Frühromantik Poetik, Gattungen: Kunstmärchen, Bildungs-/Künstlerromane 1. Neues Aussagesystem „Literatur“ •Autonomiepostulat der romantischen Literatur •Gegen Wissenschaften (Theorie), gegen Moral (Aufklärung) •operative Poetik der Aufklärung mit der frz. Revolution gescheitert •Selbstreflexivität, Quelle: Autonomieästhetik •Neues Modell der Wiederholungslektüre •vgl. Kremer/Kilcher 89 •Wie wird die behauptete Autonomie von Literatur in Form und Inhalt umgesetzt? • Transzendentalpoesie •Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente •„Es gibt eine Poesie, deren eins und alles das Verhältnis des Idealen und des Realen ist, und die also nach der Analogie der philosophischen Kunstsprache Transzendentalpoesie heißen müßte.“ •Anlehnung an Kant („transzendentale Reflexion“ ist „Untersuchung der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis“), d.h. Aussagen in der Philosophie sind nicht möglich, ohne ihre Voraussetzungen zu überprüfen •J. G. Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794) Transzendentalpoesie •F. Schlegel, 238. Athenäums-Fragment: Transzendentalpoesie ist „zugleich Poesie und Poesie der Poesie“ •Forderung an Literatur: künstlerische Komposition und gleichzeitig: theoretische Selbstreflexion •Schlegel: Vereinigung „einer poetischen Theorie des Dichtungsvermögens mit der künstlerischen Reflexion und schönen Selbstbespiegelung“ •Resultat: Vermischung von Philosophie und Poesie •Einfluss auf die Philosophie! (offene, essayistische Formen, Gedankenentwicklung statt fertigem Gedanken, Fragment) •Vermischung von Beobachtung der Welt und Selbstbeobachtung • F. Schlegel: 116. Athenäums-Fragment: Progressive Universalpoesie •„Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. [...] Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, die Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen.“ •„Das ist ihr [der Poesie] eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann.“ •Kremer/Kilcher, S. 92: „Paradoxie einer unabschließbaren Universalität“ F. Schlegel: 116. Athenäums-Fragment: Progressive Universalpoesie •Literatur und Philosophie verzichten auf Universalismus, Systematik, Letztbegründbarkeit. Sie verwandeln sich „in einen reflexiven Prozess, der nurmehr vorläufige Unterbrechung, aber gewiss kein Ende mehr zulässt.“ (Kremer/Kilcher, 92) •Wahrgenommene Gefahr dieser „Öffnung“: Nihilismus, Ästhetizismus •Korrektiv (bereits in der Frühromantik): christliche Religion als Ordnung (Beispiel: F. Schlegel, aber auch Novalis, Schleiermacher, Görres, Eichendorff) Folgen der ‚progressiven Universalpoesie‘ für literarisches Schreiben •ästhetische Umsetzung der Paradoxie von Universalanspruch und Unbschließbarkeit durch: •Ironie •Fragment •Vermischung von Gattungen •Erhabenheit und Groteske Ironie als „reflexives Szenario“ •F. Schlegel (48. Lyceums-Fragment): „Ironie ist die Form des Paradoxen.“ •Schlegels „Ironie“ geht über den traditionellen Ironie-Begriff hinaus. Bei Schlegel: keine spezifische Aussage, sondern: •Figur der „Unterscheidung und Vermittlung unüberbrückbarer Gegensätze, [...] sie hält das Bewusstsein von dem Paradox wach, dass das Unendliche sich im Endlichen [d.i. im Text] manifestiert“ (Hoffmeister 1990, 131) •Ironie ist nicht Gehalt, sondern (sich bewegende) Form: „latente Sprachhaltung des Endlichen, das vom Unendlichen reden will“ (Gockel 1979, 28) •nicht System, sondern Chaos, Witz, Fragment, Dialog, Experiment – aber immer ein „universelles Experiment“J •Schlegel: Ironie als Lebensweise! – Novalis: „die Welt romantisieren“! • Fragment „Fragmente sind auf das Universum gerichtet“ (Gockel 1979, 32) •Gedankenentwicklung wichtiger als Abschluss des Gedankens: •„Heterogenität, Inkonsequenz, Verworrenheit, ja Unverständlichkeit sind aus dieser Sicht nicht nur erlaubte Abweichungen des Fragmentstils, sondern notwendige Kriterien, die seinen ästhetischen Wert begründen.“ (Ostermann 1994, 282) •Fragmente bilden eine Polyphonie, verschiedene Ansichten eines Gegenstandes •„Ein Fragment muss gleich einem kleinen Kunstwerke von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet sein wie ein Igel.“ (Schlegel) 2. Novalis: Atlantis-Märchen (aus: Heinrich von Ofterdingen, 1802) •1. gelesen als allegorische Liebesgeschichte •2. gelesen als Poetologie •3. gelesen als universale, rückwärts und vorwärts gewandte Utopie • • Tieck: Der blonde Eckbert (1797, in: Volksmärchen von Peter Leberecht) •(seriale) Gewalt, Wahnsinn, Inzest, Strafe? •Hauptthema: Unversöhnlichkeit von Außenwelt und Imagination •Tieck: Kunst- und Volksmärchen •Berta: „Lesen“ – im Elternhaus, bei der „Alten“ •„die Alte“, Walther, Hugo; Berta, Eckbert: verschobene Identitäten •Verwirrung der Figurenidentitäten ≈ Ununterscheidbarkeit von Traum und Wirklichkeit • „Was gilts, sagte Eckbert zu sich selber, ich könnte mir wieder einbilden, dass dies Niemand anders als Walther sei? [...] Und indem sah er sich noch einmal um, und es war Niemand anders als Walther.“ • •„Jetzt war es um das Bewusstsein, um die Sinne Eckberts geschehn; er konnte sich nicht aus dem Rätsel herausfinden, ob er jetzt träume, oder ehemals von einem Weibe Bertha geträumt habe; das Wunderbarste vermischte sich mit dem Gewöhnlichsten, die Welt um ihn her war verzaubert, und er keines Gedankens, keiner Erinnerung mächtig.“ •→ Einsamkeit (Beziehungen sind Projektionen) •„Gott im Himmel! sagte Eckbert vor sich hin, - in welcher entsetzlichen Einsamkeit habe ich dann mein Leben hingebracht!“ Weitere Kunstmärchen •Tieck: Runenberg (1802) •Alltägliches X Phantastisches, Natur als erotischer Raum und Raum der Kunst •Tieck: Der getreue Eckhart, Liebeszauber, Die Elfen •Hoffmann: Der goldene Topf. Märchen aus der neuen Zeit (1814) •Hoffmann: Nußknacker und Mausekönig, Klein Zaches genannt Zinnober, Meister Floh, Die Königsbraut, Prinzessin Brambilla, ... •Chamisso: Peter Schlehmihls wundersame Geschichte (1814) •Brentano: ... •Hauff: Das kalte Herz (1827) • 3. Roman der frühen Romantik •Roman: Lieblingsgenre der Frühromantik •fragmentarische Struktur •Integration von Gattungen •Lieder, Märchen, Novellen, Briefe, (fiktive) autobiographische Fragmente •Geschichtsphilosophie, ästhetische Theorie, Poetologie •narrative Verzweigung •episodische Überkomplexität •Dominanz des Bildungs- und Entwicklungsmotivs (Wilhelm Meister) •Themenkomplexe: Liebe, Künstlertum, Gesellschaft, Geschichte Bildungsroman als Künstlerroman •gattungsprägend - Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96), Auseinandersetzung Kunst/Künstler X Welt dort vorgeprägt •Romantik: Künstler als „einzig legitimer“ Held des Bildungsromans, „Bildung zum Künstler“ •Unterschiede Goethe X Romantik: •hinsichtlich des Ausgleichs mit der bestehenden Welt •Romantik: Behauptung der künstlerischen Sonderstellung •Künstler X Philister •nicht mehr Erkundung individueller Möglichkeiten in der sozialen Welt, sondern Erkundung eigener Innenwelten • • Hölderlin: Hyperion oder Der Eremit in Griechenland (1797, 1799) •griechischer Befreiungskrieg gegen die Türken 1770 •monologischer Briefroman, Briefe als Erinnerungen •elegische Haltung: •negative Sicht der Gegenwart •Kontrast zum Ideal des antiken Griechenlands •Hyperion in Deutschland •Diotima •Adamas, Alabandas, Bellarmin •mythologische und geschichtsphilosophische Konstruktion, die einen zukünftigen utopischen Freistaat garantiert („Theokratie des Schönen“) •Engagement im Befreiungskrieg ≈ Initiation zum Dichter und „Erzieher unsers Volks“ Erziehungsfunktion X Fremdling, Außenseiter •So kam ich unter die Deutschen. Ich forderte nicht viel und war gefaßt, noch weniger zu finden. Demütig kam ich, wie der heimatlose blinde Oedipus zum Tore von Athen, wo ihn der Götterhain empfing; und schöne Seelen ihm begegneten – • •Wie anders ging es mir! • •Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der heiligen Grazien, in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit beleidigend für jede gutgeartete Seele, dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes – das, mein Bellarmin! waren meine Tröster. • •Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt? Weitere Romane der Frühromantik •Tieck: William Lovell •Wackenroder: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders •Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen •Novalis: Heinrich von Ofterdingen •F. Schlegel: Lucinde •Klingemann: Nachtwachen von Bonaventura •Brentano: Godwi •Mereau: Eduard und Amanda Literatur •Kremer/Kilcher: Romantik. Lehrbuch Germanistik 2015 (im IS als pdf) •Gockel: F. Schlegels Theorie des Fragments 1979 •Kremer: Prosa der Romantik 1997 (im IS als pdf) •Mayer/Tismar: Kunstmärchen 1997 (im IS als pdf) •Selbmann: Der deutsche Bildungsroman 1994 (im IS als pdf) • •alle Primärtexte online, z.B. https://www.projekt-gutenberg.org/