicher Kultur noch als das (romantische) Versprechen einer noch nicht realisierten Zukunft versteht, verschaffen ihre Dichtungen dem Mythos eine Rolle in der Gegenwart. Im frühen 19. Jahrhundert traf die Auffassung, dass der Mythos in die Geschichtsschreibung hineinspielt, auf wachere Ohren als heute. Für Günderrode und viele ihrer Zeitgenossen war Napoleon sowohl die Verkörperung einer heroischen Vergangenheit als auch der Herold einer politischen Utopie. Die Entstehung ihrer beiden Gedichte über Napoleon fiel mit politischen Ereignissen zusammen, die für seine Karriere und 630 l8. Mai 1804 I Subjekt und Objekt der Mythologie 18. Mai 1804 J Subjekt und Objekt der Mythologie 631 die öffentliche Meinung bestimmend waren. Das unveröffentlichte Gedicht »Buonaparte in Egypten« datiert vom Dezember 1799, nachdem sich Napoleon einen Monat zuvor, nach dem Staatsstreich, zum ersten Konsul der französischen Republik gemacht hatte. Den General mit hyperbolischen Ausdrücken preisend, wie es seinerzeit üblich war, erhebt Günderrode seinen Sieg in Italien 1797 und die Expedition in Ägypten 1798/99 zu modellhaften Situationen, an denen sich seine mythische Erhabenheit zeigt: [... ] Wer ruft der Vorwelt Tage zurück? wer reiset Hüll' und Ketten vom Bilde Jener Isis, die der Vergangenheit Räthsel Dasteht, ein Denkmal vergessener Weisheit der Urwelt? Bonaparte ist's, Italiens Erobrer, Frankreichs Liebling, die Säule der würdigeren Freiheit Rufet er der Vorzeit Begeisterung zurüke Zeiget dem erschlaften Jahrhunderte römische Kraft. (SW, Bd.i, S.36) Napoleon wird hier als der Held eines monumentalen geschichtlichen Vermächtnisses dargestellt, als Retter revolutionärer und römisch-republikanischer Ideale und Erlöser des antiken kulturellen Erbes Ägyptens. Günderrodes Zusammenschau des alten Ägypten mit der römischen Republik und dem modernen Frankreich hatte eine materielle Entsprechung in Napoleons Wiederbelebung der imperialen augustäischen Tradition, architektonische Güter Ägyptens als Kriegsbeute zu fordern. In den Zeilen, die Napoleons Macht preisen, wird ein Bild heraufbeschworen - die antike »Säule«, die einer »erschlaften« Gegenwart gezeigt wird -, das bald dauerhaft mit dieser militärischen Kampagne assoziiert werden sollte. Die Errichtung des Obelisken aus dem Tempel von Luxor auf der Place de la Concorde, heiß begehrt von Napoleons erster Mini-Armee von Ägyptologen, aber erst drei Dekaden später von der nach-napoleonischen Regierung verwirklicht, wurde zum markanten Denkmal Napoleonischer Ruhmestaten in Krieg und Wissenschaft. In seiner Rolle, die er als Förderer der Ägyptologie und durch das Sammeln und den Erhalt von Kulturgütern innehatte, ähnelte Napoleon den Volkskundlern und Mythologen seiner Zeit. Und indem er sich selbst als Mythos kultivierte, schien er auch den Ruf der Romantiker nach der Revolutionierung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung mittels einer selbst erschaffenen Mythologie zu befriedigen. Der Nimbus des Legendären, der Napoleon ab der ägyptischen Expedition zu umgeben begann und der von Journalisten in ganz Europa noch verstärkt wurde, wird in Günderrodes zweitem Gedicht, das etwas indirekter mit »Der Franke in Egypten« betitelt ist, nochmals zum Thema. Hier spricht Napoleon selbst. Er gibt einen kurzen Überblick über seine Erfolge und listet deren Defizite auf. Ins Gewühl der Schlachten, Warf ich durstig mich, Aber Ruhm und Schlachten, Ließen traurig mich: Der Lorbeer der die Stirne schmückt, Er ist's nicht immer der beglückt. Da reichte mir die Wissenschaft die Hand, Und folgsam gieng ich nun an ihrer Seite, Ich stieg hinab in Pyramiden Nacht, Ich inas des Möris See, des alten Memphis Größe Doch ach! die alte Sehnsucht ist erwacht, Aufs neue fühl ich suchend ihre Macht. Was geb ich ihr? Wohin soll ich mich stürzen? (SW, Bd.i, S.81 f.) Militärischer Ruhm und wissenschaftlicher Eifer hinterlassen einen hartnäckigen Rest Sehnsucht. Statt zuversichtlich als Retter und Erbe durch das »Fabelhaftefs] Land« zu gehen, wird Napoleon von einem Mädchen, selbst einer heimatlosen Europäerin, huldvoll als »Fremdling« angesprochen. Das Gedicht zeigt Napoleon zutiefst entfremdet von einer Heldenidentität, wie sie in Günderrodes früherem Gedicht »Buonaparte in Ägypten« erschaffen worden war. Dadurch, dass seine Rolle zweifelhaft bleibt, nahm dieses spätere Gedicht die öffentliche Wahrnehmung Napoleons vorweg, während das erste Gedicht auf die öffentliche Wahrnehmung reagiert hatte. Als letzter Text von Gedichte und Phantasien wurde das Gedicht im Mai 1804 veröffentlicht, einen Monat bevor Konsul Napoleon zum Kaiser erklärt wurde. Der Wandel von der Republik zum Kaiserreich bewirkte eine Umwertung Napoleons: vom Helden zum Tyrannen. Zu den vielen enttäuschten Bewunderern gehörte Beethoven, der die Widmung an Napoleon aus dem Notenblatt der Eroica herausriss. Der Ton von Günderrodes Gedicht ist eher von vorsichtiger Zurückhaltung als von Enttäuschung gekennzeichnet. Durch die Uneindeutigkeit drückt es aus, was die anderen Texte in Gedichte und Phantasien annehmen oder garantieren: das Versprechen von Unsterblichkeit. Die Großtaten, die seinen Ruhm sichern sollten, werden für untauglich erklärt, während die Liebe zur neuen Grundlage für Napoleons Anspruch auf Heldenhaftig-keit erhoben wird. »Liebe muss zu Heldenschatten führen«, erklärt er, der nun das Mädchen, dessen Stimme dann aus dem Gedicht verschwindet, für sich gewinnen will (SW, Bd.i, S. 84). Die Liebe erscheint hier nicht wie sonst bei Günderrode als das Ideal, das die Unsterblichkeit innerhalb sterblicher Begrenztheit erfahrbar macht und in ihren späteren Werken zunehmend einen mystischen, transzendierenden Charakter annimmt. Stattdessen wird Napoleon einfach einer Romanze überlassen und seine Eroberung trivialisiert. Die von Günderrode an ihrer eigenen früheren Mythologisierung geübte Kritik ist der Beginn einer vorsichtigen Haltung in ihrem Werk. Wenn auch Günderrode weiterhin das Unsterblichwerden und die Verwandlung einer historischen Person in einen 632 Sommer [80c | Homer unter Dichtern und Philologen mythischen Helden inszenierte, bezog sie sich doch nie wieder direkt auf eine zeitgenössische Person oder eine gegenwärtige politische Entwicklung. Man könnte sogar sagen, dass sich diese Form der Selbstkritik auch - auf ironische Weise - auf die Mythenbildung um ihre eigene Geschichte erstreckte. Kritiker und Literaturgeschichtler haben ihr Leben gerne auf das Romanzenhafte beschränkt - Gimderrodes dramatischen Selbstmord nach der Auflösung ihrer Beziehung mit Friedrich Creuzer, einem verheirateten Professor für Klassische Literatur in Heidelberg, dessen Werk einen wesentlichen Beitrag zum Aufbau der komparativen Mythologie als Fachgebiet an der deutschen Universität des 19. Jahrhunderts leistete - und ihr die Anerkennung für ihre literarische Errungenschaft, poetische Leistung mit einem fortgesetzten Verlangen nach Unsterblichkeit zu verbinden, versagt. Wie sie in einem unveröffentlichten Fragment schrieb, das sich wie ein Credo ihrer philosophischen Ansichten und poetischen Ambitionen liest: » [...] ich arbeite doch durch den Einflus den ich auf manches Gemüth habe, für das Ewige.« (SW, Bd.i, S.437) KELLY BARRY : Siehe auch 1782, 1784, 1800, Januar 1800, 1806, 1968 Bibliographie: Karoline von Günderrode, Sämtliche Werke und ausgewählte Studien [SW], 3 Bde., hg. von Walter Morgenthaler, Frankfurt am Main 1990. - Friedrich Schlegel, Schriften zur Literatur, hg. von Wolfdietrich Rasch, München 1972. - Christa Wolf, Kein Ort. Nirgends, München 2000. - Hans Blumenberg, Arbeil am Mythos, Frankfurt am Main 1979. - Gerhart von Graevenitz, Mythos, Stuttgart 1987. Sommer 1805 | Goethe verfolgt Unter einem Vorhang verborgen Friedrich August Wolfs Vorlesung an der Universität Halle Homer unter Dichtern und Philologen Johann Heinrich Voss (1751-1826) besuchte am 5. Juni 1794 Johann Gottfried Herder in dessen Wohnung in Weimar. Sie rauchten Pfeife in seinem Arbeitszimmer und wurden dann zum Tee mit Wieland, Goethe und drei weiteren angesehenen Weimarer Persönlichkeiten gebeten. Aufgeregt befragten die Gäste Voss nach seinen Homer-Studien, insbesondere über die Geographie der Odyssee. Danach trug Voss unter begeistertem Applaus aus seiner Übersetzung des Epos vor. Seit Friedrich August Wolf (1759-1824) kurz zuvor bei Herder zu Besuch gewesen war, hatten Goethe und die anderen Letzteren mit Fragen zu Wolfs Ansichten über Homer bestürmt, von denen ihnen nur vage, aber faszinierende Gerüchte zu Ohren gekommen waren. Im darauffolgenden Winter traf sich die Freitagsgesellschaft, eine Gruppe von etwa einem Dutzend Weimarer Intellektuellen - den oben erwähnten und anderen, darunter Schiller und Wilhelm von Humboldt (1767-1835) - einmal wöchentlich in Goethes Sommer 180c | Homer unter Dichtern und Philologen 633 Haus, wo Goethe persönlich die Hins in Voss scher Übersetzung aus einem (1793 gedruckten) Buch vorlas und alle Teilnehmer in einer leidenschaftlichen Debatte die Bedeutung und Schönheit sowohl des griechischen wie auch des deutschen Textes diskutierten. In den 1790er Jahren stand Homer - und in geringerem Maß auch die übrige griechische Literatur, als deren Quelle und zugleich auch Höhepunkt er galt - im Mittelpunkt des Interesses im deutschen Kulturleben, das in seinen unterschiedlichen Ausprägungen um ihn kreiste. Wieland blieb als Vertreter der älteren Generation bei der leicht satirischen, erfolgreichen Machart seiner Meisterwerke Geschichte des Agathon und Die Abderiten, mit denen er eine Reihe von unterhaltsamen und erbaulichen Romanen verfasst hatte, die in einer aufgeklärten Antike spielen. Wilhelm Heinses Roman Ardinghello (1787, in einer zweiten Ausgabe 1794) schilderte im Rückgriff auf die antike Synthese von Kunst und Natur eine idealisierte, amoralisch-ästhetische Utopiegesellschaft, während Herder in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit und in seinen Briefen zur Beförderung der Humanität einen panoramaartigen Überblick über die Entwicklung der Menschheit lieferte, in dem die griechische Antike als Musterbeispiel des unübertroffenen Humanismus erscheint. Unter den jüngeren Schriftstellern war es Friedrich Schlegel, der die griechische Literatur mit der allumfassenden Kultur- und Stilgeschichte ausstattete, die vor ihm Winckelmann für die antike Kunst geliefert hatte, und damit die Grundlagen nicht nur für ein tiefer gehendes Verständnis antiker Literatur, sondern auch für ein theoretisches Verständnis der modernen, romantischen Dichtung legte. Humboldt untersuchte in einer Reihe von durch und durch idealistischen Essays die Ursprünglichkeit und Natürlichkeit des antiken Griechenland als Grundlage allen vorstellbaren humanen politischen und geschichtlichen Handelns. Hölderlin schuf eine komplexe philosophische Vision von der Beziehung zwischen Antike und Moderne, in seinen frühen Gedichten, Hymnen, Oden und Elegien, in seinem Roman Hyperion (1797—1799), seinen Fragmenten einer Tragödie über Empedokles (1797-1800) und in seinen theoretischen Schriften. Karl Philipp Moritz (1756-1793) bot in seiner außerordentlich populären Götterlehre (1791) eine systematische und leicht zugängliche Darstellung der antiken Mythen, die er als den freien Ausdruck menschlicher Phantasie darstellt. Darüber hinaus verbrachten Goethe und Schiller in diesem Jahrzehnt einen Großteil ihrer Zeit damit, die klassische Antike und deren lebendiges Erbe in ihren Gedichten, Aufsätzen und ihrer Korrespondenz miteinander intensiv zu durchdringen. Bei genauerer Betrachtung unterscheiden sich die Werke dieser Dichter ebenso wie ihre Persönlichkeiten; doch aus der Distanz von heute gesehen, benutzen sie alle auf ihre Weise in einem lang anhaltenden Versuch die Griechen, um die deutsche Kultur zu erneuern. Warum die Griechen? Die Hoffnung auf die Ausbreitung von Liberalismus und Humanität, die die Französische Revolution ursprünglich 634 Sommer 1805 | Homer unter Dichtern und Philologen bei vielen Zeitgenossen ausgelöst hatte, war durch Terror und Kriege zerschlagen worden. Die Fähigkeit des modernen Menschen, in sich selbst Orientierung zu finden, stand in Frage und ließ es als dringend angeraten erscheinen, vor einer weiteren drastischen politischen Reform andere Quellen für die moralische Erziehung zu finden. Bedenkt man, dass die etablierte religiöse Ordnung keine überzeugenden Antworten mehr geben zu können schien - ganz besonders nicht in einem konfessionell aufgeteilten Deutschland —, dann waren die Griechen ein willkommener Ersatz: ideal, unübertroffen, tot. Die deutsche Begeisterung für die Kultur des antiken Griechenland ist eine der kleineren Nebenerscheinungen des Epoche machenden Prozesses der Säkularisierung, der die Modernität voranbrachte und damit in der westlichen Welt die Dominanz der klassischen Antike als einzig gültigem und alleinigem Bezugspunkt für die folgenden Jahrhunderte beendete. Die sogenannte Tyrannei Griechenlands über Deutschland war tatsächlich Teil der Emanzipation Deutschlands von Griechenland. Doch hätte die griechische Kultur diese Rolle niemals ohne das Zutun zweier Vermitüer in den vorausgegangenen Jahren erwerben können: Johann Joachim Winckelmann (1717-1768), der die antike Kunst als Ausdruck einer Kultur politischer Freiheit und körperlicher Schönheit zugänglich gemacht hatte, und Voss, dessen Übersetzung der Odyssee (1781) Homer nicht nur in einen griechischen oder lateinischen Dichter, sondern erstmals in einem deutschen verwandelte. Daher rührt der einhellige Enthusiasmus für Voss' Übersetzung in Weimar, der von Intellektuellen verschiedener Generationen und mit ganz unterschiedlichen Geschmäckern stammte. Um das zu verstehen, nehme man eine nahezu, wenn nicht sogar ganz willkürlich gewählte Passage aus dieser Übersetzung, ganz am Anfang von Buch 14 der Odyssee. Odysseus, zurück in Ithaka, trennt sich von Athena, die ihm die Situation in seinem Palast dargelegt hat, und macht sich auf den Weg, um Eumaeus, seinen treuen Schweinehirten, zu finden. Der Besuch des heldenhaften Königs bei seinem Schweinehirten stellt eine absichtliche Vermischung der Ebenen und Genres dar. Homer lässt Odysseus sich seinen Weg schrittweise von den tiefsten Tiefen des Leids und der Verzweiflung zum Triumph, den er erst am Ende des Epos erreichen wird, erarbeiten. Die Begegnung mit dem niedrigrangigen Eumaeus ist ein sehr früher Schritt bei diesem Aufstieg; dennoch achtet Homer darauf, Eumaeus nicht zu unterwürfig erscheinen zu lassen — er mag ein Schwei-nehirte sein, aber er ist nichtsdestoweniger ein heldenhafter Schweine-hirte, Sohn eines Königs, loyal, klug, pflichtbewusst, fleißig und ehrbar. So hat Voss die Szene gestaltet: Aber Odüßeus ging den rauhen Pfad von dem Hafen Ueber die waldbewachsnen Gebirge, hin wo Athänä Ihm den trefhchen Hirten bezeichnete, welcher am treusten Haushielt unter den Knechten des göttergleichen Odüßeus. Sitzend fand er ihn jezt an der Schwelle des Hauses, im Hofe, Sommer i8oj- | Homer unter Dichtern und Philologen 63c Welcher hoch, auf weicumschatienden Hügel, gebaut war. Schön und ringsumgehbar und groß. Ilm hatte der Sauhirt Selber den Schweinen erbaut, indeß sein König entfernt war. Ohne Pänelopeia, und ohne den alten Laertäs, Von gesammelten Steinen, und oben mit Dornen umflochten. Die Sprache von Voss ist in hohem Ton gehalten und dennoch direkt. Seine Übersetzung ist weitgehend korrekt und lässt ein intensives Studium dieser Dichtung sowie auch der antiken und der modernen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihr erkennen. Doch über all das hinaus stellt das von ihm gewählte Metrum, der deutsche daktylische Hexameter, ein erstaunlich tragfähiges Äquivalent für Homers griechische daktylische Hexameter in der modernen Sprache dar: Die langen, großzügigen Zeilen haben genügend Raum für polysyllabische Epitheta; die geschmeidigen Rhythmen variieren zwischen langsam und getragen, schnell und bewegt; die unterschiedliche Silbenzahl (alles zwischen dreizehn und siebzehn ist dabei) in jedem Vers lässt dem Übersetzer die Freiheit, genau ein Wort, und nicht mehr oder weniger als das, für jede wichtige lexikalische Einheit im Original zu finden. Aber wenn der Geist der antiken Dichtung die deutsche Literatur mit echtem Leben erfüllen sollte, dann war es eindeutig nicht genug, einfach nur gute deutsche Übersetzungen griechischer und lateinischer Gedichte vorzustellen. Das Publikum für neue Gedichte und Romane, die in der antiken Welt spielten, und mochten sie noch so begeisternd sein, war verschwindend klein. Die meisten Leute wollten sich selbst in den Büchern finden, sich selbst, aber veredelt durch eine antike Aura. Das bedeutete, dass eine Geschichte zu erzählen war, die erkennbar modern war, aber in einer irgendwie altertümlichen Form. So betrachtet erhielt die Geisteshaltung der Weimarer Klassik ihren vollkommensten Ausdruck in Goethes kurzem epischen Gedicht Hermann und Dorothea (1797). Voss selbst hatte den Weg gewiesen in Luise: Ein ländliches Gedicht in drei Idyllen (1783-1784, überarbeitet und neu ediert 179c). Goethes Gedicht bewahrt die harmonische Balance zwischen modernem Gehalt und der antiken Form, die schon Luise kennzeichnete. Er stellt jedoch sowohl die modernen wie auch die antiken Charakteristika von Voss' Idylle mehr heraus und opfert dabei die Trivialität der alltäglichen Details, um zu einer allgemeineren, abstrakteren Form der Charakterisierung zu kommen. Die Geschichte - das allmähliche Heranreifen des jungen, unsicheren Hermann und die Emanzipation von seinem recht ungehobelten, spießbürgerlichen Vater; der Konflikt zwischen Alt und Jung; Missverständnisse und Versöhnung; der Triumph der Liebe und schließlich die Verlobung - ist ein typischer Stoff für Komödien und Romanzen. Doch Goethe kontrastierte diese freundliche Geschichte mit dem dunklen Hintergrund politischer Umwälzung und menschlichen Scheiterns - die Vertreibung der deutschen Bewohner vom Westufer des Rheins durch die Revolutionsarmeen der Franzosen und der katastro- 636 Sommer [80c | Homer unter Dichtern und Philologen Sommer 1805 | Homer unter Dichtern und Philologen 637 phale Brand, durch den das dargestellte deutsche Dorf eine Generation zuvor zerstört wurde. Hier kann in der Tat eine Romanze gedeihen, aber nur am Rande oder im Schatten der Tragödie, und die fröhliche, bedenkenlose Vitalität, die sie von ihrem originären Hintergrund ererbt hat, ist verdunkelt und verhärtet durch die Konfrontation mit dem Tod und dem Leid, das durch sie überwunden werden muss und gerade so überwunden werden kann. Trotz seiner Beliebtheit und des Erfolges bei der Kritik initiierte Goethes Gedicht nicht, wie es Wilhelm von Humboldt vorausgesagt hatte, eine Welle von deutschen Versepen. Einer der Gründe für die Kurzlebigkeit dieses Genres hatte mit der Verlagerung der klassischen Antike in einen anderen Bereich des Bildungsspektrums zu tun. Genau in dem Moment, als die klassischen deutschen Dichter versuchten, sich Homer für ihre literarischen und kulturellen Projekte anzueignen, begannen die deutschen Klassik-Professoren, ihn als ihren ureigenen philologischen und wissenschaftlichen Besitz für sich zu beanspruchen. Der Schatten von Friedrich August Wolf, Professor an der Universität Halle, hing, vielleicht nicht ganz harmlos, über der Teegesellschaft der literarischen Persönlichkeiten, die sich im Sommer 1794 in Herders Haus getroffen hatten. All diese Dichter wollten unbedingt mehr über seine Theorien erfahren, doch hätte keiner von ihnen auch nur geahnt, zu welchen äußersten Konsequenzen diese führen würden. Der Skandal, den Wolfs Prolegomena ai Homerum unmittelbar nach seinem Erscheinen 1795 auslöste, entstand deshalb, weil Wölf vorführte, dass die inneren Ungereimtheiten der Homerischen Epen und die äußeren Umstände der griechischen Kultur zum Zeitpunkt ihrer Entstehung zusammengenommen ergaben, dass Homer des Schreibens und Lesens nicht kundig gewesen sein konnte und seine Dichtungen mündlich verfertigt haben musste; so dass die überlieferten Texte nicht sein eigenes Werk sein konnten, sondern aus späterer Zeit stammen mussten. Dass Wolf einem Homer die Autorschaft der uns bekannten Utas und Odyssee absprach und behauptete, diese Epen seien weit von der vollendeten Meisterschaft entfernt, die Generationen von Kunstkritikern ihnen bescheinigt hatten, und stattdessen auf beschämende Weise nachlässig und in sich nicht konsistent, war eine Sensation. Goethe las den Band, der in abstrusem und schnörkeligem Latein geschrieben war, sobald er erschienen war, und formulierte seine ablehnende Haltung sofort am 17. Mai 179c in einem Brief an Schiller. Er bezeichnete Wolfs Kritik als pedantisch, unbedeutend und subjektiver, als sie auf den ersten Blick scheine. Dennoch war es der Beginn einer engen und lebenslangen Freundschaft, als er den oft unfreundlich auftretenden Professor Wolf noch im selben Monat kennenlernte, und seine anfängliche Skepsis gegenüber Wolfs Theorien wich einer positiveren Haltung. Dies entsprach teilweise einer für Goethe in seiner Entwicklung typischen Strategie des Selbstschutzes und der Selbsterhöhung. Dadurch, dass Wolf Homers Bedeutung für die klassische Literatur erschütterte, sah er für sich selbst - als den nachfolgenden und kleineren Dichter -eine Möglichkeit, eigene epische Dichtungen in Homerischer Manier zu schreiben, ohne sich an dem übergroßen und unübertrefflichen Rivalen messen zu müssen. Auf die Homeriden anspielend, die Nacheiferer und Verehrer Homers, die gemäß Wolfs Theorien zu großen Teilen für die Form der mündlich überlieferten Verse des Dichters, wie wir sie heute kennen, verantwortlich gemacht werden konnten, schrieb Goethe in einer Elegie über »Hermann und Dorothea«: »Denn wer wagte mit Göttern den Kampf? und wer mit dem Einen? / Doch Homeride zu sein, auch nur als letzter, ist schön.« Die wahre Bedeutung von Wolfs Prolegomena lag aber nicht in der dort behaupteten Mündlichkeit Homers oder seiner Kritik an formalen Mängeln der IJios und der Odyssee. Für beide Ansichten hatte es Vorläufer gegeben. Wolfs eigentliche Neuerung bestand in der Entdeckung, dass die gesamte antike Kultur von ihren frühesten Anfängen bis zu ihrer Spätphase Anteil an der Entwicklung des überlieferten Homer-Textes gehabt hatte und dass es für das Verständnis Homers folglich nötig war, die gesamte Entwicklung der antiken literarischen Kultur zu verstehen. Niemand, der Wolf gründlich gelesen hatte, konnte weiterhin davon ausgehen, dass die klassische Antike ein zeitloses Monument vollkommener Perfektion war, die sich in transzendenten und geradezu göttlich inspirierten Meisterwerken manifestierte. Stattdessen hatte sich die Antike nach und nach als eine gigantische Abfolge von unterschiedlich ausgeprägten kulturellen und politischen Erscheinungen ausgebreitet und verdichtet, und jede von ihnen hatte ihre nur allzu menschlichen Fingerabdrücke auf den fragmentarischen und ganz unterschiedlichen Kunstwerken, die uns überliefert sind, hinterlassen. Homer zu studieren hieß, diese Erscheinungsformen der Antike zu studieren, und zwar in ihren Besonderheiten, Unterschieden und unzähligen Details. Von Laien, Dichtern, Literaten war das nicht mehr zu leisten: Es war mühselige, staubige Arbeit, und es war die Aufgabe der Gelehrten, sie zu erledigen. Wolfs Prolegomena ist der Geburtsschrei der klassischen Altertumswissenschaft, die in den Jahrzehnten nach Erscheinen des Buches überall in Deutschland als Fach eingerichtet wurde. Diese Entwicklung führte letztlich dazu, dass Homer von der breiteren Kultur einer literarischen und Laien-Wahrnehmung abgespalten und dem engeren Monopol der Philologen in Schulen, Universitäten und Akademien zugeordnet wurde. In den 1790er Jahren war Homer Gegenstand angeregter Diskussionen bei Abendessen und ungezwungenen gesellschaftlichen Zusammenkünften gewesen, bei denen Intellektuelle unterschiedlicher Berufe und Interessen aufeinandertrafen, die jedoch alle die Liebe zur griechischen Dichtung und darüber hinaus die Überzeugung verband, dass Homer ein Gemeingut war und dass die Menschheit die höchste Stufe der Humanität erreichen könne, indem sie sich mit seinem Werk befasste. Ein Jahrzehnt 6?8 Sommer 1805- | Homer unter Dichtern und Philologen 806 I Die Hermannsschlacht und das Konzept des Guerillakriegs 639 später lagen die Dinge anders. Goethe blieb Wolf freundschaftlich verbunden und traf sich oft mit ihm, um philologische Fragen zu besprechen. Er stand gern in Kontakt mit Wissenschaftlern und Gelehrten der Bereiche, die ihn interessierten, um über die neuesten Entdeckungen auf dem Laufenden zu bleiben und die Reaktionen der Gesprächspartner auf seine eigenen Ideen zu erkunden, wobei er stolz war, wenn sie mit ihm einer Meinung waren, und sie andernfalls ohne weiteres ignorieren konnte. 1807 widmete Wolf Goethe öffentlich den ersten Band seiner neuen Zeitschrift Museum der /Uterthumswissenschaft, mit dem die Institutionalisierung dieses neuen Wissenschaftszweigs inauguriert war. Dennoch scheint es, dass sich zu diesem Zeitpunkt die deutschsprachige intellektuelle Welt bereits in eigenständige und miteinander konkurrierende Enklaven aufzuspalten begann: Der Homer der Dichter und der Homer der Professoren war nicht mehr derselbe. Im Sommer 180c besuchte Goethe für einige Wochen Wolf in Halle, Als er den Wunsch äußerte, eine der Vorlesungen Wolfs zu hören, zeigte ihm Wolfs Tochter, wo er das, hinter einem Vorhang verborgen, tun konnte. Warum hat Goethe sich versteckt? Um Wolfs Studenten davor zu bewahren, durch die Anwesenheit des großen Dichters abgelenkt zu werden? Damit Wolf nicht von seinem Freund in den Hintergrund gedrängt würde? Oder um den Dichter selbst davor zu schützen, zu sehr von der wissenschaftlichen Präsentation der antiken Literatur infiziert zu werden? In einem Gedicht namens »Das verschleierte Bild zu Sais« (179c) hatte Schiller ein starkes Bild für die unüberschreitbaren Grenzen, die dem Wunsch des Menschen nach wissenschaftlicher Erkenntnis gesetzt sind, gefunden: Ein junger Mensch wagt es gegen den Rat der Älteren und gegen sein Gewissen, den Schleier, der die Statue einer ägyptischen Gottheit bedeckt, zur Seite zu ziehen, und wird durch den Verfall seiner Lebenskraft und einen frühen Tod bestraft. Sollte vielleicht der Vorhang, der Goethe verdeckte, den Freiraum der Dichtung jenseits der Hegemonialansprüche einer neuen, wissenschaftlichen Lehre bewahren? GLENN W. MOST : Siehe auch 1768, 1782. 1784, 1786, 1808 Bibliographie: Johann Wolfgang von Goethe, Hermann und Dorothea, Stuttgart 1986. - Johann Heinrich Voss, Homers Werke, 2 Bde., Stuttgart i8j6, - Friedrich August Wolf, Prolegomena öd Homerum, Heidelberg 1963. 1806 I Heinrich von Heist verzweifelt an der Niederlage Preußens gegen Napoleon Die »Hermannsschlacht« und das Konzept des Guerillakriegs »Wir sind die unterjochten Völker der Römer. Es ist auf eine Ausplünderung von Europa abgesehen, um Frankreich reich zu machen«, schreibt Heinrich von Kleist (1771-1811) am 24. Oktober 1806, zehn Tage nach der katastrophalen Niederlage Preußens in der Schlacht bei Jena und Auerstädt, in einem Brief an seine Schwester Ulrike (SWB, Bd. 11, S.77>)- Der Vergleich zwischen Rom und Paris war natürlich bereits von anderen gezogen worden, Revolutionären wie Robespierre und Saint-Just, und der Vergleich zwischen Caesar und Napoleon von Letzterem selbst. Doch Kleist will mit der Nennung desselben historischen Bezugspunktes etwas anderes andeuten: Napoleon, der sich, nachdem er sich selbst zum ersten Konsul der Republik gemacht hatte, von Papst Pius vii. zum Kaiser krönen ließ, ist nichts anderes als ein Tyrann oder, um Kleist genauer wiederzugeben, ein blutrünstiger Schurke. Zudem ist sein Heraufbeschwören der Beziehung zwischen Germanen und dem Römischen Reich ein eindeutiger Verweis auf die Schlacht im Teutoburger Wald, die Hermann gegen Quintilius Varus gewonnen hatte, womit die Übernahme Nordwesteuropas durch die Römer verhindert worden war. Dieser Sieg war beiTacitus und anderen lateinischen Autoren vermerkt. Es hatte unlängst eine deutsche Neubearbeitung des Stoffes gegeben, Friedrich Klopstocks Drama Hermcuins Schlacht (1769), das, auch wenn es von einem religiös getönten Patriotismus durchdrungen war - anders als Kleists eigene spätere Version des Dramas —, alle Anspielungen auf die politische Situation, in der es geschrieben wurde, vermied. Napoleons Sieg war der Beweis dafür, dass die preußische Armee, die eigentlich als die beste der Welt galt, geschlagen werden konnte. Die flexible, unerbittliche Kriegsführung der Franzosen war einfach effizienter gewesen. Und der französische Kaiser schwächte die militärische Macht der Preußen noch zusätzlich, indem er im Vertrag von Tilsit, mit dem der Krieg beendet wurde, auf einer strikten Reduzierung der Truppen bestand. Der Vertrag wurde 1807 ratifiziert. Wie anderswo in Europa auch, wurden durch das Eindringen der Franzosen nicht wenige der neuen Institutionen und Ideale Frankreichs in ein Land getragen, das noch keine Revolution erlebt hatte. Beispielsweise wurden in Preußen 1807 alle Formen von Knecht- und Leibeigenschaft abgeschafft und stattdessen eine allgemeine Wehrpflicht für alle männlichen Bürger ab einem bestimmten Alter eingeführt. Es muss jedoch festgehalten werden, dass die Verwaltungs- und Regierungsbeamten, die sich für solche Reformen ausgesprochen und sie auf den Weg gebracht hatten, nicht zur Gruppe derjenigen gehörten, die eine Allianz mit Napoleon befürworteten. Sie wollten es den Franzosen im Namen eines neuen Preußischen Nationalismus gleichtun. Diejenigen, die sich 640 8°6 I Die Hermannsschlacht und das Konzept des Guerillakriegs auf Napoleons Seite stellten, waren konservative Angehörige des Adels. Sie waren keine Nationalisten, sondern betrachteten den neu gekrönten Kaiser als einen der Ihren. Die Spannungen wuchsen, als die französischen Behörden einen Brief des preußischen Ministers Baron vom Stein an den Grafen von Sayn-Wittgenstein abfingen, in dem er ihn dringlich um Unterstützung bei der Planung eines preußischen und österreichischen Volksaufstandes gegen Napoleon bat. Stein wurde des Landes verwiesen, aber Gerhard von Scharnhorst und August von Gneisenau, die schon begonnen hatten, die preußische Armee wieder aufzubauen, blieben im Amt. Enthusiastisch nahmen sie die Nachricht von einem Volksaufstand gegen Napoleon in einem ganz anderen Teil Europas auf, die sie nur sechs Wochen nach der Exilierung ihres Freundes in Berlin erreichte. Am 2. Mai 1808 hatten die Bewohner Madrids, aufgebracht über die Art und Weise, wie der Kaiser und sein General Murat mit ihrem ehemaligen und dem amtierenden König umsprangen, zu revoltieren begonnen. Der Aufruhr breitete sich schnell in ganz Spanien aus. Angeführt von armen Bauern mit ihren Arbeitsgeräten, Dreschflegeln, Sensen und bloßen Händen, war es nur ein kleiner Krieg, wie das spanische Wort »guerilla« andeutet, aber er war dennoch erfolgreich. Gemälde und Stiche von Goya bezeugen die Härte, mit der er auf beiden Seiten geführt wurde. Als erste derartige Rebellion gegen eine moderne Armee hat dieser Kampf seither vielen anderen Unruhen einen Namen gegeben. Gneisenau, der bereits im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg Gelegenheit gehabt hatte, sich mit Guerilla-Taktiken vertraut zu machen, und sein Kollege Scharnhorst schrieben mehrere Memoranden zu Methoden, wie die preußische Bevölkerung zu einer ähnlichen Revolte anzustiften wäre, allerdings ohne dass die bürgerliche Ordnung des Staates in Gefahr geraten sollte. König Friedrich Wilhelm in. war jedoch äußerst skeptisch. Dennoch engagierte er 1811 Scharnhorsts Schüler Carl von Clausewitz als Lehrer für seinen Sohn, den Kronprinz, der von da an Vorlesungen über die Techniken der »kleinen Kriegsführung« erhielt, aus denen später die Kernideen von Clausewitz' Buch Vom Kriege (1834) erwuchsen. Und als die napoleonische Armee sich, in Auflösung begriffen, aus dem russischen Winter zurückzog, gab der König seinen Beratern schließlich nach und unterzeichnete, was Carl Schmitt später die »Magna Carta des Partisanentums« (S.47) nannte. Das »Landsturmedikt«, das am 21. April 1813 eingesetzt wurde, ruft jeden preußischen Bürger, egal welchen Alters, Geschlechts oder Standes, zum irregulären Kampf gegen Napoleons Truppen auf und stellt somit die Aufhebung der bürgerlichen Ordnung durch ebendie Autorität dar, die eigentlich zu ihrem Schutz eingesetzt ist. Die Resolution kam zu spät: Die Leipziger Völkerschlacht wurde von regulären Soldaten ausgetragen und gewonnen. Kleists Aktivitäten und sein Aufenthaltsort zu dieser Zeit sind, wie so oft, nur fragmentarisch dokumentiert. Am 30. Januar 1807 wurde er, 806 I Die Hermannsschlacht und das Konzept des Guerillakriegs 641 als er mit einer Gruppe von Freunden unterwegs war nach Dresden, von den französischen Behörden aus bis heute unbekannten Gründen gefangen genommen und nach Fort Joux in der Nähe von Pontarlier gebracht. Wie Kleist in einem seiner Briefe schreibt, handelte es sich um das Gefängnis, in dem Toussaint L'Ouverture, der Anführer des Schwarzenauf-stands von San Domingo, heute Haiti, 1803 gestorben war. (Diese Rebellion sollte später den Hintergrund für Kleists Erzählung »Die Verlobung in St. Domingo« bilden.) Bei seiner Freilassung entschloss sich Kleist, bei seinem ursprünglichen Plan zu bleiben, und ging statt nach Preußen nach Dresden, in die Hauptstadt eines Staates, Sachsen, dessen Souverän von Napoleon als Anerkennung für seine Hilfe zur rechten Zeit gerade vom Kurfürsten zum König erhoben worden war. Die zwei Jahre von 1807 bis 1809, die Kleist in Dresden verbrachte, waren eine Zeit großer Produktivität und großer Hoffnungen. Er vollendete drei Dramen, Penthesilea, Das Käthcfien von Heilbronn und Die Hermannsschlacht, sieben Erzählungen und diverse andere Texte. Er gründete außerdem eine Zeitschrift, deren Mitherausgeber er auch war, Phöbus, zusammen mit seinem FreundAdam Müller. Ein weiterer großer Geldbeschaffungsplan, der sich am Ende als wertlos erwies, bestand darin, deutsche Übersetzungen des Code Napoleon und anderer französischer Regierungsschriften zu drucken. Wenn er in einem Briefwechsel, der die Zeichen der allgegenwärtigen Zensur trägt, von diesem speziellen Projekt spricht, lässt Kleist es sich nicht nehmen hinzuzufügen, dass nach seinen eigenen Ansichten aus derlei Plänen keine politischen Folgerungen gezogen werden sollten (SWB, Bd. 11, S.793). Wie jeder männliche Abkömmling seiner Familie, die zum ältesten preußischen Adel gehörte, war Heinrich von Kleist eine militärische Karriere vorbestimmt. Er kämpfte im ersten Koalitionskrieg (1792-1797) gegen die französische Revolutionsarmee und erbat seinen Abschied, als der zweite dieser Kriege im Gange war (1798-1801). Die Gründe für diese Entscheidung sind einem Brief an seine schon ältere Freundin Adolfine von Werdeck zu entnehmen, einer Vertrauten der Königin Luise von Preußen: »Wenn ein Jüngling gegen den Feind, der sein Vaterland bedroht, mutig zu den Waffen greifen will, so belehrt man ihn, daß der König ein Heer besolde, welches für Geld den Staat beschützt. - Wohl dem Arminius [d.h.Hermami], daß er einen großen Augenblick fand. Denn was bliebe ihm heutzutage übrig, als etwa Lieutenant zu werden in einem preußischen Regiment?« (November 1901; Kleist hatte zum Zeitpunkt seines Ausscheidens aus der Armee den Rang eines Sekonde-leutnants. SWB, Bd.n, S.700.) Sieben Jahre später scheint der heroische Moment für einen neuen Hermann gekommen. Kleist schreibt seine Hermannsschlacht, und es zeigt sich, dass er sich trotz seines Abschieds von der preußischen Armee über die neuesten Entwicklungen der Kriegstheorie und -praxis auf dem Laufenden gehalten hat, vielleicht durch seine Kameraden Rühle von Lilien- 642 8o6 I Die Hermannsschlacht und das Konzept des Guerillakriegs Stern und Heinrich von Pfuel oder durch seine Verbindung zu Gneisen-au. Seine Version der Hermannsschlacht bringt Gneisenaus Konzept der Guerillakriegsführung auf die Bühne. Das Stück beginnt mit einer aufschlussreichen Szene. Hermann und seine Gattin Thusnelda haben eine Jagdgesellschaft organisiert, Freunde und Bundesgenossen eingeladen, darunter den römischen Legaten Ventidius und die Prinzen und Herrscher verschiedener germanischer Stämme. Als der Vorhang sich öffnet, sitzen die Germanen zusammen und sprechen über Politik. Zwei Themen beschäftigen sie: die römische Invasion in Deutschland und kleinere Streitigkeiten untereinander. Es scheint, als ziehe Rom scharfsinnig einen Vorteil aus der Situation, indem es die verschiedenen germanischen Führungsfiguren gegeneinander ausspielt, um auf diese Weise an Einfluss zu gewinnen und am Ende das gesamte Territorium zu besetzen. Die Anspielung auf Napoleons Politik ist deutlich sichtbar. Die neueste Taktik der Römer versucht die Rivalität zwischen den beiden größten deutschen Staaten, die noch unabhängig sind, auszunutzen: Hermanns Che-ruska, alias Preußen, und Marbods Suevia, alias Österreich. Die germanischen Prinzen in Hermanns Gesellschaft können nicht verstehen, wie jemand vom politischen Rang ihres Gastgebers in solchen Zeiten auf die Jagd gehen und an eine mögliche Allianz mit den Römern auch nur denken kann - zwei grundlegende und symptomatische Missverständnisse, die im Laufe des Dramas richtiggestellt werden sollen. Denn sowohl Jagdkenntnisse wie auch das Bündnis mit den Feinden stellen die Grundlage des Guerillakampfes dar. Ersteres wird sogleich klar, als Ventidius einen Auerochsen tötet, der, von einem Pfeil ausThusneldas Bogen verwundet, die Bogenschützin angreift. »Du warst des Todes«, tönt der Römer, woraufhin einer der germanischen Prinzen fragt: »Stand sie im Freien, als sie schoss?« Als ihm gesagt wird, dass sie mitten im Wald stand, als dies passierte, kann der germanische Jäger nur lachen: »Ein Auerochs ist keine Katze, / Und geht, soviel bekannt mir, auf die Wipfel / Der Pinien und Eichen nicht.« Was diese Bemerkung bedeutet, geht an den ausländischen Gästen wie auch an einigen der Germanen vorbei. Der kraftstrotzende, massige Auerochse steht für die römische Streitkraft, der Wald ist einer der großen militärischen Vorzüge Deutschlands und wird auch in Clausewitz' Schriften und Eichendorffs Gedichten als solcher gepriesen, und die wendige Thusnelda, deren Weiblichkeit in diesem Kontext von entscheidender Bedeutung ist, ist die Guerilla-Kämpferin par excellence. 1808 war das Jahr, in dem Schützen der preußischen Armee zu besonderen Geländebataillons zusammengefasst wurden. Ausgestattet mit den besten Leichtgewehren, die damals verfügbar waren (Präzisionsgewehre statt Pistolen), lernten sie in ihrer Ausbildung die mobilen und flexiblen Taktiken, die von den französischen Truppen in den Revolutionskriegen angewandt worden waren. Für Kleist kann jeder Bürger, egal welchen Alters, Geschlechts oder Standes, ein solcher Freischärler sein 806 I Die Hermannsschlacht und das Konzept des Guerillakriegs 643 Doch liefern Jagdkenntnisse und -techniken nicht nur Verhaltensregeln für taktische Manöver, sondern auch für die Prinzipien des Kriegsrechts. Für den Guerillakämpfer ist der Feind kein menschliches Wesen, das selbst noch im Kriegsgetümmel unveräußerliche Rechte hat, sondern eine Jagdbeute. Der letzte Akt des Dramas schließt mit einer Reihe von symptomatischen Szenen. Normale Soldaten, seien es Feinde oder Verräter aus Hermanns eigenen Reihen, bekommen keinen ehrenvollen Tod in Form eines Duells und auch nicht den Status eines Kriegsgefangenen zuerkannt. Sie alle werden am Ende wie Tiere in einem Schlachthaus erledigt - einer von ihnen wird beispielsweise mit einer »Keule doppelten Gewichts« (SWB, Bd.i, S.612) totgeknüppelt. Etwas anderes, was Hermanns deutsche Standesgenossen nicht begreifen können, ist seine Weigerung, sein Territorium und seinen Besitz zu verteidigen; er scheint einfach der Supermacht zu weichen. Dies ist Hermanns Antwort: »Behüte Wodan mich! Ergeben! Seid ihr toll? / Mein Alles, Haus und Hof, die gänzliche / Gesamtheit des, was mein sonst war, / Als ein verlornes Gut in meiner Hand noch ist, / Das, Freunde, setz ich dran, im Tod nur / Wie König Porus, glorreich es zu lassen! / Ergeben! - Einen Krieg, bei Mana! will ich / Entflammen, der in Deutschland rasselnd, / Gleich einem dürren Walde, um sich greifen, / Und auf zum Himmel lodernd schlagen soll!« (SWB, Bd.i, S. C4.5). Das ist die Politik der verbrannten Erde, und zwar so massiv, dass Hermann seine Standesgenossen bittet, ihre Frauen und Kinder außer Landes zu bringen, bevor der Kampf beginnt. Der einzige konventionelle politische Schachzug, den Hermann für notwendig erachtet, ist, sich heimlich mit seinem Rivalen Marbod zu verbünden. Der außerordentlich persönliche Pakt wird durch das Angebot besiegelt, im Falle des Treuebruchs das Leben seiner beiden Söhne zu opfern. Die Jungen und ein Dolch begleiten den Brief als Unterpfand. Der spanische Guerillakampf hatte als spontane Rebellion der Massen begonnen. Die preußischen Reformer träumten von einem ähnlich heftigen Aufstand, der aber von oben angestiftet und kontrolliert werden sollte. So erscheint Hermanns Bündnis mit Rom (hinter dem sich natürlich der alles andere als freiwillige Pakt mit Napoleon verbirgt) als eine Kriegslist, die drei Ziele verfolgt: die römische Armee in die deutschen Sümpfe und Wälder zu locken, sie zwischen Hermanns rückwärtig platzierten Truppen und Marbods vorne stehendem Streitheer einzuschließen und den Hass der Bevölkerung gegen die Invasoren zu schüren. Hermann bemüht sich, jedes einzelne Vergehen der römischen Truppen gegenüber der Bevölkerung publik zu machen und zu übertreiben. Als eine germanische Jungfrau von ihrem eigenen Vater getötet wird, weil sie von einem römischen Soldaten vergewaltigt wurde, ordnet Hermann an, dass ihr Leichnam in so viele Teile zerteilt wird, wie es germanische Stämme gibt, so dass ein Stück ihres Körpers als Symbol für einen groß angelegten Aufstand zu jedem der Völker geschickt werden kann. Das 644 8o6 I Die Hermannsschlacht und das Konzept des Guerillakriegs 1808 I Eine poetische Revolution 645 barbarische Handlungsmuster tritt an die Stelle jeglicher Diplomatie mit 1 den Bundes- und Standesgenossen. Und als sich zeigt, dass die römischen Soldaten sich für seine Zwecke viel zu diszipliniert verhalten, steckt Hermann eine Gruppe treu ergebener Germanen in römische Uniformen, damit sie plündernd und brandschatzend durchs Land ziehen. Seinen ersten Triumph feiert Hermann jedoch sozusagen am heimischen Herd. Auch wenn seine Gattin kein Problem mit dem Plan hat, statt anderer Germanen die Römer zu bekämpfen, nimmt sie es sich her- t aus, ihn um einen Gefallen zu bitten: Ventidius am Leben zu lassen. Der j römische Abgesandte, ihre Verbindung zur neuesten römischen (oder auch Pariser) Lebensart, hat ihr ganz romantisch den Hof gemacht - ihr bei einer Gelegenheit sogar eine blonde Locke direkt vom Kopfe geraubt. Obwohl sie ihrer ersten Liebe, Hermann, treu ist, ist Thusnelda dennoch berührt von der Aufmerksamkeit, die ihr der Schürzenjäger schenkt. Hermann, der sich von Anfang an ganz eigene Gedanken zu Ventidius' Manövern gemacht hatte, fängt einen Brief desselben an Livia, die Kaiserin von Rom, ab, in dem die gestohlene Locke zusammen mit einer unheilvollen Erklärung steckt: Es sei eine Probe des blonden Haars, das man Thusnelda nach Roms Sieg über Hermann abrasieren werde, um daraus eine schicke Perücke für die Kaiserin zu machen. Die Enthüllung dieses Plans verwandelt die sanfte Thusnelda in eine Furie, wie es die Frauen in allen Werken Kleists tun, wenn sie sich als Betrogene erkennen. Penthesilea zerfleischt den Leichnam ihres Geliebten; Thusnelda lässt dies - nachdem sie den Betrüger unter Vorspiegelung eines Rendezvous in die Wälder gelockt hat - eine hungrige Bärin erledigen. Ein letzter Unterschied zwischen Guerillatruppen und regulären Truppen soll noch erwähnt werden: Die Römer haben ihre Banner, die Germanen die Gesänge ihrer Barden. Die Aufstellung der Divisionen auf dem Schlachtfeld wird durch visuelle Signale organisiert. Doch »in the night of battle« ist Dichtung aus Deutschland, dem Land der Dichter und Denker, eine viel effektivere Methode, die Massen im Dunkel zu koordinieren und auch zur Seele und zum Herzen der Kämpfer zu sprechen. Heinrich von Kleists Kriegslieder sind ein gutes Beispiel dafür. Mit so durchschlagenden Waffen und nach der Mobilisierung nicht nur seiner Armee, sondern auch jedes einzelnen Bürgers kann Hermann es sich leisten, auf eine der wichtigsten Aufgaben des höchsten Befehlshabers zu verzichten, nämlich darauf. Befehle zu erteilen. Eine Kampfesaufstellung und ein Schlachtplan sind nicht vonnöten, denn der Zorn und Hass der Bevölkerung tun das Ihrige. Der Feind wird nicht einfach nur wie in normalen Kriegen geschlagen, sondern vernichtet. Als sich die germanischen Prinzen treffen, um ihren Sieg zu feiern, will Marbod seinem früheren Rivalen Hermann die Krone überreichen. In den aktuellen Rahmen der Zeit versetzt: Franz ii. von Habsburg, der am 6. August 1806 die Kaiserkrone abgelegt und das jahrhundertealte Römische Reich Deutscher Nation aufgelöst hatte, nachdem Napoleon , Österreich in der Schlacht zu Austerlitz geschlagen und den sogenannten Rheinbund geschlossen hatte, händigt die Krone einem anderen deutschen Herrscher aus, König Friedrich Wilhelm iii. von Preußen. Danach müssen sie - »Wir oder unser Enkel, meine Brüder!« - nur noch eins tun: nach Rom selbst marschieren (SWB, Bd.i, S.628). Nach der Schlacht von Aspern am Mai 1809, Napoleons ers- ter großen Niederlage, war Kleist voller Hoffnung. Er besuchte sogar das Schlachtfeld. Doch Napoleon gelang es noch einmal, das Blatt zu wenden, indem er die Österreicher am j./ö. Juli 1809 in der Schlacht von Wagram schlug. Es besteht kein Zweifel, dass seine zunehmende Beherrschung Europas einer der vielen Gründe für den rätselhaften Doppelselbstmord Heinrich von Kleists und Henriette Vogels am 21. November 1811 gewesen ist. Die Figur des Guerillakämpfers, bekannt auch als Terrorist, bei dem sich die Unterscheidung zwischen Freund und Feind wie in einem Spie-gelkabinett überlagert, sollte fortan jedoch nicht nur über der deutschen Zukunft, sondern der der ganzen Welt bedrohlich aufragen. WOLF KITTLER : Siehe auch Sommer 1203, 1749, 18. Mai 1804, 10. Dezember 1835, 1932 Bibliographie: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe [SWB], hg. von Helmut Semb-dner, 2 Bde., Darmstadt 1983. - Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1963. *** 1808 I Friedrich Hölderlins Gedichte »Der Rhein«, »Patmos« und »Andenken« erscheinen im Musenalmanach für das Jahr 1808 Eine poetische Revolution Als im Herbst 1807 der von Hölderlins Freund Leo von Seckendorf herausgegebene Musenalmanach für das Jahr 1808 erschien, der drei der wichtigsten langen Gedichte Hölderlins enthielt, war deren Autor bereits der Welt beinahe entschwunden und nahm die Veröffentlichung wahrscheinlich nicht mehr zur Kenntnis. Im September des Jahres 1806 hatte man »le pauvre Holterling« - wie eine Zeugin, die Landgräfin Caroline von Hessen-Homburg ihn nannte - aus Homburg abgeholt und in eine psychiatrische Anstalt in Tübingen eingewiesen. Einige Monate später, im Mai 1807, wurde er als vermutlich unheilbar ins Haus des Schreiners Ernst Zimmer in Tübingen verbracht, wo er bis zu seinem Tode 1843 ein Turmzimmer mit Erkerfenster über dem Neckar bewohnte. Während der Dichter auf diese Weise weit von seinem Werk entrückt und unzugänglich für die Welt schien, nahm diese Welt, mit wenigen Ausnahmen, auch kaum Notiz von ihm. Das letzte Werk, das er selbst noch veröffentlicht hatte, die Übersetzung von Sophokles' Oedipus 646 [8o8 I Eine poetische Revolution [808 I Eine poetische Revolution 647 Tyrannos und Antigone (1804), hatte die literarische Elite von Weimar zu Spott und Gelächter verleitet. Diejenigen, die Hölderlin mehr gewogen waren, neigten dazu, jegliche Aufmerksamkeit für den eigentümlichen, ganz speziellen Stil seiner späteren Dichtungen von nostalgischen Erinnerungen an den jungen, vielversprechenden Romanautor des Hyperion (1797/99) und dem Bedauern über sein tragisches späteres Schicksal überschatten zu lassen. Einige Stilmerkmale Hölderlins wurden sogar als Zeichen seines Wahnsinns gelesen. Seckendorf sah sich genötigt, »mit äußerster Schonung« bestimmte Passagen in den von ihm herausgebrachten Gedichten zu ändern, »um nur Sinn hineinzubringen«. Sicherlich gab es Ausnahmen. Ein Rezensent merkte den »wahrhaft originellen« Ton von Hölderlins Gedichten an, fügte jedoch hinzu, sie litten an einem »Mangel an Klarheit in der Form der Darstellung«. Am Rande der literarischen Öffentlichkeit schwebte Hölderlin lange Zeit wie in einem Zwischenstadium nur latenter Anwesenheit. Das gesamte 19. Jahrhundert hindurch stand sein Werk nicht im Licht der Aufmerksamkeit, es geisterte als Kuriosität im deutschen Literaturkanon umher und wurde nur gelegentlich von einem Strahl blitzartiger Erkenntnis getroffen, wie beispielsweise in einem Brief des jungen Nietzsche. Erst hundert Jahre nach dem Musenalmanach für das Jahr 1808 erlangte Hölderlins Werk nach und nach aufgrund seiner Einzigartigkeit Anerkennung und begann nicht nur in der Dichtung des 20. Jahrhunderts ein Echo zu finden, sondern auch unauslöschliche Spuren im Denken von Philosophen wie Benjamin und Heidegger bis hin zu Blanchot zu hinterlassen. Die Wechselfälle der Hölderlinrezeption im Laufe der Zeit treffen dabei ganz grundlegend mit etwas Elementarem von Hölderlins Dichtung und Poetik zusammen. Die drei im Musenalmanach für das Jahr 1808 veröffentlichten Gedichte stellen eine exzentrische Ausnahmeerscheinung gegenüber dem Gros der Lyrik dar, die damals geschrieben und publiziert wurde. In einer der feinfühligeren Rezensionen, die die Originalität dieser Gedichte bemerkten, wurde auch kritisch auf ihre »Dunkelheit« eingegangen, welche der Rezensent der Tatsache zuschrieb, dass der begabte und elegische Verfasser des Hyperion in jener »fremden Welt« der Antike und ihrer Sprache zu Hause sei. Die Leichtigkeit und Eleganz seiner Phantasie würden von »der Schwere des Wortes« zerstört. Das empfindliche Ohr des Kritikers nahm hier etwas wahr, das für Hölderlins Dichtung ganz wesentlich ist: ihre ungewöhnliche Diktion, ihren Ton, ihren Stil. Das »Rhein«-Motiv passte eigentlich wunderbar in die Vorstellungswelt der deutschen Romantik. Der Fluss war mit zahlreichen Bild- und Symbolwerten angereichert, politisch und national ausgerichteten Assoziationen zu dem deutschen Fluss, gerne auch als »Vater Rhein« bezeichnet, bis hin zur legendenhaften und magischen Darstellung seiner von alten Schlössern und Ruinen gesäumten Ufer, und über allem thronte die magischste aller Figuren, die Loreley. Auch »Patmos« hätte vom Thema her einer bestimmten christlich-religiösen Strömung der deutschen Romantik zugeordnet werden können; und »Andenken«, mit seinem wohl am konsequentesten durchgehaltenen »lyrischen« Ton, war der romantischen Sensibilität durchaus zugänglich. In der Tat pries ein so durch und durch romantischer Dichter wie Brentano die Schönheit dieser Gedichte, genauer gesagt vielmehr »manches Schöne« an ihnen. Es ist symptomatisch, dass die größte Wirkung von allen Hölderlin-Gedichten seinerzeit die erste Strophe von »Brot und Wein« erzielte, die von Seckendorf im vorhergegangenen Musenalmanach für das Jahr 1807 als eigenständiges Gedicht unter dem Titel »Die Nacht« veröffentlicht worden war. Offenbar konnten nur Ausschnitte von Hölderlins Gedichten - »schöne Stellen« -bei seinen Zeitgenossen einen Widerhall erzeugen. Lediglich »schöne Stellen« zu sehen bedeutet aber selbstverständlich auch, kein Auge für die Gesamtkomposition zu haben, für alle Facetten der »schönen Stelle«, deren spezifischer Ton und BedeutungTeil einer Struktur sind; und auch nicht für die Einzigartigkeit ihrer Stellung, ihrer Beziehung zu anderen Passagen des Gedichts. Hölderlins Gedichte sind streng gebaute, ja »kalkulierte« Kompositionen. »Der Rhein« und »Patmos« bestehen beispielsweise beide aus fünfzehn Strophen, von denen jede ein Spiel mit der Möglichkeit von fünfzehn Versen zu sein scheint, wobei die Zahl aber immer leicht variiert: (»Der Rhein«; 15- 16-14, 15- 15-14, 15-16-14, 15-16-14, 15-15-12; »Patmos«: 15-15-15, 15-15-15, 15-15-15, 16-15-15, 15-15-15). Hölderlin hatte ganz offensichtlich eine Vorliebe für das triadische Gestaltungsprinzip, in diesem Fall fünf mal drei. Es gibt andere Gedichte, die noch strenger in triadischen Figuren komponiert sind. Die Elegie Brot und Wein besteht aus drei mal drei Strophen, von denen jede achtzehn Verse oder drei mal drei Distichen hat (wobei ein Distichon aus zwei Versen besteht, abwechselnd einem daktylischen Hexameter und einem daktylischen Pentameter - das klassische elegische Versmaß). Hölderlin zählte seine Verse und Strophen ganz genau. Im Fall von Brot und Wein sind die Spuren seines Nachzählens noch erhalten, in Form von schwarzen Punkten, die das noch nasse Schreibgerät hinterließ, mit dem der Dichter die Zeilen nummerierte. Diese mechanisch anmutende Art der Komposition steht in völligem Gegensatz zu der seit dem Ende des 18. Jahrhunderts vorherrschenden Dichtungsauffassung und scheint auch schwer vereinbar mit dem Bild Hölderlins als »visionärem« Dichter. Gleichwohl beharrt Hölderlin auf provozierende Weise auf dem mechanischen (und nicht nur handwerklichen) Aspekt der Dichtung. Zu seinen Sophokles-Übersetzungen sind Anmerkungen erhalten, die den Charakter eines gegen die damals vorherrschende Ästhetik gerichteten Dichter-Manifests haben. Die Bemerkungen zu Oedipus beginnen mit einem Postulat, das Hölderlins Zeitgenossen vor den Kopf geschlagen haben muss: »Es wird gut seyn, auch bei uns, eine bürgerliche Existenz zu sichern, wenn man die Poesie, auch bei uns [...] zu mechane der Alten erhebt. [...] Der modernen Poesie fehlt 648 l8o8 I Eine poetische Revolution es aber besonders an der schule und am Handwerksmäßigen, dass nem lieh ihre Verfahrungsart berechnet und gelehrt, und wenn sie gelernt ist, in der Ausübung immer wieder zuverlässig wiederhohlt werden kann.« Sieht man einmal von der besonderen Diktion dieser Stelle ab (die natürlich ihr Wesen ausmacht), könnte man meinen, man liest etwas von Opitz oder Gottsched, Dichtung also, wie sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Namen des wahren Ausdrucks, des echten Gefühls und einer der Poesie innewohnenden lebendigen Schönheit so heftig und leidenschaftlich abgelehnt wurde. Hölderlins vermeintlich anachronistisches Dichtungsverständnis übt implizit wie auch explizit Kritik an der seinerzeit vorherrschenden Ausdrucksästhetik. Mit seiner Poetik und ihrer Umsetzung stellt er die auf Selbstausdruck ausgerichtete Dichtungskonzeption in Frage und, was noch radikaler ist, setzt jeglicher Ästhetik, die auf Expression ausgerichtet ist, eine Poetik der Darstellung entgegen. Was auf den ersten Blick wie ein abgehobenes, spielerisches oder vielleicht sogar obsessives Beherrschtsein von den berechenbaren Gesetzen der Dichtung aussieht - Seiten weise Tabellen voller immer wieder abgewandelter Tonfolgen - , ist in Wirklichkeit der Versuch, nicht nur eine Philosophie der Komposition zu formulieren, sondern eine Philosophie, Logik und Poetik der Darstellung schlechthin. Zwei grundlegende Prinzipien bilden die Leitlinien dieser Poetik: (1) Jede poetische Darstellung unterliegt der Zeit und ist daher linear; dies ist die Grundlage für eine Poetik alternierender Töne und Vorstellungen; (2) keine Darstellung ist der einfache, direkte Ausdruck eines vorgegebenen Zustands oder Wesens; folglich gibt es nicht nur eine Folge von Tönen, sondern jeder sich manifestierende Ton ist der »Kunstcharakter« eines »Grundtons«, der als solcher nicht erscheinen kann, sondern nur im Ausdruck seines Gegenteils. So ist beispielsweise die Grundkonstellation des Tragischen ein ihr zugrunde liegender »Grundton« ursprünglicher Einheit und intellektueller Anschauung, der nur dadurch zur Darstellung kommen kann, dass man Stück für Stück die Einheit zerreißt und auf tragische, schmerzhafte Weise zerstreut, was einmal eins war. Was Hölderlin als die Grundbedingung des Tragischen beschreibt, gilt für jegliche Form der Darstellung. Hölderlins Terminologie, und darin inbegriffen die Differenzierung eines musikalischen »Grundtons«, sowie der figural-künstlerische Charakter der Darstellung nehmen in gewisser Weise die Vorstellungen des frühen Nietzsche von einer dionysischen, musikalischen Grundlage des Seins sowie seiner apollinischen Manifestation in festgelegten Formen und in der Schönheit vorweg. Hölderlins Kritik an der Ausdrucksästhetik im Namen einer Poetik der Darstellung findet ihr Gegenstück in einer dichterischen Praxis, deren Ton und Diktion umso idiosynkratischer wird, je weiter sie sich davon entfernt, Dichtung als Form individuellen Selbstausdrucks zu begreifen. Als Hölderlin an seinem letzten großen Werk arbeitete, war er sich der Distanz seines Schaffens von der zeitgenössischen dichterischen Pro- 1808 I Eine poetische Revolution 649 duktion sehr wohl bewusst. In einem Brief an seinen Verleger Friedrich Wilmans erwähnt er im Dezember 1803 die »noch kinderähnliche [n] Kultur« seiner Zeit und stellt dem »müden Flug« der Liebeslieder »das hohe und reine Frohlocken vaterländischer Gesänge« gegenüber. Die Gegensätze stehen metonymisch für zwei poetische Pole: Dichtung als privater Selbstausdruck von Gefühlen im Gegensatz zur öffendichen Dichtung über die historische Verfasstheit der Zeit mit ihren kulturellen und nationalen Besonderheiten. »Vaterländische Gesänge« meint nicht so sehr patriotische Gesänge, sondern Gedichte, die die Darstellung und Formulierung des gesamten symbolischen und bildlichen Spektrums der Epoche zum Ziel haben. »Vaterländisch« sind sie in dem Sinn, den die französischen Wörter patrie und patriote nach der Französischen Revolution annahmen, als la patri vor allem den revolutionären Staat bezeichnete und les patriote, im Gegensatz zu den royalistischen Aristokraten, die Revolutionäre und Jakobiner meinte. Das ändert natürlich nichts daran, dass es sich dennoch um eine Revolution im Namen des Vaters handelte, die Wiedereinsetzung des Patriarchen durch die brüderliche Horde. So nahmen im 19. Jahrhundert Nationalisten und im 20. Jahrhundert die Nationalsozialisten das Wort, zusammen mit einem Teil von Hölderlins Werk, in Beschlag. Die zitierte Stellungnahme Hölderlins zur Kultur seiner Zeit stammt aus dem Todesjahr Klopstocks (1724-1803), der wohl treibenden Kraft in dem Umwandlungsprozess, den die deutsche Lyrik im 18. Jahrhundert durchmachte. Klopstocks Dichtung war für Hölderlin die einzige Ausnahme in der »noch kinderähnlichen Kultur« mit ihrem »müden Flug« der Liebeslieder. In mancherlei Hinsicht sah er gar sich selbst als Klopstocks Erbe. Die Experimente des Meisters mit dem klassischen Versmaß hatten in der deutschen Dichtung die Basis für eine neue Auffassung von Metrum und Rhythmik gelegt. Klopstock konditionierte die deutsche Sprache sozusagen für das fremde Maß griechischer und lateinischer Verse und für Odenfbrmen, in denen Hölderlin unübertroffene Meisterschaft erlangen sollte. Mit Patmos, einem der drei Gedichte, die im Musenalmanach für das Jahr 1808 veröffentlicht wurden, übernahm Hölderlin Klopstocks Rolle. Landgraf Friedrich von Hessen-Homburg hatte Klopstock 1802 gebeten, ein umfassendes religiöses Gedicht zu schreiben, das der Unterminierung der Religion und der Theologie entgegenwirken sollte, die seinen Befürchtungen nach von der Aufklärung und der modernen Philosophie ausging. Klopstock hatte abgelehnt, und Hölderlin, der über seinen Freund Sinclair von dem Anliegen gehört hatte, schrieb ein langes Gedicht, das von dem mutmaßlichen Verfasser der Apokalypse auf der Insel Patmos handelt, den er darin auch anspricht. Das Manuskript schickte er, mit einer Widmung für den Landgrafen versehen, an Sinclair, der es ihm am 30. Januar 1803 zu dessen Geburtstag überreichte. Sinclair berichtet, der Landgraf habe mit Dankbarkeit und Freude reagiert. Eine direkte Antwort des Landgrafen ist nicht überliefert. 6co 1808 I Eine poetische Revolution 1808 I Eine poetische Revolution 65:1 Trotz all der religiösen und christlichen Motive war das Gedicht kaum geeignet, die frommen Befürchtungen des Landgrafen zu zerstreuen. Die Reise des Dichters zur Insel Patmos ist ebenso gut eine Reise zu dem apokalyptischen Visionär der Christenheit, wie es eine Reise zu Hölderlins symbolträchtigster Landschaft ist - der der alten Griechen und ihrer orientalischen, asiatischen Vorfahren. Und, viel mehr noch, es ist wie viele spätere Gedichte Hölderlins ein Gedicht über die hochgefährdete Stellung von Propheten, Visionären und Dichtern. Hölderlin ist oft als »prophetischer« und »visionärer« Dichter bezeichnet worden; er selbst nennt Klopstocks außergewöhnliches Werk »prophetisch«. Doch ist - gemäß Schlegels Wort vom Historiker als »rückwärtsgewandten Propheten« — Hölderlins prophetische Stimme weniger mit den Dingen, die da kommen, befasst als mit einer peniblen Auslegung vergangener und gegenwärtiger Zeichen. »Patmos« endet mit der Ermahnung, dass Dichtung gute Deutung sein müsse: »daß gepfleget werde / Der veste Buchstab, und bestehendes gut / Gedeutet« (224-226). Im Gegensatz zu der im späten 18. Jahrhundert gängigen Rede vom Dichter als Schöpfer und Erzeuger unterläuft Hölderlins Dichtung alle Vorstellungen vom »kreativen Schreiben«. Sein Dichter ist viel eher ein »Zeuge« als ein Schöpfer oder Erzeuger. Die Rolle des Zeugen ist jedoch prekär. In Hölderlins späterem Werk wird diese Gefahr oft thematisiert. Die Figur des Johannes, der die Apokalypse schrieb, ist ein solcher Zeuge, und Rousseau verkörpert das Bild des modernen Propheten. Rousseau erscheint in dem Gedicht Der Rhein wie auch in einer Ode namens »Rousseau«, welche — kurioser- und bezeichnenderweise - die Umarbeitung einer Ode ist, der er zunächst den Titel »An die Deutschen« gegeben hatte. Was als historisch-prophetische Anrufung der Deutschen begonnen hatte, wandelte sich zu einer selbstreflexiven Meditation über die Legitimation und die Möglichkeiten der dichterischen Stimme angesichts der Geschichte. Für Hölderlin stellt Rousseau das moderne Paradigma einer derartigen Stimme dar. Es geht immer um die Frage, was das Wort des Dichters legitimiert und wie es geschieht, wenn das Dichterwort etwas Wahres bezeugt, wenn etwas Wahres sich in ihm ereignet, dass der Zeuge nicht dem Feuer des wahren Wortes anheimfällt. Im Hintergrund ist immer Semele als mahnendes Beispiel gegenwärtig, die den Gott in seiner wahren Erscheinung schauen wollte und dabei vom Blitz des Realen getroffen und eingeäschert wurde. Die poetische Darstellung ist ebenso sehr ein schützendes Verhüllen des Seins, wie es seine Enthüllung ist. Hölderlins unablässige Rückwendung zu den Griechen, den griechischen Formen und den griechischen Göttern kann nicht auf ein nostalgisches Betrauern einer verlorenen Kultur reduziert werden, auch wenn Trauer mit Sicherheit eine schöpferische Kraft in Hölderlins poetischer Sprache ist. Es geht in ihr in erster Linie um den Versuch einer Deutung und das beharrliche Ergründen einer historischen Konstellation. Was die Franzosen la querelle des ernciens et des modernes nennen, ist seit der Renaissance ein konstitutives Element der zahlreichen kulturellen Selbstfindungspro-zesse in Europa gewesen; immer dann, wenn eine Nationalkultur in eine für ihre Prägung entscheidende Phase trat. Dies hat sich in Deutschland im 18-Jahrhundert abgespielt. Für Hölderlin war ein modernes kulturelles Selbstverständnis nur durch ein gründliches Durcharbeiten dieser Frage vorstellbar, und durcharbeiten meint dabei weder simple Nachahmung noch simple Ablehnung, sondern Herausarbeitung historischer Unterschiede. Je tiefer sich Hölderlin in die griechische Kultur vertiefte, desto deutlicher sah er den Unterschied zur Moderne vor sich. In Hölderlins Dichtung werden diese Fragen nicht ausdrücklich angesprochen, sie präsentiert sie in einer poetischen Sprache, die keine Gedankenlyrik ist. Dichtung war für Hölderlin eine spezielle Denkungsart, die sich von der Philosophie unterscheidet, aber auf ihre Art gleichwertig, wenn nicht sogar wirkungsmächtiger ist. Seine Dichtungstheorie der wechselnden Töne erlangt hier eine weitere Bedeutung: die dichterische Darstellung bewegt sich in kalkulierter Abfolge durch die verschiedenartigen Formen menschlicher Vorstellung: Empfindungen, Reflexion und intellektuelle Anschauung. Das poetische Denken ist nicht in diesen einzelnen Formen zu verorten, sondern in ihrer Anordnung und Aufeinanderfolge, vor allem in den Zäsuren, den Unterbrechungen im Fluss der Vorstellungen. Lange vor Nietzsche hatte Hölderlin in der offensichtlichen Heiterkeit und Klarheit der griechischen Kultur und ihrer künstlerischen Darstellung einen dunkleren, leidenschaftlichen, gewaltvollen Hintergrund entdeckt, etwas, das er »oriental« nannte und in seinen Sophokles-Ubersetzungen stilistisch ausdrückte. Darin bildete er etwas ab, das den Kern von Erinnerung und Geschichte ausmacht: den Effekt der Nachträglichkeit, das apres-coup, die Verzögerung, mit der Bedeutendes, das latent vorhanden ist, erst sehr viel später aufs Nachhaltigste seine Wirkung entfaltet. Eben darin bestand und besteht die Wirkung von Hölderlins Dichtung im 21. Jahrhundert. RAINER NÄGELE : Siehe auch 1730, 1748, 1796-1797, 1882, 1927 Bibliographie: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. »Frankfurter Ausgabe«. Frankfurt am Main und Basel 197c. - Sämtliche Werke und Briefe, 3 Bd., hg. von Michael Knaupp, München 1992. 6c2 [8[C I Folklore und kulturelle Identität 1815 I Folklore und kulturelle Identität 6er 1815- I Jacob und Wilhelm Grimm bearbeiten ihre Sammlung deutscher Volksmärchen. Aus der gelehrten Dokumentation wird ein Buch für die ganze Familie Folklore und kulturelle Identität 1944, als die Alliierten mit den deutschen Truppen in Kämpfe verwickelt waren, erklärte W H. Auden Grimms Märchen zu »einem der wenigen unentbehrlichen Bücher des allgemeinen Bildungsgutes, auf die sich die westliche Kultur gründet«. Seit die zwei Bände 1812 und rSic erstmals veröffentlicht worden waren, hatte Jacob und Wilhelm Grimms Sammlung deutscher Volksmärchen sich den Rang erworben, »gleich nach der Bibel« zu kommen. Zusammen mit Charles Perraults Erzählungen der Mutter Gans (deutsch erstmals als Ammen-Mährchen 1790 publiziert; im französischen Original 1697) wurden sie fast schlagartig zur allgemein anerkannten Quelle der Märchen, die inzwischen in vielen angloamerikanischen und europäischen Kulturen verbreitet sind. Mit ihrem zeitlosen Inhalt und ihrer universalen Anziehungskraft haben die Märchen international ihren Weg in verschiedene Medien gefunden, von der Oper und dem Ballett bis hin zum Film und zur Werbung. Immer wieder umgearbeitet, adaptiert, überarbeitet und umgeschrieben, sind sie bis heute eine Art kulturelle Währung, die hoch gehandelt wird und weithin akzeptiert ist. Als Jacob (178J-1863) undWilhelm (1786—1859) Grimm zum ersten Mal die Idee kam, deutsche Volksmärchen zusammenzutragen, schwebte ihnen ein wissenschaftliches Projekt vor. Sie wollten die »reine« Stimme des deutschen Volkes einfangen und die orakelähnliche »Naturpoesie« der einfachen Leute schriftlich festhalten. Damals zirkulierten in den Städten und Dörfern wertvolle Schätze folkloristischen Volksguts noch immer von Mund zu Mund, doch ihr Überleben war, wie sie meinten, durch die fortschreitende Industrialisierung und Urbanisierung in Gefahr, so dass sofortiges Handeln erforderlich schien. Unter der Last einer gewichtigen Einleitung und versehen mit ausufernden Anmerkungen, schien die erste Ausgabe von Grimms Märchen eher ein Wälzer für Gelehrte denn ein Buch für ein breites Publikum zu sein. Es enthielt nicht nur die klassischen Märchen, die wir mit dem Namen »Grimm« verbinden, sondern auch Scherze, Legenden, Fabeln, Anekdoten und alles mögliche sonstige Sagengut. Die 211 Märchen in der siebten und letzten Ausgabe von 1857 sind zu einem Fundus deutscher Volkskultur geworden, einem Kompendium derjenigen Geschichten, in denen, wie man fand, die nationale Identität abgebildet und vorgeprägt war. Es ist noch immer ein vordringliches Interesse vieler Volksgutforscher und Literaturhistoriker, weiterhin die Auffassung zu verbreiten, dass die Märchen der Brüder Grimm ihre Wurzeln in einer bäuerlichen Kultur hatten und spontan von Geschichtenerzählern kreiert wurden, indem sie das kreative Unbewusste des deutschen Volkes >abhörten<. Seit einigen Jahrzehnten haben jedoch wissenschaftliche Untersuchungen zum Ursprung der Märchensammlung die An- nahme in Frage gestellt, dass Grimms Volksmärchen Beispiele unmittelbarer »Volkspoesie« oder »Naturpoesie« sind. Die Brüder Grimm stützten sich bei der Zusammenstellung ihrer Sammlung auf zahlreiche mündliche und schriftliche Quellen. Die Anmerkungen zu den Märchen lassen erkennen, wie gründlich sie verschiedene bereits vorliegende nationale Sammlungen durchforstet und sich auf literarische Quellen und europaweit verbreitete Analogiefälle gestützt hatten, um die »definitive« Volksversion eines Märchens zu erhalten. Während sie wohl im Bemühen, mündlich tradierte Märchen aufzufinden, ihr Netz nicht allzu weit ausspannen konnten - so räumten sie in ihrer Vorrede ein, dass es ihnen nicht möglich war, breite Nachforschungen anzustellen -, verbrachten sie doch viele Jahre damit, zuzuhören, sich Notizen zu machen und verschiedene Versionen von jedem Märchen aufzuzeichnen. Die überwiegende Mehrheit ihrer Informanten waren gebildete Frauen aus ihrem eigenen sozialen Umfeld, doch nahmen sie auch Märchen auf, die ihnen von ungebildeten Geschichtenerzählern aus dem Volk erzählt wurden. Dorothea Viehmann, Witwe eines Schneiders und Tochter eines Wirtshausbesitzers mit ausgerechnet hugenottischer Abstammung, wurde ironischerweise zur Kronzeugin für die folkloristische Authentizität der Sammlung. Während die Grimms einerseits alles daransetzten, die sprachliche »Reinheit« ihrer Sammlung zu betonen, unterließen sie es doch, anzumerken, dass die Versionen, die man ihnen dargeboten hatte, sich beträchtlich von dem unterscheiden mussten, was zur Erntezeit oder in der Webstube erzählt wurde. Der »innere gehaltige Werth«, auf den sie in der Einleitung hinweisen, mag wohl erhalten geblieben sein, aber die Art und Weise, wie die Märchen erzählt wurden, muss stark abgewandelt worden sein, zu einem Spracliregister, das sich enorm von der derben Sprache, dem zotigen Humor und den bodenständigen Zügen der im Volk gängigen Versionen unterschied. Wen würde es erstaunen zu hören, dass den Informanten aus allen sozialen Schichten daran gelegen war, die ehrwürdigen Brüder mit ihrer guten Erziehung und ihrer höflichen Ausdrucksweise zu beeindrucken? Zu großen Teilen ließen sich die Brüder Grimm bei der Erstellung der ersten Ausgabe der Märchen und ihrer Veröffentlichung während der Napoleonischen Kriege von wissenschaftlichem Ehrgeiz und patriotischem Eifer leiten. Doch kaum war die Sammlung gedruckt, brachten Rezensenten Kritik vor, welche die beiden (in erster Linie Wilhelm) zurück an den Schreibtisch trieb, um Überarbeitungen, Umarbeitungen und Umstellungen vorzunehmen. Ein Kritiker verurteilte die Sammlung, weil sie mit französischen und italienischen Einflüssen behaftet sei. Ein anderer beklagte die riesige Menge an »pathetischen« und »geschmacklosen« Inhalten und warnte Eltern, den Band nicht in die Hände ihrer Kinder gelangen zu lassen. August Wilhelm Schlegel und Clemens Brentano waren enttäuscht vom groben Ton der Märchen und rieten zu einigen Kunstgriffen, um sie ansprechender zu machen. 6c4 181; I Folklore und kulturelle Identität In immer wieder neuen Auflagen kleidete Wilhelm Grimm die Texte so aus, dass sie oft auf das Doppelte ihrer ursprünglichen Länge anwuchsen. Er feilte so lange an der Prosa, bis diese niemand mehr als grobschlächtig bezeichnen konnte. Wichtiger noch: Die Grimms änderten plötzlich ihre Meinung darüber, wen sie als Publikum für die Märchen im Auge hatten. Was zunächst als Dokumentensammlung für Gelehrte gedacht war, wurde nach und nach zur Bettlektüre für Kinder. Schon 1815 schrieb Jacob seinem Bruder, dass sie sich ausgiebig über eine Neuausgabe des ersten Teils der Kindermärchen besprechen müssten, und drückte seine große Hoffnung aus, dass sich dadurch die zweite, überarbeitete Ausgabe gut verkaufen würde. Während also Wilhelm Grimms Sohn behauptete, dass Kinder ein Buch in Besitz genommen hätten, das eigentlich nicht für sie gedacht gewesen war, hatte Wilhelm Grimm dieser Entwicklung eindeutig Vorschub geleistet, indem er »jeden für das Kindesalter nicht passenden Ausdruck« getilgt hatte. In der Praxis bedeutete das, dass im Grunde jede Anspielung auf eine voreheliche Schwangerschaft entfernt wurde. In der ersten Ausgabe der Märchen hat Rapunzels tägliches Stelldichein mit dem Prinzen im Turm gewichtige Konsequenzen: »Sag sie mir doch, Frau Gothel, meine Kleiderchen werden mir zu eng und wollen nicht mehr passen«, fragt die erstaunte Maid die Zauberin. In der zweiten Auflage fragt Rapunzel die Zauberin lediglich, warum es ihr so viel schwerer falle, sie zum Fenster hochzuziehen, als den Prinzen. »Hans Dumm«, die Geschichte eines jungen Mannes, der Frauen allein durch den Wunsch, sie mögen ein Kind bekommen, schwanger machen kann (und dies auch tut), wurde in der zweiten Auflage gestrichen. »Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich«, das erste Märchen der Sammlung, endet nicht mehr damit, dass sich das überglückliche Paar für die Nacht ins Bett der Prinzessin zurückzieht, sondern mit einem vorhochzeitlichen Besuch beim königlichen Vater. Die Grimms achteten darauf, alle Reste von gewagtem Humor in den Märchen, die sie aufnahmen, zu tilgen, hatten jedoch keine Vorbehalte dagegen, gewaltsame Stellen zu erhalten und in manchen Fällen noch zu steigern. Aschenputtels Stiefschwestern bleibt es in der zunächst aufgenommenen Version erspart, geblendet zu werden, doch in der zweiten Ausgabe der Märchen hacken ihnen Tauben die Augen aus, und der Geschichte wird eine moralische Stellungnahme beigefügt: »Und waren sie also für ihre Bosheit und Falschheit mit Blindheit auf ihr Lebtag gestraft.« Rumpelstilzchen ergreift in einigen Versionen seiner Geschichte hastig die Flucht auf einem fliegenden Löffel, aber dann entschieden sich die Brüder Grimm, zu zeigen, wie sehr Rumpelstilzchen außer sich ist, indem es sich in zwei Stücke zerreißt. In den aufeinander folgenden Editionen der Märchen werden auch die grausigen Einzelheiten über das Schicksal von Dornröschens erfolglosen Freiern, wenn sie daran scheitern, die Hecke um das Schloss zu erklimmen, immer deutlicher ausge- 1815 I Folklore und kulturelle Identität 6cr führt: »denn die Dornen, als hätten sie Hände, hielten fest zusammen, und die Jünglinge blieben darin hängen, konnten sich nicht wieder losmachen und starben eines jämmerlichen Todes«. 1823 brachte Edgar Taylor eine Ubersetzung ausgewählter Märchen aus der Sammlung der Grimms unter dem Titel German Populär Stories heraus. Diese Ausgabe, die Illustrationen von George Cruikshank enthielt, brachte die Grimms auf die Idee, eine Kompaktversion der Märchen, die sogenannte Kleine Ausgabe, zu besorgen. Diese Auswahl von fünfzig Märchen, die rechzeitig zu Weihnachten 1825 erschien, machte deutlich, dass die Grimms als neue Adressaten ihrer Sammelarbeit die Kinder sahen. Das ursprüngliche Ziel, eine Art Archiv für das Kulturgut des Volkes zu schaffen, wich nach und nach dem Wunsch, ein Erziehungsbuch zu erstellen. Heute lesen Erwachsene und Kinder Grimms Märchen in nahezu jeglicher Gestalt und Form: illustriert oder annotiert, gesäubert oder geschönt, in der damaligen sprachlichen Originalform oder gekürzt, als Parodie oder respektvoll neu aufgelegt. Noch beeindruckender ist, dass die grimmschen Geschichten sich über einen großen Bereich der Medien ausgebreitet haben. Rotkäppchen wird dafür benutzt, Mietwagen zu bewerben und Johnny Walker Red Label zu verkaufen; Disneys Schneewittchen war auf der Leinwand zu sehen, wie sie vom Prinzen singt, der sie für mehrere Generationen von Kindern retten wird; »FitchersVogel« ist in einer Neuausgabe mit Fotografien von Cindy Sherman erschienen; Maurice Sendak hat ausgewählte Märchen illustriert; und Humperdincks Honsel und Gretel wird regelmäßig in den Opernhäusern gegeben. Die grimmschen Märchen dienten als Rohmaterial für literarische Werke wie Anne Sextons poetische Adaptionen der Märchen unter dem Titel Transformations (Verwandlungen), Margaret Atwoods Robber Bride (Die Räuberbraut) und Angela Carters Kurzgeschichtenband The Bloody Chamber (Blaubarts Zimmer). Die Märchen der Brüder Grimm spielen eine herausragende Rolle in den kulturellen Zeugnissen der deutschsprachigen Länder, wo sie als Text, Textvorlage und Subtext für Erzählwerke, die sich sowohl an Erwachsene wie auch an Kinder richten, gedient haben. Die Leser können ihren Grimm in wissenschaftlicher, mit Fußnoten versehener Form, in illustrierten Einzelausgaben, in gekürzter Form in Anthologien oder in modernen Adaptionen bekommen. Sie werden in den Werken von Sigmund Freud, Ernst Bloch und Walter Benjamin auf Grimms Märchen stoßen, die alle die grundlegende Wirkung der Geschichten erfasst hatten und sie als kulturell symptomatische Texte verstanden. Sie werden eine Fülle von intertextuellen Bezügen zu den Märchengeschichten bei Bertolt Brecht, Alfred Döblin und Günter Grass entdecken. Die mächtige Nachwirkung der Märchen fordert die Leser heraus, die gesellschaftliche Kraft, die den Märchen innewohnt, und ihre psychologische Verankerung in der allgemeinen und der literarischen Vorstellungswelt zu begreifen. 6$6 1815 I Folklore und kulturelle Identität 1815 J Folklore und kulturelle Identität 657 Im Laufe der letzten zwanzig Jahre haben die grimmschen Märchen alle anderen folkloristischen und literarischen Werke im Wettbewerb um eine feste Rolle im Kanon übertroffen. Als authentische Quelle deutschen Volksgutes verherrlicht, wurde die Sammlung in die Lehrpläne der meisten deutschen Bundesländer aufgenommen und ist zu einem Nationaldenkmal geworden, das die Tiefe und Reichweite der kulturellen Imagination würdigt. Es ist wenig überraschend, dass in den 1930er Jahren die Regierung des nationalsozialistischen Deutschland den Kult um die Sammlung der Brüder Grimm förderte und sich für ihren Gebrauch als »Hausbuch« einsetzte, um in den Kindern ein Gefühl von Rassenstolz hervorzubringen. In vielen Kommentaren aus der Nazi-Zeit werden die Protagonisten der Märchen als Vorbilder »völkischer Tugend« gesehen, die ihren Rasseninstinkten folgen und mutig dafür kämpfen, einen reinrassigen Ehepartner zu finden. Die »Arbeitsgemeinschaft für deutsche Volkskunde« hob die wichtige Rolle hervor, die die grimmsche Sammlung beim Aufbau des Gefühls, einer Kulturgemeinschaft anzugehören, und bei der Schaffung eines starken Nationalgefühls habe. Nach dem Zweiten Weltkrieg gaben die alliierten Besatzungskräfte deutliche Warnungen vor den unheilvollen Aspekten der Geschichten heraus - mit wenig Erfolg, denn die Sammlung hat ihre Anziehungskraft für die Öffentlichkeit nie verloren. Dass Grimms Märchen Geschichten enthält, die vom Typus her denen vieler anderer Kulturen ähneln - zum Beispiel Rotkäppchen oder Aschenputtel -, legt die Annahme nahe, dass die Plots von Märchen Psycho-dramen darstellen, die über kulturelle Unterschiedlichkeiten hinausreichen. Im Vorwort zur ersten Ausgabe beziehen sich die Grimms darauf, dass die Märchen »treu denselben Grund« bewahrten, der über die regionalen Varianten hinaus beständig bleibt. Die in den Geschichten geschilderten Ereignisse, sagen sie, seien so grundlegend, dass viele Leser sie im wahren Leben schon erlebt haben. Merkwürdigerweise beinhalten diese Ereignisse das Verlassenwerden und Morddrohungen: »Die Eltern haben kein Brod mehr, und müssen ihre Kinder in diese Noth verstoßen, oder eine harte Stiefmutter läßt sie leiden, und mögte sie sogar zu Grunde gehen lassen.« Es mag zutreffen, dass das hilflose Zurücklassen von Kindern und feindselige Stiefmütter in dem rauhen gesellschaftlichen Klima vergangener Epochen häufiger an der Tagesordnung waren, aber selbst zur Zeit der Brüder Grimm war der Kontrast zwischen den Hauptthemen der Märchen und den zeitgenössischen gesellschaftlichen Praktiken riesengroß. Psychologen sind zu der Auffassung gekommen, dass Märchen eher innere Realitäten als historische Tatsachen abbilden. »Im Märchen«, erklärte Bruno Bettelheim, »werden innere Vorgänge zum Ausdruck gebracht; in der Darstellung der Märchengestalten und Ereignisse werden sie verständlich.« In der Hoffnung, Märchen wieder für therapeutische Zwecke zurückgewinnen zu können, argumentierte Bettelheim, dass Kinder Märchen brauchen, um in familiären Konfliktsituationen und angesichts feindseliger Gefühle zu bestehen. Kulturhistoriker haben gegen aas, was sie als Verflachung der Märchen und Verleugnung ihrer kulturellen Gebundenheit empfinden, protestiert. Für Robert Darnton, Eugen Weber und andere bieten Märchen wie Fenster Einblick in die geistigen Vorgänge vergangener Jahrhunderte; sie enthüllen, was gesellschaftlich, wirtschaftlich und persönlich im Alltag bestimmter Kulturkreise zur Debatte stand. Vor einiger Zeit stiegen feministische Kritikerinnen in die Diskussion ein und stellte sich an die Seite der Historiker, indem sie die Geschichten mit Ammenmärchen gleichsetzten, also einer oralen Tradition aus Anekdoten, Klatsch, Familiengeschichte und Phantasiegeschichten. Marina Warner sieht in diesen Geschichten eine Form des gesellschaftlichen Reglements und der Verhandlung von Fragen, die von der Romanze, Werbung und Heirat hin zu Geschwisterrivalität und Generationskonflikten reichen. Im 19. Jahrhundert wurden die Stoffe der vorwiegend weiblichen Erzählerinnen von männlichen Sammlern aufgeschrieben und von variierbaren Erzählungen, in die neue Werte oder gesellschaftliche Moralvorstellungen flexibel aufgenommen werden konnten, zu streng kodifizierten Geschichten umgewandelt. In vielerlei Hinsicht erhält man mit der grimmschen Sammlung Mythen und Kulturgeschichte kompakt gebündelt. Indem die Märchen Konflikten eine vertraute Wendung geben und dabei Geschichten aus unserem Fundus kollektiver Vorstellungen abrufen, sind sie kulturell symptomatisch, zeitweise sogar auf unheimliche Weise hellsichtig. Geschichten aus Grimms Märchen mögen vielleicht Ängste widerspiegeln, wie sie uns alle befallen - die Furcht davor, verlassen, angegriffen oder verschlungen zu werden -, sowie allgemeingültige Phantasien von Liebe und Reichtum, doch zeigen sie auch, wie bestimmte Befürchtungen und Wünsche sich regional unterschiedlich ausprägen können. Ein international verbreiteter Geschichtstypus, bekannt als »Die drei Geschenke«, ist in der grimmschen Version auf unheilvolle Weise ausgeführt. »Der Jude im Dorn« glorifiziert einen strammen, harmlosen teutonischen Burschen und dämonisiert die Juden als gierige, verkommene Monster, die öffentliche Demütigung und Bestrafung verdienen. Die Märchensammlung der Brüder Grimm ist zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen diverser Fachbereiche geworden. In den vergangenen Jahren hat man begonnen, die Kraft, die diesen kulturell bedeutsamen Geschichten innewohnt, zu würdigen; sie spiegeln nicht nur psychische Sachverhalte und gelebte Erfahrung wider, sondern haben auch Leben geformt, indem sie kulturelle Ängste und Wünsche manifestieren. »Wo sonst hätte ich den Gedanken herhaben sollen, schon so früh im Leben«, schreibt Margaret Atwood über die Sammlung der grimmschen Märchen, »dass Worte einen verändern können?« MARIA TATAR 6c,8 Das Okkulte, das Phantastische und die Grenzen des Rationalen 1 : Siehe auch 1808, Oktober 1929, 27. Februar 1936, 1949 Bibliographie: Jacob und Wilhelm Grimm, Kinder- und Hausmärchen, hg. von Heinz Rölleke Stuttgart 1980. -W H. Auden, »In Praise of the Brothers Grimm«, New York Times Book Review (12. November 1944), Nr. 28. — Bruno Bettelheim, Kinder brauchen Märchen, Stuttgart 1977. - Robert Darnton, »Peasants Teil Tales: The Meaning of Mother Goose«, in The Great Cat Massacre ad Other Episodes in French Cultural History, New York 1984. - Maria Tatar, Von Blaubärten und Rothiippchen, Salzburg 1990. - Christa Kamenetsy, The Brothers Grimm end Their Critics;Folktales and the Quest for Meaning, Athens 1992. 1818 I Daniel Schmolling wird für die Ermordung seiner Verlobten hingerichtet Das Okkulte, das Phantastische und die Grenzen des Rationalen 1817 fand man am Rande von Berlin den Tabakspinnergesellen Daniel Schmolling neben seiner tödlich verwundeten Verlobten. Er gab zu, sie erstochen zu haben, und wurde inhaftiert und wegen Mordes vor Gericht gestellt. Obwohl die Tat vorsätzlich ausgeführt worden war, gab es kein erkennbares Motiv, nur einen mysteriösen Drang, der ihn dazu getrieben hatte. In Ermangelung eines Motivs für das Verbrechen erbat Schmollings Verteidiger das Expertengutachten eines Psychiaters, eines gewissen Dr. Merzdorff. Kraft des psychiatrischen Befunds, dass sich Schmolling zum Zeitpunkt der Tat geistig nicht in der Gewalt gehabt habe, argumentierte die Verteidigung, dass der Angeklagte nicht für den Mord zur Verantwortung zu ziehen sei, wohl aber in Polizeigewahr-sam bleiben sollte. Das Verbrechen, so Merzdorff, sei ein Ausbruch von Schmollings sonst nur latent vorhandener Form des Wahnsinns, die sich weder körperlich noch geistig zu erkennen gebe und von den medizinischen Experten »amentia occulta« genannt werde. Der Richter weigerte sich, die medizinische Erklärung anzuerkennen, und befand den Angeklagten für des Mordes schuldig. Das Urteil wurde vom Berufungsgericht bestätigt. In seiner Darstellung des juristischen Sachverhalts zitierte der Richter im Berufungsverfahren die neueste psychiatrische Fachliteratur, nach der »amentia occulta« als medizinischer Entlastungsgrund wissenschaftlich unhaltbar sei. Das Fehlen eines Tatmotivs reiche als Beweis für die Geisteskrankheit des Verteidigten nicht aus. Darüber hinaus erweise auch die philosophische Betrachtung des Sachverhalts, dass eine letztgültige Einsicht in das, was eine Person zu ihren Entscheidungen veranlasst, dieser Person verborgen bleibt. Folglich sei die fehlende Verfügbarkeit eines klaren Motivs kein Kriterium für die Unterscheidung zwischen dem Normalen und dem Pathologischen. Der Berufungsrichter, der hier seine Meinung ausführte, war E.T.A. Hoffmann (1776-1822). Ein Jahr später veröffentlichte Hoffmann eine Erzählung mit dem i8t8 I Das Okkulte, das Phantastische und die Grenzen des Rationalen 6C9 Titel »Das Fräulein von Scuderi«. Umgehend ins Französische übersetzt, war sie der Ausgangspunkt für den immensen Ruhm Hoffmanns in Frankreich im 19. Jahrhundert. Als dauerhaftester Beweis der begeisterten Wahrnehmung E.T.A. Hoffmanns als romantischer Künstler und Erzähler des Phantastischen entstand Jacques Offenbachs berühmte Oper Les contes d'Hoffmann (Hoffmarins Erzählungen), die ihre Weltpremiere am 10. Februar 1881 in Paris erlebte. »Das Fräulein von Scuderi« kann eine Detektivgeschichte genannt werden oder auch eine Erzählung über den Ursprung der Detektivgeschichte, da das Genre im historischen Kontext Frankreichs im 17. Jahrhundert verortet wird, als die organisierte Polizei gerade aufgebaut wurde. Die Schriftstellerin Madeleine Scuderi, die altjüngferliche Hauptfigur, wird zur Urmutter von Miss Marple, indem sie eine Reihe von rätselhaften Juwelendiebstählen aufklärt, nachdem selbst die raffiniertesten Bemühungen der erst jüngst geschaffenen Polizei ohne Erfolg geblieben waren. Die Verbrechen sind von dem berühmten Goldschmied Cardillac begangen worden, der, von einem mysteriösen inneren Drang befallen, seinen Kunden während ihrer nächtlichen Besuchsgänge zu ihren Geliebten folgt. Er umfasst sie von hinten mit den Armen und sticht zu, dann raubt er ihnen ebenden Schmuck, den er zuvor für sie geschaffen hat. In dem Maße, wie die Schönheit und die Machart des Schmuckes einzigartig sind, ist Cardillac nicht einfach nur ein Kunsthandwerker - er ist auf tief empfundene Weise ein Künstler. Seine Kunstfertigkeit und die Besessenheit, seine Kunden ermorden zu müssen, rühren beide, wie Hoffmanns Erzählkonstrukt zeigt, von einem durch die Mutter auf ihn übertragenen Begehren her. Im ersten Monat ihrer Schwangerschaft war Cardillacs Mutter ganz hingerissen gewesen vom Schmuck eines Höflings, eines einstigen Verehrers. Sie suchte ihn auf, und als sie sich heimlich umarmten, geschah es, dass sie sich plötzlich durch sein Gewicht zu Boden gedrückt sah, fallend gefangen in den steifen Armen eines Toten. Cardillac fühlt sich getrieben, dieses traumatische pränatale Erlebnis immer wieder durchzuspielen - ein Trauma, das ihn nicht nur den pränatalen Schock in der tödlichen Umarmung mit seinen Kunden erneut erleben lässt, sondern auch den Kreativitätsdrang bewirkt, der ihn zu einem herausragenden Künstler macht. Diese Deutung des kriminellen Goldschmieds als Verkörperung des dunklen, romantischen Künstlers fand später weiteren Ausdruck in Paul Hinde-miths Oper Cardillac (1926). In dem Maße, wie sowohl der fiktive Mörder wie auch der schuldige Mann in dem Mordfall, dem Hoffmann als Richter vorsaß (abgesehen von dem irrationalen Drang, der sie dazu treibt, ein Verbrechen zu begehen), gesund erscheinen, gleichen sich Cardillacs Obsession und Schmollings amentia occulta. In beiden Fällen sieht man sich mit der Undurchschaubarkeit einer Handlung konfrontiert, die sich einer rationalen Erklärung verweigert. In seiner Erzählung liefert Hoffmann mit dem Trauma- und 66o 1818 I Das Okkulte, das Phantastische und die Grenzen des Rationalen Verführungsmodel] eine Erklärung für die Unzugänglichkeit dieses rätselhaften Drangs: Das stärkste Begehren des Goldschmieds ist, genau genommen, das Begehren eines anderen. Es ist ein sexuelles Begehren, doch ist es, da weder sein Zweck noch sein Objekt von der Natur vorgesehen sind, grundlegend pervers. Die Geschichte von Cardillacs traumatischer Begegnung, anhand deren ein Schock als Urszene der Verführung und Sexualisierung postuliert wird, ist das einzige phantastische Element in dieser ansonsten ziemlich rationalen Detektivgeschichte. In der Tat wird in Hoffmanns phantastischen Erzählungen oft eine traumatische Begegnung als Erklärung für die Undurchsichtigkeit des Begehrens und die Grenzen von Rationalität und bewusstem Handeln angeführt, ein Erklärungsmodell, das sich die latenten, aber dauerhaften Auswirkungen einer überwältigenden Kindheitserfahrung zunutze macht. Zwei von Hoffmanns bekanntesten phantastischen Erzählungen, »Der Sandmann« und »Nussknacker und Mausekönig«, sind Zeugnisse dafür, wie wichtig ein solches Schockerlebnis und die Wiederholung seiner Wirkung ist. In »Nussknacker und Mausekönig« sorgen die verführerischen, beunruhigenden Erzählungen und Geschenke, mit denen der unverheiratete Onkel Drosselmaier oder seine Abgesandten die junge Marie immer wieder überhäufen, für traumatische Erlebnisse bei dem Kind. In »Der Sandmann« ist es der Student und aufstrebende Dichter Nathanael, der dem Sandmann zu begegnen wünscht, ungeachtet der Furcht und des Schocks, die sein Auftauchen in seinen vielen Erscheinungsformen ihm einflößen. Anders als die unheilvolle Wirkung, die der Sandmann auf Nathanael hat und die ihn schließlich in eine Psychose, einen Mordversuch und zuletzt in den Selbstmord stürzt, endet Drosselmaiers onkelhaftes Gebaren nicht in gewaltvollem Tod oder Wahnsinn, sondern lediglich in der Sozialisation des Mädchens. Insbesondere in der süßlichen und vereinfachten Ballettversion konnte sich »Der Nussknacker« den Status eines alljährlichen Weihnachtsrituals erwerben, mit dem das Begehren gefeiert wird, welches die bourgeoise Konsumkultur antreibt. Auf demselben Notenmanuskript Tschaikowskys beruhend, kommt Mark Morris' Ballett »The Hard Nut«, das in den 1970er Jahren spielt, Hoffmanns Erzählung über Gewalt undVerführung jedoch viel näher als das klassische Ballett. Die Choreographie von Morris streicht die manipulative Natur der Begegnung von Drosselmaier, dem rätselhaften, talentierten Spielzeugmacher und Geschichtenerzähler, und dem Kind heraus. »Der Sandmann« mit seinem schrecklichen Ende Und seiner sardonischen Coda veranlasste Sir Walter Scott dazu, Hoffmanns »kranke« Prosa im Quarterly Review (1827) zu verdammen. Im Gegensatz zu ihm fand Sigmund Freud im »Sandmann« ein grundlegendes Modell für Erfahrungen an der Grenze des Rationalen. In »Das Unheimliche« (1919) erklärt er, dass die Ästhetik des Phantastischen, das er »das Unheimliche« nennt, auf einer Konfrontation des Lesers mit einem entscheidenden, 1818 I Das Okkulte, das Phantastische und die Grenzen des Rationalen 66] aber unterdrückten Kindheitstrauma beruht. Im Falle des »Sandmanns« stammt das unheimliche Gefühl daher, dass Nathanael von einem traumatischen Kindheitserlebnis heimgesucht wird, das zum grauenvollen Tod seines Vaters geführt hat, ein schreckliches Ereignis, das seinen Widerhall in Nathanaels Angst findet, seine ihm wichtigsten Körperteile zu verlieren, nämlich die Augen. Für Freud versinnbildlicht Nathanaels Kindheitstrauma die Kastracionsangst. Hoffmanns Erzählungen schaffen eine enge Verbindung zwischen dem traumatischen Schock — einem sexualisierenden Ereignis, das entweder zum Wahnsinn oder zum Tod führt, manchmal auch zu einem normalen Leben als Erwachsener - und dem ästhetischen Empfinden -wie der Reaktion des Lesers auf eine schockierende Geschichte, die er einzig und allein wegen ihrer Intensität schätzt. Worum es in Hoffmanns Werk zu gehen scheint, ästhetisch und poetisch, ist eine äußerst verstörende Empfindung, die nichtsdestoweniger eine stärkende, »belebende« Wirkung durch etwas angenehm Unangenehmes hat. Der auktoriale Erzähler von »Der Sandmann« bedient sich des Bildes vom Feuer, um seine Empfindungen zu beschreiben, als er von der eingangs verwendeten Darstellung in Briefform zu einer Erzählung in der dritten Person Singular übergeht und den Leser auffordert, sich den beschriebenen Zustand äußerster Erregung und Bedrängung, den der Erzähler fühlt und kommunizieren möchte, nicht nur vorzustellen, sondern auch tatsächlich zu erleben. Indem ihr Hauptaugenmerk ganz auf der Intensität des Empfindens liegt, transzendiert die Ästhetik des Phantastischen ein Darstellungsmodell der Literatur. Das Ziel eines Kunstwerks beziehungsweise einer Geschichte ist die Wirkung, die im und beim Leser oder Publikum hervorgerufen wird. Folglich muss die Rolle, Aufgabe und das Wesen des Künstlers radikal anders sein, so wie bei den fiktiven Künstlern und Kunsthandwerkern, die Hoffmanns Erzählungen als machtvolle Verführer, Scharlatane und Techniker des Imaginativen bevölkern. Letztlich muss diese neue Künstlerfigur im historischen Kontext der sich grundlegend verändernden Macht- und Wissensmodelle gesehen werden. Der Fall Daniel Schmolling, Anlass für Hoffmanns umständliche juristische Ausführungen, ist symptomatisch für den aufkommenden »Kampf der Fakultäten«. Mit einem Mal droht medizinisches Fachwissen die juristische Autorität bei der Bestimmung von Schuldfragen zu verdrängen. Hoffmanns Freund und erster Biograph Julius Hitzig nahm den Fall Schmolling nicht in seine Biographie auf, sondern veröffentlichte den gesamten Vorgang in einer Ausgabe seiner neuen Zeitschrift für Strafrecht, die sich mit der Verteidigung von Geisteskranken beschäftigte. Er führte Hoffmann als Beispiel eines Richters an, der den medizinischen Experten nicht genügend Aufmerksamkeit widmet, sondern sich stattdessen in philosophische und psychiatrische Diskussionen versteigt, die seine juristischen Kompetenzen überschreiten. Dieses Aufeinandertreffen einer älteren, ausschließlich juristischen Auffassung von Schuld und 662 |8|8 I Das Okkulte, das Phantastische und die Grenzen des Rationalen 1818 | Das Okkulte, das Phantastische und die Grenzen des Rationalen 66z den modernen Wissenschaften der Psychiatrie, Psychologie und Pädagogik, die davon ausgehen, das Individuum verstehen, dokumentieren heilen und erziehen zu können, wird im Konflikt zwischen der Polizei und Madame de Scudéri ausführlich dargestellt und kommentiert. Die Polizei nimmt Cardillacs Lehrling, Olivier Brusson, fest, den man über seinen erstochenen Meister gebeugt findet. Alle Beweise sprechen gegen ihn. Nur Scudéri ist von Brussons Unschuld überzeugt, weil sie bei seiner Verhaftung anwesend war und die heftige Trauer der von ihm geliebten Madeion, Cardillacs Tochter, gesehen hat. Ihre Überzeugung gründet sich eher auf gefühlsmäßige Intuition denn auf Faktenwissen. Und tatsächlich vertraut Brusson, von dem sich herausstellt, dass er ihr an Großmutters Statt angenommener Enkelsohn ist, allein ihrem jungfräulichen und doch mütterlichen Ohr die schreckliche Geschichte der Entdeckung von Cardillacs heimlichen nächtlichen Ausflügen an. Brussons Enthüllung bestätigt Scudéris anfängliche intuitive Überzeugung von seiner Unschuld. So betrachtet erscheint Scudéri als humaner Quell des Trostes. Vergebens streitet sie mit den Verantwortlichen bei der Polizei, um das als Enkel angenommene Kind vor der drohenden Folter zu bewahren. Doch erscheint Brusson nur im Lichte seiner engsten Familiengeschichte unschuldig, seiner ärmlichen, aber ehrlichen Herkunft und Erziehung, seiner liebevollen Zuneigung zu der alten Dame und seiner Hingabe an Madeion wegen. Nur durch Scudéris gefühlsmäßige Fokussierung können diese Informationen über Brusson genügend Bedeutsamkeit erlangen, um einen Schatten auf die Tatsache zu werfen, dass Brusson nach juristischem Dafürhalten alles andere als unschuldig ist, sondern durch sein Schweigen bei den schrecklichen Schmuck-Morden vielmehr zum schuldigen Komplizen geworden ist. Als Scuderi Brusson ihr Ohr für das Geständnis der wahren Geschichte leiht, nimmt sie die Rolle der verständnisvollen Mutter an - eine Schlüsselrolle in der Kultur der Empfindsamkeit, wie sie im 18. Jahrhundert verbreitet war. Dennoch kann sie nicht auf ein Bild bürgerlicher Häuslichkeit reduziert werden. Die ganze Geschichte hindurch wird sie auch als hingebungsvolle Hofdame gezeigt, der sich der König in Zeiten der politischen Krise anvertrauen kann. Als sie schließlich beim König vorspricht und um Gnade für Brusson bittet, hat sie das Vorgehen bei ihrer Rede sehr sorgfältig geplant. In diesem letzten Teil der Erzählung erscheint Scudéri als Künstlerin und Technikerin des Imaginären, die es nicht nur schafft, den König mit ihrem beeindruckenden Auftritt zu überzeugen, sondern auch noch eine neue Form der Machtausübung einleitet. Die Wirkung ihres Auftritts wird mit Bildern vom Feuer und vom Leben dargestellt, die von der Schock- und Verführungsästhetik der Erzählung nicht zu trennen sind. Der König ist so überwältigt »von der Gewalt des lebendigsten Lebens, das in der Scuderi Rede glühte«, dass er kaum alles erfassen kann, was sie sagt, als sie sich ihm plötzlich vor die Füße wirft und ihn bittet, Brusson zu begnadigen. Die Art und Weise, wie der König Brusson Gnade zuteil werden lässt, beweist, dass der König sich durch Scuderis Auftritt sogar dazu hat verleiten lassen, eine neue Art der Machtausübung anzunehmen. Als Brusson schließlich aus dem Gefängnis freikommt, erhält Madeion vom König eine großzügige Mitgift, damit sie ihren Geliebten heiraten kann. »Aber dann sollen beide fort aus Paris. Das ist mein Wille.« Dieses abschließende Detail und auch die Tatsache, dass das Paar sich entscheidet, nach Genf zu ziehen, der Heimatstadt nicht nur des Vaters, sondern auch Rousseaus, stellt die epochale Veränderung heraus, die sich durch die königliche Begnadigung ankündigt. Indem er Brussons Unschuld wiederherstellt und sich auch mit der Frage befasst, wie es seinem Untertan wohl ergehen wird, wenn er aus dem Gefängnis entlassen ist, zeigt der König einen völlig neuen Stil der Machtausübung. Es ist eine Machtform, bei der die Bevölkerung nach einem Ordnungsprinzip kontrolliert und ihr tägliches Leben beobachtet wird. Scuderi, die mächtige Darstellungskünstlerin, hat diesen Wandel durch ihre verführerische Rede und das kunstvolle Ins-Bild-Setzen von Madeion bewirkt. 1821 nahm Hoffmann »Das Fräulein von Scuderi« in den Erzählband Die Serapions-Brüder auf, der in der Tradition von Boccaccios Decamerone steht. Von Wieland und Goethe in die deutsche Literatur der Klassik eingeführt, wirkte das Genre des mit einer Rahmenhandlung versehenen Novellenzyklus in der Romantik in Werken wie Ludwig Tiecks Phantasus (1811-1816) weiter. Serapion, der in HofTmanns Rahmenerzählung als Schutzheiliger des ausschließlich männlichen Freundeskreises gewählt wird, ist zugleich die Hauptfigur der ersten Geschichte. Er ist ein hochgebildeter Adliger, der seine Diplomatenkarriere aufgibt, um sein Leben als Einsiedler im Wald zu fristen, wie einst der Märtyrer Serapion, mit dem er sich identisch fühlt. Das sogenannte »serapiontische Prinzip«, die Regel, nach der die Abende ablaufen, an denen jeder Teilnehmer eine Geschichte nacherzählt, besagt, dass derjenige, der eine Geschichte beisteuert, genauso Feuer und Flamme für seine Vision sein muss wie Serapion. Die Intensität der Vision ist jedoch nicht nur ein poetisches und ästhetisches Prinzip, sondern auch ein Mittel der Berauschung, ähnlich dem Alkohol, der Feuerzangenbowle, die die Freunde bei ihren Treffen trinken. Dieser kontextualisierende Rahmen macht es uns möglich, einen letzten historischen Aspekt der phantastischen Erzählung zu erkennen. Zusätzlich zu ihren psychologischen und politischen Dimensionen bieten die nach dem serapiontischen Prinzip visionärer Intensität dargebotenen Geschichten eine Fluchtmöglichkeit aus einer Welt, die zunehmend als monoton, öde und von Routine bestimmt wahrgenommen wird. Als Mittel zur vorübergehenden Berauschung befindet sich Hoffmanns Kunst in unmittelbarer Nähe zur Unterhaltungs- und Massenkultur. DOROTHEA E. VON MÜCKE 664 2- Oktober 1824 | Heines Unbeständigkeit 2. Oktober 1824 I Heines Unbeständigkeit 665 Siehe auch 1773, 1786, 1804, 1899 Bibliographie; E.T, A. Hoffmann, SämllicheWerke in sechs Bunden, hg. von Wulf Segebrecht u.a., Frankfurt am Main 1992. - Sigmund Freud. Das Unheimliche. Aufsätze zur Literatur,Frankfurt am Main 1963. - Neill Hertz, »Freud and the Sandman«, in; Textual Strategies, hg. von JosueV Harari, Ithaca 1979, S. 296-321. - Friedrich Kittler, »Eine Detektivgesdiichte der ersten Detektivgeschichte«, in; Dichter - Mutter - Kind, München 1991, S. [97-218. -Wulf Segebrecht, »E.T. A. Hoffmanns Auffassung vom Richteramt und vom Dichterberuf. Mit unbekannten Zeugnissen aus Hoffmanns juristischer Tätigkeit«, in: Jahrbuch der deutschen Scbillergesellschaft 11 (1967), S. 62-138. - Dorothea von Mücke, The Seduction of the Occult and the Rise of the Fantastic Tale, Stanford 2003. 2. Oktober 1824 Goethe in Weimar Heinrich Heine beendet seine Harzwanderung mit einem Besuch bei Heines Unbeständigkeit Heinrich Heines 1826 veröffentlichter Prosatext Die Harzreise erzählt von der Wanderung eines jungen Jurastudenten und Dichters durch den Harz, nicht weit von der berühmten Universitätsstadt Göttingen entfernt, wo Heine Jura studiert hatte. Unterwegs spaziert der junge Mann durch den Wald, besucht ein Bergwerk, steigt auf Dr. Faustus' Blocksberg und begegnet Mitstudenten, Bergleuten und bekannten Persönlichkeiten. Mal ist der Bericht eine Gesellschaftssatire, mal wird im Präsens die Natur in der Umgebung beschrieben: der taufrische Nebel, das kühle grüne Moos, die murmelnden Bachläufe. Stil und Thematik setzen, ganz im Geiste der Romantik, die Dichotomie von Gesellschaft und Natur, Konvention und Dichtung in Szene. Die Harzreise, eines von vielen journalistischen Werken, für die Heine berühmt ist, bildet einen Teil seiner beliebten Reisebilder (1824-1828), literarischen Reiseerzählungen von Besuchen im Harz, an der Nordsee und in Italien. Die Prosa ist von Gedichten durchsetzt, die, aus diesem Kontext herausgenommen, nochmals 1828 im Buch der Lieder erschienen, Heines bekanntester Sammlung romantischer Gedichte, von denen auch viele vertont worden sind. Heine (1797-1856) war zudem ein Neuerer auf den Gebieten des modernen Journalismus und des politisch engagierten Schreibens. Er gehörte zu den Ersten, die auf dem Kontinent den Beruf des belletristischen Journalisten zu etablieren begannen. Nachdem er 1831 in Paris ansässig geworden war, nahm er nach und nach die Rolle eines Kulturvermittlers zwischen den zu beiden Seiten des Rheins gelegenen Ländern an. Seine lebendigen, oft amüsanten Berichte aus der Pariser Zeit sind eine Mischung aus autobiographischen Details und politischer Reportage, Satire und Kritik, Meinungsäußerungen und persönlichem Klatsch. Sein »subjektiver Stil«, sagt er in Lutetia (i854-)' erfülle Horaz' Forderung, wonach Literatur erbauen und unterhalten solle. Seine Schrift Die Romantische Schule (1836) war dazu gedacht, einer französischen Leserschaft die deutsche Literatur näherzubringen und dem etwas entgegenzusetzen, was Heine als Madame de Staels Irrtümer in derselben Angelegenheit betrachtete. Die Abhandlung erschien zuerst in mehreren Folgen auf Französisch und bald darauf in Buchform auf Deutsch. In diesem oft zitierten Text scheint Heine sich von dem zu verabschieden, was er »Kunstperiode« nannte, die Epoche einer hochstehenden autonomen Kunst, die er mit dem Zeitalter Goethes verband; er fordert stattdessen eine neue, politisch engagierte und handfeste Kunst. Dennoch bleibt Heine ein bedeutender Lyriker, in dessen Sprachgebrauch eine sehr deutsche Form der Romantik ihren Ausdruck findet. Seine Verse sind bevölkert von Elfen und Wassergeistern, dazu kommen Traumbilder, Melancholie und ein volkstümlicher Balladenstil. Vor dem Zweiten Weltkrieg lernten in den USA die Schüler im Deutschunterricht an der High School normalerweise »Die Lorelei« auswendig. Dieses Gedicht über die verführerische Rheinsirene wurde als so urdeutsch empfunden, dass es in den Gedichtanthologien der Nazizeit enthalten war, wenn auch als Werk eines »anonymen« Dichters. Heines romantische Ader ist noch i8ci in Romanzero nachweisbar, dem Titel seines letzten Gedichtbandes. Gleichzeitig wurde Heine als linker oder gar revolutionärer Schriftsteller, der dem Soziaiismus zuneigte, gefeiert, war aber ebenso auch als solcher verschrien. Er hatte sein gesamtes Schriftstellerleben hindurch mit der Zensur zu kämpfen; seine Werke wurden zusammen mit denen anderer Autoren der Bewegung des »Jungen Deutschland« um 1840 verboten; Karl Marx zählte ihn zu seinen Freunden. Zu dieser Zeit schrieb Heine zwei bemerkenswert eigenständige epische Versdichtungen: »Atta Troll« und »Deutschland. Ein Wintermärchen«; beide weisen ihn als virtuosen Dichter aus. Beide Versepen stellen sich kritisch zur deutschen Politik und fordern eine neue Freiheit, die bereits im irdischen Leben Bedeutung haben sollte. Doch trotz des revolutionären Tons des »Wintermärchens« sprach sich Heine nie für eine bestimmte politische Partei oder Richtung aus. Heine ist eine schillernde Persönlichkeit, immer ist er mit einem anderen Gegenüber im Bund, und seine Schriften decken ein breites Spektrum von Genres ab. Das einzige wirklich Beständige in Heines Werk ist seine Unbeständigkeit und Unberechenbarkeit. Seine Wendigkeit liegt nicht in den von gesellschaftlichen Dichotomien bestimmten Themen begründet - Deutscher/Jude, Deutsch/Französisch, Journalismus/Dichtung, Jurastudent/Poet -, sondern in der subjektiven Rhetorik, die die Artikulierung ebendieser Gegensätze voraussetzt. Seine dichterische Subjektivität und sein subjektiver journalistischer Stil stellen die Verlässlichkeit des »Ichs« ebenso in Frage, wie sie sie konstatieren. Die widersprüchliche Stellung Heines zwischen einer poetischen Welt, in der alles beseelt ist und miteinander in Verbindung steht, und der davon abgespaltenen Welt der Konventionen, der Prosaik und eines spröden Historizismus kann als die Wirklichkeitsform eines anderen Widerstreits ■ 666 2. Oktober 1824 | Heines Unbeständigkeit I.Oktober 1824 I Heines Unbeständigkeit 667 angesehen werden: zwischen kodifizierten Sprachkonventionen, verbunden mit ihrer Vervielfältigung im Druck, und einer subjektiven Stirnrn-gebung, wie sie die Lyrik kennzeichnet, indem sie versucht, der Solidität des Gedruckten Individualität und Ab wechslung einzuschreiben. Mit der anwachsenden Zahl von Druckerzeugnissen (in Deutschland und Frankreich zwischen 1740 und 1800 auf das Dreifache) wird das »Ich« zu einem bloßen Behelfsmittel, einem Stückchen Schrift, das sich mit anderen verbindet. In der Harzreise macht Heine, wie so oft, Anleihen bei anderen Schriftstellern, er wiederholt Platitüden und Bruchstücke alltäglichen Geredes. Diese Art zu schreiben untergräbt die Autorität der Autobiographie und steht dem Qualitätsmerkmal der Originalität entgegen. Selbst wenn Heine die autobiographische Form verwendet, weicht er von seiner eigenen Geschichte ab. Es ist zum Beispiel wohlbekannt, dass Heine am Ende seiner Fußreise durch den Harz Goethe besuchte; doch ist diese Begegnung in der dichterischen Verarbeitung überraschenderweise ausgespart. Wäre die Harzreise tatsächlich ein autobiographisches Werk, so wäre das Treffen mit Goethe selbstverständlich eine wichtige Begebenheit gewesen. Die Auslassung lässt vielleicht den Schluss auf eine Angst Heines vor dem Einfluss zu sowie auf seine kulturelle Ambivalenz, die ihn in vielerlei Hinsicht kennzeichnet. Diese Ambivalenz ist teilweise der Grund für Heines bewegte Rezeptionsgeschichte; sein Name erregt ein Missbehagen, das von Adorno »die Wunde Heine« genannt wurde. Eine Schilderung Goethes fehlt in Heines Reisebericht ebenso wie ein Hinweis auf Goethes Gedicht »Harzreise im Winter« (1777). Statt seinen Besuch direkt anzusprechen, erwähnt der Erzähler, auf einen Schneidergesellen getroffen zu sein, »so dünn, dass die Sterne durchschimmern konnten, wie durch Ossians Nebelgeister« (Bd. 2, S. in). Die beliebte Figur des Schneidergesellen ist nicht nach einer wahren Begebenheit aus Heines Leben modelliert, vielmehr ist sie eine Imitation der Geisterfiguren aus dem bereits umstrittenen Ossian-Text. Der Reisende zitiert einige Zeilen aus Goethes Egmont fehlerhaft; der Erzähler bemerkt dazu: »Solche Korruption des Textes ist beim Volke etwas Gewöhnliches.« Der Reisende singt zudem eine Ballade, »Lottchen bei dem Grabe ihres Werthers« (ebd.), eine der vielen beliebten Imitationen von Goethes Die Leiden des jungen Werther. Später trifft der Erzähler eine Dame aus der Gesellschaft, die ihn fragt, ob er den Werther gelesen habe. Die Anspielungen auf diese Popularisierungen ersetzen eine direkte Darstellung Goethes und sollen zeigen, wie tief Goethe das Denken der Menschen durchdrungen hat. Was die Harzreise auf eigentümliche Weise zu einem historischen Dokument macht, ist nicht die realistische oder mimetische Abbildung authentischer Personen oder tatsächlicher Erlebnisse. Sie ist insofern historisch, als eine Collagetechnik verwendet wurde, bei der vom Hörensagen Bekanntes und Zitate anderer Autoren zusammengestellt wurden. Schon zu seinen Lebzeiten wurde Heine für diesen Aspekt seiner Werke kritisiert, und oft warf man ihm Plagiat oder glatte Lügen vor. Die problematische Doppelfunktion von Bericht und persönlichem Ausdruck entspringt aber nicht aus einer besonders gearteten Persönlichkeit; sie leitet sich aus der mechanischen Natur der Sprache her, die in den Grammatikregeln augenfällig ist und in gedruckter Form für die Massen emphatisch verstärkt wird. In der Harzreise äußert Heine sich im Zusammenhang mit dem Studium der Rechtsgeschichte in Göttingen despektierlich über die sinnlose Autonomie des Schreibens. In den Eingangsversen verkündet das »Ich« seinen Plan, aufzubrechen und die herzlose Stadt hinter sich zu lassen, in die Berge zu gehen, zu einem lebendigeren und naturverbundeneren Ort. Selbst in den Träumen der Göttinger Juraprofessoren zeigt sich die Leblosigkeit logischen Denkens, wie der Erzähler mitteilt: »Es war noch sehr früh, als ich Göttingen verließ, und der gelehrte ** lag gewiß noch im Bette und träumte wie gewöhnlich: er wandle in einem schönen Garten, auf dessen Beeten lauter weiße, mit Zitaten beschriebene Papierchen wachsen, die im Sonnenlichte lieblich glänzen, und von denen er hier und da mehrere pflückt, und mühsam in ein neues Beet verpflanzt, während die Nachtigallen mit ihren süßesten Tönen sein altes Herz erfreuen« (Bd. 2, S. 10c). Die weißen Papierzettel glänzen, ganz ähnlich wie der nebulöse Geist Ossians durch die Figur des reisenden Schneiders hindurchscheint. Heines Dichtung folgt den gleichen Kompositionsprinzipien des Sammeins und Verpflanzens, wobei die Figur der Nachtigall an den Rand gedrängt wird, die poetische Stimme, die den Dichtungsvorgang begleitet, aber nicht übernimmt. Heines eigenes Schreiben bedient sich der Verpflanzungen, die er kritisiert. Anhand ein und desselben Objekts wird die Ohnmacht oder Leere des »Ichs«, die es mit Leben füllen soll, wieder etabliert. Im nächsten Abschnitt hört der Erzähler, wie zwei Schuljungen sich unterhalten: »Mit dem Theodor will ich gar nicht mehr umgehen, er ist ein Lumpenkerl, denn gestern wußte er nicht mal, wie der Genitiv von Mensa heißt«, und kommentiert: »So unbedeutend diese Worte klingen, so muß ich sie doch wiedererzählen, ja, ich möchte sie als Stadt-Motto gleich auf das Tor schreiben lassen« (Bd. 2, S. 105). Die Kritik an der mechanischen Natur der Grammatik wird hier selbst zur Grammatik, litera-risiert in einer in der Phantasie vorgestellten Inschrift. Dieser Aspekt von Heines Werk ist möglicherweise der verstörends-te; denn Kritik durch Wiederholung und Inskribierung bestätigt die Macht des geschriebenen Wortes und Buchstabens, ohne eine Vorstellung von der psychologischen oder emotionalen Verfasstheit des Subjekts zu hinterlassen, das den Text unterschwellig nuancieren kann. Die Grammatik, ein überindividuelles Regelsystem, das die mögliche Produktion von Diskursen lenkt, sieht eine Subjektposition vor, der jede besondere Bezugsmöglichkeit abgeht. Die Entblößung dieser Leerstelle ist der Grund für die Unbeständigkeit und Unruhe, die sich mit dem 668 2. Oktober 1824 j Heines Unbeständigkeit Namen »Heine« verbindet. Die Doppelseitigkeit von leer und voll, oder Leben und Tod, motiviert die Bewegungen zwischen den »zwei Welten« der Harzreise. Sobald die Leerstelle erscheint, entsteht Unruhe unter der Vielfalt, deren Platz sie eingenommen hat. Diese Bewegung lässt sich ganz deutlich in der berühmten Szene in der Harzreise nachvollziehen, in der der Erzähler von der juristischen Bibliothek in Göttingen träumt. Als er beim Lesen alter juristischer Dissertationen die Zeit vergisst, schlägt die Uhr plötzlich zwölf, und eine riesenhafte Themis, mit Schwert und Waagschalen in der Hand, betritt den Raum, gefolgt von verschiedenen Fakultätsmitgliedern. Immer mehr dieser juristischen Figuren aus der Vergangenheit reihen sich auf und stimmen in die ohrenbetäubenden Debatten mit ein. Als Themis Ruhe gebietet, vergrößert sich das Chaos nur noch: »die ganze Versammlung heulte wie von Todesangst ergriffen, die Decke des Saales krachte, die Bücher taumelten herab von ihren Brettern, vergebens trat der alte Münchhausen [der erste Kurator der Universität] aus seinem Rahmen hervor um Ruhe zu gebieten, es tobte und kreischte immer wilder« (Bd. 2, S. 109 f.). Die durch Animation bewirkte poetische Kraft schafft eine geisterhafte Atmosphäre und erlaubt es dem Autor, das romantische Idyll, das er beschreibt, zu unterlaufen. Eine andere Episode der Harzreise erzählt vom Besuch in einer Bergarbeitergemeinde, ein romantischer Topos, der an Novalis und E.T.A. Hoffmann gemahnt. In seiner Beschreibung des anheimelnden Umfelds macht Heine den Zusammenhang von Animation, dem Verschmelzen der Subjektivität mit ihrer Umgebung und dem Phantasma der Originalität oder unmittelbaren Erfahrung deutlich. Er beschreibt das Leben der Bergleute: So stillstehend ruhig auch das Leben dieser Leute erscheint, so ist es dennoch ein wahrhaftes, lebendiges Leben. Die steinalte, zitternde Frau, die, dem großen Schranke gegenüber, hinterm Ofen saß, mag dort schon ein Vierteljahrhundert lang gesessen haben, und ihr Denken und Fühlen ist gewiß innig verwachsen mit allen Ecken dieses Ofens und allen Schnitzeleien dieses Schrankes. Und Schrank und Ofen leben, denn ein Mensch hat ihnen einen Teil seiner Seele eingeflößt. Nur durch solches tiefes Anschauungsleben, durch die »Unmittelbarkeit* entstand die deutsche Märchenfabel, deren Eigentümlichkeit darin besteht, daß nicht nur Tiere und Pflanzen, sondern auch ganz leblos scheinende Gegenstände sprechen und handeln. {Bd. 2, S. 118 f) Heine setzt diese beseelte Welt mit dem »unendlich bedeutenden]« Leben in der Kindheit gleich. »In jener Zeit«, schreibt er, »ist uns alles gleich wichtig, wir hören alles, wir sehen alles, [...] statt daß wir späterhin absichtlicher werden, uns mit dem einzelnen ausschließlicher beschäftigen, das klare Gold der Anschauung für das Papiergeld der Bücherdefinitionen mühsam einwechseln, und an Lebensbreite gewinnen, was wir an Lebenstiefe verlieren« (Bd. 2, S. 119). Hier haben wir eine romantische Idealisierung des Landlebens, ein poetisches Idyll, in dem alle Dinge miteinander in Verbindung und im Austausch stehen. Die übertragbare Metapher der Wechselwährung straft jedoch die Funktions- 2. Oktober 1824 | Heines Unbeständigkeit 669 tüchtigkeit der eigentlichen Szene Lügen. Wenn der unmittelbare Bezug zum Ding an sich wie »das klare Gold« ist, liegt sein Wert noch immer im Tausch, denn sein Wert kann nur aus der Perspektive des Papiergeldes erkannt werden, einem symbolischen Mittel, wie es im Handelsverkehr benutzt wird. Außerdem besucht der Erzähler eine Münze in den Silberminen, um zu sehen, wie Geld gemacht wird. Hier würde man nun die Zurschaustellung eines in sich selbst liegenden Wertes erwarten. Stattdessen spricht der Erzähler die neu geprägte Münze an und gibt sie weiter in ein endloses System des Austauschs, das mit dem der Sprache verglichen werden kann. Die direkte Anrede dramatisiert den semiotischen Vorgang: Mit einem Gefühle, worin gar komisch Ehrfurcht und Rührung gemischt waren, betrachtete ich die neugebornen, blankenTaler, nahm einen, der eben vom Prägstocke kam, in die Hand, und sprach zu ihm: junger Taler! welche Schicksale erwarten dich! wieviel Gutes und wieviel Böses wirst du stiften! wie wirst du das Laster beschützen und die Tugend flicken, wie wirst du geliebt und dann wneder verwünscht werden! wie wirst du schwelgen, kuppeln, lügen und morden helfen! wie wirst du rastlos umherirren, durch reine und schmutzige Hände, jahrhundertelang, bis du endlich, schuldbeladen und sündenmüd, versammelt wirst zu den Deinen im Schöße Abrahams, der dich einschmelzt und läutert und umbildet zu einem neuen besseren Sein. (Bd. 2, S rij) Die direkte Ansprache verleiht dem Empfänger Lebendigkeit; doch die Münze nimmt lediglich eine Ähnlichkeit mit dem Leben an, eine veränderliche Identität und einen veränderlichen Wert, während sie von Hand zu Hand gereicht wird. Der poetische Sprachgebrauch, der einst dazu verhalf, den Angesprochenen mit Leben zu versehen, beseelte Figuren zu erschaffen, die daraufhin mit einem eigenen Leben und Wert weiterleuchten, ist eine Münze ohne Prägung, ein stummes Objekt. Stattdessen sehen wir den dualen Herstellungsprozess, der die Worte herauspresst und zugleich versucht, sie zu deuten. Die Haizreise stellt zwei Wertmodelle nebeneinander: einmal werden Gold und Papiergeld einander gegenübergestellt, ein in sich selbst liegender Wert und ein Wechselwert, dann wird gezeigt, dass jeglicher Wert durch endlosen, unkontrollierbaren Austausch erzielt werden muss. Die Beziehung zwischen Heines Romantik und seinem Journalismus kann auch als eine Allegorie der Unbeständigkeit jeglichen Wertes gelesen werden, dank deren letztlich kein »Ich« identifizierbar ist. Das Subjekt von Heines subjektivem Stil bleibt uneinheitlich und vielgestalt; vielleicht ist es diese Eigenschaft, die immer wieder die »Wunde Heine« aufreißt. SUSAN BERNSTEIN : Siehe auch 1774, November 1828, 1828, 10. Dezember 183c, 1947 Bibliographie: Heinrich Herne. Sämtliche Schriften, 6 Bde., München 197;. - Theodor W Adorno, »Die Wunde Heine«, Noten zur Literatur, Frankfurt am Main 1981. *** 670 jo. November 1826 | Kunst zwischen Muse und Markt 30. November 1826 | Wilhelm Schadow nimmt den Direktorposten an der neu gegründeten Kunstakademie in Düsseldorf an Kunst zwischen Muse und Markt Der Stern der Düsseldorfer Kunstakademie ging gleichsam über Nacht auf. Als Wilhelm Schadow im November des Jahres 1826 in der Stadt am Rhein ankam, fand er eine provinzielle Institution vor, die sich mehr schlecht als recht behauptete. Vier Jahre später gehörte die erste Generation von Schadow-Schülern zu den Stars des deutschen Kunstbe-triebs. Von da an assoziierte man die Kunstakademie mit der sogenannten »Düsseldorfer Malerschule«. Ihr Kennzeichen war ein naturalistischer Idealismus, ein Stil, der idealisiertes Formempfinden, eine Vorliebe für literarische Themen und die Nachahmung der alten Meister mit gewissenhafter Naturbeobachtung und feinfühligem Kolorit verband. i8c,4 sah das Bild jedoch nicht mehr so rosig aus, und Wilhelm Schadow hatte mehr als nur einen Grund zu einer Bestandsaufnahme. Obwohl er erst wenige Jahre zuvor geadelt worden war, eine Ehre, die damit erstmals einem preußischen Künstler zuteil wurde, verdunkelten die tiefgreifenden Veränderungen im Klima der Düsseldorfer Kunstwelt sein Gemüt. Schon lange waren die Zeiten vorbei, als die Akademie aus einem kleinen, intimen Kreis begeisterter Studenten bestand, über die Schadow wie ein Pater familias wachen konnte. Vielmehr hatte der kometenhafte Aufstieg der Institution zu einer der führenden Ausbildungsstätten Europas ein explosionsartiges Anwachsen der Studentenzahlen zur Folge gehabt, die das harmonische Gemeinschaftsgefühl der Anfangsjahre zerstörte. Nicht jeder der Neuzugänge teilte Schadows hochtrabende Vorstellungen von einem naturalistischen Idealismus oder beharrte wie der Direktor auf dem Primat von Historienmalerei und religiöser Kunst. Die sich daraus ergebenden künstlerischen Kontroversen erhielten zusätzliche Nahrung durch das stete Anwachsen konfessioneller Konflikte und politischer Spannungen. In den i84oern spitzte sich die Lage weiter zu, als eine tiefgreifende wirtschaftliche Rezession einen beträchtlichen Teil der Düsseldorfer Künstlerschaft in Armut stürzte. Schiere Existenzängste heizten die Rivalitäten in der übervölkerten Künstlergemeinde an. Der wirtschaftliche Niedergang brachte auch die Kunstvereine in Schwierigkeiten, die als Aushängeschilder bürgerlichen Mäzenatentums in den 1830er und frühen 1840er Jahren eine Schlüsselrolle im Aufblühen von Kunst und Kunstmarkt gespielt hatten. Als Konkurrenz zu den alten Eliten hatten die Kunstvereine ein neues Publikum eröffnet und viele Funktionen der traditionellen Gönner - Hof, Adel und Kirche - übernommen. So hatte auch der 1829 gegründete Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen wesentlich zum Erfolg der Düsseldorfer Malerschule beigetragen. Schadow übte beträchtlichen Einfluss auf den Kunstverein aus, und je mehr sich die wirtschaftliche Lage verschlechterte, umso heftiger wurde die jo. November 1826 | Kunst zwischen Muse und Markt 671 hegemoniale Stellung des Direktors von denen angegriffen, die sich aufgrund ihres Stils oder Genres von Schadow an den Rand gedrängt fühlten. Und so begann ein erbitterter Kampf um Marktanteile, Ausstellungs-niöglichkeiten und Fördergelder jene idyllische Biedermeieratmosphäre zu zersetzen, die der polnische Graf Athanasius Raczynski 1836 in dem ersten Band seiner Geschichte der neueren deutschen Kunst so enthusiastisch beschrieben hatte. Diese Entwicklungen machten Schadow umso mehr zu schaffen, als er sich gleichzeitig mit nachlassender Gesundheit konfrontiert sah. Der Schwund seines Augenlichts verwandelte Schadow in einen »alten Invaliden«, wde er sich nun selbst, da unfähig zu malen oder zu unterrichten, bezeichnete. Dennoch erlahmte seine Schaffenskraft nicht, und Schadow diktierte eine autobiographische Novelle mit dem Titel Der moderneVasari (18C4), die ein vielschichtiges Porträt der Kunstwelt um die Mitte des 19. Jahrhunderts entwirft. Der moderne Vasari ist das Dokument einer kulturellen und politischen, aber auch persönlichen Krisenzeit. Schreiben bot Schadow eine Möglichkeit, seine Vorstellung eines naturalistischen Idealismus zu präsentieren und zugleich mit dem Konzept und der Geschichte der Avantgarde zu verbinden. Neben theoretischen Fragen von Stil und Interpretation widmet sich Der moderne Vasari auch der sozioökonomischen Seite der Kunstproduktion um 1850, die in der Rahmenhandlung eine zentrale Stellung einnimmt. Von der Überzeugung getragen, dass Kunst und Leben untrennbar miteinander verbunden sind, reflektiert Schadow über die Rolle von Akademien und Kunstvereinen, Kunstkritik und Kunstgeschichte, Ausstellungen und Museen im Zeitalter des Kapitalismus. In seinen Überlegungen zeigt sich Schadow nicht selten als Realpolitiker, der Kompromisse einzugehen weiß, wo die Realitäten des Marktes seinem eigentlichen Ziel, der Verteidigung des Idealismus in der Kunst, entgegenstehen. In diesen Momenten wird die Modernität eines Mannes sichtbar, der ein leidenschaftlicher Antimodernist war und dessen Buch einmal mehr die Wahrnehmung dieser Epoche als ein von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gekennzeichnetes Zeitalter bestätigt. Das Grundgerüst der Novelle bildet eine Reihe von chronologisch angeordneten biographischen Skizzen; sie stellen die wichtigsten Vertreter jener Erneuerung der deutschen Kunst vor, deren Beginn Schadow im Niedergang von Rokoko und französischem Neoklassizimus am Ende des [8. Jahrhunderts verortet. Theoretische Fragen überwiegen dabei biographische Details, da die einzelnen Lebensschilderungen zum Anlass genommen werden, den Kriterien des perfekten Kunstwerks nachzugehen. Dabei bemühte sich Schadow im Sinne von Friedrich Schlegels Konzept der Universalpoesie um eine reflektierende und selbstreflexive Struktur; zu diesem Zweck bettete er die Biographien in mehrere Textschichten ein, von Gedichten, Liedern und Theaterstücken bis zu fiktiven Dialogen und der Beschreibung lebender Bilder. Das so geschaffene System von Kommentaren, Querverweisen und Introspektion hat eine Revision und T 672 30. November [826 | Kunst zwischen Muse und Markt Neuschreibung der Geschichte der modernen Kunst zum Ziel. Die Novelle ähnelt letztlich einer Matroschka, einer russischen Puppe, insofern jeder Text einen anderen in sich einschließt. Insbesondere der Einschub eines Theaterstücks im zweiten Kapitel trägt zur Steigerung des reflexiv-selbstreflexiven Charakters der Novelle bei, denn das Stück handelt von nichts anderem als der Geschichte der Kunst. Dieser Text im Text ist eine Arabeske im romantischen Sinn, ein hybrides Gebilde aus Rezitationen und lebenden Bildern. Ganz unvermittelt in die Handlung eingreifend, stellt das Stück ein umgekehrtes mise en übyrne dar, einen verzögerten Anfang, der vor dem Leser Schadows idealtypische Konstruktion der Kunstentwicklung von der Antike bis zur Gegenwart ausbreitet. Die Rahmenhandlung bricht dabei die chronologische Struktur der biographischen Skizzen auf und liefert, indem sie zeitliche und räumliche Perspektivenwechsel vollzieht, einen durchgehenden Hintergrundkommentar, der Vergangenheit und Gegenwart, Geschichte und Theorie, die Wege der Toten mit den Problemen der Lebenden verknüpft. Die bewusst subjektive Natur dieser Kommentare dient zugleich dazu, den objektiven Ton der Skizzen auszutarieren. Nach dem Vorbild von Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie (1800) konstruierte Schadow seine Novelle in Dialogform. Sein Hauptgesprächspartner ist der »alte Inspektor«, der zusammen mit Schadows Alter Ego, »dem alten Invaliden«, für die etablierten Akademiemitglieder steht, für die Generation der Romantiker, die ironischerweise die eigene jugendliche Rebellion gegen Akademie und künstlerisches Establishment an die Spitze der Macht katapultiert hatte. Ergänzend treten die Stimmen jüngerer Künstler hinzu, darunter viele von Schadows Schülern, die sich nun erneut von der akademischen Tradition und ihren normativen Werten abgewandt haben. Sie repräsentieren diejenigen, die sich der traditionellen Hierarchie der Künste - mit der Historienmalerei und religiösen Kunst an deren Spitze - nicht mehr verpflichtet fühlen und sich stattdessen einträglicheren Gattungen widmen, vor allem der Landschafts- und Genremalerei. Der Kampf um künstlerische Positionen, der somit auch ein Generationenkonflikt ist, bildet das zentrale Thema der Novelle: auf der einen Seite Schadow und die Vertreter einer idealistischen Auffassung, die Kunst als eine intellektuelle, moralisch erbauliche Unternehmung versteht; ihr gegenüberstehend ein neues realistischeres Kunstverständnis, das die Gegenwart so abbilden will, wie sie dem Künstler entgegentritt. Ein Gegengewicht zu den historischen und kunsttheoretischen Ausführungen bieten die Abenteuer und LiebesafFären zweier junger Kunststudenten, des Genremalers Dolph und seines Freundes, des Landschaftsmalers Franz. Ihre Eskapaden entführen den Leser ins Alltagsleben der Akademie, in eine Welt kleinstädtischer Gemütlichkeit und trauter Biedermeierlichkeit, die Schadow voll nostalgischer Sehnsucht in den Nachwehen der Revolution von 1848 untergehen sieht. Die Töchter aus gutem Hause lesen Oskar von Redwitz' Epos Amaranth, die Matronen 30. November [816 | Kunst zwischen Muse und Markt 673 schmieden Pläne, wie den Liebeskranken der Stadt zu einer glücklichen Heirat zu verhelfen sei, während ihre Männer eifrig Jagd aufTitel, Orden und andere Ehrungen machen. Die Bourgeoisie verehrt die Aristokratie und sehnt sich nach der Aufmerksamkeit der Höhergeborenen. Mit den Figuren von Dolph und Franz zeichnet Schadow ein amüsantes Bild gesellschaftlichen Aufstiegs, wobei er mit scharfsichtiger Ironie die Strategien verfolgt, mit denen die beiden Maler Schritt für Schritt die soziale Leiter erklimmen. Es wäre jedoch falsch, anzunehmen, dass Schadows Nostalgie und sein beharrliches Festhalten an romantischen Idealen ihn daran gehindert hätten, sich für technische Neuerungen zu begeistern. Als materielles Objekt bezeugt Der ModerneVastiri das Gegenteil; die Anlage des Buches als eine arabesk verspielte Mischung aus Text und reichhaltigen Illustrationen kennzeichnet es als Produkt einer neuen Ära des Buchdrucks. Zu Beginn des Jahrhunderts hatten fortschrittliche Drucktechniken, wie die Lithographie und eine verfeinerte Variante des Holzschnitts, die künstlerischen Möglichkeiten der Reproduktion revolutioniert und die Buchillustration in ein Feld graphisch-künstlerischen Experimentierens verwandelt. Eine neue Form des Holzschnitts ermöglichte es nun, Text und Illustration auf ein und derselben Seite zu vereinen und simultan, in einem einzigen Arbeitsschritt zu drucken. Der moderne Holzschnitt war daher für Schadow ein ideales Medium, um seine Auffassung von Texten als poetischen Erzeugnissen, die Wort und Bild vereinen, umzusetzen. Zugleich lieferte die Verschmelzung von Text und Bild eine kraftvolle Metapher für Schadows Ideal einer kollektiv-kollaborativen Zusammenarbeit im Sinne des mittelalterlichen Werkstattbetriebs, da hier die jeweilige Autorenschaft von Text, Illustration und technischer Ausführung in ein homogenes Ganzes aufging. Während Schadow den Dresdner Stecher Hugo Bürkner um die Übertragung der Entwürfe in den Holzschnitt bat, vergab er den Auftrag für die Illustrationen an Julius Hübner, seinen ehemaligen Schüler und engen Vertrauten. Hübner produzierte ein emblematisch.es Bildnis Schadows, neun Porträtmedaillons im Stile Vasaris und sieben komische Vignetten, die zu Beginn eines Kapitels stehen und dessen jeweiliges Thema spielerisch andeuten. Die Protagonisten von Hübners Bildschmuck sind schalkhafte Putti, entweder nackt oder in Rokokogewänder gehüllt, die sich mit Feder, Pinsel und Palette der Kunst nähern. Die Vignetten stellen sich als ebenso sinnreich wie dekorativ heraus und doch kann der moderne Leser das Putto-Motiv sicherlich leicht als ein rein schmückendes Element missverstehen; für Schadows Zeitgenossen hingegen signalisierten solch kindlich-verschmitzte Gestalten immer auch eine ironische Trope und alarmierten den Leser somit, dass ihn eine auf den Kopf gestellte Welt der Satire erwartete. Dennoch wird wohl auch mancher der damaligen Leser des Modernen Vasari auf Schwierigkeiten gestoßen sein, sobald er die komplexe Iko- 674 3°- November 1826 | Kunst zwischen Muse und Markt Winter i8z8 | Hegels These vom Ende der Kunst 67c nographie der Vignetten zu entschlüsseln suchte - und damit die wahre Quelle des Witzes und kritischen Potentials von Hübners Erfindungen. Schadow thematisiert dieses Problem im Modernen Vasari, wo er ausgiebig über das Fehlen einer einheitlichen Basis kulturellen Wissens nachdenkt, die einem modernen Publikum das Verstehen allegorischer Kunstwerke möglich machte. Mit Blick auf Schinkels Fresken für die Vorhalle des Alten Museums in Berlin kommt Schadow zu dem Schluss, dass die Antike als Quelle einer allgemeinverständlichen Bildlichkeit ausgedient hat. Er gesteht allerdings, keine überzeugende Alternative nennen zu können, nun, wo das Christentum ebenfalls aufgehört habe, der Stoff zu sein, aus dem sich alle Erfahrung speist. Schadows umfangreicheAktivitäten, Kunst virtuell wie materiell in Umlauf zu bringen - in Ausstellungen, Artikeln oder Theaterstücken, als Druck, Reproduktion oder Original - müssen somit auch als eine Form von Erinnerungsarbeit gesehen werden. Die Verbreitung von Kunst zielt darauf ab, einen kulturellen Code zu schaffen und zu festigen, sozusagen ein kollektives Gedächtnis aufzubauen, das es Produzenten und Rezipienten ermöglicht, an demselben Zeichensystem teilzuhaben. Schadows Vorstellung davon, wie sich das Selbst und das Kunstwerk ausbilden, ist zutiefst historizistisch. Für ihn wird alles Neue aus einem bereits existierenden Text geboren. Vehement verdammt er die Hybris des modernen Genies, das sein Werk für eine creatio ex nihilo hält. Schadow fordert das Eintauchen in die Vergangenheit; sein Konzept von Autonomie ist paradox, insofern er es auf Nachahmung als Quelle von Originalität aufbaut. Nur durch Absorbierung und Ausdehnung des Bestehenden kann für Schadow der Künstler zu wahrer Unabhängigkeit gelangen. Die Ausbildung des schöpferischen Selbst geschieht durch Erinnerungsarbeit, an deren Endpunkt der historische Text modellhaft zur Vorlage des eigenen, neu geschaffenen Textes wird. Die Novelle beschreibt einen erfolgreichen Zyklus produktiver Nachahmung, wobei Text in Kunst und Kunst in Leben übergeht. So ist es im Medium der Kunst, in dem Dolph die Hand seiner geliebten Henriette erringen wird, die der Vater mit einem angesehenen Bürokraten zu verbinden droht. Indem der Künstler und seine Angebetete das literarische Paar »Tristan und Isolde« in Szene setzen, präsentieren sie ihre Liebe in der Vermittlung durch das Theater; die Aufführung wird zum Moment der Katharsis, der letztlich die Erfüllung von Dolphs Wünschen gewährleistet. Es war kein Zufall, dass Schadows eigene Novelle auf Nachahmung beruhte. Wie der Titel Der moderne Vasari bereits verkündet, hatte sich der Akademiedirektor das berühmte Werk Lebensläufe der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten des Renaissancemalers Giorgio Vasari zum Modell erkoren. Schadow geht auf alle Einzelheiten seiner Vorlage ein; seine Beschreibung erhellt den komplizierten Prozess der Nachahmung, Nachbildung und Transformation, der Nachfolge und Überwindung, den er für jede Art kreativen Schaffens für notwendig hält. Zugleich bietet die Intertextualität des Modernen Vasari auch einen interpretativen Zugang zu Schadows malerischem CEuvre und der Art und Weise, wie die Bilder des Malers im Kontext von Texten entstehen, agieren und funktionieren. Schadow ließ keinen Zweifel daran, wie unerlässlich es für einen Künstler sei, sich mit Literatur, Geschichte und Kunstgeschichte zu beschäftigen, dreier Gebiete, die er als unentbehrliche Quellen unseres kollektiven Gedächtnisses ansah. Der Stoff schon existierender Texte, in schriftlicher oder gesungener Form, gezeichnet oder gemalt, authentisch oder fiktiv, ist das Material, aus dem unsere eigenen Schöpfungen, und damit auch wir selbst, gemacht sind. Der alte Invalide beschließt seine Erzählung mit der Bemerkung, dass noch viel zu tun sei. Tatsächlich plante Schadow eine Fortsetzung seiner Novelle, an der er auch eifrig arbeitete, die aber nie erschien. Einmal mehr machten ihm die Gegebenheiten des Marktes einen Strich durch die idealistische Rechnung, denn die opulente Ausgabe seines Modemen Vasari erwies sich als viel zu kostspielig, um ein breiteres Publikum anzulocken. Seine kunsthistorische Novelle blieb folglich das Fragment eines größeren Textes. Schadow empfand dies als großen Verlust. Doch was entspräche einem romantischen Projekt letztlich besser als unvollendet zu bleiben, infinito? CORDULA GREWE : Siehe auch Januar 1800, 1860 Bibliographie: Wilhelm Schadow, »Gedanken über eine folgerichtige Ausbildung des Malers«, in; Berliner Kunstblatt (1828), S. 264-273; nachgedruckt in Athanasius Graf Ra-czynski, Geschichte der neueren deutschen Kunst. Bd. 1, Berlin [836, S. 319-330. - Ders., Lieber den Einfluss des Chtistenlhums auf die bildende Kunst, Düsseldorf 1842. - Ders., »Einige Worte über die Kunstkritik«, in: Correspondcnz-Blutt, 1, 2 (Februar 1845), S. 17-20. - Ders., »Die Düsseldorfer Malerschule«, in: Correspondenz-Blutt, 1,6 (Oktober 1845), S. 57-62. - Ders., Der moderneVasori, Berlin 1854. - Ders., »Was ist ein Kunstwerk?« (ca. 1860-1862), hg. von Walter Jürgen Hofmann, in: Jcchreshefte det Kunstakademie Düsseldorf, Bd. 1 (1988). - Des., »Zwei Parteien in der Kunstwelt: Idealisten und Materialisten« (ca. 1860-1862), hg. von Heinrich Theissing. in: Jahreshefte der Kunstakademie Düsseldorf, Bd. 3 (1990/91). - Ders.. »Jtigenderinnerungen«, in: Kölnische Zeitung, 28. August - 17. September 1891, S.701-P 7£6- Winter 1828 | Fünf Jahre nach Beginn der Bauarbeiten an Karl Friedrich Schinkels Altem Museum hält Georg Wilhelm Friedrich Hegel zum letzten Mal seine Vorlesungen über die Ästhetik an der Berliner Universität Hegels These vom Ende der Kunst »Die Kunst ist und bleibt nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes]. Damit hat sie für uns auch die echte Wahrheit und Lebendigkeit verloren und ist mehr in unsere Vorstellung verlegt, als 676 Winter 1828 | Hegels These vom Ende der Kunst dass sie in der Wirklichkeit ihre frühere Notwendigkeit behauptete und ihren höheren Platz einnähme.« (Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, S.2c) Unter den vielen Formulierungen, in denen Hegel (1770-1831) seine sogenannte These vom Ende der Kunst formuliert hat, ist dies die kraftvollste Passage. Sie findet sich in der Einleitung der veröffentlichten Fassung seiner Vorlesungen über die Ästhetik, die er an der Berliner Universität im Wintersemester des Jahres 1828 zum vierten und letzten Male hielt. Sie durchzieht die Vorlesungen so stark, dass sie als die zentrale, ja geradezu strukturelle Idee seiner Kunstphilosophie betrachtet werden muss, nicht etwa nur als ein kritischer Seitenhieb auf die Kunst seiner Zeit. Und sie betrifft Aussagen anderer Philosophen über die Kunst ebenso wie auch die Kunst selbst. Natürlich werden auch weiterhin Kunstwerke geschaffen werden. Es gibt eine Kunst nach dem Ende der Kunst. »So ist es allerdings der Fall, dass die Kunst als ein flüchtiges Spiel gebraucht werden kann, dem Vergnügen und der Unterhaltung zu dienen, unsere Umgebung zu verzieren, dem Äußeren der Lebensverhältnisse Gefälligkeit zu geben und durch Schmuck andere Gegenstände herauszuheben.« (Ebd., S. 20) In diesem Verständnis spielt Kunst viele Rollen in dem, was Hegel den »objektiven Geist« einer Gesellschaft nennt, dem System von Inhalten und Tätigkeiten, die das Leben ihrer Mitglieder ausmachen. Aber als Hegel die These vom Ende der Kunst aufstellte, sprach er von dieser nicht im Sinne des objektiven Geistes. »Das allgemeine Bedürfnis zur Kunst ist das Vernünftige, dass der Mensch die innere und äußere Welt sich zum geistigen Bewusstsein als einen Gegenstand zu erheben hat, in welchem er sein eigenes Selbst wiedererkennt.« (Ebd., S. 52) Das ist die höchste Bestimmung der Kunst, auf die die These von ihrem Ende ausschließlich angewandt werden kann. So wird sie damit vereinbar, dass Kunst, auch große Kunst, weiter entsteht. Im Nachwort zu seiner Vorlesung Der Ursprung des Kunstwerkes (1935/36) schrieb Martin Heidegger: »Man kann dem Spruch, den Hegel in diesen Sätzen fällt, nicht dadurch ausweichen, dass man feststellt: Seit Hegels Ästhetik [...] vorgetragen wurde, haben wir viele neue Kunstwerke und Kunstrichtungen entstehen sehen. Diese Möglichkeit hat Hegel nie verleugnen wollen. Allein die Frage bleibt: Ist die Kunst noch eine wesentliche und eine notwendige Weise, in der die für unser geschichtliches Dasein entscheidende Wahrheit geschieht, oder ist dies die Kunst nicht mehr?« (S. 84) Heidegger meinte fälschlicherweise, man könne auch nach einem Jahrhundert Revolution in der Kunst noch nicht sagen, ob die These vom Ende der Kunst richtig sei. Damit irrte er, weil die These nichts über die Zukunft der Kunst aussagt. Hegels These handelt nicht so sehr von der Kunst als vielmehr von unserem Verhältnis zu ihr. Sie handelt vom Menschen, dessen fortschreitende Selbsterkenntnis bedeutet, dass uns die Kunst nie wieder eine »Befriedigung der geistigen Bedürfnisse« gewähren wird, »welche frühere Zeiten und Völker in ihr gesucht und nur Winter 1828 | Hegels These vom Ende der Kunst 677 in ihr gefunden haben« (Hegel, Ästhetik I, S. 24). Für uns ist die Kunst nur noch ein Objekt »denkender Betrachtung, und zwar nicht zu dem Zwecke, Kunst wieder hervorzurufen, sondern, was die Kunst sei, wissenschaftlich zu erkennen« (ebd., S.26). In der Tat bestätigt auch Humes oder Kants ästhetische Beschäftigung mit dem Geschmack, dass dieses frühere Verhältnis zur Kunst überholt ist. »Geschmack war nur auf die äußerliche Oberfläche angewiesen, um welche die Empfindungen herspielen«, schrieb Hegel. »Deshalb fürchtet sich der so genannte gute Geschmack vor allen tieferen Wirkungen und schweigt, wo [...] die Äußerlichkeiten und Nebensachen verschwinden.« (Ebd., S.jc) Kunst ist nun ein Gegenstand der Untersuchung und philosophischen Analyse, befriedigt aber nicht mehr allein durch sich selbst die tiefsten Bedürfnisse des Geistes. Wir sind sozusagen der Kunst entwachsen. Sollte jemals wieder eine Zeit kommen, in der die Kunst ihren ursprünglichen Zweck zurückgewinnt, dann läge das nicht an der Art dieser Kunst, sondern daran, dass wir selbst in einen früheren Zustand zurückgefallen wären. Wenn das geschähe, könnten wir von der fraglichen Kunst nicht behaupten, sie sei »eine wesentliche und eine notwendige Weise, in der die für unser geschichtliches Dasein entscheidende Wahrheit geschieht«. Es ist exakt das Ende der Kunst, wenn diese Frage sich stellt. Sollte sie sich stellen, dann ist die Antwort klar. Wenn Kunst wirklich Ausdruck der genannten Wahrheit ist, dann kann dies niemand im Sinne von Kultur- oder Kunstkritik in Frage stellen. Wir können die Geistesgeschichte nicht zurückdrehen, die uns in den heutigen Zustand gebracht hat. Allgemein gesagt, ist Denken die prägende Tätigkeit des Geistes. Hier steht Hegel Descartes sehr nahe, der nachzuweisen versuchte, dass er wesentlich und notwendig ein denkendes Wesen, ein res cogitans, sei. Hegel unterscheidet sich von seinen Vorgängern darin, dass er das Denken in einer geschichtlichen Perspektive sieht. Die einzelnen historischen Phasen der Kunst sind Phasen des in Kunst ausgedrückten Denkens. Kunst, schrieb er, ist »aus dem Geiste geboren und wiedergeboren« (ebd., S. 14). Kunst ist also durch und durch ein Produkt des Denkens, mit der Einschränkung jedoch, dass sie die Gedanken mit sinnlichen Mitteln ausdrücken muss. Die These vom Ende der Kunst verkündet unsere Befreiung von der Notwendigkeit, sinnliche Äquivalente für unsere Gedanken finden zu müssen. Das Denken hat sich über das erhoben, wozu Kunst imstande ist. Kunst gehört zu einer weniger entwickelten Art des Denkens, als sie der Geist leisten kann, und zwar nicht abstrakt, sondern in der Tat. Die höhere Stufe des Denkens bietet nur die Philosophie. Hegel unterscheidet drei Arten des Denkens, die er »subjektiven«, »objektiven« und »absoluten Geist« nennt. Der subjektive Geist entspricht Descartes' cogito, der kognitiven Tätigkeit des Gehirns. Den objektiven Geist stellt sich Hegel dagegen objektiviert vor, zum Beispiel in Kunstwerken, 67& Winter 1828 | Hegeis These vom Ende der Kunst Winter 1828 | Hegels These vom Ende der Kunst 679 politischen Institutionen, Normen der Moral oder Formen des Familien, lebens. Erst aus der Sicht des objektiven Geistes wird jegliche institutionelle Kunsttheorie glaubhaft. Der subjektive Geist des Künstlers wird durch die objektiven Strukturen der Kunstwelt eingeschränkt. Kunst wird zu absolutem Geist, wenn sie, welche Rolle sie auch sonst spielen mag, wie Religion und Philosophie »eine Art und Weise ist, das Göttliche die tiefsten Interessen des Menschen, die umfassendsten Wahrheiten des Geistes zum Bewusstsein zu bringen und auszusprechen« (ebd., S. 2of). Als überholtes Element absoluten Geistes hat die Kunst ihr Ende gefunden. Zweifellos wird sich die Kunst allenthalben - »vom rohen Putze der Wilden an bis auf die Pracht der mit allem Reichtum gezierten Tempel, mit ihren gefälligen Formen einmischen« (ebd., S. 16). Aber gefesselt durch ihre Abhängigkeit von sinnlichen Mitteln ist Kunst unfähig, Geist als reinen Geist darzustellen. Die Religion hat diese Beschränkung übersehen, denn sie hat die Kunst stets dazu benutzt, ihren Ideen lebendigen, anschaulichen Ausdruck zu verleihen: »Das Eintreten der Kunst zeigt den Untergang einer an sinnliche Äußerlichkeiten noch gebundenen Religion an. Zugleich, indem sie der Religion die höchste Verklärung, Ausdruck und Glanz zu geben scheint, hat sie dieselbe über ihre Beschränktheit hinaus gehoben [...] Die schöne Kunst hat von ihrer Seite dasselbe geleistet, was die Philosophie - die Reinigung des Geistes von der Unfreiheit.« (Enzyklopädie III, S.31) Die Philosophie hat jedoch das Denken über diese unwiderrufliche Beschränkung hinausgehoben. »Die Kunst gewährt nicht mehr diejenige Befriedigung der geistigen Bedürfnisse, welche frühere Zeiten und Völker in ihr gesucht und nur in ihr gefunden haben - eine Befriedigung, welche wenigstens von Seiten der Religion aufs innigste mit der Kunst verknüpft war. Die schönen Tage der griechischen Kunst wie die goldene Zeit des späteren Mittelalters sind vorüber.« (Ästhetik I, S. 24) Vor allem erscheint der Geist unserer heutigen Welt, oder näher unserer Religion und unserer Vernunftbildung, als über die Stufe hinaus, auf welcher die Kunst die höchste Weise ausmacht, sich des Absoluten bewusst zu sein. Die eigentümliche Art der Knnstpro-duktion und ihrer Werke füllt unser höchstes Bedürfnis nicht mehr aus, wir sind darüber hinaus, Werke der Kunst göttlich verehren und sie anbeten zu können: der Eindruck, den sie machen, ist besonnenerer Art, und was durch sie in uns erregt wird, bedarf noch eines höheren Prüfsteins und anderweitiger Bewährung. Der Gedanke und die Reflexion hat die schöne Kunst überflügelt. (Ebd.) Aus diesen markanten Worten wird unmissverständlich klar, dass die These vom Ende der Kunst in engstem Zusammenhang mit dem Gesamtsystem des hegelschen Denkens steht und viel weniger mit der eigentlichen Kunstgeschichte, wie es seinen Kritikern erschienen sein mag. Hegel sah die Kunst als eine Art Bereitstellungsraum im Drama der Selbsterkenntnis. Nachdem sie diesen bedeutsamen, aber vorübergehenden Dienst geleistet hat, kann die Kunst sich wieder Unterhaltung und Schmuck zuwenden, die so wichtig sind, um dem Leben der Men- schen Gefälligkeit zu verleihen. Die These vom Ende der Kunst ist die prägende Idee von Hegels Kunstphilosophie, die wiederum das Herzstück seines gesamten philosophischen Systems bildet. Er konnte seine Kunstphilosophie nicht auf eine empirische Untersuchung der künstlerischen Praxis stützen, wie es ein Kunsthistoriker oder Kunstpsychologe getan hätte. Denn solche empirischen Studien liefern nicht den Schlüssel zur Kunst als einer Phase des Absoluten Geistes. Das ist der grundlegende Unterschied zwischen Hegels These vom Ende der Kunst und verschiedenen Formulierungen des späten 20. Jahrhunderts, die tatsächlich ein Urteil über den aktuellen Zustand der Kunst fällen wollen. Die These selbst wird heute im Allgemeinen nicht als Gegenstück zu einem großen philosophischen System wie dem Hegels verkündet, das den gesamten Geist zu einem gewaltigen Ganzen zusammenfügt. Von der Philosophie des späten 20. Jahrhunderts kann man wohl kaum sagen, dass sie »diejenige Befriedigung der geistigen Bedürfnisse gewährt, welche frühere Zeiten und Völker in ihr gesucht haben«. Ihre Rolle im menschlichen Denken ist mit einem Fragezeichen versehen und ihre jüngere Geschichte eine Agonie in Selbstkritik. Mehr noch, der intellektuelle Kontext, in den die These vom Ende der Kunst heute gestellt wird, unterscheidet sich sehr von jenem, in dem Hegels These zu sehen ist. Wie aus Hegels ständiger Erhöhung der Philosophie über die Kunst zu erkennen ist, trug sein System ästhetischer Anschauungen durchaus polemische Züge. Deutlich wird dies im Abschnitt »Das Ende der romantischen Kunstform« in seinen Vorlesungen über die Ästhetik, wo das Wort »romantisch« in zweierlei Bedeutung gebraucht wird. Zum einen bezieht Hegel es auf eine der bedeutsamen Phasen der Kunstentwicklung, die in der Renaissance kulminierte. Das Wort »romantisch« wird hier von der Erzählform des (Ritter-)Romans abgeleitet. Zum anderen beschreibt es bestimmte philosophische Auffassungen, die die Dichtung der deutschen Romantik prägten und deutsche Dichter inspirierten. Die Romantik stellte die Kunst über die Philosophie. In diesem Sinne wird die These vom Ende der Kunst in jene vom Ende der Romantik übersetzt. Das geschieht, weil die Behauptung der Romantik von der Überlegenheit der Kunst sich darauf stützt, dass diese im Unterschied zur Philosophie ihre Ideen in sinnlicher Form darbietet. Das war die prägende Position der deutschen Romantik, die Kunst und Künstlern in ihrer Lebenssicht einen hohen Stellenwert einräumte. »Man hat behaupten wollen, in der Kunst sei die eigentliche Religion, das Wahre und Absolute zu finden und sie stehe höher als die Philosophie, weil sie nicht abstrakt sei, sondern die Idee zugleich in Realität und für die konkrete Anschauung und Empfindung enthalte.« (Ästhetik II, S. 264) Viele derer, die Hegels Vorlesung im Jahre 1828 hörten, erkannten sicher in diesen Worten einen charakteristischen Gedanken Friedrich Schellings wieder, der die Philosophie auf etwas abfällige Weise mit der Kunst verglichen hat: »Philosophie als Philosophie kann nie allgemeingültig werden. Das T 680 Winter 1828 | Hegels These vom Ende der Kunst November 1828 ) Schuberts politische Landschaft 68] eine, welchem die absolute Objektivität gegeben ist, ist die Kunst. Nehmt kann man sagen, der Kunst die Objektivität, so hört sie auf zu sein, was sie ist, und wird Philosophie; gebt der Philosophie die Objektivität, so hört sie auf, Philosophie zu sein, und wird Kunst. — Die Philosophie erreicht zwar das Höchste, aber sie bringt bis zu diesem Punkt gleichsam nur ein Bruchstück des Menschen. Die Kunst bringt den ganzen Menschen, wie er ist, dahin, nämlich zur Erkenntnis des Höchsten, und darauf beruht der ewige Unterschied und das Wunder der Kunst.« (System des transzendentalen Idealismus, S. 301) Etwas in der Art, so Hegel, kann in bestimmten Stadien der Geistesgeschichte durchaus zutreffend gewesen sein. Was Schelling schrieb, könnte sich auf Kunst »in ihrer höchsten Bestimmung« bezogen haben. Aber zu jener Zeit, Hegels Zeit, verhielt es sich im Verhältnis zwischen Philosophie und Kunst genau umgekehrt. Jede von Hegels drei Kunstformen - die symbolische, die klassische und die romantische — beinhaltet ein unterschiedliches Verhältnis von Gestalt und Bedeutung eines Kunstwerks. Um die symbolische Kunstform handelt es sich dann, wenn dieses Verhältnis nur eine »Verwandtschaft« darstellt. Um die klassische, wenn es sich dabei um »Identität« handelt. Und wir haben die romantische Kunstform vor uns, wenn ein Bezug auf Zustände des Geistes die beste Erklärung dafür ist, weshalb das Kunstwerk seine konkrete Form angenommen hat. Das Ende der Kunst bedeutet die Befreiung des Künstlers von all diesen Zwängen. »Das Gebundensein an einen besonderen Gehalt und eine nur für diesen Stoff passende Art der Darstellung ist für den heutigen Künstler etwas Vergangenes, und die Kunst dadurch ein freies Instrument geworden, das er [...] in Bezug auf jeden Inhalt [...] gleichmäßig handhaben kann.« (Ästhetik II, S.23C) Es ist erstaunlich, dass Hegel das Ende der Kunst im Grunde als totalen Pluralismus begriffen hat, wenn er auch die Art von Pluralismus, die die heutige Kunstwelt bestimmt, nicht vorausgesehen haben kann. »Es gibt heutigen Tages«, so schrieb er, »keinen Stoff, der an und für sich über dieser Realität stünde.« Jeder Stoff, in welcher Form auch immer, könne Kunst sein, »wenn er nur dem formellen Gesetz, überhaupt schön und einer künstlerischen Behandlung fähig zu sein, nicht widerspricht« (ebd.). Es hätte Hegel überrascht, Schönheit nicht mehr als formales Kunstgesetz behandelt zu sehen. Aber den tiefen Pluralismus der Kunst verstand er durchaus. »In dieser Weise steht dem Künstler, dessen Talent und Genie für sich von der früheren Beschränkung auf eine bestimmte Kunstform befreit ist, jetzt jede Form wie jeder Stoff zu Dienst und zu Gebot.« (Ebd., S. 236) Wenn man den verblüffenden Gedanken von Marx und Engels etwas abwandeln will, so kann der Künstler sich morgens symbolische, mittags klassische, am Nachmittag romantische Kunstwerke schaffen und sich am Abend mit Kunstphilosophie befassen. Die ganze innere Logik der Kunstgeschichte kulminiert in absoluter künstlerischer Freiheit. Aber die Künstler sind in Hegels Philosophie auch nicht mehr die großen Kulturheroen, durch die sich die Romantik definierte. Die Zeit, in der sie diesen Rang einnahmen, ist unwiderruflich vorüber. So ist die These vom Ende der Kunst als Ausdruck von zwei gegensätzlichen Denksystemen im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts zu verstehen, die Kunst und Geist sowie deren Rolle im Erkenntnisprozess des Menschen auf verschiedene Weise behandelten. Hegel kündigte ein neues Zeitalter der Vernunft an, in dem das Denken die Substanz des Geistes darstellt: »Der einzige Gedanke, den sie [die Philosophie] mitbringt, ist aber der einfache Gedanke der Vernunft, dass die Vernunft die Welt beherrscht, dass es also in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen ist.« (Philosophie der Geschichte, S. 20) Historisch gesehen erwies sich jedoch die Auffassung der Romantiker von der Kunst und dem Genie des Künstlers als unwiderstehlich, und Hegels Kunstphilosophie sank herab zu einem verstaubten Thema für Philosophie-Historiker. Die romantische Kunstauffassung blühte in den Werken von Wagner und Nietzsche, in denen der Futuristen bis hin zu den abstrakten Expressionisten. Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte sie großen Einfluss auf Theodor W Adorno und die Frankfurter Schule. Erst als gegen Ende des 20. Jahrhunderts die von Hegel vorhergesehene Freiheit der Kunstproduktion Realität wurde, geriet auch seine Kunstphilosophie wieder in den Mittelpunkt der Diskussion über ästhetische Fragen. ARTHUR C. DANTO : Siehe auch 1790, 1876, 1882, 1927, 1947 Bibliographie: Hans Belting, Das Ende der Kunstgeschichte, München 2002. - Arthur C. Danto, Dfls Fortlehen der Kunst, München 2000. - Georg Wilhelm Friedrich Hegel, in: Werke in nvanrig Bänden, Frankfurt am Main 1970 (darin: Vorlesungen über die Ästhetik l-III. Bde. 13—ic; Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III. Philosophie des Geistes, Bd. 10). - Vorlesungen übet die Philosophie der Geschichte, Bd. [ 2. - Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, Stuttgart 1995. - Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, System des transzendentalen Idealismus, Hamburg 1992. November 1828 | Franz Schubert liest die Korrekturfahnen der Erstausgabe der Winterreise Schuberts politische Landschaft In Wilhelm Müllers (1794-1827) und Franz Schuberts (1797-1828) Liederzyklus Die Winterreise nimmt ein zurückgewiesener Verliebter die poetische Rolle eines Wanderers an und begibt sich auf eine ziellose Reise durch eine kalte, raue, ungastliche Winterlandschaft; eine beunruhigende, aus dem Gleichgewicht geworfene Welt, in der Naturmotive als Chiffren des Todes dargestellt werden. Die ununterbrochene Wiederholung des Achteltons innerhalb des Zweiviertel-Taktes in Schuberts Partitur 682 November 1818 | Schuberts politische Landschaft November 1828 | Schuberts politische Landschaft 683 des ersten Liedes legt symbolisch die Geschwindigkeit fest und zieht den Wanderer unwiderstehlich in eine Bewegung, die er nicht mehr kontrollieren kann - weder ihren Grund noch ihre Richtung, ihren Takt noch ihren Sinn: »Ich kann zu meinen Reisen nicht wählen mit der Zeit«. Anders als in Die schöne Müllerin, einem Müller-Schubert-Zyklus, der mit wechselnder Gestalt der dramatis personoe aus einem bürgerlichen Gesangspiel entstand, hat Winterreise außer dem einzigen Protagonisten keine weiteren handelnden Figuren. Der einleitende Vers: »Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus« und seine musikalische Anordnung bestimmenTon und Intention des Ganzen. In einem subtilen Wechselspiel von Rhythmus und Tonhöhe setzt Schubert das allererste Wort, »fremd«, sowohl gegen das literarische Versmaß als auch den musikalischen Zwei-viertel-Takt ab, indem er es zweimal einem Auftakt und der höchsten Note der fallenden Halbsätze zuordnet. Damit hebt er gleich zu Beginn den Ausdruck der Entfremdung als Zeichen für diese Wanderung hervor. Vierundzwanzig Monologe bezeugen das vorherrschende Gefühl von Isolation und Entfremdung - es gibt keinen Ausweg. Der Ausdruck dieser innersten Erfahrung ist selbst unmittelbarer Gegenstand der Reflexion, entsprechend Hegels Definition der Lyrik: »Im Lyrischen [...] ist es die Empfindung und Reflexion, welche umgekehrt die vorhandene Welt in sich hineinzieht, dieselbe in diesem inneren Elemente durchlebt und erst, nachdem sie zu etwas selber Innerlichem geworden ist, in Worte fasst und ausspricht.« Diese ständige Selbstreflexion eines inneren Monologs schafft unterschiedliche Bewusstseinsstadien, die die Abfolge der Lieder als lyrisches Um-sich-selbst-Kreisen bestimmen. »Der exzentrische Bau jener Landschaft, darin jeder Punkt dem Mittelpunkt gleich nah liegt, offenbart sich dem Wanderer, der sie durchkreist, ohne fortzuschreiten: [...] der erste Schritt liegt so nahe beim Tod wie der letzte [...]. Denn Schuberts Themen wandern nicht anders als der Müller oder der, den im Winter die Geliebte verließ. Nicht Geschichte kennen sie, sondern perspektivische Umgehung: aller Wechsel an ihnen ist Wechsel des Lichtes.« (Adorno, GS 17, S. 2c) Der bestimmte Artikel in Müllers Titel suggeriert Einzigartigkeit. Schuberts Titel hat keinen bestimmten Artikel. Dadurch wird die eine bestimmte »Winterreise« zum menschlichen Zustand, zur Metapher, die - in der Terminologie des deutschen Idealismus - die gestörte Beziehung zwischen dem Individuum und der Welt darstellt. Es scheint, dass Wilhelm Müller Die Winterreise als allegorische Diagnose seiner Gegenwart verstand. Die gängige Praxis der Zensur würde überdies die lyrische Verschlüsselung erklären. Tatsächlich machte Müller eine Reihe theoretischer Äußerungen, die auf sein aufklärerisches Verständnis von politischer Verantwortung weisen. Sie alle deuten daraufhin, dass seiner Dichtung Die Winterreise mehr als eine private Liebesgeschichte zugrunde lag. Dass Schubert seine eigene Winterreise ebenfalls als verschlüsselte Parabel der gesellschaftspolitischen Verhältnisse Österreichs im repressiven Metternich-System verstand, kann nur gefolgert werden. Schubert war keineswegs apolitisch, und sein Freundeskreis stand unter ständiger Bespitzelung durch die Geheimpolizei. Die Affäre um seinen Freund Johann Senn, der 1820 inhaftiert wurde, ist zu Recht als einer der Gründe für Schuberts resignierte Stimmung während seiner letzten Lebensjahre angesehen worden. Schuberts Gedicht »Klage an das Volk« von 1824 besteht in seiner letzten Strophe auf der unbestreitbar politischen Rolle von Kunst als Mittel der Einflussnahme - für bessere, das heißt, liberalere Zeiten: Nur Dir, 0 heil'ge Kunst, ist's noch gegönnt Im Bild' die Zeit der Kraft tl.That zu schildern, Um weniges den großen Schmerz zu mildern, Der nimmer mit dem Schicksal sie versöhnt. Wendet man das auf Winterreise an, so wird der Liederzyklus als politische Parabel verständlich, selbst wenn er konkret keine »Zeit der Kraft u. That«, sondern eine Zeit der resignierten Reflexion zur Darstellung bringt. Die unstete Reise des Wanderers durch eine unzugängliche Landschaft, eine irrationale Welt, die von gewaltigen, anonymen, unpersönlichen Institutionen bestimmt wird, zeigt die Situation des Einzelnen in seinem Verlangen nach Freiheit und Selbstverwirklichung innerhalb des repressiven Polizeistaats der Metternich-Ära. Hier wendet sich das empfindsame Individuum, unfähig, ein Verlangen nach Freiheit Wirklichkeit werden zu lassen, der Kunst zu. »Willst zu meinen Liedern Deine Leier drehn?« - Im Lichte von Schuberts »Klage«-Gedicht bedeutet dieser Ruf nach einer ästhetischen Handlung, dass die Vorstellung von Freiheit und Selbstbestimmung bis zur Rückkehr der »Zeit von Kraft u. That« nur im Kunstwerk möglich ist. Das ist kein optimistischer Ausblick auf Welt und Gesellschaft. Nur eine ironische Wendung lässt Schuberts Zyklus in einer Apotheose des Musikschaffens kulminieren und macht sie zu einer geheimen Metapher für die Kunst als politisches Gedächtnis und als Projektion in die Zukunft. Beide, Protagonist und Musiker, sind Ausgestoßene, und ihr erster Versuch, ein metaphorisches Duo zu schaffen, endet in einem rhythmischen Desaster. Die unregelmäßige Anlage des Gesangsparts in Zwei viertel-, Einviertel- und Zweiviertel-Betonungen, die über den normalen Dreivierteltakt des Pianos gelegt werden, lässt die Fortsetzung in völliger Zweideutigkeit versinken. Seit 1830 betrachtet man diese Lieder als Chiffren für die gesellschaftspolitischen Zustände. Es bleibt eine beachtenswerte Tatsache, dass vorindustrielle Metaphern wie zum Beispiel die Landschaft, so wie sie in Schuberts musikalischen Motiven beschworen wird, bis weit ins Industriezeitalter hinein ihre Kraft und überzeugende Macht behalten haben, um die Gegenwart zu erhellen. Es erstaunt nicht, dass das 20.Jahrhundert sich in Winterreise sehr realistisch widerspiegelt, obwohl es von auszehrend gewalttätigen Kriegen 684 November 1828 | Schuberts politische Landschaft geschüttelt wurde. Ungefähr ein Jahrhundert nach Müller und Schubert wiederholt Thomas Mann die Lindenbaum-Verse mit ihrem Konjunktiv am Ende von Der Zauberberg (1924): »Und seine Zweige rauschten, als riefen sie mir zu« - mit anderen Worten, sie riefen Hans Castorp in den Tod. Mann verstand Winterreise als Warnung vor der Gefahr, die das »Weltfest des Todes« - der Erste Weltkrieg - für den Einzelnen bedeutet Nach dem Zweiten Weltkrieg spiegelt Peter Härtlings Roman DerWanderer (1988) seine Wanderungen durch ein ausgebombtes Europa nicht nur im Schicksal anderer Europäer, die von den Nazis in den Tod gejagt wurden sondern auch in dem Versuch, die Erfahrung der Entfremdung zu interpretieren: Die ersten beiden Zeilen der Winterreise dienen dem Buch als Motto. Im Winter des Jahres 1977 inszenierte Klaus Michael Grüber mit dem Ensemble der Berliner Schaubühne eine Aufführung von Hölderlins Briefroman Hyperion im Olympiastadion in Berlin, einer von den Nazis mit programmatischen Absichten errichteten Anlage. Der Aufführung, die als kritische Diagnose zeitgenössischer Themen verstanden wurde, gab Grüber den Titel »Winterreise«. Es war dies auch der Deckname für eine Fahndungsaktion der deutschen Polizei in den 1970er Jahren, bei der es darum ging, Mitglieder der Roten Armee Fraktion (RAf) zu verhaften. Grübers Open-Air-Vorstellung mitten im Winter, ein Zusammenspiel von faschistischer Architektur, klassischem Drama und szenischen Aktionen, war als Kritik am kalten politischen und sozialen Klima der Bundesrepublik Deutschland gedacht. »Winterreise« war die Metapher dafür. Als Dichter folgte Müller dem traditionellen Liedkonzept der Goethezeit, das nach Versen strebte, die singbar waren und auf Popularität und Einfachheit zielten. Heute hat Stephen Sondheim dieses Prinzip in einer kurzen, aber prägnanten Aussage wiederbelebt, die in einem Artikel im New York Times Magazine zitiert wurde: »Wenn eine Zeile einmal Dichtung geworden ist, ist es kein Liedtext mehr« (12. März 2000). Diese Liedtexte werden auf musikalischer Ebene mit einer ähnlich einfachen Melodie ergänzt, und es ist der Sänger, der »nach Einer Melodie die verschiedenste Bedeutung der einzelnen Strophen hervorzuheben und so die Pflicht des Lyrikers und Epikers zugleich zu erfüllen weiß« (Goethe, 1801). Das begleitende Instrument ist das Klavier, das damals zum Inventar jedes bürgerlichen Haushalts gehörte. Unter derartigen Verhältnissen betrachtete man ein »Durchkomponieren« als »sträflich«, aber dort, wo es im Bereich des Liedes akzeptiert war, nannte man das Genre »Ode« oder »Gesang«. Es ist Schuberts historische Leistung, dass er dem Genre eine neue Orientierung verlieh: das Kunstlied, eine Schöpfung, die eng mit der Dichtung Goethes verbunden ist. Anderen musikalischen Genres folgend, zielte das Lied nun ebenfalls darauf ab, ein Werk zu sein, ein Kunstwerk, eine unabhängige ästhetische Einheit. Die kompositorischen Aspekte dieser Entwicklung sind die Rettung der Melodie von den mittleren November 1828 | Schuberts politische Landschaft 685" Normen von Singbarkeit und Einfachheit, die Individualisierung dieser (Melodie im Zusammenspiel mit Form und Struktur des Gedichts selbst und die technischen Anforderungen jenseits des singenden oder ein Instrument spielenden Amateurs. Gemeinsam mit der Eigenständigkeit der Melodie wird das Strophen-Prinzip durchbrochen und dem Durchkomponieren ein hoher Rang verliehen. Entscheidend jedoch ist die wachsende Bedeutung des Klaviers in seiner Partnerschaft mit der Stimme: Tatsächlich ist es das Piano, das die kompositorische Physiognomie der Kunstform Lied bestimmt, das es als Charakterstück entwirft und darüber hinaus eine Neubewertung der Musik in ihrem Verhältnis zum Text fordert. Auf diese Weise wird das Lied zur Entsprechung des lyrischen Klavierstücks - hier schlägt Mendelssohns »Lied ohne Worte« die Brücke, und das nicht nur in der Terminologie. Von nun an sollten beide Genres parallele Entwicklungen durchlaufen. Das ist der grundsätzliche Rang des schubertschen Lieds. Aber als wäre es ein Schatten der Geschichte, bleiben Spuren seiner Emanzipation in seinen Konturen haften. Thrasybulos Georgiades sieht seine historische Stellung als Ubergang vom geselligen Lied der Goethezeit zum »Lied als musikalischer Struktur«, dessen populäre Wurzeln aktiv verwischt wurden. In Schuberts Lied ist es immer noch der Gesang, der das Genre bestimmt. Darum definiert die Stimme immer den formalen Rahinen, denn trotz seiner zunehmend stärkeren Rolle in der Schöpfung des Kunstwerks bleibt das Klavier der Stimme unterlegen. Schuberts Kompositionsprozess, mit dem Aufzeichnen der Noten der Stimme als erstem Schritt, bestätigt diese Hierarchie. Der Auftakt zitiert in den meisten Fällen die nachfolgende Melodie, während das Nachspiel bekräftigt, was die Stimme schon ausgesprochen hat. Damit bewahren Schuberts Lieder das populäre Element. Joseph von Spauns Erinnerungen an die erste Aufführung von Winterreise (wahrscheinlich nur des ersten Teils) im Jahr 1827 zeigen deutlich, was das Lied für Schubert, seinen Kreis und seine Zeit bedeutete: Schubert wurde durch einige Zeit düster gestimmt und schien angegriffen. Auf meine Frage, was in ihm vorgehe, sagte er nur: »Nun, ihr werdet es bald hören und begreifen.« Eines Tages sagte er zu mir: »Komme heute zu Schober. Ich werde euch einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen. Ich bin begierig zu sehen, was ihr dazu sagt. Sic haben mich mehr angegriffen, als dieses je bei anderen Liedern der Fall war.« Er sang uns nun mit bewegter Stimme die ganze Winterreise durch. Wir waren über die düstere Stimmung dieser Lieder ganz verblüfft, und Schober sagte, es habe ihm nur ein Lied, der Lindenbaum, gefallen. Schubert sagte hierauf nur: »Mir gefallen diese Lieder mehr als alle, und sie werden euch auch noch gefallen.« Das Lied ist Teil des sozialen Lebens und der Kultivierung von Kunst im bürgerlichen Heim. Der soziale Ort dieses Genres ist der private Kreis oder die halböffentliche Soiree von privat organisierten Musikgesellschaften (wie die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien), noch nicht jedoch der 686 November 1828 | Schuberts politische Landschaft Konzertsaal. Erst später, im 19.Jahrhundert, kommt das Lied - zunächst noch als einzelnes Werk - auf die Konzertbühne, innerhalb eines Programms, das mehr oder weniger ein Pastiche darstellte. Konzerte mit Liedern allein kennt man erst ab der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eingeführt auf Initiative von bekannten Sängern. Julius Stockhausen sang das erste Konzert, das 1876 in Wien ausschließlich dem gesamten Zyklus von Schuberts Die schöne Müllerin gewidmet war. Lob für die Einführung von Schubert-Abenden gebührt dem Wiener Sänger Gustav Walter, dessen erster Vortrag ausschließlich mit Schubert-Liedern 1876 enthusiastisch aufgenommen wurde, und schon 1887 konnte Hugo Wolf über eine Epidemie von Schubert-Liederabenden in Wien schreiben. Von Natur aus ist das Lied eine kleine Form, und es war nicht in der Lage, die Anforderungen der neuen bürgerlichen Kunsttheorie zu erfüllen. Als Ergebnis wurden Lieder ebenso wie lyrische Klavierstücke als Sammlungen veröffentlicht. Dadurch, dass man einzelne Lieder in einer Reihe, einem Kranz, einem Zyklus oder selbst einem Kreis zusammenstellte - in Gruppierungen also, die nach einem ordnenden Prinzip strukturiert sind —, versuchten Komponisten, dem Lied dieselbe Würde und Bedeutung zu sichern, wie sie Genres größeren Zuschnitts - Oratorium oder Symphonie - immer schon zugestanden worden waren. Fiktionale Gestaltung von Erfahrung ist eine Grundkomponente moderner Lyrik. »Schauerliche Lieder«, damit deutet der Komponist auf die Pein, die Tragik innerhalb des Zyklus. Tatsächlich sollte Winterreise nie ganz den traditionellen Forderungen des Liedergenres entsprechen - gesellige Zusammenkünfte, künstlerische Unterhaltung, Hausmusik. Diese Lieder sind vielmehr durch einen gehobenen künstlerischen Anspruch gekennzeichnet, der entsprechend höhere Anforderungen an die gestaltende Fähigkeit des Komponisten stellt. Gleichermaßen deutet Schubert seine Lieder als historische Parabeln, ein für dieses Genre ungewöhnliches Verständnis. Zu erinnern ist auch, dass Schubert parallel zur Arbeit an Winterreise Lieder voll heiterer Freude komponierte. Man denke an »Der Hirt auf dem Felsen« - die Bedeutung schöpferischer Erfindung in großer Kunst kann kaum überbewertet werden. Schubert war sich der besonderen Bedeutung von Winterreise nicht nur innerhalb seines eigenen Werkes, sondern innerhalb des gesamten Genres deutlich bewusst. Die Komplexität seiner repräsentativen und kunsthistorischen Rolle forderte ähnlich komplexe kompositorische Mittel. Die wunderschöne Naivität in Ton, Charakter und formalem Entwurf von Die schöne Müllerin war für Winterreise unpassend. Hier tritt die strophische Liedform in den Hintergrund. Tatsächlich gibt es als besondere Ausdrucksformen nur drei rein strophische Lieder - »Frühlingstraum« mit seinem inneren Gefüge von wechselndem Tempo und Charakter ist eher ein zweiteiliges als ein strophisches Lied - und vier verschiedenartige strophische Lieder. Ebendiese Lieder sind dadurch charakterisiert, dass, wie in »Der Lindenbaum«, mit der strophischen Form selbst ge- November 1828 I Schuberts politische Landschaft 687 spielt wird: Sie zeigen plötzliche strukturelle Brüche,Tempowechsel, melodische Extravaganzen, Moll-Dur-Variationen - und so fort. Auf diese Weise wird das anscheinend einfache strophische Prinzip der Wiederholung benutzt, um zu komplexen künstlerischen Formulierungen zu gelangen. Direkt vom literarischen Text hergeleitete individuelle Muster bestimmen die Winterreise. Wir finden eine reiche Auswahl an verschiedenen musikalischen Texturen und Merkmalen, Modellen und Formeln vor, die der klassisch-romantischen Musiksprache entlehnt und so kombiniert wurden, dass sie eine kompositorisch zusammenhängende, ausdrucksstarke Einheit bilden, die die poetische Anlage und Bedeutung des Textes spiegelt. Also finden wir ein Arioso einem Rezitativ gegenübergestellt (»Frühlingstraum«); periodisch gestaltete Melodien (»Gute Nacht«) und melodische Abspaltungen und Teilungen, die zu unabhängigen fragmentarischen Einheiten werden, wie der gedoppelte Nachsatz zu Beginn von »Der Lindenbaum«; ornamental launenhafte melodische Figuren für bestimmte Ausdrucksmodi - Koloraturen ähnliche Passagen in der zweiten Hälfte von »Wetterfahne«, melodische Exzesse in »Irrlicht«; Vertonungen wie für Blaskapellen (»Das Wirtshaus«, »Die Nebensonne«); instrumentale Merkmale im Allgemeinen - Gleichklänge mit integrierter Stimme in »Letzte Hoffnung«; choralähnliche Akkordfolgen mit einer führenden Oberstimme (»Der Lindenbaum«, Anfang; »Im Dorf«, Ende). Es gibt sogar den normalen Liedbau: eine Stimme mit figürlich elaborierter Klavierbegleitung (»Erstarrung«). Fast in der gesamten Winlerreise trägt der Klavierpart dazu bei, spezifische Merkmale zu formulieren. Neben den typischen Gestaltungsmustern für ein begleitendes Klavier (»Die Post«) tauchen strukturelle Themen aus anderen musikalischen Sphären auf: Tremoli, die orchestrale Techniken für Streicher nachahmen (»Einsamkeit«), oder ähnlich orchestrale Oktav- und Doppeloktavpassagen (»Letzte Hoffnung«); aus dem vokalen Bereich stammen melodische Stellen des Klavierparts, die die Stimme übertreffen (»Der greise Kopf«), und so fort. Schuberts kreativer Phantasie war ein ungewöhnlich hohes Maß an historischem Bewusstsein und historischer Kenntnis zu eigen — um ein Werk zu schreiben, das beansprucht, die Wahrheit über die neue Gesellschaft darzustellen, die zu Beginn des 19.Jahrhunderts so optimistisch ins Auge gefasst wurde und die nur ein Vierteljahrhundert später kaum noch eine reelle Chance zu haben schien, Wirklichkeit zu werden. REINHOLD BRINKMANN : Siehe auch 1808, Winter 1828, 1831, 19+3 Bibliographie. G. W F. Hegel. Vorlesungen über die Ästhetik. Werke in 20 Bänden, Bd. 14, Frankfurt am Main 1986. - Theodor W Adorno, »Schubert« (1928), in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 17, hg. von RolfTiedemann, Frankfurt am Main 1997. S. 18-33. - Reinhold Brinkmann, Musikalisehe Lyrik, politische Allegorie und die >heil'ge< Kunst in: Archiv für Musikwissenschaft 62 (2005), S. 7$"ff. - Elmar Budde. Schuberts Liederzyklen, München 2003; Hans Joachim Kreutzer, »Wilhelm Müller: Der Artist in der Tradition der Literatur«, in: Obertone. Literatur und Musik, Würzburg 1994, S. 176-195. - Heinrich W Schwab, Süng- 688 2i.Julii8ri I Pause und die Dialektik der Moderně btirkeil, Popularität und Kunstlied. Studien zu Lied und Liedästhetik der mittleren Goethezeit 1770-18)4 Regensbnrg 1965. - Susan Ycmens, Retracing a Winters Journey: Schuberl's »Winterreise«, Ithaka N.Y. 1991. *** 2 I.Juli 1831 I Goethe beendet den Faust Faust und die Dialektik der Moderne Als Johann Wolfgang Goethe, auf dem Höhepunkt seines zweiundachtzigsten Lebensjahrs, in seinem Tagebuch notierte, dass das »Hauptgeschäft« - der Ausdruck, mit dem er sich auf seinen Faust bezog - endlich beendet sei, hielt er die Vollendung eines Projektes fest, das er nahezu sechzig Jahre zuvor begonnen hatte. Kann ein dichterisches dramatisches Werk bei einer so ausgedehnten Entstehungszeit inhaltlich und formal überhaupt eine Einheit bilden? Nur, so ist man versucht zu antworten, wenn in der ganzen Zeit, in der das Werk entstand, die herrschenden so-ziokulturellen Rahmenbedingungen und künstlerischen Konventionen stabil waren. Dann kann die Textur, die sich aus den Erfahrungen eines Autors bildet - seinen formalen Vorlieben, seinem Bezugs- und Wertesystem sowie seinem Sendungsbewusstsein -, selbst über einen so langen biographischen Zeitraum hinweg unverändert bleiben. Der Zeitraum, in dem Goethe an seinem Faust arbeitete - natürlich mit Unterbrechungen —, war aber von vielfachem Wandel geprägt. Man denke nur an die politischen Wendepunkte der Geschichte: die Französische Revolution, die Napoleonischen Kriege und den Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, die allesamt Goethes Leben direkt beeinflussten und sein Denken tief prägten. Man denke auch an die philosophische Revolution, die von Kant eingeleitet und von seinen idealistischen Nachfolgern Fichte, Schelling, Schopenhauer und Hegel, die Goethe alle persönlich kannte, ausgeführt worden war, Oder man bedenke die Entwicklung von Goethes eigenem literarischen Werk: von der Sentimentalität der Leiden des jungen Werther (1774) und dem Sturm und Drang der frühen Hymnen zum gemäßigten Klassizismus seiner Dramen Iphigenie aufTauris (1787) und Torquato Tasso (1790); von seinem Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) zu dem tragischen, hermetischen Roman Die Wahlverwandtschaften (1809); von der offenkundigen Erotik der Römischen Elegien (1795,) zu der rätselhaften Spiritualität und parabolischen Verschlungenheit im West-östlichen Diwan (1819). Nirgends lässt sich Stabilität feststellen, überall ist rasanter Wandel. Man bedenke weiterhin so prägende Erfahrungen wie den Umzug nach Weimar, wo Goethe eine Menge anspruchsvoller öffentlicher Amter innehatte, seine Italienreise, seine Freundschaft mit Schiller und seine Beschäftigung mit der Botanik, Tierphysiologie und Optik - Bereiche, in denen Goethe bedeutende Entdeckungen machte. Und zuletzt bedenke 21. Juli 1831 I Faust und die Dialektik der Moderne 689 man, dass Goethe, als er seinen Faust begann, ein unbekannter Autor in einer schlecht entwickelten Literaturszene war, und zum Zeitpunkt, als I er das Werk vollendete, als der herausragendste lebende Vertreter einer ' »weltliterarischen« Kultur galt, deren Konzept er selbst erfunden hatte. Kurz gesagt: Wenn man bedenkt, was sich zwischen Goethes erster Beschäftigung mit der Faust-Legende und der Vollendung des Werkes etwa acht Monate vor seinem Tod am 22. März 1832 alles ereignet hat, ist es I eigentlich kaum vorstellbar, wie der Faust als Ganzes bestehen konnte. Dieses Misstrauen wächst, wenn man sich das Werk selbst genauer anschaut. Es besteht aus zwei Teilen, von denen der erste sich wiederum teilt in die >Gelehrtentragödie< - Fausts Verzweiflung beim Erwerb reinen Wissens, die zu einem Bund mit Mephistopheles führt - und die >Gret-chentragödie< - Fausts unerlaubte und verheerende Liebesbeziehung zu Margarete, genannt Gretchen. Der zweite Teil ist noch unzusammenhängender, er besteht aus fünf lose miteinander verbundenen Akten, von denen jeder in einer anderen Erfahrungswelt angesiedelt ist. Der erste Akt zeigt Faust am Hof des Kaisers, wo er für Unterhaltung sorgt, Helena von Troja dem Abgrund der Vergangenheit entreißt und sich ein wenig an einer finanziellen Zauberei (der Erfindung des Papiergelds) beteiligt. Der zweite Akt kehrt zu der mittelalterlichen Studierstube zurück, in der das Stück begann und wo Wagner, Fausts früherer Famulus, erfolgreich einen Homunculus erschaffen hat, eine Art menschlichen Geist aus dem Reagenzglas. Der Akt endet mit einer kunstvoll inszenierten »Klassischen Walpurgisnacht«, in der Homunculus Faust auf eine Reise durch oft obskure mythologische Szenen mitnimmt, die in der Empfängnis Helenas ihren Höhepunkt finden. Im dritten Akt findet man Faust in Griechenland wieder, wo er, als spätmittelalterlicher Ritter gekleidet, in Liebe mit der schönen, aber geisterhaften Helena verbunden ist, nur um ihren Spross, Euphorion, von einer Klippe in den Tod stürzen zu sehen, ein Zeitpunkt, an dem auch Helena verschwindet. Der vierte Akt ist militärischen Eroberungen gewidmet, wobei Faust und Mephistopheles Kriegstechniken einführen, die den kaiserlichen Truppen den Sieg sichern. Im fünften Akt erscheint Faust als Kolonialherr, der an einem gigantischen Projekt arbeitet: als Bauingenieur - beim Deichbau, um das Meer zurückzuhalten - und als Sozialplaner - beim Entwurf einer Gemeinschaft »freier« Individuen. All das endet mit dem von Faust zu verantwortenden Mord an Philemon und Baucis, dem Ehepaar aus der Antike - und dann mit Fausts eigenem Tod, als er, von Sorge geblendet, die Geräusche der grauenhaften Arbeit des Totengräbers als Zeichen der Verwirklichung seiner Ingenieursunternehmung missversteht. Daraufhin folgt eine Art Coda, in der »Faustens Unsterbliches« dem Zugriff Mephistopheles' entrissen und durch eine mittelalterliche Seelenhierarchie zum »Ewig-Weiblichen« emporgetragen wird. Goethe hat einmal angemerkt, dass sich der Helena-Akt (II, 3) von der NiederlageTrojas bis zur Zerstörung von Missolonghi (wo Lord Byron 690 2]. Juli 1831 I Faust und die Dialektik der Moderne 21. Juli 1831 j Faust und die Dialektik der Moderne 691 1824 starb) erstreckt; aber die Reichweite des ganzen Dramas kann, insbesondere wenn man die naturgeschichtlichen Dimensionen einbezieht, gar nicht bemessen werden. Der »Prolog im Himmel«, der dem ersten Teil vorangestellt ist, schafft ein Bild von der Welt, wie sie am »ersten Tag« ihrer Erschaffung war, und der nach seinem Tod stattfindende Aufstieg von Fausts Selbst, mit dem das Drama schließt, weist in eine offene Zukunft. Die Einheit von Zeit, Ort und Handlung, die, wie brüchig auch immer, das westliche Drama seit der Antike zusammengehalten hatte, ist beiseite gefegt. Faust geht weit über den Rahmen von Homers und Ver-gils Epen hinaus und übertrifft sogar noch die kosmische Vision Dantes. Dabei werden alle stilistischen Register gezogen, von blanker Obszönität zu mystischen Konzetti, von feierlicher Rhetorik zu herzzerreißenden Lyrismen, von gelehrtem Anspielungsreichtum zu verspieltem Nonsens. Doch wenn die üblichen Kriterien zur Beurteilung der literarischen Einheitlichkeit uns nicht dienlich sind beim Versuch, Goethes Faust zu verstehen (ein Verb, das die Ansprüche zu sehr in die Höhe treibt), sollten wir vielleicht anderswo nachVergleichsmöglichkeiten für die Gattung suchen. Als Beispiel würde sich das Genre der Enzyklopädie anbieten, das bekanntlich zu Goethes Zeiten mit der Encyclopedie von d'Alembert und Diderot einen Höhepunkt erlebte. Die Absicht einer Enzyklopädie ist es, nicht die Welt und nicht eine Handlung zu erfassen, sondern Wissen in all seinen Formen. Sie ist ein meta-epistemisches Genre, das alles, was praktische, wissenschaftliche, ästhetische, psychologische, gesellschaftliche und religiöse Forschungsbemühungen erreicht haben, sammelt, ausstellt und ordnet. Nicht dass Goethe nach dem Muster der Enzyklopädisten gearbeitet hätte - es geht vielmehr darum, dass Faust mit ihnen das Kennzeichen der Rückkopplung und Reflexion von Wissen gemein hat; an erster Stelle und vordringlich ist es ein Werk von überwältigender Gelehrsamkeit, das in sein Bezugsgeflecht Abhandlungen zu Zauberei und Hexenkunst, zu historischem und kunsthistorischem Wissen, Politikgeschichte, Mythendeutung, theologischer Spekulation, Wissenschaft, technischer Expertise und vielem mehr hineinzieht. Es verknüpft die Legende von Faust mit dem Buch Hiob und dem Johannesevangelium. Der Teil über Gretchen beschwört noch einmal den Aufbau der bürgerlichen Tragödie, wobei großzügig die Techniken Shakespeares zum Einsatz kommen. Im zweiten Teil sind die antike Mythologie, die Homerischen Epen, die attische Tragödie, mittelalterliche Liebeslyrik, die Opern Monteverdis, die Renaissancepastoralen, Calderons Stücke, das höfische Maskenspiel und Dantes religiöse Vision vertreten. Die Versgestaltung ist praktisch ein Katalog aller Metren und Strophenformen von der Antike bis zu Goethes Zeit. Der Protagonist, den wir als Erstes mit einem Buch von Nostrada-mus auf dem Tisch sehen, verschwindet am Ende des Dramas auf eine Weise aus dem Blick, die auf eine Vision des Kirchenvaters Origines zurückgeht (im 18. Jahrhundert vermittelt durch den Religionshistoriker Gottfried Arnold). Faust ist ein Buch, das viele Bücher in einem umfang- reichen und komplizierten semantischen Netzwerk verbindet. Der Raum, den es umfasst, ist der des europäischen kulturellen Gedächtnisses. So hilfreich das Paradigma der Enzyklopädie dabei sein mag, den meta-epistemischen, ja archivarischen Charakter des Faust hervorzuheben, so ist es doch insofern irreführend, als es eine unbewegliche Ordnung aus einer einzigen, quasi allwissenden Perspektive suggeriert. Was dagegen Faust ausmacht, ist eine Vorwärtsbewegung und ein Zug, als deren Inbegriff wohl das Schlüsselwort des Dramas bezeichnet werden kann: »Streben«. Es ist gerade Fausts Charakter, dass er unaufhörlich nach dem greift, was hinter der Befriedigung des Augenblicks liegt, dass jeder Erfolg nur der Ausgangspunkt für seine nächste Unternehmung ist. Während dramatische Charaktere sich üblicherweise auszeichnen durch die entsprechenden Ziele, die sie verfolgen, ist für Faust die Verfolgung des Ziels selbst, unabhängig vom Zielpunkt, das Entscheidende. Das zeigt uns, um wie viel es in Goethes Drama geht. Aristoteles war davon ausgegangen, dass jedes Wesen - auch der Mensch - mit einem Ziel >begabt< ist, auf das sich seine Bemühungen richten und dessen Erreichen die Erlangung einzigartiger Vollkommenheit bedeutet. Diese Vorstellung, dass das Universum aus vorbestimmten >Plätzen< besteht, in denen die Handlung ihren Zweck erfüllt und damit Ruhe und Erfüllung findet, bewahrte sich auch im christlichen Mittelalter. In der Moderne öffnet sich das geschlossene Weltbild jedoch der Unendlichkeit. In Giovanni Pico della Mirandolas Rede Über die Wurde des Menschen (1486/87) wird der Mensch als dasjenige Wesen beschrieben, für das es keine vorbestimmte Nische gibt, sondern dessen Schicksal es ist, sich selbst frei seinen eigenen Daseinszweck zu schaffen. In der Anthropologie Thomas Hobbes' (15:88— 1679) wird das aristotelische Prinzip einer inneren Bestimmung (Entele-chie) von einem Prinzip der Selbsterhaltung und Selbsterhöhung ersetzt, das von keinem bestimmten Endzweck befriedigt werden kann. Wünsche und Bemühungen sind keine teleologisch festgelegten Bewegungen, sondern Formen der Selbstbestätigung. Das menschliche Wesen - so ist die Struktur einer jeden seiner Handlungen beschaffen - hat sich selbst zum Ziel, und es besteht allein in der fortwährenden Umsetzung seiner Möglichkeiten. Vor diesem Hintergrund ist Faust nicht nur als ein modernes Drama zu verstehen, sondern als das Drama der Moderne, als Erkundung, wie menschliches Leben sich entfaltet, wenn es sich von den traditionellen Bestimmungen löst und das Projekt energischer Selbstbestätigung und Selbstoptimierung verfolgt. Aus diesem Grund bietet sich uns Faust als ein meta-epistemisches Dokument dar, denn zu den Betätigungsfeldern, die sich dem modernen Subjekt eröffnen, gehören die kulturellen Errungenschaften der Vergangenheit. Es ist ein wesentliches Kennzeichen der Moderne, dass sie sich selbst historisch versteht. Gerade weil Faust das Drama der Moderne ist, ist es auch ein Drama über kulturelles Gedächtnis und Geschichtsbewusstsein. Die Geschlossenheit von Faust — um zu 692 2i. Juli 1831 I Faust und die Dialektik der Moderne unserer Eingangsfrage zurückzukehren — erklärt sich nicht aus der Handlung oder dem Ort, noch wurzelt sie in einem einzigen Themenbereich. Vielmehr leitet sie sich von der strukturellen Dynamik her, die das moderne »Streben« in der enzyklopädischen Breite seiner Ausdrucksformen ausmacht: Liebe, Geschichte, Politik, Kunst, Wissen, Religion, Wissenschaft, Wirtschaft und Technologie. Eine der entscheidenden Neuerungen von Goethes Bearbeitung der Faust-Geschichte war, dass er den Pakt zwischen Faust und Mephis-topheles durch eine Wette ersetzte, eine ziemlich merkwürdige zudem. Denn Faust wettet, dass er keine Verlockung, die Mephistopheles aufbieten kann - kein Vergnügen, keinen Ruhm, keinen Besitz, keinen Erfolg -, wirklich als erfüllend wird bezeichnen können; dass kein Zeitpunkt kommen wird, an dem Faust sagen könnte: »Verweile doch, du bist so schön.« Es geht um die Wette, dass die Diskrepanz zwischen Wille und Erfüllung unvermeidlich ist, dass die Erfahrung, hier und jetzt, seinem Streben nie Einhalt wird gebieten können. Da diese Wette die Bedingungen festlegt, von denen am Ende des Dramas Fausts Erlösung abhängt, überrascht es nicht, dass die Stelle, an der sie formuliert wird, die wohl meistkommentierte der deutschen Literatur ist. Wir müssen uns hier auf wichtige Aspekte bescliränken: Die Wette bekräftigt formell, was als die Struktur des modernen Bewusstseins beschrieben wurde; worauf Faust wettet, ist sein eigener unersättlicher Drang nach einer immer weiteren Optimierung der eigenen Möglichkeiten. Doch macht die Wette auch klar, auf welchem Spielfeld dieses »Streben« erprobt werden wird: im Erfahrungsbereich der Zeitlichkeit, der menschlichen Endlichkeit. Faust geht, mit anderen Worten, die Wette ein, nachdem er erkannt hat, dass ihm der unmittelbare Zugang zum Absoluten - sei es die harmonische Ordnung, die im Bild des Makrokosmos gefasst ist, sei es die natürliche Kraft, wie sie der Erdgeist verkörpert - verweigert wird. Der gewichtige Bund, den die Wette zwischen Faust und Mephistopheles herstellt und der das ganze Stück hindurch hält, drückt die Tatsache aus, dass die unabsehbare Endlosigkeit modernen Strebens nur in einer Welt radikaler Konditionalität umgesetzt werden kann. Mephistopheles ist keine Macht, die Faustischer Subjektivität fremd ist; er ist kein vermeidbares Übel, und aus diesem Grund ist Goethes Faust im Unterschied zu seinen Vorgängern nun nicht mehr moralisch zu deuten. Man bedenke, wie der gesamte Titel lautet: Faust, eine Tragödie. Die vernichtende Paarung von Faust und Mephistopheles drückt die Grundannahme von Goethes Drama aus: Modernität verwirklicht sich im Einklang mit einer tragischen Dialektik; die Segel für das offene Meer der Selbstbestätigung zu setzen - und diese Reise ist das Schicksal der Moderne - bedeutet, zu einem enorm hohen Preis an den Klippen der menschlichen Endlichkeit zugrunde zu gehen. Eines der unergründlichsten Rätsel in Goethes Faust ist sicherlich die Tatsache, dass Mephistopheles, wie er selbst bemerkt, ein unübersehbarer 21. Juli 1831 I Faust und die Dialektik der Moderne 693 Anachronismus ist. Warum traf Goethe in einem Zeitalter, das sich rühmte, sich von derlei Aberglauben befreit zu haben, die Wahl, den Teufel - oder einen seiner Handlanger - auf die Bühne zu bringen? Unsere Auslegung des Stücks als Verkörperung der tragischen Dialektik der Moderne hält eine Antwort auf diese Frage bereit. Durch die Zusammenführung von Faust und Mephistopheles lassen sich (mindestens) drei Merkmale der modernen Befindlichkeit ausdrücken. Mephistopheles zeigt erstens die Abhängigkeit modernen Strebens von Instrumenten und Vermittlern, die nie ganz kontrollierbar sind. Mephisto (wie Faust ihn bei einer Gelegenheit nennt) liefert die Mittel zur Durchführung eines jeden Projekts von Faust, von der Gewinnung von Gretchens Herz bis hin zur Vertreibung von Philemon und Baucis aus ihrer idyllischen Hütte. Doch genau diese Hilfsmittel überlasten nach und nach jede Unternehmung mit fatalen Konsequenzen. Zweitens verkörpert Mephisto die Tatsache, dass der faustische Drang nach Optimierung, wie hochstehend die erklärten Motive dafür auch sein mögen, unweigerlich mit einer gewaltsamen, zerstörerischen Tendenz einhergeht, die Goethe sogar bis zum Kern von Fausts erotischen Wünschen verfolgt. Und drittens illustriert Mephistopheles' unverbesserlicher Zynismus - eine Eigenschaft, die ihm fasi alle beißenden, komischen Verse des Stückes sichert — die Doppelbödigkeit des modernen Bewusstseins, das fast jederzeit aus sich heraustreten kann, um noch im höchsten Ansinnen das Niederste zu sehen und in der tiefsten Überzeugung das Verlogene. Unter der Bedingung der Endlichkeit ist jede Liebe auch eine Verführung und ein Verrat, jede Schöpfung bedeutet zugleich Zerstörung und jede von uns beteuerte Wahrheit erweist sich schließlich als Lüge. Seit der vollständige Faust nach Goethes Tod 1832 verfügbar geworden ist, haben Leser sich bemüht, Faust von Mephistopheles, hohe Ideale von niederen Machenschaften zu trennen. Dies ist jedoch Goethes Grundeinsicht zuwider: der Erkenntnis, dass wir, wie Prometheus an seinen Felsen, an unsere Begrenztheit gefesselt sind. Unser Handeln geschieht in einer Welt, die wir nicht geschaffen haben, und mit Konsequenzen, die wir nicht überblicken können. Jeder unserer Triebe ist ein Monster, zugleich voll Zartheit und voll Aggression. Jede unserer Absichten lässt sich ironisch ins Gegenteil verkehren. Und was am schlimmsten ist: Die unausweichliche Notwendigkeit dieser dualen - oder dialektischen -Struktur erlaubt es nicht, uns davon freizusprechen. Es gibt aber noch schwierigere Probleme. Der erste Teil, zu dessen Katastrophen rohe Erniedrigung, Mord (von Mutter, Bruder, Kind), Wahnsinn und namenlose Schrecken zählen, endet mit einer »Stimme von oben«, die Gretchen für »gerettet« erklärt. Der zweite Teil, in dem die Katastrophen im Mord an dem alten Ehepaar Philemon und Baucis und dem Niederbrennen ihres Heims gipfeln, endet mit einer Coda, in der der Aufstieg von Fausts Seele verfolgt wird, wobei er zuletzt von Gretchens Geist in immer höhere Sphären geleitet wird. Mit anderen 694 iSäi ) Schreiben zwischen Gattungen und Diskursen 1835 I Schreiben zwischen Gattungen und Diskursen 695 Worten: Der Schlussakzent scheint beide Male, wie relativ und ungewiss auch immer, die tragische Endlichkeit aufzuheben und die Möglichkeit der Rettung anzudeuten. Vielleicht können wir diese Akzentuierung auf Goethes Überzeugung zurückführen, dass es so etwas wie die unangreifbare Reinheit der Liebe oder eine immanente natürliche Tendenz zum Guten gibt. Doch woran Goethe letztlich glaubte und ob er überhaupt einen die letzten Dinge betreffenden Glauben hatte, bleibt für immer unergründlich. Wir schließen das größte Meisterwerk der Dichtung in deutscher Sprache, und zurück bleibt die unaufgelöste Dissonanz von Hoffnung und Verzweiflung. Kein Leser wird sagen können, was diese Dissonanz an sich bedeutet, doch muss jeder Leser entscheiden, was sie für sein Leben, hier und jetzt, bedeuten könnte. DAVID E. WELLBERY : Siehe auch 1596, 1774, 1786, 1790, 26. August 1792, 1796-1797, Winter 1828, 1943 Bibliographie: Johann Wolfgang von Goethe, Fdust, hg. von Albrecht Schöne, 2 Bde. Frankfurt am Main 4t999- - Ders., Faust-Dichtungen, hg. von Ulrich Gaier, 3 Bde., Stuttgart 1999. 1833 I Kurz nach ihrem Tod erscheint Rahe! Levin Varnhagens dreibändige Sammlung von Briefen an ihre Freunde Schreiben zwischen Gattungen und Diskursen Rahel: Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bereits der Titel des Buches wirft Fragen auf. Er beginnt mit einem Namen, aber nur dem Vornamen: Rahel. Das Buch ist für Raheis Freunde bestimmt, die ihrer gedenken sollen. Oder sind es die Freunde, an die man sich erinnern soll? In der Tat, ein sehr merkwürdiges Buch: eine dreibändige Sammlung von Tagebucheinträgen und Briefen, geschrieben zwischen dem 20. Oktober 1787 und dem 23. Februar 1833 - insgesamt etwa 1800 Seiten. An wen richten sich diese Texte? Beim Durchblättern stößt man auf vertraute Namen: Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schlegel, Friedrich Gentz und Clemens Brentano, Hermann Graf Pückler-Muskau, Heinrich Heine und Ludwig Börne. Doch Humboldt, Heine, Schlegel und Börne, die zu den Bekanntesten dieser Gruppe zählen, haben jeweils nur einen Brief erhalten. Pückler schneidet etwas besser ab. An ihn sind fünf Briefe gerichtet. Gentz bekam elf Briefe, und nur Brentano, der Empfänger von 34 Briefen, scheint ein wichtiger Korrespondenzpartner gewesen zu sein. Andere Briefpartner dürften nur Fachleuten bekannt sein, doch der Großteil der Briefe richtet sich an Personen, die völlig in Vergessenheit geraten sind. Hier finden sich alle: Schauspielerinnen und Philosophen, assimilierte Jüdinnen und unkonventionelle Gräfinnen, junge Intellektuelle und Beamte. Die »Freunde« sind also eine recht heterogene Gruppe von Men- sehen, die allein in diesen Briefen weiterleben. Die einzige Verbindung zwischen ihnen stellt Rahel dar, mit der sie alle bekannt waren. Doch wie soll man diese Frau, die Verfasserin all dieser Texte, nennen? Viele der Briefe sind überhaupt nicht signiert. Manche tragen die Kürzel »R.«, »R.L.« oder R.R.«, andere wiederum »Fr.V« oder F.V«, und nur sehr wenige sind mit »Friederike Varnhagen« unterschrieben. So gut wie nie steht »Rahel« unter den Briefen. Das Vorwort zum Buch verrät uns nichts über die Autorin. Der Leser erfährt nur, dass bereits ein Buch desselben Titels erschienen ist, dass Exemplare davon nur an Freunde gingen und dass die vorliegende Ausgabe von einem auf drei Bände ausgeweitet und im Dezember 1833 in Berlin fertiggestellt wurde. Erst eine co Seiten lange, unbetitelte Einleitung, die »K. A. Varnhagen von Ense« unterschrieb und das Datum »Berlin, im April 1833« trägt, verrät uns etwas über die Identität der Frau, die dieses Buch schrieb: »Rahel Antonie Friederike Varnhagen von Ense, geborne Rahel Levin, später unter dem Familiennamen Robert bekannt.« Der komplexe Name steht für eine komplexe Identität: Rahel Levin, Tochter einer jüdischen Handelsfamilie, 1771 in Berlin geboren, wo sie 1833 starb, ist der Nachwelt unter dem Namen Rahel Varnhagen bekannt -einem Namen, den sie nie trug. Um 1814 Karl August Varnhagen, einen preußischen Diplomaten und Schriftsteller, heiraten zu können, musste sie zum Christentum übertreten. Zu ihrer Taufe wählte sie Antonie und Friederike als Vornamen - letzteren zu Ehren des preußischen Königs Friedrich I., in dessen Reich sie geboren wurde und in dem sie aufwuchs. Der Name Rahel musste aus ihrer christlichen Identität verschwinden, denn in Preußen konnte man nicht getauft werden, wenn man einen jüdischen Namen trug. Das Buch aber hebt genau diesen unterdrückten Namen hervor: Viele Leser nannten es sogar das Buch Rahel und gaben ihm so einen biblischen Klang. Und alle zählten sie sich zu den »Freunden«. Angesichts der ersten Privatausgabe aus dem Jahre 1833, von der nur sehr wenige Exemplare erhalten sind, ist das keine Überraschung. Das Buch war an die »Freunde« gerichtet, und nur diese erhielten ein Exemplar, wie es eine Liste von Empfängern aus dem schriftlichen Nachlass belegt, der sich heute in der Bibliotéka Jagiellonska in Krakau befindet. Doch ein Jahr später wurde eine erweiterte Fassung publiziert. Und damit werden beide Teile des Titels nahezu unlesbar. Wie sollen wir mit einem Buch umgehen, das weder anonym veröffentlicht wird, noch den Namen des Autors trägt? Wie sollen diese Texte gelesen werden, wenn das Vorwort besagt, dass sie sich an Leser wenden, die selbst dann noch zu Raheis Freunden wurden, als Friederike Varnhagen bereits verstorben war, oder die in einer nicht näher definierten Zukunft ihre Freunde werden? Varnhagen beschreibt in ihrer Einleitung genau, wie der Leser die Briefe lesen soll: »Dieser Austausch ist nur Freunden bestimmt. Wer ihn als Unbekannter und Fremder empfängt, möge den Inhalt aufnehmen wie den 696 i&n ] Schreiben zwischen Gattungen und Diskursen eines gefundenen Briefs, der nicht an ihn gerichtet ist, aber gerade deswegen umsichtig und mildtätig behandelt zu werden hofft« (Bd.il, S. 3), Die Rezeptionsgeschichte des Buches belegt, dass die Leser nahezu geschlossen diesem Ratschlag folgten. Rahel: Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde wurde als eine Art Autobiographie betrachtet. Verschiedene Herausgeber ordneten die Briefe häufig um und fügten Informationen über das Leben der Verfasserin an. Die eigentliche Qualität dieses ungewöhnlichen Buches ist jedoch bislang noch nicht ausreichend gewürdigt worden: Im Gegensatz zu den Auffassungen von Autorschaft, die um 1800 in Europa aufkamen und den Schreibprozess in einer einzelnen Person verankerten, schuf hier eine heterogene Gruppe von Menschen ein gemeinsames Werk. Ohne Adressaten, ohne Freunde, die Raheis Briefe beantworteten, wäre das Schreiben nicht möglich gewesen. Doch birgt ein Bruch mit den etablierten Genres besondere Gefahren: Schriftsteller, die Bücher schreiben, können sich ziemlich sicher sein, dass ihr Werk in Büchereien erhalten bleiben wird. Die Verfasser von Briefen jedoch sind den Widrigkeiten ihrer Aussendungen ausgeliefert. Briefe neigen zum Beispiel dazu, früher oder später verloren zu gehen. Der Form wohnt eine historische Verletzbarkeit inne, also musste Rahel Levin Varnhagen eine Strategie entwickeln, um zu verhindern, dass ihre Briefe verschwanden. Bereits mit Anfang 20 sammelte sie alle Briefe, die sie erhielt, und bevor sie im Jahr 1800 nach Paris fuhr, bat sie einen Freund, im Falle ihres Todes nicht nur diese Sammlung zu erhalten, sondern auch zu versuchen, die von ihr geschriebenen Briefe von ihren verschiedenen Briefpartnern zumckzuerlangen — ein deutlicher Hinweis darauf, wie ausgesprochen ernst sie diese besondere Form des Schreibens und Sammeins nahm. Rahel Levin Varnhagens Strategie zwang sie, sich einem weiteren Problem zu stellen: Sie wollte die Briefe nicht nur erhalten, sondern auch veröffentlichen. Bereits 1812 begann sie in zahlreichen Journalen mit einer langen Reihe von Veröffentlichungen in Briefform, wobei sie zwei gegensätzliche Ordnungsprinzipien verfolgte. Bei dem ersten handelt es sich um einen Dialog, den sie mit Karl August Varnhagen führte. Das Paar wählte aus ihrer Korrespondenz Bemerkungen zu Goethes Werk aus und fügte sie zu einer Montage. In späteren Veröffentlichungen kommt nur Rahel Levin Varnhagen zu Wort. Die Antworten sind nicht Teil des gedruckten Dialogs. Das Buch des Andenkens folgt dieser zweiten Struktur. Der Zeitpunkt der Erstveröffentlichung (nur wenige Wochen nach Raheis Tod) und die Auswahl der Briefe deuten an, dass die Varnhagens das Buch noch zu Raheis Lebzeiten fertiggestellt hatten. Es enthält Briefe an Freunde, die bereits verstorben waren oder zu denen die Freundschaft keinen Bestand gehabt hatte. Diese Briefe waren folglich bereits an die Varnhagens zurückgegangen, Dutzende Briefe aus der Sammlung Varnhagen belegen, dass Karl August unmittelbar nach dem Tod seiner Frau begonnen hatte, ihre Briefe zu sammeln. So konnte bereits im Dezember 1833 die erweiterte 1833 I Schreiben zwischen Gattungen und Diskursen 697 Ausgabe erscheinen. Doch sah er damit seine Aufgabe nicht als beendet an. In Krakau wurde eine wunderschöne dritte Version des Buches des/Andenkens gefunden — bestehend aus drei dicken Bänden im Quartformat und in Schweinsleder gebunden. Für dieses Buch benutzte Karl August, der noch an Goethes 100. Geburtstag am 28. August 1849 daran arbeitete, ein Exemplar der Ausgabe von 1834, klebte jede einzelne Seite zu einem Passepartout, um so Platz für Ergänzungen zu schaffen, und fügte Abschriften — handschriftlich natürlich, und auf koloriertem Papier - all jener Briefe hinzu, die er von Raheis Briefpartnern zurückerhalten hatte. Dieses nie veröffentlichte Manuskript enthält über ijoo Briefe und Tagebucheinträge, also drei Mal so viele wie in der Ausgabe von 1834. 2003 wurde die Erstausgabe dieses Buches ins Internet gestellt. Eine elektronische Veröffentlichung scheint die einzig angemessene Darstellungsform für ein sich immer weiterentwickelndes Werk zu sein. Alle Nachträge und bislang unveröffentlichten Briefe werden in unterschiedlichen Schriftarten dargestellt und erhellen so die Vielschichtigkeit dieser Produktion. Im 21. Jahrhundert erst hat die Technik endlich Möglichkeiten entwickelt, mit der Komplexität des Buches des Andenkens Schritt halten zu können. Das Buch kann als Archiv gelesen werden, das Betrachtungen zu jenen Veränderungen anstellt, die sich um 1800 vollzogen und die nicht nur von Einzelpersonen diskutiert wurden, die an diesen Veränderungen beteiligt waren, sondern auch von jenen, die — aus verschiedenerlei Gründen - zu Randfiguren wurden. Die neuen Institutionen des modernen bürgerlichen Lebens werden in Frage gestellt: die bürgerliche Ehe und der Diskurs der Liebe, die Autorschaft und der Geniegedanke, die postrevolutionäre Politik und die Ablehnung der Errungenschaften der Französischen Revolution, oder die moderne Universität mit ihrer Unterteilung in verschiedene Disziplinen und ihre Ausschlusskriterien. Im März 1803 schrieb Rahel in ihr Tagebuch: »Sklaverei, Krieg, Ehe! - und die Menschen wundern sich und versuchen, die Dinge wieder geradezubiegen.« Sie verknüpfte auf diese Weise mehrere Einzelphänomene, die bisher niemand in einen Zusammenhang gebracht hatte. In einem ihrer ersten Briefe beschreibt sie die Unmöglichkeit einer glücklichen Ehe als Metapher für die Art und Weise, wie Christen und Juden in Deutschland miteinander leben. Als Wilhelm von Humboldt begann, die Richtlinien für eine moderne Universität festzulegen, die 1810 in Berlin gegründet werden sollte, begriff Rahel diese institutionelle Neuerung zugleich auch als das Ende einer besonderen Art der intellektuellen Produktivität, die sie gemeinsam entwickelt hatten. Im Juni 1809 schrieb sie ihm: »Was wir alles gemeinsam hätten erarbeiten können, welch Lebenswelten wir hätten entdecken können: was Sie alles durch mich hätten in Erfahrung bringen können! Schämen sollten Sie sich, Sie unermüdlicher, inkompetenter Forscher!« (Bd.i, S.430) 6?8 1833 j Schreiben zwischen Galtungen und Diskursen 1834 I Wiener Biedermeier 699 Dieses Zitat belegt, dass Rahel auf eine Weise dachte, die sich nicht einfach in eines der existierenden Genres einordnen lässt. Im Gegensatz zu vielen ihrer Zeitgenossinnen wie Henriette Herz, Dorothea Schlegel, Bettina von Arnim und anderen lockte es sie nie, Erzählungen oder Gedichte zu schreiben. Sie verfügte über eine besondere Art des Denkens die sich außerhalb von innerdisziplinären Grenzen und festgelegten Wissensgebieten bewegte, und nicht über einen »aufgespeicherten Geistes-vorrath«, wie sie einmal schrieb. Ein besonderer Augenblick, eine Unterhaltung, ein Buch oder irgendetwas anderes konnte ihr als Anlass zum Schreiben dienen. Erst in der Weimarer Republik der zwanziger Jahre erkannten intellektuelle Jüdinnen die theoretische Bedeutung des Buches des /Andenkens. Margarete Susmans Buch über die Frauen der Romantik (1929) gilt als einer der wenigen Versuche, diese Texte als »Goldadern in Urgestein«, als »ein einziges, großartiges Gedankensystem« zu betrachten. Von ihrer Nietzsche-Lektüre inspiriert, glaubt Susman in Raheis Buch auf einen Denkansatz zu stoßen, der sich nicht auf bereits existierende Theorien reduzieren lässt. Nur eine neue Denkweise - wie die Raheis — erlaube eine wahrhafte Reflexion darüber, was es heißt, in einer von Christen dominierten Gesellschaft jüdisch zu sein. Nach Susman erfuhr Rahel ihr Judentum als »grundlegende Fessel ihres Lebens«. Zugleich aber sieht Susman hier eine »ungewöhnliche und elementare jüdische Grundgewalt« bei der Arbeit, eine »Lebensfreude, die selbst über dem Abgrund Blüten treibt [...]. Die chassidische Mystik bezeichnet dies als ein Brennen«. Das Wort »jüdisch« bezeichnet hier eine Andersartigkeit mit historischen Wurzeln, die sich aber auch auf den Niedergang der Metaphysik begründet. Nach dieser Lesart hat Rahel einen Konflikt hinter sich gelassen, dem sich die Moderne unausweichlich gegenübersieht. Nach Susman hat sie das auf eine solch radikale Weise getan, dass »uns sowohl die Form ihres Lebens und ihres Seins so fremd vorkommt, dass uns beides nicht nachvollziehbar ist«. Hannah Arendt wiederum, die ihre Biographie über Rahel Varn-hagen fast fertiggestellt hatte, als sie 1933 aus Deutschland floh, kommt zu einem anderen Schluss. Arendt, die sich auf die Langfassung bezieht, die in der Staatsbibliothek in Berlin einzusehen war, bevor sie in den Osten gebracht wurde, betrachtet das Buch als das Dokument eines von Anfang an gescheiterten Versuchs, sich an die deutsche Kultur anzupassen, und sieht Raheis Buch im Rahmen höchst eingeschränkter Gattungsmöglichkeiten. Zur Biographie umgemünzt und so einer Chronologie unterworfen, verliert Raheis Werk erneut seine Bedeutung - und damit auch das Buch, auf das sich Arendt im Rahmen ihrer Rekonstruktion bezieht. Sie zollt dem unveröffentlichten Buch des Andenkens, dem sie viele Zitate entnimmt, keinerlei Tribut. Stattdessen beschuldigt sie Karl August Varnhagen, Raheis Briefe in seinen Abschriften verändert zu haben. Arendt konsultierte Raheis Schriften nie, und so lesen wir hier »Rahel Levin« als eine Person, die von ihrem Gatten für die Zukunft aufbereitet wurde. Erst in den Achtzigern wurde Forschern der Zugang zumVarnhagen-Archiv in Krakau gewährt - und erst da wurde klar, dass Rahel Levins Werk, das in unmittelbarer Nähe jener Orte überdauert hatte, wo europäische Juden im 20. Jahrhundert ermordet wurden, nach einer Veröffentlichung verlangte. Im Jahr 1997 erschien in einer kritischen Ausgabe der erste der sechs Bände umfassenden Korrespondenz von Rahel Levin Varnhagen. Im Gegensatz zum Buch des Andenkens beinhaltet diese Ausgabe nur Briefwechsel und hält sich an die dialogische Struktur des Archivs, in dem die Briefe nach den Adressaten geordnet sind. Die Ausgabe konzentriert sich auf die bislang unveröffentlichten Teile in Rahel Levins Werk, vor allem auf die Korrespondenz mit Freundinnen und Familie, und auf die Tagebücher. Sie weist sowohl auf den schwierigen Prozess der Assimilation in Deutschland als auch auf die Qualität eines Werkes hin, an dem eine ganze Gruppe mitwirkte - beides Aspekte ihrer Modernität. Erst im frühen 20. Jahrhundert wurde jungen Intellektuellen wieder bewusst, dass nur eine kollektive, geistige Schaffenskraft zu einem adäquaten Zeitverständnis führen kann. BARBARA HAHN : Siehe auch Januar 1800, 1824, 1942 Bibliographie: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde, hg. von Karl August Varnhagen. iBd., Privatdruck 1833: 3 Bde., Berlin 1834, - Rahel Varnhagen, Gesammelte Werke, hg. von Konrad Feilchenfeld, to Bde., München 1983. - Edition Rahel LevinVarnhogen, hg. von Barbara Hahn und Ursula Isselstein, 6 Bde.. München 1997 ff. - Margarete Susmann, Die Frauen der Romantik (1929), hg. von Barbara Hahn, Frankfurt am Main 1996. - Ursula Isselstein, Der Text aus meinem Herzen. Studien zu Rahel Levin Varnhagen, Turin 1993. - Hannah Arendt, Rahel Varnhagen. Lehensgeschichte einer deutschen Judin aus der Romantik. Piper 1981. *** 1834. j In einer Photographie von Franz Grillparzer und in der Uraufführung seines Stückes Der Traum ein Leben spiegelt sich die Physiognomie des Jahres 1834 Wiener Biedermeier Geschichte zu schreiben, bemerkte Walter Benjamin, bedeute, den nummerierten Jahren ein Gesicht zu geben. Dem Jahr 1834 könnten wir -im Sinne einer direkten Vergegenwärtigung der historischen Physiognomie — das Gesicht eines typischen Wiener Raunzers geben, jenes unglücklichen, mürrischen Nörglers, der in seinem Unglück viel zu sehr gedeiht, als dass er nach den Ursachen suchen würde. Als metaphorisches Gesicht könnten wir das Bild einer mühsamen Traumhandlung wählen, die sich in einen Alptraum ungewollter Veränderung verwandelt und durch Resignation ersetzt wird.