Heinrich von Kleist 1777–1811 „die gebrechliche Einrichtung der Welt“ •„Ein zentraler Bezugspunkt von Kleists Schaffen ist die ‚gebrechliche Einrichtung der Welt‘, d.i. eine Welt, der es an Einheit und Wahrheit begründenden Instanzen mangelt, eine Welt, in der die Menschen auf Ordnungen treffen, die sich in einem chaotischen Zustand der Zerstreuung befinden: Dieser betrifft politische, religiöse sowie juridische Ordnungen gleichermaßen und wirkt zum einen auf die körperlich-seelische Ordnung des Subjekts selbst zurück, zum anderen bleibt er nicht ohne Auswirkungen auf die Ordnung der Sprache.“ •(Barbara Thums, in: Kleist-Handbuch 2013, S. 289). „Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unsrer, der weiß.“ •Essay „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (Königsberg, 1805/1806, Erstdruck 1878) •Sprache, Gedanken, Wissen sind performativ, situations- und zufallsbedingt •Kleists Essay: eine inszeniert dialogische, unabgeschlossene Situation („Fortsetzung folgt“) •„Hebammenkunst der Gedanken“ als rein sprachlicher Vorgang •Eigendynamik des Sprechens ohne rationale Steuerung, Zufall, Sprache als „Naturgewalt“. Beispiel: Mirabeau 1789. •„Wie notwendig eine gewisse Erregung des Gemüts ist, auch selbst nur, um Vorstellungen, die wir schon gehabt haben, wieder zu erzeugen, sieht man oft, wenn offene, und unterrichtete Kopfe examiniert werden, und man ihnen ohne vorhergegangene Einleitung, Fragen vorlegt, wie diese: was ist der Staat? Oder: was ist das Eigentum?“ •Beispiel: Prüfungssituation • „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ •„Nur ganz gemeine Geister, Leute, die, was der Staat, gestern auswendig gelernt, und morgen schon wieder vergessen haben, werden hier mit der Antwort bei der Hand sein. Vielleicht gibt es überhaupt keine schlechtere Gelegenheit, sich von einer vorteilhaften Seite zu zeigen, als grade ein öffentliches Examen.“ […] •„Was übrigens solchen jungen Leuten, auch selbst den unwissendsten noch, in den meisten Fällen ein gutes Zeugnis verschafft, ist der Umstand, dass die Gemüter der Examinatoren […] selbst zu sehr befangen sind, um ein freies Urteil fällen zu können. Denn nicht nur fühlen sie häufig die Unanständigkeit dieses ganzen Verfahrens […], sondern ihr eigenen Verstand muss hier eine gefährliche Musterung passieren, und sie mögen oft ihrem Gott danken, wenn sie selbst aus dem Examen gehen können, ohne sich Blößen […] gegeben zu haben.“ „kein oder ein unendliches Bewusstsein“ •Essay „Über das Marionettentheater“ (Berlin, 1810) •Thema der „Grazie“ (→ Ästhetik) •Situation: 1810, Erzähler, Herr C. (erster Tänzer der Oper) vor Marionettentheater •4 Abschnitte: •1. Marionette, Maschinist, Schwerpunkt •2. Vorteile der Puppe vor lebenden Tänzern, „Antigravität“ der Puppe, keine „Ziererei“ •3. Dornauszieher-Statue, fechtender Bär •4. Gliedermann oder Gott „Über das Marionettentheater“ •„Wir sehen, dass in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt. […] •Doch […] wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, [findet] sich die Grazie wieder ein; so , dass sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewusstsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott. •Mithin, sagt ich ein wenig zerstreut, müssten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? •Allerdings, antwortete er; das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.“ „tief im heiligsten Inneren davon verwundet“ •Kleists „Kant-Krise“, Brief an W. von Zenge (22. 3. 1801) •Erkenntnisskepsis •„Selbst die Säule, an welcher ich mich sonst in dem Strudel des Lebens hielt, wankt - - Ich meine, die Liebe zu den Wissenschaften.“ (An Ulrike von Kleist, 5. 2. 1801) •Sprachskepsis •„Selbst das einzige, das wir besitzen, die Sprache taugt nicht dazu, sie kann die Seele nicht malen, und was sie uns gibt sind nur zerrissene Bruchstücke. Daher habe ich jedesmal eine Empfindung, wie ein Grauen, wenn ich jemandem mein Innerstes aufdecken soll; nicht eben weil es sich vor der Blöße scheut, aber weil ich ihm nicht alles zeigen kann, nicht kann, und daher fürchten muß, aus den Bruchstücken falsch verstanden zu werden.“ (An Ulrike von Kleist, 5. 2. 1801) • Kleists „Kant-Krise“ •„Vor kurzem ward ich mit der neueren sogenannten Kantischen Philosophie bekannt – und Dir muss ich jetzt daraus einen Gedanken mitteilen, indem ich nicht fürchten darf, dass er Dich so tief, so schmerzhaft erschüttern wird, als mich. Auch kennst du das Ganze nicht hinlänglich, um sein Interesse vollständig zu begreifen. Ich will indessen so deutlich sprechen, als möglich. •Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr – und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt ist vergeblich – •Ach, Wilhelmine, wenn die Spitze dieses Gedankens Dein Herz nicht trifft, so lächle nicht über einen andern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr –“ (An W. von Zenge, 1801) • „das Schauspiel der göttlichen Rache“, das „Tal von Eden“ •Erzählung „Das Erdbeben in Chili“ (1806) •Situation: S. 1-2 •Wie wird das Erdbeben von Jeronimo, dem Erzähler, dem impliziten Leser interpretiert? (S. 2f.) •das „Tal von Eden“ (S. 6f.): eine Familie (S. 8)? •Dominikanerkirche • • Themen und Texte 1: Gender und Gewalt •Korrespondenz mit der Verlobten Wilhelmine von Zenge •Aufklärerische Tradition (Rousseau): •Geschlecht: naturgegebene Kategorie •Komplementär angelegte Geschlechtercharaktere •Briefwechsel: Chauvinismus oder Rollenerfüllung (?) •Brief als Abhandlung, Belehrung; Kleist in „höherer“ Rolle als in Wirklichkeit •Korrespondenz mit (Halb-)Schwester Ulrike von Kleist •Unsicherheiten hinsichtlich des vorgeschriebenen Rollenmodells •„Amphibion du, das in zwei Elementen stets lebet, / Schwanke nicht länger und wähle dir endlich ein sichres Geschlecht [...]“ (An U. von Kleist, 1800) Themen und Texte 1: Gender und G •„Gesetzt, Du fragest mich, welcher von zwei Eheleuten, deren jeder seine Pflichten gegen den andern erfüllt, am meisten bei dem früheren Tode des andern verliert; so würde alles, was in meiner Seele vorgeht, ohngefähr in folgender Ordnung aneinander hangen. •Zuerst fragt mein Verstand: was willst du? das heißt, mein Verstand will den Sinn Deiner Frage begreifen. Dann fragt meine Urteilskraft: worauf kommt es an?, das heißt, meine Urteilskraft will den Punkt der Streitigkeit auffinden. Zuletzt fragt meine Vernunft: worauf läuft das hinaus? das heißt, meine Vernunft will aus dem Vorangehenden das Resultat ziehen.“ (An W. von Zenge, 30. 5. 1800) Penthesilea und Käthchen •„Jetzt bin ich nur neugierig, was Sie zu dem Käthchen von Heilbronn sagen werden, denn das ist die Kehrseite der Penthesilea, ihr andrer Pol, ein Wesen, das ebenso mächtig ist durch gänzliche Hingebung, als jene durch Handeln.“ (An Marie von Kleist, 1807) Themen und Texte 1: Gender •Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe (1808, Buch 1810) •„Ein großes historisches Ritterschauspiel“, ein Märchendrama •Gericht, Waffenschmied Theobald, Graf Wetter vom Strahl. •Kunigunde von Thurneck, Graf vom Stein, der Kaiser. •„unfreie, knechtische, hündische Aufopferung der Würdigkeit des Menschen“ (Hegel, 1828) •Schöne Seele → sexuelle Phantasie •„Du, deren junge Seele, als sie heute nackt vor mir stand, von wollüstiger Schönheit gänzlich triefte, wie die mit Ölen gesalbte Braut eines Perserkönigs, wenn sie, auf alle Teppiche niederregnend, in sein Gemacht geführt wird!“ (Käthchen) •„du siegst durch den kaiserlichen Brief, der dich zur Prinzessin von Schwaben erhebt“ (Friedrich Hebbel zu Käthchen, 1848). Standeszugehörigkeit entscheidet. Themen und Texte 1: Gender •Penthesilea (1807) •Überschreitung der zeitgenössischen Vorstellung von weiblicher Geschlechterrolle •Amazonen zwischen Griechen und Trojanern •Penthesilea, Achill, wer ist wessen Gefangener? Wer folgt wem? •Vorgeschichte der Amazonen, Penthesileas Mutter Otrere •Achill und Penthesilea auf Distanz zur Gemeinschaft •Kampf Achill, Penthesilea – mit verschiedenen Erwartungen • • Themen und Texte 2: Nation •„Die Nation gibt Befehle und empfängt keine.“ (Kleist, Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden) •Nationalgeist wird stimuliert nach 1806 (Jena, Auerstedt), andererseits: ist Wunschobjekt •Ode Germania an ihre Kinder (1809) •[…] So verlaßt, voran der Kaiser, Eure Hütten, eure Häuser; Schäumt, ein uferloses Meer, Über diese Franken her! Alle Plätze, Trift' und Stätten, Färbt mit ihren Knochen weiß; Welchen Rab und Fuchs verschmähten, Gebet ihn den Fischen preis; Dämmt den Rhein mit ihren Leichen; Laßt, gestäuft von ihrem Bein, Schäumend um die Pfalz ihn weichen, Und ihn dann die Grenze sein! […] • • Themen und Texte 2: Nation •„Wenn der Begriff der Nation jemals eine politische Unschuld besaß, so hat er sie jedenfalls im Preußen des frühen 19. Jh.s – in Agitationsschriften, die von Fichtes Reden an die Deutsche Nation (1809) über Friedrich Ludwig Jahns Deutsches Volkstum (1810) bis hin zu Ernst Moritz Arndts Pamphlet Ueber Volkshaß (1813) reichten – verloren. So abstoßend die Texte heute wirken, so sehr sind sie in ihrem Furor zu lesen als Zeugnis der faktischen Ohnmacht gegenüber dem Expansionismus Napoleons.“ (Ethel Matala de Mazza, in Breuer (Hg.) Kleist Handbuch 2013, S. 347). Themen und Texte 2: Nation •Die Herrmannsschlacht (1809) •Herrmann, Marbod, Varus, Thusnelda •Betrug und Täuschung, selbst verordneter Fremdenhass, Gemeinheit •Militärischer Sieg und persönliche Tragödie •→ Herrmann ist ungeeignet als Identifikationsfigur! Themen und Texte 3: Gerechtigkeit •Novelle Michael Kohlhaas (1805–10) •„An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit. [...] Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder.“ • •Schlagbaum, „Paßschein“, Junker Wenzel von Tronka •zwei Pferde als Pfand •Risiko für Gerechtigkeit, Frau Lisbeth •„Geschäft der Rache“ – Fehdebrief, Überfall der Tronkenburg, Verfolgung Tronkas, drei Einäscherungen Wittenbergs, Angriff auf Leipzig •Luther: Plakat, Gespräch mit Kohlhaas, Abendmahl und Vergeben, (unklares) Versprechen von Amnestie, freies Geleit nach Dresden •„Wer mir den Schutz der Gesetze versagt, gibt mir die Keule in die Hand.“ •Prozess: Bedingungen für Amnestie? Möglichkeit von Urteil gegen Kohlhaas? •Aufstand, Johann Nagelschmidt, Brief als Falle für Kohlhaas •Fürst von Brandenburg, Auslieferung von MK nach Berlin, unterwegs: Kapsel mit Prophezeiung, Zigeunerin •Urteil: ehrenvoller Tod durchs Schwert, Abendmahl von Luthers Gesandtem. MKs Klage gegen Tronka bestätigt, Pferde wiederhergestellt. •MK verschlingt Zettel, seine Söhne werden zu Rittern geschlagen. • Themen und Texte 3: Gerechtigkeit •Was lehrt die Geschichte? Dass man Unrecht lieber ertragen sollte? Wenn ich mich als 68er Student mit revolutionärer Stirn über kapitalistische Ungerechtigkeiten beschwerte, konnte es geschehen, dass mein Vater warnend "Kohlhaas!" sagte. • •Hat Kleist eine antirevolutionäre Geschichte geschrieben? Eine Beruhigungspille gegen Aufbegehren? Werden hier Fanatismus und Prinzipienreiterei kritisiert und Duldung und Kompromissbereitschaft gepredigt? • •Ich glaube, es ist ganz anders. Kleists Herz schlägt für diesen Michael Kohlhaas. Kleist will, dass Gerechtigkeit in der Welt sei. Er zeigt einen, der an diesem Anspruch zerbricht. Aber dieses Zerbrechen widerlegt nicht den Kohlhaas, sondern verdammt die missglückte Beschaffenheit der Welt. Dass, wer für das Recht kämpft, ins Unrecht geraten muss, ist empörend. In einer solchen Welt mag Kleist nicht leben, kann sein Kohlhaas nicht leben. Dann lieber glanzvoll untergehen! Lieber sterben als das Ideal preisgeben! •(Hermann Kurzke) Fazit •Ein Moderner – ein Radikalidealist – ein Ernstnehmer – ein Tragiker •Erkenntnisskepsis, Wissenschaftsskepsis, Sprachskepsis: „gebrechliche Welt“ •Hohe Ambitionen, tiefer Selbstzweifel •Tradition, Norm, Rollen UND Grenzüberschreitungen, Neudefinitionen und „dritte Räume“ •Gender •Gemeinschaft •Gerechtigkeit •Ungeheure Intensität von Emotion, Sprache und Leben •Mein Heinrich, mein Süßtönender, mein Hyazinthenbeet, mein Wonnemeer, mein Morgen- und Abendrot, meine Äolsharfe, mein Tau, mein Friedensbogen, mein Schoßkindchen, mein liebstes Herz, meine Freude im Leid, meine Wiedergeburt, meine Freiheit, meine Fessel, mein Sabbath, mein Goldkelch, meine Luft, meine Wärme, mein Gedanke, mein teurer Sünder, mein Gewünschtes hier und jenseit, mein Augentrost, meine süßeste Sorge, meine schönste Tugend, mein Stolz, mein Beschützer, mein Gewissen, mein Wald, meine Herrlichkeit, mein Schwert und Helm, meine Großmut, meine rechte Hand, mein Paradies, meine Träne, meine Himmelsleiter, mein Johannes, mein Tasso, mein Ritter, mein Graf Wetter, mein zarter Page, mein Erzdichter, mein Kristall, mein Lebensquell, meine Rast, meine Trauerweide, mein Herr Schutz und Schirm, mein Hoffen und Harren, meine Träume, mein liebstes Sternbild, mein Schmeichelkätzchen, meine sichre Burg, mein Glück, mein Tod, mein Herzensnarrchen, meine Einsamkeit, mein Schiff, mein schönes Tal, meine Belohnung, mein Werther, meine Lethe, meine Wiege, mein Weihrauch und Myrrhen, meine Stimme, mein Richter, mein Heiliger, mein lieblicher Träumer, meine Sehnsucht, meine Seele, meine Nerven, mein goldner Spiegel, mein Rubin, meine Syringsflöte, meine Dornenkrone, mein tausend Wunderwerke, mein Lehrer und mein Schüler, wie über alles Gedachte und zu Erdenkende lieb ich dich. • •Meine Seele sollst du haben. • •Henriette • •Mein Schatten am Mittag, mein Quell in der Wüste, meine geliebte Mutter, meine Religion, meine innre Musik, mein armer kranker Heinrich, mein zartes weißes Lämmchen, meine Himmelspforte. H. •(An Ulrike von Kleist) •Ich kann nicht sterben, ohne mich, zufrieden und heiter, wie ich bin, mit der ganzen Welt, und somit auch, vor allen Anderen, meine theuerste Ulrike, mit Dir versöhnt zu haben. Laß sie mich, die strenge Äußerung, die in dem Briefe an die Kleisten enthalten ist laß sie mich zurücknehmen; wirklich, Du hast an mir gethan, ich sage nicht, was in Kräften einer Schwester, sondern in Kräften eines Menschen stand, um mich zu retten: die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war. Und nun lebe wohl; möge Dir der Himmel einen Tod schenken, nur halb an Freude und unaussprechlicher Heiterkeit dem meinigen gleich: das ist der herzlichste und innigste Wunsch, den ich für Dich aufzubringen weiß. • Stimmings bei Potsdam. • d. – am Morgen meines Todes. Dein Heinrich