INHALT Gisela Bock 100 Jahre Frauenwahlrecht: Deutschland in transnationaler Perspektive 395 Maria Anna Zumholz Skandal- und Krisenmanagement im Dritten Reich Der oldenburgische Gauleiter Carl Röver und sein Tod in der Berliner Charité im Mai 1942 413 Thomas Wozniak 15 Jahre Wikipedia und Geschichtswissenschaft Tendenzen und Entwicklungen 433 Allgemeines Philip T. Hoffman: Wie Europa die Welt eroberte. Darmstadt 2017 (Detlev Kraack) 454 Christina Morina: Die Erfindung des Marxismus. Wie eine Idee die Welt eroberte. München 2017 (Jens Flemming) 456 Annette Vowinckel: Agenten der Bilder. Fotografisches Handeln im 20. Jahrhundert. Göttingen 2016 (Annemarie Krumbein-Thum) 458 Z E I T S C H R I F T F ü R G E S C H I C H T S W I S S E N S C H A F T 66. JAHRGANG 2018 HEFT 5 A R T I K E L R E Z E N S I O N E N 392 INHALT Mittelalter ∙ Frühe Neuzeit Jan-Hendryk de Boer/Marian Füssel/Maximilian Schuh (Hrsg.): Universitäre Gelehrtenkultur vom 13. bis 16. Jahrhundert. Ein interdisziplinäres Quellen- und Methodenhandbuch. Stuttgart 2017 (Stephanie Irrgang) 460 Axel Gotthard: Der Dreißigjährige Krieg. Eine Einführung. Köln/Weimar/Wien 2016 Peter H. Wilson: Der Dreißigjährige Krieg. Eine europäische Tragödie. Darmstadt 2017 Herfried Münkler: Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618–1648. Berlin 2017 (Alexander Querengässer) 461 Neuzeit • Neueste Zeit Jaroslav Láník/Tomáš Kykal: Léta do pole okovaná 1914–1918. Svazek 2: 1915 – noví nepřátelé, nové výzvy [Die Jahre des Krieges 1914–1918. Bd. 2: 1915 – Neue Herausforderungen, neue Feinde]. Praha 2017, 718 S. (Maik Schmerbauch) 466 Daniel Schönpflug: Kometenjahre. 1918. Die Welt im Aufbruch. Frankfurt a. M. 2017 (Max Bloch) 468 Edgar Wolfrum: Welt im Zwiespalt. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2017 (Rolf Badstübner) 470 Andrew Stuart Bergerson/Leonard Schmieding: Ruptures in the Everyday. Views of Modern Germany from the Ground. New York 2017 (Klaus-Peter Friedrich) 472 Paul-Moritz Rabe: Die Stadt und das Geld. Haushalt und Herrschaft im nationalsozialistischen München. Göttingen 2017 (Martin Friedenberger) 474 Peter Hayes: Warum? Eine Geschichte des Holocaust. Frankfurt a. M./New York 2017 (Bernward Dörner) 476 393INHALT Wolf Gruner: Die Judenverfolgung im Protektorat Böhmen und Mähren. Lokale Initiativen, zentrale Entscheidungen, jüdische Antworten 1939–1945. Göttingen 2016 (Thomas Krzenck) 478 Thorsten Noack: NS-Euthanasie und internationale Öffentlichkeit. Die Rezeption der deutschen Behinderten- und Krankenmorde im Zweiten Weltkrieg. Frankfurt a. M./New York 2017 (Astrid Ley) 481 Rolf-Dieter Müller: Reinhard Gehlen. Geheimdienstchef im Hintergrund der Bonner Republik. Die Biografie. 2 Bde. Berlin 2017 (Matthias Willing) 483 Hans-Christian Jasch/Wolf Kaiser: Der Holocaust vor deutschen Gerichten. Amnestieren, Verdrängen, Bestrafen. Ditzingen 2017 (Angelika Censebrunn-Benz) 485 Gisela Bock, Prof. em. Dr., Berlin Maria Anna Zumholz, Dr. phil. habil., Arbeitsstelle für Katholizismusund Widerstandsforschung, Universität Vechta Thomas Wozniak, PD Dr., Institut für Geschichtliche Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften, Eberhard Karls Universität Tübingen Rolf Badstübner, Prof. Dr., Berlin Max Bloch, Dr., Köln Angelika Censebrunn-Benz, Dr., Berlin Bernward Dörner, Prof. Dr., Zentrum für Antisemitismusforschung, TU Berlin Jens Flemming, Prof. Dr., Hamburg Martin Friedenberger, Dr., Berlin Klaus-Peter Friedrich, Dr., Marburg Stephanie Irrgang, Dr., Berlin Detlev Kraack, Prof. Dr., Plön Annemarie Krumbein-Thum, Dr., Gymnasiallehrerin i. R., Hannover Thomas Krzenck, Dr., Leipzig Astrid Ley, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Oranienburg Florian G. Mildenberger, Prof. Dr., Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) Alexander Querengässer, Dr., Leipzig Maik Schmerbauch, Dr., Archivar, Berlin Matthias Willing, Dr., Marburg DIE AUTORINNEN UND AUTOREN DIESES HEF TES: Thomas Wozniak 15 Jahre Wikipedia und Geschichtswissenschaft Tendenzen und Entwicklungen „Jeder benutzt sie, keiner zitiert sie – das scheint bisher die Devise zu sein. Wissenschaftler und Verlage sollten ihren Umgang mit der Online-Enzyklopädie klären.“1 Bereits Jahre bevor die Online-Enzyklopädie „Wikipedia“2 am 15. März 2001 freigeschaltet wurde, sind philosophische Überlegungen über die Funktionalität, die eine solche Datenbank erfüllen müsste, formuliert worden.3 Anders als über deren Funktionen wurde jedoch über den sinnvollen Umgang mit einer solchen Datenbank bisher deutlich zu wenig nachgedacht; alle Nutzer suchen sich ihren eigenen Weg. Mindeststandards im Umgang scheinen heute aber gebotener denn je zu sein, denn einerseits werden die Artikel der Wikipedia als so zuverlässig angesehen, dass sie als Vorlage für Plagiate missbraucht werden, andererseits als so unzuverlässig oder gefährlich, dass einige Regierungen glauben, den Zugang zu ausgewählten Sprachversionen großflächig zensieren und blockieren zu müssen.4 Zwar ist die Wikipedia seit mehr als 15 Jahren fester Bestandteil des täglichen Lebens im World Wide Web, aber erst durch die ubiquitäre Verbreitung mobiler internetfähiger 1 „Stellungnahme des Verlags C. H. Beck zu Plagiatsvorwürfen gegen das Buch ‚Große Seeschlachten. Wendepunkte der Weltgeschichte von Salamis bis Skagerrak‘ von Arne Karsten und Olaf B. Rader (München 2013, 429 Seiten)“ vom 29. April 2014, https://web.archive. org/web/20160310134348/http://www.chbeck.de/_assets/pdf/pm_grosse-seeschlachten.pdf [10. 3. 2016]. 2 Wikipedia ist eine Wortschöpfung aus „Wiki“ (hawaiisch für „schnell“) und dem englischen „Encyclopedia“. 3 Joseph Schmucker-von Koch, Bilderflut und Bildverlust. Philosophische Anmerkungen zur Multimedia-Welt, in: EDV-Tage Theuren 1996. Haus der Bayerischen Geschichte, bayerische Staatskanzlei, Bergbau- und Industriemuseum Ostbayern. Kümmersbruck: Bergbau- und Industriemuseum Ostbayern, S. 7–16. 4 Seit 11. Juli 2006 blockiert die saudische Regierung den Zugang zu den englisch- und arabischsprachigen Versionen Wikipedias bezüglich politischer oder sexueller Inhalte. Seit Juni 2015 ist die chinesischsprachige Version in China gesperrt, seit dem 29. April 2017 die türkischsprachige in der Türkei. Andere Länder (Iran, Pakistan, Russland, Syrien, Tunesien, Usbekistan) blockierten zeitweise ausgewählte Sprachversionen. 434 THOMA S WOZNIAK Endgeräte, die mit der Einführung des iPhones im Jahr 2007 begann, ist sie fast ständig und überall verfügbar.5 Die Potenziale dieser Entwicklung sind noch lange nicht aus- geschöpft.6 Im Folgenden wird die in den vergangenen fünf Jahren verstärkt notwendig gewordene Auseinandersetzung der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft vor allem mit der deutschsprachigen Wikipedia reflektiert.7 Dazu werden mehrere Aspekte untersucht und genauer in den Blick genommen: a) die allgemeine Kontextualisierung der Wikipedia-Angebote innerhalb des Internets, wobei es besonders um die mediale und juristische Rezeption, aber auch um die Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit mit Institutionen geht; b) die strukturellen Eigenheiten der Wikipedia unter besonderer Berücksichtigung systembedingter Fehlerquellen und der Frage der Zitierbarkeit; c) die Vorstellung einiger erfolgreicher geschichtswissenschaftlicher Projekte innerhalb der Wikipedia und d) der Übergang von einer Nachbildung der klassischen Medien zu einem Wandel auf der Grundlage neuer technischer Möglichkeiten. Forschungsstand und Wikipedistik Die Betrachtung der Rezeption kann nicht mehr nur statistisch-quantitativ innere Parameter – Artikelanzahl, Benutzeranzahl, Veränderungen etc. – beschreiben, sondern muss die externe Rezeption in Medien und wissenschaftlicher Forschungsliteratur einbeziehen. Die junge Forschungsdisziplin der „Wikipedistik“ hilft dabei, bezüglich der geschichtswissenschaftlich relevanten Themen eine Differenzierung zu erzielen.8 Viele neue Beiträge sind in den letzten Jahren besonders zu Fragen der Verwendung von Wikipedia in der akademischen Lehre, der Zitierbarkeit von Wikipedia-Artikeln und der Renaissance längst überholt geglaubter nationaler Sichtweisen in Online-Enzyklopädien publiziert worden. Deshalb ist es notwendig, vorab einen Blick in die sich rasant entwickelnde Forschungsliteratur zu nehmen. Während die Auseinandersetzung mit der Wikipedia von außen immer wieder an die Geschichtswissenschaft herangetragen 5 Jan Engelmann, Prinzipiell unabschließbar. Wikipedia und der veränderte Umgang mit (historischem) Wissen, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 9 (2012) 2, S. 286–292, http://www.zeithistorische-forschungen.de/2-2012/id= 4465 [21. 5. 2017]. 6 Manuel Altenkirch, Online-Lexika und ihr Potential am Beispiel der Wikipedia, in: Praxishandbuch Historisches Lernen und Medienbildung im digitalen Zeitalter, Opladen 2017, S. 411–416. 7 Seit der letzten Bestandsanalyse vor fünf Jahren hat sich in dem dynamischen Forschungsfeld so viel getan, dass eine Neubetrachtung überfällig erscheint. Vgl. Thomas Wozniak, Zehn Jahre Berührungsängste: Die Geschichtswissenschaften und die Wikipedia. Eine Bestandsaufnahme, in: ZfG 60 (2012) 3, S. 247–264. 8 Peter Haber, Digital Past: Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter, München 2011; Nathaniel Tkacz, Wikipedia and the politics of openness, Chicago 2014. 43515 JAHRE WIKIPEDIA UND GESCHICHTSWISSENSCHAF T wird,9 nimmt auch die Zahl der Wissenschaftler, die sich fachlich mit der Wikipedia auseinandersetzen, stetig zu.10 War bis vor einigen Jahren die Zahl der Abschlussarbeiten zur Wikipedia in den unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen noch überschaubar, ist sie inzwischen stark angestiegen und kaum mehr zu überblicken. Aus den in den letzten Jahren publizierten deutschsprachigen Werken sind besonders drei hervorzuheben: eine Analyse der prozessualen Strukturen innerhalb der Autorenschaft, besonders der Überblick über die wissenschaftlichen Sichtweisen bezüglich der Zuverlässigkeit und Nutzbarkeit.11 Weiterhin der Themenband zur Wikipedia der Zeitschrift Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, in dem 2012 sehr unterschiedliche Positionen vertreten wurden.12 Schließlich die Ergebnisse einer Sektion auf dem 50. Deutschen Historikertag in Göttingen, die 2015 in Form eines frei zugänglichen Sammelbandes erschienen.13 Für die weitere Betrachtung sind die größere Kontextualisierung der Wikipedia innerhalb des Internets und ihre Rezeption in den Medien uner- lässlich. Kontextualisierung innerhalb des Internets Die Zugriffszahlen verdeutlichen, dass die Wikipedia intensiv genutzt wird. Die Datenbank steht in Deutschland auf Platz sieben und weltweit auf Platz fünf aller aufgerufenen Webseiten.14 In absoluten Zahlen werden die Artikel der deutschsprachigen Wikipedia stündlich mehr als 800000 Mal (monatlich mehr als 500 Millionen Mal) aufgerufen, während die englischsprachige stündlich annähernd sechs Millionen Mal (monatlich vier Milliarden Mal) genutzt wird. Bezüglich der Anzahl der Artikel hat die englisch- 9 Brendan Luyt, The nature of historical representation on Wikipedia: Dominant or alternative historiography?, in: Journal of the American Society for Information Science and Technology 62 (2011) 6, S. 1058–1065. 10 Vgl. die mehr als 500 Titel der „Auswahlbibliografie zu Wikipedia und Wissenschaft“, in: Thomas Wozniak/Jürgen Nemitz/Uwe Rohwedder (Hrsg.), Wikipedia und Geschichtswissenschaft, Berlin/Boston 2015, S. 257–299. 11 Ziko van Dijk, Die Vermählung von Klio und Isidor. Geschichte und die Freie Enzyklopädie Wikipedia, in: Zeitschrift für digitale Geschichtswissenschaften 1 (2012), S. 1–12, http://univer saar.uni-saarland.de/journals/index.php/zdg/article/view/291 [26. 10. 2013]. 12 Peter Haber, Wikipedia. Ein Web 2.0 Projekt, das eine Enzyklopädie sein möchte, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 63 (2012), 5–6, S. 261–270; Jan Hodel, Wikipedia und Geschichtslernen, in: ebenda, S. 271–284; Johannes Mikuteit, Informations- und Medienkompetenz entwickeln. Studierende als Autoren der Online-Enzyklopädie Wikipedia, in: ebenda, S. 285–290; Ilja Kuschke, Ein produktorientierter Ansatz zum kritischen Umgang mit Wikipedia im Geschichtsunterricht, in: ebenda, S. 291–301. 13 Wozniak/Nemitz/Rohwedder, Wikipedia und Geschichtswissenschaft, Open Access: https:// www.degruyter.com/view/product/433564 [23. 2. 2016]. 14 Daten nach http://www.alexa.com/topsites [23. 2. 2017]. 436 THOMA S WOZNIAK sprachige Version die Grenze von 5,3 Millionen Artikeln und die deutschsprachige jene von 2,1 Millionen überschritten. Damit prägt die Wikipedia als ein Leitmedium des Internets nicht nur das Allgemeinwissen großer Teile der Bevölkerung, sondern auch das populäre Wissen über Geschichte.15 Von den mehr als zwei Millionen deutschsprachigen Artikeln sind fast ein Drittel Biografien, davon 540796 zu Männern, aber nur 97586 zu Frauen. Dies spiegelt in mancher Hinsicht eine einseitige Bevorzugung von Männerbiografien, aber auch eine bisher noch unausgeglichene Forschungslage wider.16 Auf die Problematik dieses sogenannten Gendergap,17 das die Wikipedia seit einigen Jahren begleitet, ist von vielen Seiten, nicht zuletzt von Frauenverbänden, aufmerksam gemacht worden.18 Mittlerweile gibt es zwar spezielle Konzepte, um die heterogene inhaltliche Schwerpunktbildung etwas auszugleichen, die eigentliche Arbeit, ausgewogene Genderverhältnisse herzustellen, liegt jedoch in der Zukunft.19 Von den hohen Zahlen der angemeldeten Benutzer gehören die wenigsten zu den wirklich aktiv Schreibenden. So werden von den 29 Millionen registrierten Benutzern der englischsprachigen Wikipedia nur 0,4 Prozent (114000) als „aktiv“ eingestuft.20 Von 2,6 Millionen deutschsprachigen Nutzern sind derzeit 0,7 Prozent (18000) aktiv. Das zur Wikimedia-Familie gehörende Projekt „Wikidata“ enthält seit seiner Gründung im Jahr 2011 etwa 26 Millionen Dateneinheiten, die von 2,7 Millionen Benutzern erstellt wurden, von denen 0,6 Prozent (16500) aktiv sind. Die Bildersammlung „Wikimedia 15 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Statistik [1. 3. 2018]. 16 Judd Y. R. Antin/Coye Cheshire/Oded Nov, Gender Differences in Wikipedia Editing. Proceedings of the 7th International Symposium on Wikis and Open Collaboration, New York 2011, S. 11–14; Benjamin Collier/Julia Bear, Conflict, Confidence, or Criticism: An Empirical Examination of the Gender Gap in Wikipedia. Proceedings of the ACM 2012. Conference on Computer Supported Cooperative Work, New York 2012, S. 383–392; Morgan Currie, The Feminist Critique: Mapping Controversy in Wikipedia, in: David M. Berry (Hrsg.), Understanding Digital Humanities, New York 2012, S. 224–248. 17 Heather Ford/Judy Wajcman, ‘Anyone can edit’, not everyone does: Wikipedia’s infrastructure and the gender gap, in: Social Studies of Science 1 (2017), S. 1–17. 18 Anja Ebersbach, Wikipedia: Lexikon sucht Frau, in: Birgit Kampmann (Hrsg.), Die Frauen und das Netz: Angebote und Nutzung aus Genderperspektive, Wiesbaden 2013, S. 159–171; Almut Sichler/Elizabeth Promer, Gender differences within the German-language Wikipedia, in: ESSACHESS – Journal for Communication Studies 7 (2014), Nr. 2(14), S. 77–93. 19 Jennifer Travis, Wikipedia and Woman Writers: Closing the Gender Gap through Collaborative Learning, in: Polymath: An Interdisciplinary Arts and Sciences Journal 3 (2013)3, S. 35–42; Claudia Wagner/David Garcia u. a., It’s a Man’s Wikipedia? Assessing Gender Inequality in an Online Encyclopedia. 2015, Association for the Advancement of Artificial Intelligence (arXiv:1501.06307v1). 20 „Aktiv“ bedeutet, dass der entsprechende Benutzer innerhalb des letzten Monats mindestens einmal etwas verändert hat. 43715 JAHRE WIKIPEDIA UND GESCHICHTSWISSENSCHAF T Commons“ enthält 33 Millionen Medien, die von 5,9 Millionen Benutzern eingestellt wurden, von denen 0,5 Prozent (29500) aktiv sind. Zu fragen ist, wie viele aktive Benutzer an vergleichbaren Projekten teilnehmen und wie die Zahlen der genannten Projekte der Wikimediafamilie einzuschätzen sind. Welche anderen kollaborativen Projekte im Internet können es hinsichtlich der Datenmenge und der beteiligten Teilnehmer mit den Wikimediaprojekten aufnehmen? Ähnlich strukturierte Projekte sind die von der Religionsgemeinschaft der Mormonen betriebene Webseite „Familysearch“, die derzeit über einen digitalen Datenbestand von 1,3 Milliarden Einheiten verfügt und von 155000 Aktiven kollaborativ bearbeitet wird.21 Das sind mehr Aktive, als derzeit die deutschsprachige und englischsprachige Wikipediaversionen bearbeiten. Das Projekt „Billiongraves“, das sich als Ziel die Dokumentation von einer Milliarde Grabstätten weltweit gesetzt hat, wird von mehr als 130000 Aktiven betrieben,22 und das staatliche chinesische Projekt „Baidu Baiku“ – entwickelt als chinesische Alternative zu Wikipedia – enthält derzeit 14 Millionen Artikel, die von 6,1 Millionen Angemeldeten betreut werden.23 Diese drei Projekte zeigen beispielhaft, in welchen Rahmen sich die Wikimedia-Projekte bezüglich der Datenmenge wie auch der daran beteiligten Freiwilligen einordnen. Mediale Rezeption und juristische Auseinandersetzung Die schon lange bekannte Reziprozität, nach der die Wikipedia-Autoren mithilfe von Presseartikeln belegen, was die Presse dann wieder aus Wikipedia übernimmt, wird verständlich am falschen „Wilhelm“ im Vornamen des ehemaligen Verteidigungsministers Freiherr von Guttenberg. Dieser bei der Ernennung des Ministers im Jahr 2009 bewusst falsch in die Wikipedia eingefügte Vorname wurde zunächst von den Medien ungeprüft übernommen; später wurde die Entfernung aus der Wikipedia genau aufgrund dieser Medienartikel verhindert. Die Wirkung der Wikipedia als ein Leitmedium auf die Öffentlichkeit wird auch deutlich, wenn man die Zahl der Beiträge deutschsprachiger Medien zum Thema „Wikipedia“ ansieht.24 Zwischen der Gründung 2001 und dem Jahr 2016 wurden in den deutschsprachigen Pressemedien (Print, Radio, TV, digital) mindestens 5167 Nachrichten über Wikipedia veröffentlicht. Dies entspricht in etwa 21 Vgl. https://familysearch.org/ [3. 3. 2017]. 22 Vgl. https://billiongraves.com/ [3. 3. 2017]. 23 Vgl. https://baike.baidu.com/ [3. 3. 2017]. 24 Diese werden seit 2001 in Form eines Pressespiegels gesammelt. Vgl. https://de.wikipedia.org/ wiki/Wikipedia:Pressespiegel [23. 2. 2017]. Die Auszählung ergibt folgende Jahreswerte: vor 2004: 39, 2004: 204, 2005: 346, 2006: 249, 2007: 510, 2008: 381, 2009: 649, 2010: 214, 2011: 499, 2012: 453, 2013: 402, 2014: 534, 2015: 243, 2016: 444. 438 THOMA S WOZNIAK einem Schnitt von einer Pressemeldung pro Tag. Damit kann Wikipedia kaum mehr zu den randständigen Themen gezählt werden. Neben der äußeren Rezeption haben sich auch innerhalb der Wikipedia die Regeln weiterentwickelt. Die selbst gesetzten Normen und mehr noch die ungeschriebenen Praxisregeln haben mittlerweile einen Umfang angenommen, der einen Bachelorstudiengang füllen könnte. Es gibt zwar einige Anleitungen, aber diese können der konstanten Fortentwicklung der Grundsätze kaum folgen.25 Für Autoren, die nicht frühzeitig, also innerhalb der Jahre 2002 bis 2007, in das Projekt eingestiegen sind und die mit diesen Regelentwicklungen und den sie begleitenden (teilweise endlosen) Diskussionen aufgewachsen sind, wird es zunehmend schwieriger, den derzeitigen Stand der Richtlinien zu verstehen. Die Folgen sind allzu oft hohe Frustrationen, das Empfinden von Willkür und dadurch Demotivation bis hin zum Abbruch jeglicher freiwilligen Mitarbeit. Besonders Auseinandersetzungen um unterschiedliche Sichtweisen auf ein Thema werden allzu selten aus einer objektiven Distanz zum Untersuchungsgegenstand heraus geführt. Schnell münden solche Korrekturen und Rückgängigmachungen in die oft zitierten Edit-Wars.26 Da für die Edit-Wars mittlerweile effiziente Regeln vorliegen, wird in letzter Zeit verstärkt versucht, die Konflikte auf der persönlichen Ebene auszufechten oder ganz außerhalb der Wikipedia mit anderen Mitteln weiterzuführen. Als solche Interventionen sind neben juristischen Abmahnungen mediale Auseinandersetzungen in Form von Büchern27 und Filmen zu nennen.28 Oft geht es dabei um vermutete Verschwörungen, bei den juristischen Streitpunkten um verschiedene Auslegungen des Urheberrechts. Als Beispiel seien die Auseinandersetzung zwischen den Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim und Wikimedia Deutschland e.V. genannt,29 bei 25 Ziko van Dijk, Wikipedia: Wie Sie zur freien Enzyklopädie beitragen, München 2010; Matthijs den Besten, Keep it simple: a companion for simple Wikipedia?, in: Industry and innovation 15 (2008) 2, S. 169–178; Darren W. Logan/Massimo Sandal u. a., Ten simple rules for editing Wikipedia, in: PLoS Computational Biology 6 (2010) 9, S. 1–3. 26 Achim Raschka/Dirk Franke, Edit-Wars in Wikipedia, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 10 (2016) 2, S. 17–24. 27 Vgl. Michael Brückner, Die Akte Wikipedia: falsche Informationen und Propaganda in der Online-Enzyklopädie, Rottenburg 2014; Marvin Oppong, Verdeckte PR in Wikipedia – das Weltwissen im Visier von Unternehmen, Frankfurt a. M. 2014. 28 Vgl. den Film „Die dunkle Seite der Wikipedia“ (https://www.youtube.com/watch?v=wHfiCX_ YdgA), der bisher 575 Tsd. Aufrufe erreicht hat, oder den Kinofilm „Zensur – die organisierte Manipulation der Wikipedia und anderer Medien“, https://kenfm.de/zensur/ [6. 3. 2017]. 29 Im Juni 2016 erfolgte ein Urteil am Landgericht Stuttgart (Az. 17 O 690/15) im Prozess ReissEngelhorn-Museen gegen die Wikimedia Foundation. Vgl. Leonhard Dobusch, Wikimedia verliert erste Runde im Rechtsstreit mit Reiss-Engelhorn-Museen um Digitalisate gemeinfreier Werke, in: Netzpolitik.org vom 22. Juni 2016, https://netzpolitik.org/2016/wikimedia-verliert- erste-runde-im-rechtsstreit-mit-reiss-engelhorn-museen-um-digitalisate-gemeinfreier-werke/ [6. 3. 2017]. 43915 JAHRE WIKIPEDIA UND GESCHICHTSWISSENSCHAF T der sich der Gang durch die gerichtlichen Instanzen anscheinend nicht vermeiden ließ.30 Dabei wird häufig übersehen, dass es erfolgreiche Initiativen der Zusammenarbeit von Wikipedia-Projekten mit zahlreichen Institutionen gibt. Galerien, Bibliotheken, Archive und Museen (GLAM) Für viele künstlerisch, historisch und archäologisch orientierte Disziplinen sind die traditionellen Wissensquellen Galerien, Bibliotheken, Archive und Museen. Die Wikipedianutzer fühlen sich mit ihrem Motto „Freies Wissen für alle“ auch bei Abbildungen dem Open-Access-Gedanken verpflichtet.31 Dies führt zu einer verstärkten Zusammenarbeit mit Galerien, Bibliotheken, Archiven oder Museen. Bisher haben 122 Institutionen weltweit ihre Abbildungen für die freie Nutzung auf Wikimedia Commons zur Verfügung gestellt.32 An Beispielen für solche Projekte mit Bildgebern sei eine kleine Auswahl genannt: 2008 das Bundesarchiv mit 80000 Abbildungen,33 2009 das Königliche Niederländische Tropeninstitut mit 49000, 2009 die Deutsche Fotothek Dresden mit 250000, 2012 das Walters Art Museum in Baltimore mit 18000,34 2013 die Zentralbibliothek Solothurn mit 1200 Druckgrafiken, 2013 der Rijksdienst voor het Cultureel Erfgoed mit 480000, 2015 das Naturalis Biodiversity Center in Leiden mit 275000 und 2016 der Meißner Kunstverlag Brück& Sohn mit 30000 Abbildungen. Mehr noch: Im Februar 2017 hat sich auch das „Metropolitan Museum of Art“ (MoMa) in New York, eines der weltweit bedeutendsten Museen überhaupt, zum Open Access von 375000 Bildwerken entschieden.35 Die Zusammenarbeit bietet viele Vorteile für beide Seiten. So erhöht sich der Zugriff auf das Angebot der teilnehmenden Institution deutlich, da diese durch die größere Öffentlichkeit bekannter werden, teilweise verzehnfachten sich die Zugriffszahlen auf die originalen Angebote. Andererseits gibt es für viele Wikipedia-Artikel sinnvolle 30 Vgl. die „Stellungnahme zum Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart und zur Pressemeldung von Wikimedia Deutschland (9. 6. 2017)“, http://www.rem-mannheim.de/fileadmin/redak teure/Presse/Pressemeldungen-pdf/20170609-Stellungnahme_Urteil_Oberlandesgericht_ Stuttgart.pdf [6. 3. 2018]. 31 Vgl. Rainer Hammerwöhner, Bilddiskurse in den Wikimedia Commons, in: Barbara FrankJob (Hrsg.), Die Dynamik sozialer und sprachlicher Netzwerke: Konzepte, Methoden und empirische Untersuchungen an Beispielen des WWW, Wiesbaden 2013, S. 285–310. 32 Vgl. https://commons.wikimedia.org/wiki/Commons:Partnerships [6. 3. 2017]. 33 Oliver Sander, „Der Bund mit Wiki“ – Erfahrungen aus der Kooperation zwischen dem Bundesarchiv und Wikimedia, in: Der Archivar 63 (2010) 2, S. 158–162. 34 Walters Art Museum goes CC0, https://openglam.org/2015/07/30/walter-art-museum-goescc0/ [6. 3. 2017]. 35 Vgl. Loic Tallon, Introducing Open Access at The Met, http://www.metmuseum.org/blogs/digi tal-underground/2017/open-access-at-the-met [6. 3. 2017]. 440 THOMA S WOZNIAK Bebilderungen. Durch Rückmeldungen zu den institutionellen Beschreibungstexten können zudem häufig deutlich bessere Einordnungen der Bildkontexte bei den Geberinstitutionen getroffen werden. An Problemen sind zu nennen, dass die teilnehmenden Institutionen häufig die Menge der Rückmeldungen und den damit einhergehenden Arbeitsaufwand unterschätzen. Problematisch sind auch nicht lizenzkonforme Weiternutzungen der Abbildungen durch Dritte, welche die CC-Lizenzmodelle36 irrtümlich wie Public Domain auszulegen scheinen. Streitfälle dieser Art sollten aber getrennt von den Vorteilen betrachtet und verfolgt werden. Eine andere Möglichkeit, mit GLAM-Institutionen (also Galerien, Bibliotheken, Archiven, Museen, aber auch Gerichten wie dem Höchstgericht in Wien37 ) zusammenzuarbeiten, besteht seit 2011 aufgrund des Programms „Wikipedian in Residence“. Dabei handelt es sich um Wikimedianer, die unmittelbar vor Ort mitarbeiten. Ihre Kernaufgabe ist es, als Bindeglied zwischen der Institution und der Wikimedia-Bewegung zu fungieren und die Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen zu fördern. Dies geschieht auf zwei Wegen: Einerseits soll das Verständnis für die Arbeitsweisen der Wikimedia-Projekte unter den Institutions-Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen gefördert werden, vor allem im Rahmen von Workshops und Vorträgen, aber auch im persönlichen Gespräch. Andererseits wird gemeinsam mit den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen versucht, „Bestände zu digitalisieren, zusammenzustellen und so zu organisieren, dass sie mit der Wikimedia-Bewegung geteilt werden können“. Dabei geht es nicht primär darum, dass der/die „Wikipedian in Residence“ selbst Artikel verbessert, sondern darum, die Anreicherung der Inhalte durch die Wikipedia-Community zu unterstützen. Als Mittel dafür dient die Organisation von Veranstaltungen (sog. Hacka- thons,38 Schreibwerkstätten, Depottouren etc.), bei denen mit den Kollegen der Institution Inhalte erstellt oder gemeinsam erarbeitet werden.39 Mittlerweile liegen einige Erfahrungsberichte über das Programm vor, die zeigen, wie beide Seiten von diesem Format profitieren können.40 Dass solche Kooperationen teilweise sogar den Umfang dreijähriger Vollzeitstellen erreicht haben,41 zeigt, wie groß der Bedarf an dauerhaften Partnerschaften von Institutionen und der Wikimedia-Bewegung ist, um mögliche Interessenskonflikte erfolgreich zu minimieren. 36 Vgl. https://creativecommons.org/ [14. 9. 2017]. 37 Vgl. Interview mit Dr. Josef Pauser, dem Leiter der Bibliothek des Verfassungsgerichtshofs, https://www.wikimedia.at/interview-dr-josef-pauser/ [24. 2. 2017]. 38 Hackathon ist eine Wortschöpfung aus „Hack“ und „Marathon“. Bei Wikipedia ist das Ziel eines Hackathons, innerhalb der Dauer dieser Veranstaltung gemeinsam Artikel zu verbessern. 39 Vgl. https://outreach.wikimedia.org/wiki/Wikipedian_in_Residence/de [24. 2. 2017]. 40 Marcus Cyron, Wikipedia-Archäologie. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in: Wozniak/ Nemitz/Rohwedder, Wikipedia und Geschichtswissenschaft, S. 103–112, hier S. 109. 41 Vgl. die Stellenausschreibung der Technischen Informationsbibliothek (TIB) Hannover vom Juli 2016, https://www.inetbib.de/listenarchiv/msg58525.html [24. 2. 2017]. 44115 JAHRE WIKIPEDIA UND GESCHICHTSWISSENSCHAF T Ein Projekt, das exklusiv im Bereich der Aufbereitung historischen Materials liegt, ist das am 24. November 2003 gegründete Schwesterprojekt Wikisource,42 das dank der Hilfe von etwa 300 aktiven Freiwilligen mittlerweile mehr als 36000 originale Quellenwerke in Transkriptionen als Volltexte zur Verfügung stellt. Die Aufbereitung historischer Quellen gehört bekanntlich zu den traditionellen Teilgebieten der Geschichtswissenschaft. Aufgrund der transparenten Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit werden die Volltexte aus Wikisource bereits seit August 2009 im Katalog der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln nachgewiesen, inzwischen haben weitere Kataloge wie der Opac der Regesta Imperii oder die digitalen Monumenta Germaniae Historica (dMGH) diese Verlinkungen übernommen. Die Zusammenarbeit geht teilweise noch weiter, denn die Zürcher Zentralbibliothek (ZB) ist seit 2008 nicht nur Mitglied des Vereins Wikimedia CH, sondern engagiert sich aktiv in der Wikipedia. Die Mitarbeiter der ZB nutzen biografische Angaben über Zürcher Persönlichkeiten aus Nachlässen, um entsprechende Wikipedia-Artikel zu verbessern.43 Strukturelle Eigenheiten Der Schreibprozess der Wissenschaft unterscheidet sich zwar vom enzyklopädischen Schreiben in der Wikipedia,44 aber es gibt auch Schnittmengen. So ist das wissenschaftliche Schreiben daran orientiert, eine Lücke im Forschungsstand zu finden, für die dann eine entsprechende wissenschaftliche Fragestellung mit eigenen Forschungserkenntnissen entwickelt und auf deren Grundlage ein neuer Forschungsstand erarbeitet wird. Demgegenüber wird in einer Enzyklopädie ausschließlich der bekannte Forschungsstand zusammengefasst und möglichst ausgewogen präsentiert, ohne neue Forschungsergebnisse zu erarbeiten. Die Präsentation der Wikipedia-Artikel orientiert sich teilweise an vermeintlich sicheren Fakten. Genau hier liegen jedoch zwei Schwachpunkte. Zum einen gibt es je nach Wissenschaftsdisziplin große Unterschiede in der Herangehensweise. Das Spektrum liegt dabei in den Fächern und ihren Fachtraditionen genauso begründet wie in ihren Forschungsgegenständen. Je nach Disziplin stehen Fakten, deren Kontextualisierung oder Interpretation im Vordergrund. Die Grenzen sind dabei fließend und können sich auch verändern. Mathematisch-naturwissenschaftliche Disziplinen wie Mathematik, Physik, Chemie oder Kristallografie sind stärker an natürlich begründeten Fakten orientiert, für Fächer wie Biologie (Taxonomie), Medizin, Geografie, Rechtswissenschaft 42 Wikisource erreicht bei Alexa den Platz 7081 aller in Deutschland aufgerufenen Webseiten. 43 Oliver Thiele, Die Zentralbibliothek Zürich schreibt an der Wikipedia mit, https://www.zb.uzh. ch/Medien/zb_wikipedia.pdf [6. 3. 2017]. 44 Vgl. Swantje Unterberg, Wikipedia-Eintrag statt Hausarbeit, in: Spiegel-Online vom 21. Februar 2017. 442 THOMA S WOZNIAK oder Sozialwissenschaft spielt hingegen die Kontextualisierung eine große Rolle, während in der Geschichtswissenschaft und noch viel stärker in der Literaturwissenschaft und Philosophie die Arbeit mit Texten oder Ideen über Interpretationen geführt wird. Während also in Artikeln über chemische Elemente die Basis der Fakten unstrittig ist, können in Beiträgen zur Geschichtswissenschaft schon die Reihenfolge und Auswahl von Informationen eine Gewichtung ausdrücken. Es ist deshalb im Grunde für jeden Fachbereich ein eigenes Regelwerk notwendig. Auch die Rezeption ist sehr unterschiedlich. Während die Wikipedia innerhalb der Geschichtswissenschaft allzuoft als Plagiatsvorlage vorverurteilt wird, vollzieht sich im Fachbereich Chemie eine gegenteilige Entwicklung, sodass im Jahr 2016 das dortige „Portal: Chemie“ mit dem Preis für Journalisten und Schriftsteller der Gesellschaft Deutscher Chemiker ausgezeichnet wurde.45 Da also enzyklopädisches Schreiben teilweise wissenschaftlichem Schreiben ähnelt, wurden und werden an zahlreichen deutschsprachigen Universitäten Lehrveranstaltungen zur Wikipedia durchgeführt,46 auch wenn der Wikipedia-Artikel als Übungsleistung nicht unumstritten ist. Denn die Studierenden lernen nur die Einzelschritte Recherchieren, Exzerpieren und Zusammenfassen. Dabei wird von den Studierenden immer wieder die Frage gestellt, ob sie die Wikipedia zitieren dürfen. Die meisten Dozenten verneinen dies kategorisch. Aber die Wikipedia wurde in der Vergangenheit so häufig plagiiert, dass zu fragen ist, weshalb das in der Wikipedia zusammengefasste Wissen nicht zitiert werden darf. Exkurs: Drei systembedingte Fehlerquellen Die Digitalisierung seit den 1990er-Jahren hat eine Reihe von Fehlerquellen hervorgebracht, sogenannte Bias, die bei der Nutzung klassischer Medien in der Regel seltener vorkommen. Drei solcher Bias fallen Zeit besonders auf: a) ein Literatur-Überalte- rungs-Bias,b)einRetrodigitalisierungsbiasundc)einBiasungeprüfterpseudoanonymer Rezeption. 45 Vgl. Renate Hoer, Chemiedozententagung in Heidelberg. Gesellschaft Deutscher Chemiker, Pressemitteilung vom 25. Februar 2016, https://idw-online.de/de/news646682 [24. 2. 2017]: „So erhält die Redaktion Chemie der Wikipedia im Rahmen der Festsitzung am 22. März den mit 7500 Euro dotierten GDCh-Preis für Journalisten und Schriftsteller für die überzeugende Qualität der Darstellung der Chemie in dem Onlinelexikon Wikipedia. Mit ihrer Arbeit sorgt die Redaktion dafür, dass die Chemie einer breiten Öffentlichkeit informativ und verständlich näher gebracht wird. Auf hervorragende Weise gelingt es ihr dabei, über Fragestellungen der Chemie und deren Lösungen aufzuklären.“ 46 Vgl. Thomas Wozniak, Wikipedia in Forschung und Lehre – eine Übersicht, in: ders./Nemitz/ Rohwedder (Hrsg.), Wikipedia und Geschichtswissenschaft, S. 33–52. 44315 JAHRE WIKIPEDIA UND GESCHICHTSWISSENSCHAF T Das Literatur-Überalterungs-Bias betrifft die zitierte Basisliteratur der Artikel. So hört man immer wieder Empfehlungen, dass nicht der Wikipediaartikel als solcher, sondern nur die darin angegebene Literatur benutzt werden solle. Diese Empfehlung widerspricht aber den Vorstellungen der Community: „Wikipedia ist keine Rohdatensammlung großer Mengen strukturierter Daten wie Telefonbücher, Bibliografien, Linkverzeichnisse, Adressverzeichnisse und so weiter.“47 Aber wenn die Wikipedia von vornherein selbst ausschließt, Bibliografien zu erarbeiten, kann sie auf diesem Gebiet auch nicht genutzt werden. Bibliografien waren in der deutschsprachigen Wikipedia von Anfang an nicht vorgesehen.48 Auch die Begrenzung der bibliografischen Angaben in den Artikeln auf fünf bis zehn Titel verhindert in Kombination mit der Forderung, nur die den Artikeln zugrunde liegende Literatur aufzuführen, eine aktuelle Auswahl. Die angegebene Literatur wird nicht nach Aktualität ausgesucht, sondern danach, ob sie verwendet wurde. Diese Ausgangslage wird verschärft durch ein stetig wachsendes, bisher unterschätztes Problem: die Überalterung der Literaturangaben qualitativ guter Artikel. Dafür ein Beispiel: Wird in einen vor zehn Jahren ausgezeichneten Artikel aktuelle Literatur eingefügt, dann wird diese häufig wieder gelöscht mit dem Hinweis, der Artikelinhalt beruhe nicht auf diesen Werken. Das passiert sogar, wenn die Titel einschlägig für das Thema sind. Die formale Vorgabe „Inhalt beruht auf Literatur“ befördert also langfristig eine Überalterung der angegebenen Literatur. Die Praxis zeigt, dass sich die zitierte Literatur als erster Einstieg in ein Thema oft nicht eignet. Hinzu kommt das durch die Digitalisierungskampagnen verbreitete Retrodigitalisierungsbias, das dazu führt, dass Werke, deren Schutzfrist abgelaufen ist, proportional häufiger verwendet werden, weil sie digital verfügbar sind.49 Mit den großen Retrodigitalisierungskampagnen durch private Unternehmen wie Google oder durch staatliche wie die französische Nationalbibliothek sind auf einen Schlag all jene Werke jederzeit online verfügbar geworden, deren Schutzfrist abgelaufen ist, im Allgemeinen also Werke, deren Autor vor 70 oder mehr Jahren verstorben ist.50 Ohne eine Bibliothek aufsuchen zu müssen, können solche Texte direkt vom Internet-Interface aus eingesehen und fachgerecht zitiert werden. Dies führt dazu, dass teilweise Hausarbeiten im universitären Lehrbetrieb zu einem überproportionalen Anteil auf 47 Helmut Leitner u. a., Art. „Wikipedia: Was Wikipedia nicht ist“, in: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand 1. 3. 2017, 15:17 UTC, https://de.wikipedia.org/w/index.php?title =Wikipedia:Was_Wikipedia_nicht_ist&oldid=163136296 [6. 3. 2017]. 48 Bereits in der allerersten Fassung des Art. „Wikipedia: Was Wikipedia nicht ist“ vom 4. Juli 2002 hatte der Benutzer Helmut Leitner den Begriff „Bibliographie“ eingefügt: https://de.wiki pedia.org/w/index.php?title=Wikipedia:Was_Wikipedia_nicht_ist&oldid=15327 [17. 3. 2017]. 49 Jürgen Nemitz, Wikipedia in der historischen Lehre, in: Wozniak/Nemitz/Rohwedder, Wikipedia und Geschichtswissenschaft, S. 53–80, hier S. 59. 50 Prominentestes Beispiel ist sicher „Mein Kampf“ von Adolf Hitler, dessen Schutzfrist im Jahr 2015 endete. 444 THOMA S WOZNIAK älteren Werken basieren. Die Retrodigitalisierung führt hier zu einem Bias, in dem ungewollt veraltete Ideen und Forschungsstände wieder in die Diskussion gebracht werden. Dies gilt auch für einige Belege in der Wikipedia, denen teilweise vorgeworfen werden kann, nur „ergoogelt“ zu sein und damit ebenfalls zum Teil auf retrodigitalisiertem Wissen zu beruhen. Als positives Gegenbeispiel kann beispielsweise der Artikel zu Gustav Biedermann Günther (1801–1866), einem Chirurgen und Hochschullehrer, genannt werden, dessen Gesamtwerk zu mehr als 80 Prozent mithilfe von Googlebooks zugänglich ist.51 Ein weiteres Bias betrifft die Übernahme von Ideen und des Forschungsstandes, ohne dass die Quellenbelege, auf denen dieses Wissen beruht, noch einmal überprüft werden. Hierzu kam es auch schon bei der Nutzung klassischer Medien, mit der digitalen Verfügbarkeit ist die Zahl der Fälle aber noch einmal deutlich angestiegen.52 Dieses Bias hat in Kombination mit der Wikipedia zu einem „Bias ungeprüfter pseudoanonymer Rezeption“ geführt. Dieser Fehler ist vielleicht am ehesten zu beschreiben als ungeprüfte Übernahme eines Zitats samt vermeintlich vollständiger Belegangabe aus der Wikipedia, jedoch ohne die Erwähnung, dass die Informationen letztlich von dort stammen.53 Im Wikipedia-Artikel zu „Hans Vaihinger“ stand von dessen Anlage am 18. August 2005 bis zum 9. September 2017 ein längeres Zitat mitsamt genauen Bele- gen.54 Da es aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt ist, kann es im genannten Werk auf S. 14 nicht stehen. Dies allein wäre nur ein fehlerhafter Beleg innerhalb der Wikipedia. Nun hat es das Zitat aber in dieser komponierten Form mit der falschen Herkunftsangabe in einige gedruckte wissenschaftliche Werke geschafft, teilweise psycho- 51 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Gustav_Biedermann_G%C3%BCnther [11. 9. 2017]. 52 Als Beispiel sei eine von Publikation zu Publikation übernommene falsche bibliografische Angabe genannt („Eos. Transactions of the AGU 74 [1993], S. 106“), aufgrund derer die angenommene Jahreszahl 1453 für den Ausbruch des Vulkans Kuwae hundertfach ungeprüft abgeschrieben wurde. In diesem Fall „ist festzuhalten, dass viele Jahre alle geowissenschaftlichen, paläovulkanologischen und klimatologischen Untersuchungen auf Pangs Abstract als unhinterfragten Lieferanten ‚historischer Fakten‘ Bezug genommen haben – erkennbar ohne den kurzen Text je gelesen zu haben.“ Vgl. Martin Bauch, Vulkanisches Zwielicht. Ein Vorschlag zur Datierung des Kuwae-Ausbruchs auf 1464, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 10. April 2015, http://mittelalter.hypotheses.org/5697 [11. 9. 2017], S. 4 Anm. 18. 53 Tessa Gengnagel, The Quote That Never Was, in: parergon vom 7. September 2017, https:// parergon.hypotheses.org/256 [11. 9. 2017]. 54 Vgl.https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Hans_Vaihinger&oldid=159974596[11. 9.2017]: „‚Das menschliche Vorstellungsgebilde der Welt ist ein ungeheures Gewebe von Fiktionen voll logischer Widersprüche, d. h. von wissenschaftlichen Erdichtungen zu praktischen Zwecken bzw. von inadäquaten, subjektiven, bildlichen Vorstellungsweisen, deren Zusammentreffen mit der Wirklichkeit von vornherein ausgeschlossen ist.‘ – Hans Vaihinger: Philosophie des Als Ob, 1911, S. 14.“ 44515 JAHRE WIKIPEDIA UND GESCHICHTSWISSENSCHAF T therapeutische und teilweise geschichtswissenschaftliche.55 Die Texte sehen allesamt so aus, als hätten die Autoren sauber recherchiert. Letztlich sind aber nur falsche Angaben ungeprüft aus der Wikipedia übernommen worden, auf die an keiner Stelle verwiesen wird.56 Nichts beschreibt dies besser als der eingangs zitierte Kommentar des Beck Verlags: „Jeder benutzt sie, keiner zitiert sie.“ Eine Angabe, dass das Zitat aus der Wikipedia stammt, hätte das Bias verhindert. Ist Wikipedia zitierfähig? Die Universitätsbibliothek Heidelberg stellte vor einiger Zeit fest: „Es lässt sich nicht pauschal sagen, ob ein Wikipedia-Artikel für eine wissenschaftliche Arbeit geeignet ist oder nicht. Es kommt immer auf den Einzelfall an, der im Detail überprüft werden muss.“57 Beispiele für solche Einzelfälle zeigt der folgende Abschnitt im Detail. Bei früheren Enzyklopädien wie dem Brockhaus waren bei den Einzelartikeln keine Autoren angegeben, nur am Ende stand eine lange Liste der beteiligten Verfasser, ohne dass deren Zuordnung möglich gewesen wäre. Das führte dazu, dass die BrockhausArtikel nicht zitiert werden konnten. Demgegenüber sind bei Wikipedia alle Autoren bekannt, wenn auch nicht sofort ersichtlich. Zudem sehen die den WikipediaArtikeln zugrunde liegenden Lizenzmodelle der „Creative Commons“ vor, dass neben der verwendeten Lizenz auch die Autoren genannt werden müssen.58 Die Auslegung, wann eine aus der Wikipedia stammende Information zitiert werden muss, differiert aus mehreren Gründen. Es heißt, nur Informationen, die nicht dem Common Sense entsprächen, müssten zitiert werden, aber solche würden in Enzyklopädien gar nicht genannt, da diese ausschließlich einen allgemein akzeptierten Forschungsstand abbilden sollen. Zwar wurde aufgrund der dynamischen Versionen die Zitier- 55 Niall Bond, Carl Menger entre épistomologie et idéologie, in: Gilles Campagnolo (Hrsg.), Existe-t-il une doctrine Menger?: Aux origines de la pensée économique autrichienne, Aixen-Provence 2011/2013, S. 113, Anm. 17; Klaus Hentschel, Zur Rezeption von Vaihingers Philosophie des Als Ob in der Physik, in Matthias Neuber (Hrsg.), Fiktion und Fiktionalismus. Beiträge zu Hans Vaihingers „Philosophie des Als-Ob“, Würzburg 2014, S. 161–186, S. 161; Beatrice Kobow, Was ist als-ob? Die Rolle des Fiktiven in der Geschichte, in: Christian Schmidt (Hrsg.), Können wir der Geschichte entkommen?: Geschichtsphilosophie am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2013, S. 133–149, hier S. 136. 56 Über die IP und verschiedene mittlerweile gelöschte Informationen in den Versionsgeschichten der Wikipedia ließ sich der damalige Autor nach mehr als zwölf Jahren noch verifizieren, dessen natürliches Recht auf Anonymität bleibt hier aber unangetastet. 57 [o. A.], Zitieren von Wikipedia, http://www.ub.uni-heidelberg.de/schulung/fits/FITBIO/zitieren _von_wikipedia.html [14. 5. 2017]. 58 Vgl. https://creativecommons.org/ [14. 9. 2017]. 446 THOMA S WOZNIAK möglichkeit von Wikipedia-Artikeln im Jahr 2011 grundsätzlich angezweifelt,59 aber so einfach ist das nicht.60 Bereits im Jahr 2009 hatte sich der Community-Manager des Verlages C.H. Beck, Ass. iur. Ralf Zosel, für eine sehr konkrete Zitierempfehlung ausgesprochen, die nach folgendem Muster unter Verwendung des Permalinks vorgenommen werden solle: „Wikipedia, Stichwort ‚Gerhard Käfer‘, Version vom 17.04.07, 13:16 Uhr, abrufbar unter http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Gerhard_Käfer&oldid=30628348.“61 Der Jurist Prof. Dr. Roland Schimmel (Frankfurt am Main) befand zuletzt: „Die Rechtsprechung mag das Lexikon offenbar. Aktuell finden sich in der Datenbank ,juris‘ rund 3000 Urteilsfundstellen mit entsprechenden Bezugnahmen auf das Online- Lexikon.“62 Eine namentliche Erwähnung des Autors ist hier nicht vorgesehen. Wie problematisch eine solche Autorenfeststellung allerdings sein kann, sei anhand eines Beispielartikels verdeutlicht. Betrachtet man den Artikel „Wirtschaftsgeschichte der Republik Venedig“, so sind daran zwar rechnerisch 130 Autoren beteiligt, aber es gibt einen Hauptautor, der 95,2 Prozent des Textes geschrieben hat und der vor allem die Richtigkeit des Artikels als Autor mit seinem Klarnamen verantwortet. In diesem Fall ist eine namentliche Zitierweise technisch möglich und juristisch sogar notwendig. Ein anderes Extrem bildet der Artikel „Deutschland“, der von mehr als 3657 Personen verändert worden ist. Eine Zuordnung oder Möglichkeit eines sinnvollen Zitats erübrigt sich, denn keiner hat mehr als 13 Prozent zum Text beigetragen. Es gibt mittlerweile zahlreiche Beispiele für Fälle, in denen Anwälte mit Unterlassungsandrohungen gegen einzelne Wikipedia-Autoren wegen der von ihnen eingefügten Informationen vorgegangen sind. Wenn die Verfasser aber Pflichten an ihren Textteilen haben, müssen ihnen daran auch Rechte zustehen. Neben der von den Juristen empfohlenen Zitierweise lassen sich entsprechend den Lizenzvorgaben auch die Autoren nennen, sofern diese einen merklichen Anteil am Text geschrieben haben. 59 Maren Lorenz, Der Trend zum Wikipedia-Beleg. Warum Wikipedia wissenschaftlich nicht zitierfähig ist, in: Forschung und Lehre 18 (2011) 2, S. 120–122; dies., Wikipedia als Wissensspeicher der Menschheit – genial, gefährlich oder banal?, in: Erik Meyer (Hrsg.), Erinnerungskultur 2.0: Kommemorative Kommunikation in digitalen Medien, Frankfurt a. M. 2009, S. 207–236. 60 Ein dauerhafter Weblink auf eine feste Artikelversion wird durch die Verwendung des Wikipedia-Werkzeugs „Permanenter Link“ in der klassischen Desktop-Ansicht als Menüpunkt am linken Seitenrand der Artikel erstellt. Die Einschränkung, dass Administratoren auch permanente Versionen löschen können, ändert nichts daran, denn die festen Versionen wären sonst bei der Linkerstellung nicht sichtbar. 61 Ralf Zosel, Im Namen des Volkes: Gerichte zitieren Wikipedia, in: JurPC: Internet-Zeitschrift für Rechtsinformatik 140 (2009), S. 1–73, hier 72 f. 62 Roland Schimmel, Die Affäre für jedermann, in: Legal Tribune Online vom 6. 3. 2017, http:// www.lto.de/recht/hintergruende/h/wikipedia-online-lexikon-geaechtet-verpoent-affaere-fuer-jedermann-tagung/ [21. 5. 2017]. 44715 JAHRE WIKIPEDIA UND GESCHICHTSWISSENSCHAF T Wie viel Textanteil macht einen Schreiber oder eine Schreiberin zum/r Hauptautor/ in eines Artikels? Eine Analyse aller deutschsprachigen Wikipedia-Artikel hat ergeben, dass ein Durchschnittsartikel von knapp 27 Autoren verfasst wurde. „Der Autor mit dem größten Textanteil hat im Durchschnitt fast 70 Prozent beigetragen, wohingegen der Zweitautor nur 13 Prozent beigetragen hat.“63 Deshalb ist vorgeschlagen worden, aufgrund der Kombination dieser beiden Durchschnittswerte den Anteil der Hauptautoren festzulegen. Drei Bedingungen müssten jedoch erfüllt sein, damit ein Artikel neben der Angabe des Permalinks auch mit Autorenname zitiert werden kann: 1) der/die Klarname(n) des/der Hauptautor(en) ist/sind bekannt, 2) der Anteil der Hauptautor(en) am Text liegt bei mehr als 83 Prozent, 3) zum Zeitpunkt einer festen Version verantwortet der/die Hauptautor/in den Inhalt. Da die Wikipedia-Artikel eine schöpferische Schreibleistung darstellen, führt dies in der Konsequenz zu einer Zitierpflicht, die durch die Lizenz vorgegeben wird.64 Für den oben erwähnten Artikel würde sich also folgendes Zitierschema anbieten: Hübner, Hans-Jürgen u. a.: Art. Wirtschaftsgeschichte der Republik Venedig, in: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 6. Mai 2014, 06:21 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index. php?title=Wirt schaftsgeschichte_der_Republik_Venedig&oldid=130140526 (8. Mai 2014, 14:09 UTC). Eine weitere Möglichkeit ist in dem unten näher beschriebenen Projekt der Bamberger Islam-Enzyklopädie (BIE) vorgeschlagen worden.65 Als Bedingungen nennt deren Initiator, Prof. Dr. Patrick Franke, den Artikel mit Autorennamen zu zitieren, wenn der „Textanteil an dem Artikel bei mindestens zwei Dritteln liegt und [...] die Richtigkeit des übrigen Textes überprüft“66 wurde. Da die Arbeit an den Artikeln die Textanteile schnell verschieben kann, empfiehlt Franke weiter: „Wenn Ihr eigener Textanteil unter 50 Prozent sinkt oder Sie die Richtigkeit der Informationen nicht mehr gewährleisten können, sollten Sie den Artikel aus der [Liste des] BIE entfernen lassen.“ Das Schema der von ihm empfohlenen Zitierweise sieht folgendermaßen aus: „Patrick Franke u.a.: Art. ‚Da’wa‘, in: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie, URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title =Da%CA%BFwa&oldid=126776898 (Teil der Bamberger Islam-Enzyklopädie)“. Ergänzt wurde gegenüber den obigen Zitiervorschlägen noch ein Projektname. Genau dieser Zusatz könnte die Zitierweise für künftige Online-Fachlexika auf Basis der Wikipedia interessant machen. Insgesamt liegt das Spektrum des Textanteils des Hauptautors? also zwischen zwei Dritteln und 83 Prozent, immer bezogen auf einen sogenannten permanenten Link. 63 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer:APPER/WikiHistory/Autorenbestimmung [11. 5. 2014]. 64 Vgl. Thomas Wozniak, Zitierpflicht für Wikipediaartikel – und wenn ja, für welche und wie?, in: mittelalter.hypotheses vom 17. Mai 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/3721 [18. 5. 2014]. 65 Vgl. https://www.uni-bamberg.de/islamwissenschaft/bie/zitierhinweis/ [23. 2. 2017]. 66 Ebenda. 448 THOMA S WOZNIAK Neben den drei genannten Möglichkeiten gibt es weitere Empfehlungen, etwa von Marc Scheloske 2008,67 Dörte Böhner 2009,68 Thomas Hapke (TU Hamburg) 2011,69 Torben Blatter 2013,70 Jürgen Plate (HS München) 201671 oder Christoph M. Berger 2017.72 Um es zusammenzufassen: „Es ist besser, Medienkompetenz zu schulen, als Verbote auszusprechen, an die sich dann doch niemand hält!“73 Dabei sollte man die Studenten sogar ermutigen, bei Wikipedia zu recherchieren – wenn sie bestimmte Standards beachten.74 Für eine erfolgreiche Vermittlung solcher Standards lohnt sich ein Blick auf ein paar funktionierende Beispiele. Denn neben solchen institutionellen Ergänzungen gibt es auch professionelle Historiker, die ihr Wissen regelmäßig auf Wikipedia teilen. Beispiele erfolgreicher wissenschaftlicher Projekte in der Wikipedia Die folgenden drei Projekte sollen ausschnitthaft zeigen, dass seit einiger Zeit akademisch ausgebildete Wissenschaftler punktuell, aber systematisch innerhalb der Wikipedia für eine Qualitätssteigerung sorgen, von der die Wikipedia wie die Fachwissenschaft profitieren. Für die Erfahrungen dieser Projekte gilt die einfache Feststellung: „Wissen- 67 Marc Scheloske, Wikipedia: Und wir zitieren doch. Wissenschaftsblogs: Sendung mit der Maus für Große, Werkstatt-Ticker 45 vom 8. Juli 2008, https://www.wissenswerkstatt.net/2008/07/08/ wikipedia-und-wir-zitieren-doch-wissenschaftsblogs-sendung-mit-der-maus-fuer-grossewerkstatt-ticker-45/ [14. 9. 2017]. 68 Dörte Böhner, Wie zitiert man Wikipedia korrekt? vom 17. September 2009, http://blog.biblio thekarisch.de/blog/2009/09/17/wie-zitiert-man-wikipedia-korrekt/ [14. 9. 2017]. 69 Thomas Hapke, Zitieren von Wikipedia-Einträgen!?, vom 16. Februar 2011, https://www.tub. tuhh.de/blog/2011/02/16/zitieren-von-wikipedia-eintragen/ [14. 9. 2017]. 70 Torben Blatter, Wikipedia richtig zitieren – So geht’s, vom 29. Juni 2013, http://praxistipps. chip.de/wikipedia-richtig-zitieren-so-gehts_3527 [14. 9. 2017]. 71 Jürgen Plate, Zitieren in der Bachelor- oder Masterarbeit, vom 5. Februar 2016, http://www. netzmafia.de/skripten/LaTeX/zitieren.html [14. 9. 2017]. 72 Christoph M. Berger, Darf man in wissenschaftlichen Arbeiten Wikipedia zitieren?, vom 4. 3. 2017, https://business-and-science.de/aktuelles/darf-man-in-wissenschaftlichen-arbeitenwikipedia-zitieren/ [14. 9. 2017]: Berger betont, dass „die Aktualität von Wikipedia auch zum Problem [wird]. Diese führt dazu, dass die Inhalte [...] immer wieder überarbeitet werden. Auch wenn Wikipedia eine öffentliche Quelle darstellt, die dauerhaft zur Verfügung steht, ändern sich die Inhalte ständig und zwar mit einer Regelmäßigkeit, die oft noch höher ausfällt als bei vielen anderen Quellen aus dem Internet. Somit lassen sich die Zitate auf der Webseite von Wikipedia später nicht immer lückenlos nachvollziehen.“ 73 Interview mit Prof. Dr. Patrick Franke (Bamberg) im Film von Lars Tepel: Wikipedia wird 15 – doch auf die Uni darf es noch nicht … vom 15. Januar 2015, http://www1.wdr.de/fernsehen/ quarks/wikipedia-108.html [14. 9. 2017]. 74 Ebenda. 44915 JAHRE WIKIPEDIA UND GESCHICHTSWISSENSCHAF T schaft mit Wikipedia: warum eigentlich nicht?“75 Die drei Beispiele wurden gewählt, um zu zeigen, wie solche im Moment noch als Insellösungen wirkenden Einzelprojekte durch systematischen Ausbau in Zukunft die Qualität größerer Bereiche der Wikipedia verbessern könnten. Zentral erscheint, dass die Qualität der Artikel dauerhaft von einem Nutzer oder einer Projektgruppe betreut wird. Erst so kann der Vorteil der ständigen Aktualisierbarkeit der Wikipedia voll zum Tragen kommen und der Nachteil der schnell veraltenden Literaturangaben ausgeglichen werden. Herrscherartikel Konnte zu Beginn des Jahres 2011 noch festgestellt werden, dass viele Wikipedia-Artikel zu römischen und deutschen Herrscherbiografien überwiegend auf gemeinfreien Artikeln älterer Lexika basieren,76 so ist die beschriebene Situation in den letzten Jahren systematisch verändert worden. Durch die kontinuierliche und systematische Schreibarbeit eines Einzelautors77 wurden mehr als 20 Artikel zu mittelalterlichen Herrschern systematisch zu qualitativ hochwertigen und von der Community ausgezeichneten Texten ausgebaut. Deren hohes Niveau, das oft nicht nur den letzten Forschungsstand bietet, sondern z.T. sogar darüber hinausweist, wird von ihm seither kontinuierlich gepflegt. Bisher liegen die Artikel zu sämtlichen liudolfingischen, salischen und staufischen Herrschern zwischen KonradI. und FriedrichI. Barbarossa vor, aber auch zu Vertretern der vorhergehenden und nachfolgenden Herrscherhäuser.78 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung scheint es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis zu allen mittelalterlichen Herrschern ausgezeichnete Artikel auf dem aktuellen Forschungsstand vorliegen werden. Daneben widmet sich der gleiche Autor ausgewählten antiken Personen und Ereig- nissen79 sowie modernen Historikern.80 Sein Textanteil liegt beispielsweise beim Artikel zu „Hagen Keller“ bei 97,7 Prozent. Dies ist eine außergewöhnliche und höchst erfolg- 75 Roland Schimmel, Wissenschaft mit Wikipedia: warum eigentlich nicht?, in: Jens Dammann/ Wolfgang Grunsky/Thomas Pfeiffer Gedächtnisschrift für Manfred Wolf, München 2011, S. 725–739. 76 Lorenz, Der Trend zum Wikipedia-Beleg, S. 120–122. 77 Es ist bekannt, dass es sich bei Benutzer Armin P.um einen ausgebildeten Historiker handelt, der Artikel auf sehr hohem Niveau zur Wikipedia beisteuern kann. 78 Die Liste der Artikel enthält: Karl Martell, Ludwig der Deutsche, Konrad I., Heinrich I., Otto I., Otto II., Otto III., Heinrich II., Konrad II., Heinrich III., Konrad III., Heinrich IV., Heinrich V., Friedrich I., Philipp von Schwaben, Otto IV., Friedrich II., Rudolf I., Friedrich III., Ludwig IV. der Bayer, Heinrich der Löwe und Arnolf von Kärnten. 79 Die Liste der Artikel enthält: Varusschlacht, Tiberius, Arminius, Claudius, Sulla, Trajan, Titus und Plutarch. 80 Die Liste der Artikel enthält: Gerd Althoff, Hermann Aubin, Johannes Haller, Karl Hampe, Herbert Grundmann, Horst Fuhrmann, Hermann Heimpel, Hagen Keller, Erich Meuthen, Wilhelm Levison, Eugen Ewig, Gerd Tellenbach und Percy Ernst Schramm. 450 THOMA S WOZNIAK reiche systematische Qualitätsoffensive innerhalb der Wikipedia. Es bleibt zu hoffen, dass der systematische Ausbau, der bisher die männlichen Herrscher betrifft, sich künftig auch auf weibliche erstreckt. Sonst könnte langfristig die Gefahr entstehen, allein aufgrund der besseren quantitativen und qualitativen Zugänglichkeit die überholten Vorstellungen einer Geschichte großer Männer wiedererstehen zu lassen. Gerade zu den Königinnen des Früh- und Hochmittelalters sind in den letzten Jahren zahlreiche Studien vorgelegt worden,81 die die ehemals asymmetrische Forschungslage auf einen ausgeglichenen Stand gebracht haben. Das sollte sich auch in der Wikipedia widerspiegeln. Artikel zu 1848 Das nächste Beispiel zeigt zwei ereignisbezogene Projekte: zum einen die betreuten 48 Artikel im Themengebiet der Revolution von 1848 (begrenzt auf die Zeit vom Ausbruch der Revolution im März 1848 bis zur Wiederherstellung des Deutschen Bundes 1850/185182 ) und zum anderen die 67 Artikel zur deutschen Einigung im 19. Jahrhundert, wobei die Zahl auf die Gründung des Norddeutschen Bundes am 1. Juli 1867 ver- weist.83 Bei 24 Artikeln zu „Wikipedia 48“, die zum überwiegenden Teil von Ziko van Dijk verfasst wurden, beträgt dessen Anteil am Text mehr als 98 Prozent.84 Artikel, die 81 Claudia Zey (Hrsg.), Mächtige Frauen?: Königinnen und Fürstinnen im europäischen Mittelalter (11.–14. Jahrhundert), Ostfildern 2015; Amalie Fößel (Hrsg.), Die Kaiserinnen des Mittelalters, Regensburg 2011; Martina Hartmann, Die Königin im frühen Mittelalter, Stuttgart 2009; Amalie Fößel, Die Königin im mittelalterlichen Reich. Herrschaftsausübung, Herrschaftsrechte, Handlungsspielräume, Stuttgart 2000. 82 Vgl. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Benutzer:Ziko/Wikipedia_48&oldid=16749 1013 [6. 8. 2017]. Der konzeptionelle Ansatz des Projektes wurde auch auf dem 50. Deutschen Historikertag in Göttingen vorgestellt, vgl. Ziko van Dijk, Die Wikipedia, das ideale Hilfsmittel für den Einstieg in ein historisches Thema?, in: Wozniak/Nemitz/Rohwedder (Hrsg.), Wikipedia und Geschichtswissenschaft, S. 1–14, hier S. 12. 83 Vgl. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Benutzer:Ziko/Wikipedia_67&oldid=16750 8659 [6. 8 2017]. Vgl. Felix Stadler, Gedanken zum Norddeutschen Bund im Jubiläumsjahr. Interview mit Ziko van Dijk über Sichtweisen auf die neuere deutsche Geschichte, in: L.I.S.A. Das Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung vom 18. April 2017, https://lisa.gerda- henkel-stiftung.de/gedanken_zum_norddeutschen_bund_im_jubilaeumsjahr?nav_id=6862 [6. 8. 2017]. 84 Dies betrifft z. B.: Bevollmächtigte der Landesregierungen, Bibliothek der deutschen Reichsversammlung, Bundeswahlgesetz 1848, Bundeszentralkommission, Dresdner Konferenzen 1850/1851, Erfurter Reichswahlgesetz 1849, Frankfurter Reichswahlgesetz 1849, Herbstkrise 1850, Kabinett Leiningen, Liste der Reichsgesandten und ausländischen Gesandten 1848/1849, Liste der Reichsminister 1848/1849, Mediatisierungsfrage 1848/1849, Politische Parteien in Deutschland 1848–1850, Reichsbürgerrecht 1848–1850, Reichsdiplomatie 1848/1849, Reichsgesetzgebung 1848/1849, Reichsoberhaupt 1848–1850, Reichsregentschaft 1849, Rezeption der Frankfurter Reichsverfassung, Siebzehner-Entwurf, Unterstaatssekretär 1848/1849, Vierkönigsbündnis, Wahlen zum Erfurter Unionsparlament. 45115 JAHRE WIKIPEDIA UND GESCHICHTSWISSENSCHAF T zwar größere Überarbeitungen erfahren haben, aber auch von vielen anderen Autoren mitverfasst wurden, sind: „Frankfurter Nationalversammlung“, „Reichsflotte“ und der Überblicksartikel „Deutsche Revolution 1848/1849“. Bei dem letztgenannten Beitrag bereitete das kollaborative Prinzip, dem sich die Wikipedia seit jeher verpflichtet sieht, Schwierigkeiten. Denn da es für „Deutsche Revolution 1848/1849“ bereits einen von der Wikipedia-Community mit einem exzellenten Prädikat ausgezeichneten Artikel gab, wurden die Textänderungen im Rahmen des Projektes vollständig rückgängig gemacht. Da weder ein Edit-War noch ein „Häuserkampf um jeden Absatz“ je Optionen waren, führte dies letztlich dazu, dass nun zwei parallele Artikelversionen zum gleichen Thema existieren, eine im Artikel- und eine im Benutzer- namensraum.85 Solche Entwicklungen sind dann strukturell basiert, wenn die oft hart erarbeiteten Auszeichnungen von Artikeln als Besitzstände wie Erbhöfe86 eines Autors angesehen werden und dieser bei späteren Änderungsversuchen eine Blockadehaltung einnimmt. Die Problematik ist innerhalb der Community umstritten und wird die Erarbeitung langfristiger Lösungsstrategien benötigen. Für das Projekt „Wikipedia 48“ lässt sich aber zusammenfassen, dass zu den drei Artikeln, die schon vor dem Projektbeginn existierten, nun 45 hinzukamen und es nur in einem Fall ein echtes Problem gab. Bamberger Islam-Enzyklopädie Als drittes Beispiel für ein von einem Autor organisiertes Betreuungsprojekt von Artikeln sei die bereits erwähnte Bamberger Islam-Enzyklopädie (BIE) genannt. Sie umfasst 240Wikipedia-Artikel(StandMärz2017).87 Eshandeltsichdabeium„einewissenschaftliche Initiative von Prof. Dr. Patrick Franke zur nachhaltigen Verbesserung der Informationen der deutschsprachigen Wikipedia zum Themenbereich Islam. Ziel der Initiative ist es, ein neues umfassendes islambezogenes Nachschlagewerk in deutscher Sprache aufzubauen, das einerseits die Qualitätskriterien einer Fachenzyklopädie erfüllt, andererseits aber in die populäre Online-Enzyklopädie Wikipedia integriert ist und die einzigartigen technischen Möglichkeiten dieses Mediums nutzt.“88 Da die Zahl der betreuten Artikel in diesem Fall größer ist als bei den beiden vorhergenannten, wird mit den Einzelbeiträgen nicht das Ziel verfolgt, ein möglichst hohes Artikelniveau mit system- 85 Vgl. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Benutzer:Ziko/Revolution_1848/1849_in_ Deutschland&oldid =160709664 [21. 7. 2017]. 86 Peter Hoeres, Hierarchien in der Schwarmintelligenz. Geschichtsvermittlung auf Wikipedia, in: Wozniak/Nemitz/Rohwedder (Hrsg.), Wikipedia und Geschichtswissenschaft, S. 15–33, hier S. 22 f. 87 Patrick Franke, Bamberger Islam-Enzyklopädie, https://www.uni-bamberg.de/islamwissen schaft/bie/ [23. 2. 2017]. 88 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer:PaFra/Mission_Statement [23. 2. 2017]. 452 THOMA S WOZNIAK interner Auszeichnung zu erreichen, sondern die grundlegenden Informationen zuverlässig abzubilden und die Wikipediaartikel wissenschaftlich zitierfähig zu machen. InallendreiFällenkümmernsichalsoEinzelautorenfürdieErarbeitungderInhalte, während die „Schwarmintelligenz“ für eine formale Qualitätssicherung sorgt. Gerade im technischen Bereich der Präsentation ist in den letzten Jahren viel Neues entwickelt worden, denn die Responsivität, also die Anpassung des Inhalts an die verschiedenen Ausgabegrößen der zur Verfügung stehenden Displays, wird zunehmend notwendiger. Vom Medienwechsel zum Medienwandel Das Internet bietet viele neue Möglichkeiten, Abbildungen so aufzubereiten, dass deren Präsentation über die papierbasierte Darbietung hinausgeht und die computerimmanenten Mittel nutzt. Dieser Entwicklung ist auch die Wikipedia gefolgt und hat in den letzten Jahren durch die Einführung neuer Techniken einen echten Übergang erreicht: Es kam nicht nur zu einem Medienwechsel, sondern zu einem echten Medienwandel. Dieser Wandel betrifft sämtliche Funktionalitäten, die auf digitalen Möglichkeiten beruhen und die mit analogen Medien nicht erreicht werden konnten. So war das Layout, einmal festgelegt, auf gedruckten Werken unveränderlich. Inhalt und Form bildeten untrennbar eine Einheit. Mit der schrittweisen Umstellung auf ein responsives Design, in dem der Inhalt sich selbstständig an die unterschiedlichsten Ausgabemög- lichkeiten89 anpasst, verliert die Form ihre Funktion als strukturierender Faktor. Ein weiteres Beispiel für den oftmals unbemerkten Medienwandel: Bisher konnten die in Wikimedia Commons gesammelten Fotos in ihrer Qualität – nicht zuletzt aufgrund der sich weiterentwickelnden digitalen Fototechnik – immer mehr verbessert werden. Seit 19. September 2016 ist es aber möglich, die Zweidimensionalität, die bereits bei Papierfotos und Fernsehschirmen erreicht werden konnte, zu überwinden. Mit der Einführung der Darstellung von 360-Grad-Kugelpanoramen,90 die technisch einen deutlich höheren Anspruch an die Aufnahme stellen, wird ein dreidimensionaler Raumeindruck erfahrbar. Da diese Funktionalität bisher mit keinem analogen Medium zu erreichen war, kann nicht einfach nur von einem Medienwechsel, sondern von einem tatsächlichen Wandel gesprochen werden.91 89 Als Beispiele des Spektrums seien breite Desktopbildschirme und hohe Displays mobiler Geräte genannt. 90 Mit der von Martin Kraft eingeführten Vorlage „PanoViewer“ ist es möglich, entsprechende 360-Grad-Bilder in einem interaktiven Panoramabetrachter der Wikimediafoundation anzu- sehen. 91 Eine ähnliche Funktionserweiterung, ebenfalls im Bildbereich, die auch die wissenschaftliche Zusammenarbeit weiter vertiefen würde, wäre die Einführung einer ähnlichen Vorlage für die Wiedergabe des gemeinfreien Formates der „Reflectance Transformation Imaging“- 45315 JAHRE WIKIPEDIA UND GESCHICHTSWISSENSCHAF T Zusammenfassender Ausblick Eine Anmerkung zum Abschluss, um die hohe Dynamik der Wikipedia in der Praxis zu verdeutlichen. Die Lektüre des vorliegenden Beitrags dürfte etwa 30 Minuten in Anspruch genommen haben. In dieser Zeit sind in der deutschsprachigen Wikipediaversion etwa 1000 Veränderungen vorgenommen worden, in der englischsprachigen sogar 4000. In der gleichen Zeit sind die deutschsprachigen Artikel mehr als 400000 Mal und die englischsprachigen sogar drei Millionen Mal aufgerufen worden. Die Wikipedia ist eine von außen an die Geschichtswissenschaft herangetragene Herausforderung, die eine fachwissenschaftliche Auseinandersetzung erfordert. Das betrifft die Frage des Umgangs mit den Artikeln, mit deren täglich älter werdenden Literaturangaben, mit systembedingten Bias und dem Wechsel der Medien. Diese Aufgabe ist nicht mehr von Einzelnen zu leisten und bedarf institutionalisierter Strategien. Das folgende Zitat stammt zwar aus einem ganz anderen Fachbereich, könnte aber kaum treffender für die Geschichtswissenschaft sein. Der Botaniker Johnson Giles aus Manchester, der am 22. Januar 2017 für die Erstsemesterstudierenden der Biologie und Genetik ein internes Informationssystem zur Verfügung gestellt hat, schrieb: „Ihr werdet bemerkt haben, dass diese Seite einige Links auf die Wikipedia enthält. Wikipedia wird häufig als unzuverlässig angesehen. Ich denke jedoch, dass sie etwas Wundervolles ist. Sie stellt exakte Informationen für eine enorme Bandbreite an Themen zur Verfügung. Sie ist aber nicht perfekt: So wie in Lehrbüchern finden sich auch dort Fehler. Wenn ihr Fehler findet, solltet ihr sie korrigieren. Ihr solltet euch auch nie auf Informationen verlassen, die nur aus einer einzigen Quelle kommen. Versucht immer für eure Texte alternative Quellen zu finden, um eure Aussagen zu unterstützen. Seid kritisch und geht nicht davon aus, dass etwas wahr ist, nur weil es jemand niedergeschrieben hat – und das betrifft auch meine Texte. Letztendlich werdet ihr lernen, die Originalquellen zu lesen und die Studien verstehen, die uns erlauben, diejenigen Dinge zu schlussfolgern, die wir glauben zu wissen.“92 Bilder. RTI ermöglicht bei der Betrachtung von Abbildungen eine nachträgliche Änderung der Beleuchtungsverhältnisse, was insbesondere für die epigrafische Forschung zu einem enormen Erkenntnisgewinn führen kann. Vgl. dazu Cultural Heritage Imaging, http://cultural heritageimaging.org/Technologies/RTI/ [17. 3. 2017]. 92 Zitiert nach: Gereon-K., Wikipedia an der Uni, online: https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Kurier/Ausgabe_3_2017 [10. 3. 2017]. Der Originaltext lautet: „You will notice that I have included a number of links in this site to pages on Wikipedia. Wikipedia is often said to be unreliable. However, I think it is wonderful. It provides accurate information across an immense range of topics. It is not however perfect. Like textbooks, it does contain errors. If you find errors you should correct them. However, you should never rely on a single source of information. Always try to find alternative sources to back up information you include in essays. Be critical and don’t assume that just because someone wrote something down, including me, it is correct. In the end you will be learning to read the original sources of information and understand the studies that allow us to conclude the things we think we know.“.