1 Pd Dr. Bernhard Walcher (Heidelberg) 27. Oktober 2021 „Im Schatten gigantischer Bedrohungen“. Geschichte und Geographie, Kultur und Kulinarisches in Kasimir Edschmids Europa-Texten vor und nach dem Zweiten Weltkrieg I. Gliederung Einleitung 1. Kasimir Edschmid: Expressionistischer Revolutionär und/oder reaktionärer Reisender? 2. Mehr Rezept als Konzept: Kulturell-kulinarische Geschichtserzählung in Die Schicksalslinie Europas (1926) 3. Ausblick: Kontinuität und Anpassung: Europa durch die Jahrhunderte (1957) II. Zitate 1) Kasimir Edschmid: Aufruf an die revolutionäre französische geistige Jugend (1919) „Geehrte Herren, meine Kameraden! Die Grenzen fallen, es ist Zeit, sich zu vereinigen. Es gibt gegen Haß nur einen Kampf, er ist uns gemeinsam. Es gibt nur eine Gesinnung: gerecht zu sein. Es gibt nur eine Taktik: unsere Absicht deutlich zu machen. Wir senden Ihnen den Gruß, wir wissen, er wird nicht ohne Echo sein. In dem Sumpf der Haßwürfe offizieller Institute, Zeitungen, Persönlichkeiten wird unsere Stimme, neben der einiger Pazifisten und Sozialisten, die einzige sein, die, sich vereinigend, hinüber und herüber Kameradschaft und Willen bezeigen wird, uns, die Welt, die Menschen weiterzubringen. […] Zögert nicht. Fangen wir an. Keine Weltgeschichte hat, wo alles bei den Menschen versagte, nötiger gehabt, daß die Gutwollenden, die mit den Herzen, deren Kammern von Europa gefüllt sind, sich zu den Karees der wahren Schlachten des Geistes, den Fahnen der trefflichen Absicht, zur Marseillaise der inneren Freiheit und der schönen Ideen der Menschheit bekennen. Keine Minute darf vergehen, keine Zeile darf geschrieben, kein Satz fürder gesagt werden, in dem nicht die geistigen Führer der Nationen sagen, daß sie Liebe wollen, nicht Haß, Aufbau, nicht Gekämpf. Ausgleich, nicht Revanche. Nur so kommt das Zentrum der Wirkung zu Stande, nur so erhält Europa wahrhaft ein großes immer heftiger schlagendes Herz.“ (S. 162f.) 2) Hermann Kasack: Jahrmarkt Europa (1925) „Man sieht sich die Augen aus dem Kopf: Europa ist eingeschrumpft. Tableau! Die Längen- und Breitengrade scheinen dieselben zu sein, aber wo sie in den Nullpunkt münden: Da liegt jetzt Europa. Auf unserem Kontinent sind die Fliegen geistig geworden und die Mücken politisch. ‚Vereinigte Staaten von Europa‘ ihr Denk-Sport. Die Krebse gedeihen. Amerika steht konkurrenzlos da. Was ist mit Europa da!? Humanitäres/Aktiv- und Pazifistisches/Kongresse und Händeschütteln/Ethisch-Freiheitliches/Mutterschutz hin und Bodenreform her/Klassenkampf und Menschenrecht/Liga links und Liga rechts –: Was nützen uns die schönen Ideale, wenn andere drauf spazieren gehen. Denn Europa: ein Fetzen Lächerlichkeit/sein europäischer Mensch eine Katheder-Proklamation. Protest über Protest! Kein Ausdruck, kein Sinn für Gemeinsamkeit, es sei denn: Ausrottung durch Stupidität à la Spengler. […] Da: Schauplatz Europa wird ein Jahrmarkt […] Panoptikum Europa! Mit steifen Figuren, Museums-Gehirnen […].“ (S. 5f.) 3) Kasimir Edschmid: Deutsches Mosaik (Juli/August 1922) „Die Elite des deutschen Volkes und seine Gesellschaft grollt unversöhnlich, ja vernichtend der Republik. […] Ich bin für die Republik, Mijnheer“ (S. 11 u. 33) 2 4) Kasimir Edschmid: Deutsches Mosaik (Juli/August 1922) „Auf Zukünftiges die Antwort kann nur Deutschland geben. In diesem Augenblick, wo es sich anschickt, in die Arena der Entscheidungen Europas zu treten, nimmt es uns alle mit in seine Fahrt.“ (S. 30) 5) Kasimir Edschmid: Deutsches Mosaik (Juli/August 1922) „Europa ist heute ein großer Faschingsball mit schönen Debardeurs und anderen maskierten Gestalten und dem fallen die Triumphe zu, der die kühnsten Griffe und die besten Lenden aufweist“ (S. 18) 6) Kasimir Edschmid: Die Schicksalslinie Europas (1926) „Der Süden des Kontinents war immer der Spielball der nordischen Völker und zugleich Wellenbrecher für Asien und die afrikanischen Eroberer. Die gesamte Riviera vom Golf von Lion bis nach Viareggio ist so ein Mischland der Rassen geworden“ (S. 210) 7a) Kasimir Edschmid: Die Schicksalslinie Europas (1926) „das seinerzeit einer der großen Häfen war, aber jetzt wie Brügge und Ravenna versandet und tief im Lande liegt, war eine der Hauptstädte der Welt. Barbarossa hat sich hier zum König einer Landschaft krönen lassen, welche das Reich des Südens darstellte, das sich mehr als Spanien gegen Afrika wehrte. Die Lawinen der germanischen Rassen verebbten bei Marseille, das eine Stunde von Arles liegt und in dem Konkurrenzkampf der Häfen die Siegerin geblieben ist“ (S. 210) 7b) Kasimir Edschmid: Gobineau (1927) „Sowenig dieser französische Graf mit der kühlen aber leuchtenden Vernunft in dem Bußschreier Savonarola sein Portrait gibt, ebensowenig würde er einen einfältigen Antisemitismus oder jenen Hitler anerkennen, der sein eifriger Schüler ist. […]. Man darf vermuten, daß Graf Gobineau zu gebildet war, um Arm in Arm mit Graf Reventlow und Hitler jenes Feuer-Kommando abzugeben, auf das hin die Juden vom Boden Europas verschwänden, womit, wie die Herren meinen, das Problem der Gegenwart gelöst sei, was allerdings ehr energisch aber wenig geistreich ist.“ (S. 602f.) 8) Kasimir Edschmid: Die Schicksalslinie Europas (1926) „Der schicksalsschwerste Punkt ist Marseille, das von kleinasiatischen Griechen als Sitz hellenischer Kultur aufgebaut, der kühnste Kampfposten europäischer Bildung gegen die Schläge der anderen Kontinente war. Das heutige Marseille hat mir Frankreich wenig zu tun, abgesehen von einer gewissen Bedeutung, die es im inneren Streit der politischen Parteien in der Republik spielt, und abgesehen von seiner gigantischen Bedeutung als Hafen. Es hat einen anderen Geist. […] Zwei Merkmale sind ihm geblieben, die ungeheuer phantastisch sind für die Rolle, die es gespielt hat, und für die Entwicklung, welche die Geschichte hier nahm: die Bouillabaisse, das Essen aller Eingeborenen und Fremden als Zeichen des Rassen-Mischmasches und der vollkommenen Internationalisierung der Riviera, und die Altstadt am alten Hafen als grauenhaftes Einfallstor Afrikas nach Europa, der sichtbare Rest der großen Kämpfe, welche die schwarzen und die weißen Rassen sich hier geliefert haben.“ (S. 210) 9) Kasimir Edschmid: Die Schicksalslinie Europas (1926) „Wenn man aber die andere Seite des Januskopfes sehen will, den die Geschichte dieser Rasse gegeben hat, wird man in einer großartigen malerischen Geste den alten Hafen von Marseille erblicken, in dem die dunklen und hellen Nationen gekreuzt herumlungern, wie es nur zu höchsten Zeit römischen Weltmacht gewesen sein kann. Die Altstadt Marseilles ist heute kein Faktor in der Geschichte, aber sie ist die bunteste Illustration dafür, was geschehen wäre, wenn die afrikanischen Armeen gesiegt hätten. […] Jedermann hat einen Schuß schwarzes Blut. […] In verrufenen Gassen sitzen und stehen die Weiber wie aus Wachs, eine Rasse, die generationenweis gezüchtet wurde von betrunkenen schwarzen Kanaillen und Dirnen. Welche Gesichter! Diese 3 Regimenter von Weibern sind mit Farben gemalt, die Gauguin nicht hatte, mit kurzen Röcken, fleischrosa Seidenstrümpfen und wollenen blauen Socken statt Schuhen darüber, die Zigaretten im Mund. Sie stehen wie Soldaten, Negerinnen dick wie Fässer mit Idiotie fast zart schimmernden Gesichtern, Spanierinnen, Kreolinnen, Frauen von dem Wuchs der Normandie und europäischen Bewegungen mit den Fratzen von Kaffern, Weiber, in deren letzter Blässe doch das tiefe blauschwarze Auge Afrikas liegt. […] An dem kleinen Platz mit der Palme lehnen die Neger mit der Monotonie eines Traums. Riesenhafte, dünne Neger kommen mit europäischen Profilen, den Nasen er Leute, die Europa schon auf den Kreuzzügen vertraten. […] Alle Männer haben irgendwo schwarzes Blut, das ihre Eleganz bestimmt.“ (S. 213) 10) Kasimir Edschmid: Die Schicksalslinie Europas (1926) „Die italienischen Fische werden immer weichlich serviert sein, während die französischen Köche den Fisch mit einer gewissen kühnen und schärferen Eleganz zubereiten. Selbst so wilde Restaurants wie der Lapi-Keller in Florenz oder die bolognesische Küche, welche als die ruhmreichste italienische gilt, werden immer ölig sein, während die französische den Übergang darstellt zur puritanischen und männlichsten Küche der Welt, der unsinnlichsten, aber staatsmännischsten, der englischen. […] So ist auch die Bouillabaisse im Cavaletto von Venedig nur eine scheußliche Fischbrühe, in naher Gesellschaft des grauenhaften Thunfisches und der Schlammkrebse der Lagune, die man Scampi nennt, den fetten Marodeuren eines kontinentalen Appetits.“ (S. 211) 11) Kasimir Edschmid: Die Schicksalslinie Europas (1926) „Die Phantastik der Küche ist immer den Leidenschaften eines Volkes verwandt und liegt ihrem politischen Temperament näher als ihre Bücher, deren Phantastik etwas sucht aber nicht zeigt. Die Speisekarten der Nationen weisen mehr von ihrer Mentalität auf als ihre Parlamente, weil sie einen Teil ihrer Wollust und einen Teil ihrer einfachsten Sinnlichkeit beweisen, Triebe, die für ihre Geschichte immer die ursprünglichsten waren.“ (S. 212) 12) Kasimir Edschmid: Europa durch die Jahrhunderte (1957) „[…] Europa so viel wie Christentum bedeutete und die Kreuzzüge den geistigen Zusammenhang des gläubigen Abendlandes verdeutlichten […].“ (S. 1) 13) Kasimir Edschmid: Europa durch die Jahrhunderte (1957) „Der europäische Gedanke hat im Geist der besten Männer dieses Kontinents schon lange bestanden. Europa als eine gemeinsame Realität jedoch scheint sich nicht aus freiem Willen, sondern erst im Schatten gigantischer Bedrohungen zusammenschließen zu können.“ (S. 3)