Tonka I An einem Zaun. Ein Vogel sang. Die Sonne war dann schon irgendwo hinter den Büschen. Der Vogel schwieg. Es war Abend. Die Bauernmädchen kamen singend über die Felder. Welche Einzelheiten! Ist es Kleinlichkeit, wenn solche Einzelheiten sich an einen Menschen heften? Wie Kletten!? Das war Tonka. Die Unendlichkeit fließt manchmal in Tropfen. Auch das Pferd gehört dazu, der Rotschimmel, den er an eine Weide gebunden hatte. Es war in seinem Militärjahr. Es ist nicht zufällig, daß es in seinem Militärjahr war, denn niemals ist man so entblößt von sich und eigenen Werken wie in dieser Zeit des Lebens, wo eine fremde Gewalt alles von den Knochen reißt. Man ist ungeschützter in dieser Zeit als sonst. Aber war es überhaupt so gewesen? Nein, das hatte er sich erst später zurechtgelegt. Das war schon das Märchen; er konnte es nicht mehr unterscheiden. In Wahrheit hatte sie doch damals bei ihrer Tante gelebt, als er sie kennen lernte. Und Kusine Julie kam manchmal zu Besuch. So "war es. Er wunderte sich ja darüber, daß man sich mit Kusine Julie an einen Tisch setzen und ihr eine Tasse Kaffee zuschieben konnte, denn sie war doch eine Schande. Es war bekannt, daß man Kusine Julie ansprechen und noch am selben Abend auf sein Zimmer nehmen konnte: auch in die Wohnungen der Kupplerinnen ließ sie sich rufen und hatte sonst keinen Erwerb. Aber andrerseits war sie eben eine Verwandte, wenn man auch ihr Treiben nicht billigte; und wenn sie auch leichtsinnig war, konnte man ihr doch nicht gut den Platz am Tisch verweigern, zumal sie selten genug kam. Ein Mann hätte ja vielleicht Lärm geschlagen, denn ein Mann liest die Zeitung oder gehört einem Verein mit bestimmten Zielen an und hat immer die Brust voll mit großen Worten, aber die Tante begnügte sich mit ein paar bissigen Bemerkungen jedesmal, nachdem Julie wieder gegangen war, und solange man mit ihr am Tisch saß, mußte man mit ihr lachen, denn sie war ein witziges Mädchen und kannte bald mehr von der Stadt als eine. Immerhin, wenn man auch mißbilligte, fehlte also die Kluft; man konnte hinüber. 46 Das gleiche bewiesen die Weiber aus der Strafanstalt; das waren auch meist Prostituierte, und sogar die Anstalt mußte bald danach an einen andern Ort verlegt werden, weil mitten in der Haft plötzlich viele schwanger wurden — von den Neubauten her, wo sie Mörtel trugen, während männliche Häftlinge als Maurer arbeiteten. Diese Weiber nun wurden auch zu Hausarbeiten vermietet, sie wuschen zum Beispiel sehr gut und waren von kleinen Leuten wegen ihrer Billigkeit sehr gesucht. Auch Tonkas Großmutter ließ sie an den Waschtagen kommen, man gab ihnen Kaffee und Semmel, und weil man mit ihnen zusammen im Haus gearbeitet hatte, frühstückte man auch gemeinsam mit ihnen und grauste sich nicht. Mittags mußten sie durch einen Begleiter in die Anstalt zurückgebracht werden, so war die Vorschrift, und gewöhnlich wurde Tonka damit beauftragt, als sie noch ein kleines Mädel war, ging plaudernd neben ihnen her und schämte sich gar nicht ihrer Gesellschaft, obwohl sie weiße, weithin kenntliche Kopftücher und graue Gefängniskleidung trugen. Ahnungslos mag man das nennen, ahnungslos ausgeliefert sein eines jungen, armen Lebens an Einflüsse, die es abstumpfen müssen; aber wenn Tonka später, sechzehnjährig und immer noch ohne Schreck, mit Kusine Julie scherzte: kann man sagen, daß es ohne Ahnung von der Schande geschah, oder war hier schon das Feingefühl eines Gemüts für Schande verlorengegangen? Wenn auch ohne Schuld, wie wäre das kennzeichnend! Auch das Haus darf man nicht vergessen. Fünf Fenster hatte es auf die Straße hin - stehen geblieben zwischen schon hoch aufgeschossenen neuen Häusern — und ein Hintergebäude, darin Tonka mit ihrer Tante wohnte, die eigentlich ihre viel ältere Base war, und deren kleinem Sohn, der eigentlich em unehelicher Sohn war, wenn auch aus einem Verhältnis, das sie so ernst genommen hatte wie eine Ehe, und einer Großmutter, die nicht wirklich die Großmutter, sondern deren Schwester war, und früher wohnte noch ein wirklicher Bruder ihrer toten Mutter dort, der aber auch jung starb, das alles in einem Zimmer mit Küche, während vorn die fünf Fenster, vornehm verhängt, nichts weniger verbargen als ein anrüchiges Quartier, wo leichtsinnige Kleinbürgerfrauen, aber auch Gewerbsmäßige mit Männern zusammengebracht wurden. Man ging schweigend im Haus an diesen Vorgängen vorüber, und da man keinen Zank mit der Kupplerin wollte, grüßte man sogar, und die 47 war eine dicke Person, die sehr auf Achtbarkeit zielte und eine Tochter hatte, die so alt wie Tonka war. Diese Tochter schickte sie in eine gute Schule, ließ sie Klavier und Französisch lernen, kaufte ihr schöne Kleider und hielt sie sorgsam fern von den Vorgängen in der Wohnung; sie hatte ein weiches Herz, und das erleichterte ihr den Erwerb, denn sie wußte, daß er schändlich war. Mit dieser Tochter durfte Tonka früher zuweilen spielen und kam dann in die Vorderwohnung, die zu solchen Stunden leer und übergroß war und Tonka lebenslang einen Eindruck von Pracht und Vornehmheit hinterließ, den erst er auf das rechte Maß brachte. Übrigens hieß sie nicht ganz mit Recht Tonka, sondern war deutsch getauft auf den Namen Antonie, während Tonka die Abkürzung der tschechischen Koseform Toninka bildet; man sprach in diesen Gassen ein seltsames Gemisch zweier Sprachen. Aber wohin führen solche Gedanken?! Sie war ja doch an einem Zaun gestanden damals, vor der dunkel offenen Tür eines Häuschens, des ersten im Dorf gegen die Stadt zu, trug Schnürstiefel, rote Strümpfe und bunte, breite, tiefe Röcke, schien, während sie sprach, nach dem Mond zu sehen, der blaß über dem gemähten Korn stand, antwortete schlagfertig scheu, lachte, fühlte sich im Schutz des Mondes, und der Wind blies so sanft über die Stoppeln, als müßte er eine Suppe kühlen. Am Heimritt hatte er noch zu seinem Kameraden, dem Einjährigen Baron Mordansky, lachend gesagt: «Ich würde schon gern mit so einem Mädel etwas haben, aber es ist mir zu gefährlich; als Schutz gegen Sentimentalität müßtest du mir versprechen, Hausfreund zu werden.» Und Mordansky, der bereits Volontär in der Zuckerfabrik seines Onkels gewesen war, hatte darauf von der Rübenernte erzählt, wo Hunderte solcher Bauernmädchen auf den Fabriksfeldern arbeiten und sich den Gutsinspektoren und deren Gehilfen in allem so willig unterwerfen sollen wie Negersklaven. Und er hatte ganz bestimmt einmal ein solches Gespräch mit Mordansky abgebrochen, weil es ihn verletzte, aber das war doch nicht damals gewesen, denn das, was eben wie Erinnerung erscheinen wollte, war schon wieder das später gewachsene Dornengerank in seinem Kopf. In Wahrheit hatte er sie zum erstenmal am «Ring» gesehen, jener Hauptstraße mit den steinernen Lauben, wo die Offiziere und die Herren von der Regierung an den Ecken stehen, die Studenten und jungen Kaufleute auf und ab wandeln, die Mädel nach Geschäftsschluß oder die neugieri- 48 geren auch schon in der Mittagspause Arm in Arm zu zweien und dreien durchziehen, manchmal einer der Rechtsanwälte langsam und grüßend sich hindurchschieben läßt, ein Stadtverordneter oder auch ein angesehener Fabrikant, und sogar Damen nicht fehlen, die ihr Heimweg von den Einkäufen just vorbeiführt. Dort hatte ihn plötzlich ihr Blick in die Augen getroffen, ein lustiger Blick, nur ein Sekündchen lang und wie ein Ball, der aus Versehen einem Vorübergehenden ins Gesicht flog, im Nu von einem Wegschauen gefolgt und einem geheuchelt arglosen Ausdruck. Er hatte sich rasch umgedreht, denn er dachte, nun würde das Kichern folgen, aber Tonka ging mit geradem Kopf, fast erschrocken; sie ging mit zwei andern Mädchen, war größer als sie, und ihr Gesicht hatte, ohne schön zu sein, etwas Deutliches und Bestimmtes. Nichts darin hatte jenes Kleine, listig Weibliche, das nur durch die Anordnung wirkt; Mund, Nase, Augen standen deutlich für sich, vertrugen es auch, für sich betrachtet zu werden, ohne durch anderes zu entzücken als ihren Freimut und die über das Ganze gegossene Frische. Es 'war seltsam, daß ein so heiterer Blick saß wie ein Pfeil mit einem Widerhaken, und sie schien sich selbst daran wehgetan zu haben. Das war nun klar. Sie war also damals in dem Tuchgeschäft, und es war ein großes Geschäft, das viele Mädchen für seine Lager angestellt hatte. Sie mußte die Stoffballen beaufsichtigen und die richtigen finden, wenn ein Muster verlangt wurde, und ihre Hände waren stets etwas feucht, weil sie von den feinen Haaren der Tuche gereizt wurden. Das hatte nichts von Traum: offen war ihr Gesicht. Aber dann waren da die Söhne des Tuchherrn, und der eine trug einen Schnurrbart wie ein Eichhörnchen, der an den Enden aufgekräuselt war, und stets Lackschuhe; Tonka wußte zu erzählen, wie vornehm er sei, wieviel Schuhe er hatte und daß seine Hosen jeden Abend zwischen zwei Bretter mit schweren Steinen gelegt wurden, damit die Falten scharf blieben. Und jetzt, weil man klar durch den Nebel etwas Wirkliches sah, tauchte das Lächeln auf, das ungläubige, zuschauende Lächeln seiner eigenen Mutter, voll Mitleid und Geringschätzung für ihn. Dieses Lächeln war wirklich. Es sagte: Gott, jeder Mensch weiß, dieses Geschäft . . . ?! Aber obgleich Tonka noch Jungfrau gewesen war, als er sie kennen lernte, war dieses Lächeln, heimtückisch versteckt oder verkleidet, auch in vielen quälenden Träumen aufgetaucht. Vielleicht hatte es sich nie als ein einzelnes Lächeln ereignet; 49 das war selbst jetzt nicht sicher. Und dann gibt es auch Brautnächte, wo man nicht ganz sicher sein kann, sozusagen physiologische Zweideutigkeiten, wo selbst die Natur nicht ganz klar Aufschluß gibt, und im gleichen Augenblick, wo das wieder vor der Erinnerung stand, wußte er: auch der Himmel war gegen Tonka. II Es war leichtsinnig von ihm gewesen, Tonka als Pflegerin und Gesellschaft zu seiner Großmutter zu bringen. Er war noch sehr jung und hatte eine kleine List eingefädelt; die Schwägerin seiner Mutter kannte Tonkas Tante, die in «gute Häuser» weißnähen kam, und er hatte gestiftet, daß man sie frag, ob sie nicht ein junges Mädchen wüßte, und so. Das junge Mädchen sollte bei der Großmutter bleiben, deren Erlösung man in zwei bis drei Jahren erwartete, und außer dem Lohn dann im Vermächtnis bedacht werden. Aber inzwischen waren nun einige kleine Erlebnisse einander gefolgt. Zum Beispiel, er ging einmal mit ihr, etwas zu besorgen; auf der Straße spielten Kinder, und sie sahen beide plötzlich einem heulenden kleinen Mädchen in ein Gesicht, das sich wie ein Wurm nach allen Seiten krümmte und prall von der Sonne beschienen war. Ihm erschien da die unbarmherzige Deutlichkeit, mit der das im Licht stand, als ein ähnliches Beispiel des Lebens wie der Tod, aus dessen Umkreis sie kamen. Tonka aber «hatte» nur «Kinder gern»; sie beugte sich scherzend und tröstend zu der Kleinen, fand den Anblick vielleicht drollig, und das war das letzte, so sehr er sich auch bemühte, ihr zu zeigen, daß dieser Anblick dahinter noch etwas anderes war. Von wie vielen Seiten er auch kam, er stand zuletzt immer vor der gleichen Undurchsichtigkeit in ihrem Geiste; Tonka war nicht dumm, aber etwas schien sie zu hindern, klug zu sein, und zum erstenmal empfand er dieses weit ausgedehnte Mitleid mit ihr, das so schwer zu begründen war. Ein andermal fragte er sie: «Wie lange sind Sie nun eigentlich schon bei Großmama, Fräulein?» Und als sie geantwortet hatte, sagte er: «So? Eine lange Zeit, wenn man sie neben einer Greisin zubringen muß.» «Oh!» machte Tonka. «Ich bin gern da.» «Nun, mir können Sie ruhig das Gegenteil sagen. Ich kann mir 50 nicht vorstellen, wie sich ein junges Mädchen dabei wohlfühlen soll.» «Man tut seine Arbeit», antwortete Tonka und wurde rot. «Tut seine Arbeit, schön, aber man will doch auch anderes vom Leben?» «Ja.» «Und haben Sie das denn?» «Nein.» «Ja - nein, ja - nein» - er wurde ungeduldig - «was soll das heißen? Schimpfen Sie wenigstens auf uns!» Aber er sah, daß sie mit Antworten kämpfte, die sie immer wieder im letzten Augenblick von den Lippen verwarf, und sie tat ihm plötzlich leid. «Sie werden mich wohl kaum verstehen, Fräulein, ich denke nicht schlecht von meiner Großmutter, das ist es nicht; sie ist auch eine arme Frau, aber ich denke jetzt nicht von dieser Seite: das ist meine Art. Ich denke von Ihrer Seite, und da ist sie ein Klumpen Scheußlichkeit. Verstehen Sie mich jetzt?» «Ja,» sagte das Fräulein leise und wurde über und über rot. «Ich habe Sie auch schon früher verstanden. Aber ich kann's nicht sagen.» Da lachte er nun. «Das ist etwas, das mir noch nie widerfahren ist: etwas nicht sagen können! Aber jetzt will ich erst recht wissen, was Sie antworten möchten, ich werde Ihnen helfen.» Er wandte sich so völlig zu ihr, daß sie noch mehr verlegen wurde. «Also fangen wir an:. Macht Ihnen die ruhige, gleichmäßige Pflicht, das geregelte Tagaustagein vielleicht Vergnügen? Ist es das?» «Oh, nun, ich weiß nicht, wie Sie das meinen; ich habe meine Arbeit ganz gern.» «Ganz gern, schön. Aber Bedürfnis: nicht gerade? Es gibt ja Leute, die gar nichts anderes wollen als Tagwerk.» «Wie meinen Sie das?» «Wünsche, Träume, Ehrgeiz meine ich; läßt Sie ein Tag wie heute unberührt?» Es war zwischen den Mauern der Stadt ein Tag voll Zittern und Frühlingshonig. Da lachte das Fräulein: «Nein. Aber das ist es doch nicht.» «Ist es nicht? Nun, dann haben Sie vielleicht eine Vorliebe für halbfinstere Zimmer, das leise Sprechen, den Geruch von Medizinflaschen und dergleichen? Es gibt auch solche Leute, Fräulein, aber ich sehe schon an Ihrem Gesicht, daß ich es wieder nicht getroffen habe.» Fräulein Tonka schüttelte den Kopf und zog die Mundwinkel etwas abwärts - in schüchternem Spott oder auch nur aus Verlegenheit. Aber nun ließ er ihr keine Ruhe. «Sehen Sie, wie ich irre, wie lächerlich ich mich vor Ihnen mache mit meinen verfehlten Überlegungen: gibt Ihnen das nicht Mut? Also! -?» Und nun kam es auch endlich heraus. Langsam. Stockend. Die Worte verbessernd, als ob man etwas sehr schwer zu Verstehendes begreiflich machen müßte: «Ich mußte mir doch etwas verdienen.» Ach, dieses Einfachste! Welch feiner Esel war er und welche steinerne Ewigkeit lag in dieser so gewöhnlichen Antwort. Wieder ein andermal war er mit Tonka heimlich spazierengegangen; sie machten Ausflüge an dem freien Tag, den sie zweimal im Monat hatte; es war Sommer. Als der Abend kam, fühlte man die Luft gerade so warm wie das Gesicht und die Hände, und wenn man im Gehen die Augen schloß, glaubte man sich aufzulösen und ohne Grenzen zu schweben. Er beschrieb es Tonka, und da sie lachte, fragte er sie, ob sie es verstünde. Oh, ja. Aber da er mißtrauisch war, wollte er, daß sie es ihm mit eigenen Worten beschreibe; und das vermochte sie nicht. Dann verstehe sie es auch nicht. O doch - und plötzlich -: man müßte singen. Nur das nicht! Doch! So zankten sie hin und her. Und schließlich begannen sie zu singen, wie man ein Corpus delicti auf den Tisch legt oder einen Lokalaugenschein vornimmt. Herzlich schlecht und aus einer Operette, aber zum Glück sang Tonka leise, und er freute sich über dieses kleine Zeichen von Takt. Sicherlich, sagte er sich, war sie bloß einmal im Leben im Theater, und seither ist diese elende Musik für sie Inbegriff der Vergoldung des Daseins. Aber sie hatte sogar diese paar Melodien nur von ihren früheren Freundinnen aus dem Geschäft gehört. Ob sie ihr denn wirklich gefielen? Es ärgerte ihn, wenn sie durch irgend etwas noch mit dem Geschäft zusammenhing. Sie wußte nicht, was es war, und ob diese Musik schön sei oder dumm; bloß den Wunsch weckte sie in ihr, selbst einmal auf dem Theater zu stehen und mit ganzer Kraft die Leute glücklich oder unglücklich zu machen. Das war nun vollends lächerlich, wenn man die gute Tonka dabei ansah, und er wurde so unlustig, daß sein Singen rasch zu einem Brummen absank. Da brach Tonka jäh ab; auch sie schien es zu fühlen, und sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her, bis Tonka stehen blieb und sagte: «Das ist es gar nicht, "was ich mit dem Singen meinte.» Und da in seinen Augen ein kleines Zeichen der Güte antwortete, begann sie abermals leise zu singen, aber diesmal waren es Volkslieder ihrer Heimat. Sie schritten dahin, und diese einfachen Weisen machten so traurig wie Kohlweißlinge im Sonnenschein. Und da hatte nun mit einemmal natürlich Tonka recht. Nun war er es, der nicht ausdrücken konnte, was mit ihm geschah, und Tonka, weil sie die gewöhnliche Sprache nicht sprach, sondern irgend eine Sprache des Ganzen, hatte leiden müssen, daß man sie für dumm und unempfindlich hielt. Damals war es ihm klar, was es bedeutet: Lieder fallen ihr ein. Sie kam ihm sehr einsam vor. Wenn sie ihn nicht hätte, wer würde sie verstehn? Und sie sangen beide. Tonka sagte ihm den fremden Text vor und übersetzte ihn, dann faßten sie sich bei der Hand und sangen wie die Kinder. Wenn sie eine Pause machen mußten, um Atem zu schöpfen, gab es jedesmal auch ein kleines Verstummen dort vor ihnen, wo sich die Dämmerung über den Weg zog, und wenn das alles auch dumm war, war der Abend eins mit ihren Empfindungen. Und noch ein andermal saßen sie an einem Waldrand, und er sah bloß durch einen Spalt der Lider, sprach nichts und hing seinen Gedanken nach. Tonka erschrak und fürchtete, ihn wieder verletzt zu haben. Ihr Atem hob sich mehrmals, weil sie nach Worten suchte, aber ihre Scheu hielt sie zurück. Und so war lange nichts zu hören als das quälende Lallen der Waldgeräusche, das in jeder Sekunde anderswo anhebt und verstummt. Einmal flog ein brauner Falter an ihnen vorüber und setzte sich auf eine hochgestielte Blume, die bei der Berührung zitterte und mehrmals hin und her schwankte, bis ihre Bewegung plötzlich stillstand wie ein abgebrochenes Gespräch. Tonka drückte ihre Finger fest in das Moos, auf dem sie saßen; aber nach einer Weile richteten sich die kleinen Stengelchen wieder auf, einer nach dem andern in Reihen, und nach abermals einer Weile war jede Spur der Hand, die da gelegen hatte, verwischt. Es war, um zu weinen, ohne zu wissen warum. Hätte sie 52 53 denken gelernt wie ihr Begleiter, so hätte Tonka in diesem Augenblick gefühlt, daß die Natur aus lauter häßlichen Unscheinbarkeiten besteht, die so traurig getrennt voneinander leben wie die Sterne in der Nacht; die schöne Natur; eine Wespe kroch um seinen Fuß, mit einem Kopf wie eine Laterne, und er sah ihr zu. Und er sah seinem Fuß zu, der, breit und schwarz, schief in das Braun eines Weges ragte. Tonka hatte sich oft davor gefürchtet, daß einmal ein Mann vor ihr stehen würde und sie nimmer ausweichen könnte. Was ihre älteren Freundinnen aus dem Geschäft ihr strahlend erzählten, war der langweilige, rohe Leichtsinn der Liebe, und es empörte sie, daß auch mit ihr jeder Mann zärtlich einzulenken versuchte, kaum er die ersten Worte hinter sich gebracht hatte. Wie sie nun ihren Begleiter ansah, gab ihr das mit einem Mal einen Stich; bis zu diesem Augenblick hatte sie noch nie gefühlt, mit einem Mann in seiner Gesellschaft zu sein, denn alles war anders. Er hatte sich breit auf beide Ellbogen zurückgelehnt, und der Kopf lag auf der Brust; fast ängstlich sah Tonka nach seinen Augen. Da aber stand ein eigentümliches Lächeln; er hatte das eine Auge geschlossen und zielte mit dem andern längs seines Körpers hinunter; es war sicher, daß er davon wußte, wie häßlich die Stellung seines Schuhes aussah, und vielleicht auch, wie wenig es war, mit Tonka an einem Waldrand zu liegen, aber er änderte nichts daran, jedes einzelne war häßlich, und alles zusammen was Glück. Tonka hatte sich leise aufgerichtet. Hinter ihrer Stirn war es plötzlich heiß geworden und ihr Herz klopfte. Sie verstand nicht, was er dachte, aber sie las alles zugleich in seinem Auge und ertappte sich mit einem Mal bei dem Wunsch, seinen Kopf in den Arm zu nehmen und seine Augen zuzudecken. Sie sagte: «Es ist schon Zeit, zu gehen, sonst wird es finster.» Als sie am Wege waren, sagte er: «Sie haben sich gewiß gelangweilt, aber Sie müssen sich an mich gewöhnen.» Er nahm ihren Arm, weil man schon schlecht zu sehen begann, und suchte sich für sein Schweigen und dann unwillkürlich weiter auch für seine Gedanken zu entschuldigen. Sie verstand nicht, wovon er sprach, aber sie erriet seine Worte, die so ernst durch den Nebel drangen, in ihrer Art. Und als er sich nun gar noch für den Ernst dieser Worte entschuldigte, wußte sie nicht aus noch ein und fand bei der Jungfrau Maria keine andere Antwort, als daß sie ihren Arm inniger in seinen schob, wenn sie sich auch furchtbar dafür schämte. Er streichelte ihre Hand. «Ich glaube, daß wir uns gut vertragen, Tonka, aber verstehen Sie mich denn?» Nach einer Weile antwortete Tonka: «Es macht nichts, ob ich weiß, was Sie meinen. Ich könnte ohnedies nicht antworten. Aber ich mag es, daß Sie so ernst sind.» Das waren gewiß lauter kleine Erlebnisse, aber das Merkwürdige ist: sie waren in Tonkas Leben zweimal da, ganz die gleichen. Sie waren eigentlich immer da. Und das Merkwürdige ist, sie bedeuteten später das Gegenteil von dem, was sie anfangs bedeuteten. So gleich blieb sich Tonka, so einfach und durchsichtig war sie, daß man meinen konnte, eine Halluzination zu haben und die unglaublichsten Dinge zu sehen. III Dann kam ein Ereignis, seine Großmutter starb vor der Zeit; Ereignisse sind ja nichts anderes als Unzeiten und Unorte, man wird auf einen falschen Platz gelegt oder vergessen und ist so ohnmächtig wie ein Ding, das niemand aufhebt. Auch was sich viel später ereignete, geschieht tausendfach in der Welt, und bloß daß es mit Tonka geschah, konnte man nicht verstehen. Es erschien also der Arzt, die Leichengeschäftsleute kamen, der Totenschein wurde geschrieben und Großmama begraben eins reihte sich in glatter Ordnung ans andere, wie es in einer guten Familie sein muß. Die Verlassenschaft wurde geregelt; man durfte froh sein, sich daran nicht beteiligen zu müssen; bloß ein einziger Punkt des Nachlasses erforderte Aufmerksamkeit, die Versorgung des Fräuleins Tonka mit dem traumhaften Nachnamen, der einer jener tschechischen Familiennamen war, die «Er sang» oder «Er kam über die Wiese» heißen. Es bestand ein Dienstvertrag. Das Fräulein sollte außer Lohn, der gering war, für jedes vollendete Dienstjahr mit einem bestimmten Betrag im Nachlaß bedacht werden, und da man auf ein längeres Leiden Großmamas gerechnet und, den erwarteten Unbilden der Pflege gemäß, den Betrag in langsam wachsenden Stufen festgesetzt hatte, kam es, daß er einem jungen Menschen empörend gering erscheinen mußte, der die aufgeopferten Monate von Tonkas Jugend nach Minuten wog. Er war zugegen, als Hyazinth mit ihr abrechnete. Er las scheinbar in einem 55 Buch - es waren noch immer die Tagebuchfragmente von Novalis in Wirklichkeit aber folgte er mit Aufmerksamkeit dem Vorgang und schämte sich, als sein «Onkel» die Summe nannte. Sogar dieser schien etwas Ähnliches zu fühlen, denn er begann ausführlich die Bestimmungen des seinerzeit abgeschlossenen Vertrags dem Fräulein auseinanderzusetzen. Fräulein Tonka hörte mit festgeschlossenen Lippen aufmerksam zu; der Ernst, mit dem sie der Rechnung folgte, gab ihrem jugendlichen Gesicht etwas sehr Rührendes. «Also stimmt es?» sagte der Onkel und legte das Geld auf den Tisch. Sie schien wohl überhaupt keine Ahnung zu haben, zog ihr kleines Täschchen aus dem Kleide, faltete das Papiergeld zusammen und schob es hinein; aber da sie die Noten vielmals biegen mußte, machten sie, so wenig ihrer waren, ein dicken Pack und waren nicht unterzubringen; wie eine Geschwulst saß die entstellte Börse unter dem Rock am Bein. Jetzt hatte das Fräulein noch eine Frage: «Wann muß ich gehen?» «Ja,» meinte der Onkel, «es wird wohl noch ein paar Tage dauern, bis der Haushalt aufgelöst ist; so lange können Sie gewiß bleiben. Aber Sie können auch früher gehen, wenn Sie wollen, wir brauchen Sie ja nicht mehr.» «Danke,» sagte das Fräulein und ging auf sein Zimmerchen. Die andern waren inzwischen mit der Verteilung schon beim täglichen Gebrauch angelangt. Sie waren wie Wölfe, die einen gefallenen Kameraden auffraßen, und hatten sich schon gegenseitig gereizt, als er fragte, ob man nicht dem Fräulein, das so wenig Geld bekommen habe, wenigstens ein wertvolles Andenken geben solle, «Wir haben Großmamas großes Gebetbuch dafür bestimmt.» «Nun ja, aber etwas Praktisches würde ihr gewiß mehr Freude machen; was ist denn zum Beispiel mit dem da?» Auf dem Tisch lag ein brauner Pelzkragen, den er hochhob. «Der ist für Emmi», — Emmi war seine Kusine — «wo denkst du überhaupt hinaus, das ist doch Nerz!» Er lachte. «Wer sagt, daß man bei armen Mädchen nur der Seele etwas schenken darf? Wollt ihr für knauserig erscheinen?» «Das laß nur uns über,» meinte jetzt seine Mutter, und weil sie ihm nicht ganz unrecht gab, fuhr sie fort: «Du verstehst es doch nicht; sie wird nicht zu kurz kommen!» Und sie nahm generös und ärgerlich einige Taschentücher, Hemden und Beinkleider der alten 56 Frau für das Fräulein auf die Seite, dazu ein schwarzes Kleid, dessen Tuch noch neu war. «So, das ist jetzt wohl genug. Gar so verdient hat sich das Fräulein ja nicht gemacht, und sentimental ist sie auch nicht: Weder als Großmama starb, noch beim Begräbnis hat sie auch nur eine Träne im Auge gehabt! Also gib, bitte, Frieden.» «Es gibt Menschen, die schwer weinen; das ist doch kein Beweis» - antwortete der Sohn, nicht weil es ihn wichtig zu sagen dünkte, sondern weil ihn seine Redegeschicklichkeit reizte. «Bitte . . .!?» sagte die Mutter. «Fühlst du nicht, daß deine Bemerkungen jetzt nicht am Ort sind?» Er schwieg auf diese Zurechtweisung nicht aus Scheu, sondern weil es ihn plötzlich unbändig freute, daß Tonka nicht geweint hatte. Seine Verwandten sprachen lebhaft durcheinander und er bemerkte, wie gut sie damit ihren Nutzen wahrten. Sie sprachen nicht schön, aber flink, hatten Mut zu ihrem Schwall, und es bekam schließlich jeder, was er wollte. Redenkönnen war nicht ein Mittel der Gedanken, sondern ein Kapital, ein imponierender Schmuck; während er vor dem Tisch mit Gaben stand, fiel ihm der Vers ein: «Ihm schenkte des Gesanges Gabe, der Lieder süßen Mund Apoll», und er bemerkte zum ersten Mal, daß dies wirklich ein Geschenk sei. Wie stumm "war Tonka! Sie konnte weder sprechen noch weinen. Ist aber etwas, das weder sprechen kann, noch ausgesprochen wird, das in der Menschheit stumm verschwindet, ein kleiner, eingekratzter Strich in den Tafeln ihrer Geschichte, ist solche Tat, solcher Mensch, solche mitten in einem Sommertag ganz allein niederfallende Schneeflocke Wirklichkeit oder Einbildung, gut, wertlos oder bös? Man fühlt, daß da die Begriffe an eine Grenze kommen, wo sie keinen Halt mehr finden. Und er ging wortlos hinaus, um Tonka zu sagen, daß er für sie sorgen wolle. Er traf Fräulein Tonka beim Einpacken ihrer Habe. Auf einem Sessel lag eine große Pappschachtel und am Fußboden standen zwei; eine davon war schon mit Bindfaden verschnürt, aber die beiden andern wollten den herumliegenden Reichtum nicht fassen, und das Fräulein studierte und nahm immer wieder ein Stück heraus, um es anderswo hineinzulegen, Strümpfe und Sacktücher, Schnürstiefel und Nähzeug, der Länge und Breite nach versuchte sie es und konnte, so dürftig ihr Besitz war, niemals alles verstauen, denn ihr Reisegepäck war noch dürftiger. Die Tür ihres Zimmerchens stand offen, und er vermochte ihr 57 eine Weile zuzusehen, ohne daß sie es wußte. Als sie ihn bemerkte, wurde sie rot und stellte sich rasch vor die offenen Schachteln. «Sie wollen uns verlassen?» sagte er und freute sich über ihre Verlegenheit. «Was werden Sie machen?» «Ich fahre nach Hause zur Tante.» «Wollen Sie dort bleiben?» Fräulein Tonka zuckte die Achseln. «Ich werde trachten, etwas zu finden.» «Wird Ihre Tante nicht ungehalten sein?» «Für ein paar Monate hab ich ja mein Auskommen und bis dahin werde ich schon eine Stellung finden.» «Dann geht aber Ihr bißchen Ersparnis verloren.» «Was kann man machen.» «Und wenn Sie so rasch keine Stellung finden?» «Dann werde ich es eben wieder alle Augenblick auf dem Teller haben.» «Auf dem Teller? Was?» «Nun eben, daß ich nichts verdiene. Das war schon so, als ich im Geschäft war. Ich hab wenig verdient dort, aber ich konnte nichts machen, und sie hat nie etwas gesagt. Bloß wenn sie zornig war, aber dann jedesmal.» «Und da haben Sie die Stellung bei uns angenommen?» «Ja. » «Wissen Sie was,» sagte er plötzlich, «Sie sollen nicht zu Ihrer Tante zurückgehen. Sie werden etwas finden. Ich - "werde dafür sorgen.» Sie sagte nicht ja und nicht nein und nicht danke; aber als er fort war, nahm sie langsam ein Stück ums andere wieder aus den Schachteln heraus und legte es auf seinen Platz zurück. Sie war sehr rot geworden, konnte ihre Gedanken nicht ordnen, schaute oft mit einem Stück in der Hand lange vor sich hin und fühlte: das war jetzt die Liebe. Er sah jedoch, als er in sein Zimmer zurückgekehrt war, noch immer die Tagebuchfragmente von Novalis auf dem Tisch liegen und war über die Verantwortung betreten, die er plötzlich auf sich geladen hatte. Es war unerwartet etwas geschehen, das sein Leben bestimmen würde und ihm doch gar nicht nahe genug ging. Er war vielleicht in diesem Augenblick sogar mißtrauisch, weil Tonka sein Angebot so ohne weiteres angenommen hatte. 58 Aber da fiel ihm ein: «Wieso kam ich dazu, es ihr anzubieten? Und er wußte das ebensowenig, wie warum sie es annahm. In ihrem Gesicht war die gleiche Ratlosigkeit gewesen wie in seinem. Die Lage war grausam komisch; wie im Traum irgendwo hinauf gestürzt, fand er nicht mehr hinunter. Aber er sprach nochmals mit Tonka. Er "wollte nicht unaufrichtig sein. Sprach von Bewegungsfreiheit, Geist, Zielen, Ehrgeiz, Abneigung gegen den Taubenschlag des Idylls, erwarteten bedeutenden Frauen - wie eben ein sehr junger Mann spricht, der viel will und wenig erlebt hat. Als er in Tonkas Augen ein Zucken gewahrte, tat es ihm leid, und er bat, von der entgegengesetzten Angst, ihr wehzutun, befallen: «Verstehen Sie es nicht falsch!» «Ich verstehe es ja!» war das einzige, was Tonka antwortete. IV «Sie ist doch ein ganz einfaches Mädchen», hatte man gesagt, «aus dem Tuchgeschäft.» Was heißt das? Auch andere Frauen wissen nichts und haben nichts studiert. Das will etwas hinten ans Kleid heften, ein Zeichen, wo man es nicht entfernen kann. Man muß etwas gelernt haben, muß Grundsätze, muß gesellschaftliche Haltung haben, heißt das, gehalten sein; Mensch ist unzuverlässig. Und "wie sahen die aus, die das hatten, die nicht unzuverlässig waren? Er konnte es als möglich zugeben, daß seine Mutter fürchtete, die Leere ihres eigenen Lebens in seinem wiederholt zu sehen; sie hatte nicht stolz genug gewählt; ihr Mann war früher Truppenoffizier gewesen, ein unbedeutender fröhlicher Mann, sein Vater: sie wollte in dem Sohn ihr eigenes Leben verbessern. Sie kämpfte dafür. Er stimmte ihrem Stolz im Grund zu. Warum rührte ihn nicht die Mutter? Ihr Wesen war Pflicht; ihre Ehe hatte erst einen Inhalt bekommen, als sein Vater erkrankte. Als etwas Soldatisches, eine Wache, die ihren Posten gegen Übermacht verteidigte, stand sie fortan neben dem langsam verblödenden Mann. Bis dahin hatte sie mit Onkel Hyazinth nicht vor noch zurück gekonnt. Er war nicht wirklich ein Verwandter, sondern ein Freund beider Eltern, einer jener Onkel, welche die Kinder vorfinden, wenn sie die Augen aufschlagen; war Oberfinanzrat und nebenher noch ein viel gelese- ner deutscher Dichter, dessen Erzählungen große Auflagen erreichten. Er brachte der Mutter den Hauch von Geist und Welterfahrenheit, der sie in ihren seelischen Entbehrungen tröstete, war historisch belesen, und seine Gedanken waren daher so beschaffen, daß sie desto größer erschienen, je leerer sie waren, indem sie sich über die Jahrtausende und größten Fragen ausdehnten. Aus Gründen, die dem jüngeren niemals klar geworden waren, hegte dieser Mann seit vielen Jahren eine ausdauernde, bewundernde, selbstlose Liebe zu dessen Mutter; wahrscheinlich weil sie als Offizierstochter von Ehr- und Charaktervorstellungen gehalten und, diese lebhaft ausstrahlend, jene Festigkeit der Grundsätze besaß, die er für die Ideale seiner Bücher brauchte, während ihm dunkel ahnte, daß die Flüssigkeit seiner Rede und Erzählergabe gerade davon kam, daß sie seinem Geist fehlte. Da er das aber naturgemäß nicht als seinen Fehler anerkennen mochte, mußte er es ins Universale, Weltschmerzliche vergrößern und es als Los des reichen Geistes empfinden, solcher Ergänzung durch fremden Starkmut zu bedürfen, so daß es auch für die Frau dabei nicht an schmerzlicher Erhöhung fehlte. Sie maskierten ihr Verhältnis sorgfältig und auch vor sich als geistige Freundschaft, aber es gelang nicht immer, und zuweilen waren sie ganz entsetzt über Hyazinthische Schwächen, die sie in Gefahr brachten und unsicher machten, ob sie nun fallen müßten oder starkmütig zur alten Höhe wieder hinansteigen sollten. Als aber der Gatte erkrankte, war den Seelen der Halt geschenkt, nach dem langend, sie um den einen Zentimeter wuchsen, der zuweilen noch gefehlt hatte. Von da an war die Gattin geschützt durch Pflicht, machte gut durch verdoppelte Pflicht, was etwa noch in Empfindungen gesündigt wurde, und das Denken war durch eine einfache Regel, welche jetzt den Ausschlag gab, vor jenem Schwanken zwischen Verpflichtung zur Größe der Leidenschaft und zur Größe der Treue gesichert, das so besonders unangenehm war. So sahen also verläßliche Menschen aus, sie zeigten es durch Geist und Charakter. Und mochte in Hyazinths Romanen auch noch so viel Liebe auf den ersten Blick vorkommen, jemand, der ohne weiteres einem Menschen folgte - wie ein Tier, das weiß, wo es trinken darf und wo nicht, - wäre ihnen als ein Wesen erschienen, das sich in einem wilden Urzustand ohne Moral befindet. Der Sohn aber, welcher mit dem tierhaft guten Vater Mitleid fühlte und Hyazinth wie die Mutter gleich der geistigen Pest bei allen kleinen Gelegenheiten des Familienlebens bekämpfte, hatte sich durch diese beiden in die entgegengesetzteste Ecke der zeitgemäßen Möglichkeiten treiben lassen. Der vielseitig Begabte studierte Chemie und stellte sich taub gegen alle Fragen, die nicht klar zu lösen sind, ja er war ein fast haßerfüllter Gegner solcher Erörterungen und ein fanatischer Jünger des kühlen, trocken phantastischen, Bogen spannenden neuen Ingenieurgeistes. Er war für Zerstörung der Gefühle, war gegen Gedichte, Güte, Tugend, Einfachheit; Singvögel brauchen einen Ast, auf dem sie sitzen, und der Ast einen Baum, und der Baum braunblöde Erde, er aber flog, er war zwischen den Zeiten in der Luft; hinter dieser Zeit, die ebensoviel zerstört wie aufbaut, wird eine kommen, welche die neuen Voraussetzungen hat, die wir mit solcher Askese schaffen, und dann erst wird man wissen, was wir hätten fühlen sollen - so ungefähr dachte er: einstweilen galt es hart und karg sein wie auf einer Expedition. Es hatte bei solchem Antrieb nicht fehlen können, daß er schon auf der Schule den Lehrern aufgefallen war, er hatte die Ideen neuer Erfindungen gefaßt, sollte sich ihrer Ausbildung nach dem Doktorat noch ein bis zwei Jahre widmen und hoffte, dann mit unaufhaltsamer Sicherheit über jenem strahlenden Horizont aufzusteigen, als den junge Leute die aus Glanz und Ungewißheit gemischte Zukunft vor sich sehen. Tonka liebte er, weil er sie nicht liebte, weil sie seine Seele nicht erregte, sondern glatt wusch wie frisches Wasser; er tat es mehr, als er glaubte, und die zuweilen vorsichtig mit scharfer Spitze tastenden Erkundigungen seiner Mutter, welche eine Gefahr ahnte, die sie nicht zur Rede stellen konnte, weil sie keine Gewißheit besaß, trieben ihn zur Eile. Er legte seine Prüfungen ab und verließ das Elternhaus. V Sein Weg führte ihn nach einer deutschen Großstadt. Er hatte Tonka mit sich genommen; es wäre ihm zumut geworden, als würde er sie Feinden ausliefern, wenn er sie in der Stadt ihrer Tante und seiner Mutter zurückgelassen hätte. Tonka schnürte ihre Sachen und verließ die Heimat so herzlos, so selbstverständlich, wie der Wind mit der Sonne wegzieht oder der Regen mit dem Wind. Sie nahm in der neuen Stadt eine Stellung an, in einem Geschäft. Sie begriff die neue Arbeit rasch und wurde täglich dafür gelobt. 61 Aber warum bekam sie einen unzureichenden Gehalt und bat nie um Erhöhung, obwohl man sie ihr bloß vorenthielt, weil es so eben auch ging? Sie nahm, was ihr fehlte, ohne Bedenken von ihrem Freunde an. Nicht deshalb, sondern weil ihm ihre Bescheidenheit nicht immer paßte, und um sie klüger zu machen, hielt er zuweilen Reden dagegen. «Warum verlangst du nicht, daß er dir eine höher bezahlte Verwendung gibt?!» «Ich kann nicht.» «Kannst nicht und behauptest, daß überall, wo etwas nicht stimmt, du helfen mußt?» «Ja. » «Nun, warum dann . . . ?» Tonka bekam bei solchen Gesprächen einen störrischen Zug. Sie widersprach nicht, aber sie war Überlegungen nicht zugänglich. «Bitte,» konnte er sagen, «das ist ein Widerspruch, bitte, du mußt mir jetzt erklären, warum . . .»; es half nicht. «Tonka, ich werde bös sein, wenn du so bist!» Dann erst, wenn er solche Peitsche schwang, setzte sich das kleine Eselsgespann der Bescheidenheit und des Trotzes langsam in Bewegung und zog etwas hervor wie zum Beispiel damals, daß sie eine ungelenke Schrift hatte und auch die Rechtschreibung fürchtete, was sie ihm bisher aus Eitelkeit verschwiegen hatte, so daß nun um den lieben Mund die Angst zuckte und sich erst zum Regenbogen eines Lächelns wölbte, als sie fühlte, daß ihr der häßliche Mangel nicht übelgenommen ward. Im Gegenteil, er liebte solche Fehler wie den Fingernagel, den sie sich bei der Arbeit verunstaltet hatte. Er ließ sie in die Abendschule gehn und freute sich über die lächerliche kaufmännische Schönschrift, die ihr dort anwuchs. Sogar die verbildeten Urteile über das und jenes, die sie von dort nach Hause trug, waren ihm lieb. Sie trug sie gleichsam im Mund nach Hause, ohne sie zu essen; es lag eine edle Natürlichkeit darin, wie hilflos sie in der Abwehr des Wertlosen war, aber ahnend es sich nicht zu eigen machte. Diese Sicherheit, mit der sie alles Rohe, Ungeistige und Unvornehme auch in Verkleidungen ablehnte, ohne sagen zu können warum, war staunenswert, aber ebensosehr fehlte ihr jedes Streben, aus ihrem Kreis in einen höheren zu gelangen; sie blieb wie die Natur rein und unbehauen. Es war gar nicht so einfach, die Einfache zu lieben. Und zuweilen überraschte sie ihn durch Kenntnisse von Gedanken, die ihr ganz fern liegen mußten; selbst von Chemie; wenn er, vom Beruf ausschwingend, mehr monologisierend als für sie etwas erzählte, wußte sie plötzlich dies oder das. Gleich beim erstenmal hatte er sie natürlich erstaunt gefragt. Der Bruder ihrer Mutter, der bei ihnen in dem kleinen Haus hinter dem Bordell gelebt hatte, war Student gewesen. «Und jetzt?» «Er starb gleich nach den Prüfungen.» «Und das hast du dir gemerkt?» «Ich bin noch klein gewesen,» erzählte Tonka, «aber wenn er gelernt hat, hab ich ihn immer ausfragen müssen. Ich hab kein Wort verstanden, aber er hat mir die Fragen auf einen Zettel geschrieben.» - Schluß. Und länger als zehn Jahre war das wie schöne Steine, deren Namen man nicht weiß, in einem Kästchen gelegen! So war es auch jetzt; während er arbeitete, stumm in der Nähe zu sein, war ihr ganzes Glück. Sie war Natur, die sich zum Geist ordnet; nicht Geist werden will, aber ihn liebt und unergründlich sich ihm anschloß wie eins der vielen dem Menschen zugelaufenen Wesen. Seine Beziehung zu ihr war damals in einer merkwürdigen Spannung gleich weit von Verliebtheit wie Leichtfertigkeit. Eigentlich waren sie schon in der Heimat auffallend lang ohne Verführung miteinander ausgekommen. Sie hatten sich abends gesehen, gingen miteinander spazieren, erzählten sich die wenigen Erlebnisse des Tages mit ihren kleinen Ärgerlichkeiten, und das war so nett, wie Salz und Brot zu essen. Später hatte er freilich ein Zimmer gemietet, aber nur weil es dazu gehört und auch, weil man im Winter nicht stundenlang in den Straßen sein kann. Dort küßten sie sich zum erstenmal. Etwas steif, es war mehr eine Bekräftigung als ein Genuß, und Tonka hatte vor Aufregung ganz rauhe, harte Lippen. Sie hatten damals auch schon davon gesprochen, «sich ganz anzugehören». Das heißt — er hatte gesprochen und Tonka hatte schweigend zugehört. Lächerlich deutlich, wie begangene Dummheiten sich nicht auslöschen lassen, erinnerte er sich seiner sehr jugendlich lehrhaften Ausführungen darüber, daß es so werde kommen müssen, weil dann erst zwei Menschen sich wirklich einander öffnen, und derart zwischen Gefühl und Theorie schwankten sie. Tonka bat bloß einigemal, es noch um einige Tage hinauszuschieben. Bis er beleidigt frug, ob ihr das Opfer zu groß sei? Da setzten sie einen Tag fest! Und Tonka war gekommen. In ihrem moosgrünen Jäckchen, in dem blauen Hut mit den schwarzen Puffen, die Wangen von dem raschen Gehn in der Abendluft gerötet. Sie deckt den Tisch, sie richtet den Tee. Nur um ein weniges geschäftiger als sonst, und immer bloß die Gegenstände ansehend, mit denen sie es gerade zu tun hat. Und obgleich er während des ganzen Tages ungeduldig gewartet hat, sitzt er eingeklemmt in die eisige Steife der Jugend auf dem Sofa und sieht ihr zu. Er bemerkte, daß Tonka an das Unabwendbare nicht denken wollte, und es tat ihm leid, daß er dafür einen festen Termin gestellt hatte; wie ein Gerichtsvollzieher! Aber es fiel ihm jetzt erst ein, daß er sie hätte überraschen, es ihr hätte abschmeicheln müssen! Alle Freude war meilenfern; er scheute sich eher, das Frische anzutasten, das ihm jeden Abend, wenn sie sich sahen, wie ein kühler Wind entgegenwehte. Aber einmal mußte es sein, an diese Notwendigkeit klammerte er sich, und während er die unwillkürlichen Bewegungen Tonkas verfolgte, kam es ihm vor, als wäre sein Gedanke wie ein Seil um ihren Knöchel geschlungen, das bei jeder Wendung kürzer wurde. Nach dem Mahl, das sie fast ohne zu sprechen eingenommen hatten, setzten sie sich zueinander. Er machte einen Versuch zu scherzen, Tonka machte einen Versuch zu lachen. Aber sie verzog dabei den Mund, als ob sich ihre Lippen spannten, und wurde plötzlich wieder ernst. Unvermittelt sagte er: «Tonka, ist es dir recht? Soll es dabei bleiben?» Tonka senkte den Kopf, und ihm schien, daß etwas über ihre Augen flog, aber sie sagte nicht ja und sie sagte nicht, ich hab dich lieb, und er beugte sich zu ihr und sprach ihr in seiner Verlegenheit leise zu. «Weißt du, es ist am Anfang viel Ungewohntes, vielleicht sogar Nüchternes. Denk dir, wir dürfen doch nicht . . ., weißt du, es ist doch nicht bloß so . . . Mach dann die Augen zu. Also . . .?» Das Bett war schon aufgeschlagen, und Tonka ging darauf zu, setzte sich aber plötzlich wieder unentschlossen auf den Stuhl da- neben. Er rief sie an: «. . . Tonka! . . . » Sie stand wieder auf und mit weggewandtem Gesicht begann sie ihre Kleider zu lösen. Ein undankbarer Gedanke blieb an diesen süßen Augenblick geheftet. Schenkte sich Tonka? Er hatte ihr keine Liebe versprochen; warum empörte sie sich nicht gegen einen Zustand, der höchste 64 Hoffnungen ausschloß? Schweigend handelte sie, als würde sie von der Macht des «Herrn» unterjocht; vielleicht würde sie einem andern auch so folgen, der fest will? Aber da stand sie im Ungeschick ihrer ersten Nacktheit; die Haut schloß sich rührend "wie ein zu enges Kleid um ihren Körper; sein Fleisch war menschlicher und klüger als das jugendlich überkluge Denken, und Tonka, als ob sie vor ihm flüchten wollte, der in diesem Augenblick auffuhr, schob sich mit einer merkwürdig ungeschickten und ungewohnten Bewegung ins Bett. Er erinnerte sich dann nur noch, daß er im Vorbeigehen empfand, das Vertrauteste sei auf dem Sessel geblieben, mit den Kleidern, die er so gut kannte; als er daran vorbeikam, stieg der liebe, frische Geruch daraus auf, den er immer als das erste empfunden hatte, wenn sie sich sahen; im Bett erwartete ihn das Unbekannte und Fremde. Er hielt noch einmal ein, und Tonka lag im Bett mit geschlossenen Augen und zur Mauer gewandtem Kopf, endlos lang, in fürchterlich einsamer Angst. Als sie ihn endlich neben sich fühlte, waren ihre Augen warm von Tränen. Es kam dann eine neue Welle der Angst, Entsetzen über ihre Undankbarkeit, ein sinnloses, Hilfe suchendes Wort, durch einen endlosen, einsamen Gang hervorstürzend, verwandelte sich in seinen Namen, und dann — war sie sein geworden; er begriff wohl kaum, wie zauberhaft, wie kindlich tapfer sie sich in ihn stahl, welche einfache List sie sich ausgedacht hatte, um auch alles zu besitzen, was sie an ihm bewunderte: man braucht bloß ganz ihm zu gehören und dann gehört man dazu. Er erinnerte sich später gar nicht mehr, wie das geschehen war. VI Denn am Morgen eines einzigen Tages war alles in ein Dornengerank verwandelt worden. Es waren schon einige Jahre vergangen, seit sie gemeinsam lebten, als Tonka sich eines Tages schwanger fühlte, aber es war nicht ein beliebiger Tag, sondern der Himmel hatte dafür einen Tag ausgesucht, von dem zurückgerechnet die Empfängnis eigentlich in eine Zeit der Abwesenheit und Reisen fiel, und Tonka wollte ihren Zustand erst bemerkt haben, als sein Beginn schon nicht mehr so genau festzustellen war. 65 In solcher Lage gibt es Gedanken, die jedem durch den Kopf fliegen; weit und breit war jedoch kein Mann, der ernsthaft hätte in Zusammenhang gebracht werden können. Einige Wochen später trat das Schicksal noch deutlicher auf: Tonka erkrankte. Es war eine Krankheit, die entweder vom Kind ins Blut der Mutter getragen wird oder ohne diesen Umweg vom Vater; es war eine entsetzliche, schwere, schleichende Krankheit, aber ob sie den näheren oder "weiteren Weg genommen hatte, das Merkwürdige war: die erforderliche Zeit stimmte in beiden Fällen nicht genau. Auch war er ja nach menschlichem Ermessen nicht krank, und es verstrickte ihn also entweder ein mystischer Vorgang mit Tonka oder sie hatte gemeine irdische Schuld auf sich geladen. Es gab freilich auch andere natürliche Möglichkeiten- theoretische, platonische, wie man sagt —, aber praktisch war ihre Wahrscheinlichkeit so gut wie Null; praktisch war die Wahrscheinlichkeit, daß er weder der Vater von Tonkas Kind noch der Urheber ihrer Krankheit war, gleich der Gewißheit. Man verweile einen Augenblick, um zu verstehen, wie schwer er es begriff. Praktisch! Kommst du zu einem Kaufmann und eröffnest nicht eine Aussicht, die bald seine Begehrlichkeit reizt, sondern hältst ihm eine lange Rede über die Zeiten und das, was ein reicher Mann eigentlich tun müßte, so weiß er, du bist gekommen, um ihm sein Geld zu stehlen. Er "wird sich nie irren dann, obgleich du ja auch gekommen sein könntest, um ihm Belehrung zu schenken. Ebenso ist ein Richter nicht einen Augenblick im Zweifel, wenn ihm der Angeklagte erzählt, daß er das bei ihm gefundene Beweisstück von einem «unbekannten Mann» erhalten habe. Und doch wäre einmal ja auch das möglich. Aber Handel und Wandel ruhen darauf, daß man nicht mit allen Möglichkeiten zu rechnen braucht, "weil die äußersten praktisch nicht vorkommen. Theoretisch hingegen? Der alte Arzt, zu dem er Tonka anfangs gebracht hatte, nachdem er allein bei ihm zurückgeblieben war, hatte die Achseln gezuckt: Möglich? Gewiß unmöglich nicht - er hatte gute, hilflose Augen, aber er schien sagen zu wollen: Halten wir uns nicht dabei auf, es liegt unter der für menschliches Ermessen nötigen Wahrscheinlichkeit. Auch ein Gelehner ist ein Mensch, und ehe er etwas annimmt, das medizinisch ganz unwahrscheinlich ist, nimmt er lieber einen menschlichen Fehler als Ursache an; in der Natur sind die Ausnahmen selten. Es war also das nächste eine Art medizinische Prozeßsucht. Er wurde Gast bei vielen Ärzten. Der zweite Arzt schloß ebenso wie der erste, und der dritte wie der zweite. Er feilschte. Er trachtete Auffassungen medizinischer Schulen gegeneinander auszuspielen. Die Herren hörten ihm schweigend zu oder auch liebevoll lächelnd wie einem Narren und unverbesserlichen Dummkopf. Und natürlich wußte er selbst, während er redete, er hätte ebensogut fragen können: ist eine jungfräuliche Zeugung möglich? Und man hätte ihm nur zu antworten vermocht: sie war noch nie da. Nicht einmal ein Gesetz hätte man angeben können, das sie ausschloß; bloß: sie war noch nie da. Und doch wäre er ein unverbesserlicher Hahnrei, wollte er sich das einbilden! Vielleicht hatte ihm das auch einer ins Gesicht gesagt, mit dem er sprach, oder es war ihm doch nur selbst durch den Kopf gefahren, es hätte ihm jedenfalls selbst einfallen können. Aber gerade "weil man nicht einen Kragenknopf schließen könnte, wollte man zuvor alle möglichen Fingerkombinationen durchdenken, stand während der ganzen Zeit neben der Gewißheit seines Verstandes eine andere Unmittelbarkeit: Tonkas Gesicht. Man geht zwischen Kornfeldern, man fühlt die Luft, die Schwalben fliegen, in der Ferne die Türme der Stadt, Mädchen mit Liedern . . . man ist fern aller Wahrheit, man ist in einer Welt, die den Begriff Wahrheit nicht kennt. Tonka war in die Nähe tiefer Märchen gerückt. Das war die Welt des Gesalbten, der Jungfrau und Pontius Pilatus, und die Ärzte sagten, daß Tonka geschont und gepflegt werden müßte, sollte sie ihren Zustand überdauern. VII Er versuchte natürlich trotzdem von Zeit zu Zeit, Tonka das Geständnis zu entreißen; dazu war er ja ein Mann und kein Narr. Aber sie ging damals in ein großes häßliches Geschäft, das in einem Arbeiterviertel lag; morgens mußte sie um sieben Uhr dort sein und abends verließ sie es - oft wegen einiger Pfennige, die ein verspäteter Kunde hineintrug - nicht vor halb zehn; sie sah die Sonne nicht, nachts schliefen sie getrennt, und man ließ ihnen keine Zeit für ihre Seele. Sie mußten selbst für dieses dürftige Leben bangen, wenn man die Schwangerschaft merkte, denn sie waren damals schon in Geldverlegenheit geraten; er hatte die Mittel für seine Studien verbraucht und Geld zu verdienen war er nicht imstande; es ist das am Anfang einer wissenschaftlichen Laufbahn besonders schwer, und er war der Lösung seiner Aufgabe, ohne sie schon erreicht zu haben, so nahe gekommen, daß er aller Kraft für das letzte Erreichen bedurfte. Tonka 'war bei diesem Leben ohne Licht und voll Sorgen hingewelkt und sie verblühte natürlich nicht schön wie manche Frauen, die Berauschendes ausströmen, wenn sie verfallen, sondern sie welkte unscheinbar wie ein kleines Küchenkraut, das gilbt und häßlich wird, sobald die Frische seines Grüns verloren ist. Ihre Wangen blaßten und fielen ein, dadurch sprang die Nase groß aus dem Gesicht, der Mund erschien breit und sogar die Ohren standen etwas weg; auch der Körper magerte ab, und wo früher biegsame Fülle des Fleisches gewesen war, blickte jetzt ein ländlicher Knochenbau durch. Er, dessen wohlerzogenes Gesicht dem Kummer besser widerstand und dessen Vorrat an guten Kleidern länger vorhielt, merkte, wenn er mit ihr ausging, den erstaunten Blick manches Vorübereilenden. Und weil er nicht ohne Eitelkeit war, brachte es ihn gegen Tonka auf, daß er ihr keine schönen Kleider kaufen konnte; er war wegen ihrer Dürftigkeit, an der er die Schuld trug, böse auf sie, aber wahrhaftig, er hätte ihr, wenn er gekonnt hätte, zuvor schöne wolkige Umstandskleider geschenkt und sie dann erst zur Rede gestellt wegen ihrer Untreue. Sobald er versuchte, ihr das Geständnis zu entreißen, leugnete Tonka. Sie wußte nicht, wie es gekommen war. Wenn er um ihrer alten Freundschaft willen bat, ihn doch nicht zu belügen, trat ein gequälter Zug in ihr Gesicht, und wenn er heftig wurde, sagte sie bloß, sie lüge nicht, und was sollte man da noch tun? Hätte er sie prügeln und beschimpfen sollen oder sie in ihrer furchtbaren Lage verlassen? Er schlief nicht mehr bei ihr, aber auf die Folter gelegt, hätte sie nichts bekannt, schon deshalb nicht, weil sie kein Wort über die Lippen brachte, seit sie sein Mißtrauen merkte, und dieser törichte Eigensinn war, seit seine Einsamkeit nicht mehr durch Liebreiz gemildert wurde, erst recht entwaffnend. Er mußte zäh und lauernd sein. Er hatte sich entschlossen, seine Mutter um Geldhilfe zu bitten. Aber der Vater lag seit langem zwischen Leben und Sterben, und alles verfügbare Geld war dadurch gebunden; er konnte es nicht prüfen, "wenn er auch wußte, daß seine Mutter sich vor der Möglichkeit ängstigte, er könnte mit der Zeit Tonka heiraten wollen. Ja, sie 68 ängstigte sich schon davor, daß andere Heiraten niemals Zustandekommen würden, weil Tonka dazwischen war; und als alles sich dehnte, die Studien, der Erfolg, die Krankheit des Vaters und die Sorgen im Haushalt, war näher oder ferner daran Tonka schuld, die nicht bloß als die erste Ursache unseliger Verkettungen empfunden wurde, sondern geradezu als ein böses Zeichen, das Unglück vorbedeutete, indem zum erstenmal durch sie der gewöhnliche Ablauf des Lebens gestört worden war. In Briefen und bei Besuchen im Elternhaus war diese unklare Überzeugung durchgebrochen, die im Grunde aus nichts bestand als der Ahnung eines Familienmakels, weil der Sohn «von so einem Mädchen» sich tiefer binden ließ, als es sonst bei jungen Männern üblich ist. Hyazinth mußte warnen, und als der Junge, betroffen von diesem uneingestandenen Aberglauben und an seine eigenen unvernünftigen, schmerzlichen Erlebnisse erinnert, heftig ablehnte, war Tonka ein «pflichtvergessenes Mädchen» genannt worden, das den Frieden einer Familie nicht achtete, und linkische Anspielungen auf «sinnliche Künste», mit denen sie ihn «in Banden halte», kamen mit der ganzen Lebensunerfahrenheit der anständigen Mütter zutage. - Sie hatten auch jetzt durch die Antwort geblickt, die er erhielt, als ob jeder Pfennig, solange er ihn mit Tonka verband, nur seinem Unglück dienen würde. Da entschloß er sich, noch einmal zu schreiben und sich als Vater von Tonkas Kind zu bekennen. Als Antwort kam seine Mutter selbst. Sie kam, «um die Verhältnisse zu ordnen». Sie betrat nicht seine Wohnung, als müßte sie fürchten, dort auf Unerträgliches zu stoßen, und beschied ihn ins Hotel. Eine leichte Verlegenheit hatte sie mit Pflichtbewußtsein abgeschüttelt und sprach von der großen Sorge, die er ihnen bereite, von der Gefahr für das Leiden seines Vaters und von Fesseln fürs Leben; ungeschickt durchtrieben zog sie alle Bälge des Gemüts, aber ein Ton der Nachsicht, der dabei nicht von den Worten wich, bewahrte ihr die mißtrauische Neugierde ihres von der durchschauten Herzenslist gelangweilten Zuhörers. «Denn», sagte sie, «es könnte dieser Unglücksfall ja geradezu noch zum Glück ausschlagen, und man wäre dann» — sagte sie— «mit dem Schreck davongekommen: es gelte nur, die Zukunft vor der Wiederkehr solcher Ereignisse zu schützen!» Sie habe deshalb den Vater trotz aller Schwierigkeiten bewogen, eine gewisse Summe zu opfern. Man werde damit, eröffnete sie 69 wie eine große Güte, das Mädchen samt den Ansprüchen des Kindes abfinden. Zu ihrer eigenen Überraschung fragte ihr Sohn ruhig nach der Höhe des Angebots, hörte es sich an, schüttelte dann noch ruhiger den Kopf und sagte bloß: «Es geht nicht.» Von Hoffnung befeuert, erwiderte sie: «Es muß gehen! Sei nicht verblendet; viele junge Leute machen ähnliche Dummheiten, aber sie lassen es sich gesagt sein. Es ist gerade jetzt eine gute Gelegenheit, dich frei zu machen, lasse sie nicht aus falschem Ehrgefühl ungenützt, du schuldest es dir und uns!» «Wieso eine gute Gelegenheit?» « Gewiß. Das Mädchen wird vernünftiger sein als du; es wird wissen, daß man solche Verhältnisse immer löst, wenn ein Kind da ist.» Da verschob er die Antwort auf den nächsten Tag. Es hatte etwas in ihm gezündet. Seine Mutter, die Ärzte mit dem Lächeln der Vernunft, das glatte Laufen der Untergrundbahn am Weg zu Tonka, der Schutzmann mit den festen, das Chaos regelnden Gebärden, der donnernde Wasserfall der Stadt: das war alles eins; er stand in dem einsamen Hohlraum darunter - unbenetzt, aber abgeschnitten. Er fragte Tonka, ob sie es tun würde. Tonka sagte: Ja. Fürchterlich zweideutig war dieses Ja. So vernünftig, wie die Mutter es vorausgesagt hatte, aber um den Mund, der es sprach, zuckte die Verwirrung. Da sagte er seiner Mutter ungefragt am nächsten Tag ins Gesicht, daß er vielleicht gar nicht der Vater von Tonkas Kind sei, daß Tonka krank sei, aber daß er sich trotzdem eher selbst für krank und den Vater halten wolle, als Tonka verlassen. Es lächelte seine Mutter machtlos vor so viel Verblendung, sah ihn zärtlich an und ging. Er wußte, sie hatte nun den großen Schwung erhalten, ihr Fleisch und Blut vor dem Makel zu schützen, und ein mächtiger Feind war ihm verbündet. VIII Endlich verlor Tonka ihre Stellung; es hatte ihn fast schon beunruhigt, daß dieses Unglück solang nicht gekommen war. Der Geschäftsmann, bei dem Tonka diente, war ein kleiner, häßlicher 70 Mensch, aber in ihrer Not war er ihnen wie eine übermenschliche Macht erschienen. Wochenlang hatten sie beratschlagt; er muß alles schon wissen, aber er ist doch ein anständiger Kerl, der nicht eigens noch stößt, wenn eins im Unglück ist; dann wieder: er merkt es nicht; Gott sei Dank, er hat es überhaupt noch nicht bemerkt! Aber eines Tages wurde Tonka ins Kontor gerufen und rund heraus gefragt, wie es mit ihr stünde. Sie brachte keine Antwort hervor, bloß die Tränen traten ihr in die Augen. Und den vernünftigen Mann rührte es nicht, daß sie nicht sprechen konnte; er zahlte ihr den Gehalt für einen Monat aus und entließ sie auf der Stelle. So böse war er geworden, daß er donnerte, er sei jetzt verlegen um einen Ersatz, und es sei Betrug von Tonka gewesen, ihren Zustand zu verheimlichen, als sie die Stellung annahm; nicht einmal das Kontorfräulein schickte er hinaus, als er ihr das sagte. Tonka kam sich danach sehr schlecht vor, aber auch er bewunderte heimlich diesen schäbigen, kleinen, namenlosen Kaufmann, der nicht eine Minute lang geschwankt hatte, seinem Geschäftswillen Tonka zu opfern, und mit ihr ihre Tränen, ein Kind und weiß Gott welche Erfindungen, "welche Seelen, welches Menschenschicksal, denn das alles wußte er ja nicht und fragte nicht danach. Sie mußten jetzt in kleinen Speisewirtschaften essen, für wenige Pfennige zwischen Schmutz und Grobheit eine Kost, die er nicht vertrug. Er holte Tonka zu diesen Mahlzeiten ab, pünktlich, in Erfüllung einer Pflicht. Er machte eine sonderbare Figur in seinen vornehmen Kleidern zwischen den Gehilfen und Geschäftsdienern, ernst, schweigsam, treu zur Seite seiner schwangeren Gefährtin und unzertrennlich. Viele spöttische Blicke flogen ihm zu, und manche anerkennende, die nicht weniger brannten. Es war ein seltsames Wandeln, mit seiner Erfindung im Kopf und der Überzeugung von Tonkas Untreue, zwischen dem groben Menschenschotter der Großstadt. Er hatte noch nie so stark wie jetzt die Gemeinbürgschaft der Welt empfunden; wo er nur über Straßen ging, jagte und jappte es wie eine Meute lärmender Hunde; jeder voll Einzelgier, aber doch alle ein Rudel, und bloß er hatte keinen, den er um Unterstützung bitten oder dem er auch nur sein Schicksal hätte erzählen können; er hatte nie Zeit für Freunde gehabt, wohl auch keinen Geschmack an ihnen oder keinen Reiz für sie: er war belastet von seinen Ideen, und das ist ein lebensgefährliches Gewicht, solange die Menschen noch nicht ausgespürt haben, daß sie ihre Vorteile daraus münzen können. Er wußte nicht einmal eine Richtung, in der er nach Hilfe hätte suchen können; er war fremd. Und wer war Tonka? Geist von seinem Geiste? Nein, in zeichenhafter Übereinstimmung war sie ein fremdes Geschöpf mit seinem verhohlenen Geheimnis, das sich ihm zugesellt hatte! Ein kleiner Spalt mit fernem Schimmer war offen, seine Gedanken begannen die Richtung hin zu nehmen. Er arbeitete an einer Erfindung, deren Bedeutung schließlich auch für die andern groß sein würde, und da war es sicher, daß außer dem Denken noch etwas dabei war, ein Mut, eine Zuversicht und Ahnung, die nie trogen, ein gesunder Lebenssinn, der ein Stern war, dem er folgte. Da ging auch er nur den größeren Wahrscheinlichkeiten nach, und stets fand sich bei einer von ihnen das Rechte; er vertraute, alles wird schon so sein, wie es immer ist, um auf das eine zu kommen, dessen Anderssein er entdecken wollte, und hätte er jeden möglichen Zweifel so prüfen wollen, wie er mit Tonka tat, so wäre er niemals zum Ende gekommen: Denken heißt, nicht zuviel denken, und ohne etwas Verzicht auf das Grenzenlose der Erfindungsgabe läßt sich keine Erfindung machen. Diese eine Hälfte seines Lebens schien unter dem Stern zu stehen, der unbeweisbares Glück oder ein Geheimnis war. Und die andere war unerleuchtet. Er spielte jetzt mit Tonka in der Pferdelotterie. Die Ziehungsliste erschien, er hatte Tonka erwartet, unterwegs wollten sie das Verzeichnis kaufen und lesen. Es handelte sich um eine elende Pferdelotterie mit einem Haupttreffer von wenigen tausend Mark; aber das machte nichts, er hätte für die nächste Zukunft sorgen können. Und wenn es nur ein paar hundert Mark gewesen wären, so hätte er Tonka das Nötigste an Kleidern und Wäsche kaufen oder sie aus ihrer ungesunden Mansarde befreien können. Und wären es nur zwanzig Mark gewesen, so würde das eine Ermunterung sein, und er hätte neue Lose gekauft. Ja selbst wenn sie nur fünf Mark gewonnen hätten, so wäre dies ein Zeichen gewesen, daß der Versuch, wieder Anschluß an das Leben zu gewinnen, in unbekannten Gegenden wohlgelitten war. Aber alle drei Lose waren Nieten. Natürlich hatte er sie da nur zum Scherz gekauft, und schon als er auf Tonka wartete, war eine Leere in ihm, die einen Fehlschlag ankündigte; aber wahrscheinlich hatte er doch zwischen Wünschen und Hoffnungslosigkeit geschwankt, oder geschah es, weil selbst zwanzig Pfennige für eine nutzlose Liste in seinem Zustand einen Verlust bedeuteten: er empfand plötzlich, daß es eine unsichtbare Macht gab, die ihm übel wollte, und fühlte sich von Feindseligkeit umgeben. Er wurde in der Folge recht abergläubisch; der Mensch in ihm, der abends Tonka abholte, wurde es, während der andere wie ein Gelehrter arbeitete. Er besaß zwei Ringe, die er aber nur abwechselnd trug. Beide waren kostbar, aber der eine war edel und alt, während der andere ein Geschenk seiner Eltern war, das er nie sehr in Ehren gehalten hatte. Da bemerkte er, daß er an den Tagen, wo er den neuen Ring trug, der nichts als ein teurer Allerweltsring war, vor neuen Verschlimmerungen seiner Lage eher bewahrt blieb als an den Tagen, wo er den edlen trug, und von da an traute er sich nicht mehr, diesen an den Finger zu stecken, sondern trug den andern wie ein auferlegtes Joch. Auch als er sich eines Tages zufällig nicht rasierte, hatte er Glück; als er es am nächsten Tage tat, obgleich ihn die Beobachtung gewarnt hatte, strafte ein neues seiner kleinen niedrigen Unglücke - die nur in seiner Lage Unglück statt Lächerlichkeit waren — den Verstoß: von da an konnte er sich nicht entschließen, seinem Bart etwas zu tun; er wuchs, wurde bloß sorgfältig spitz geschnitten, und er trug ihn während aller traurigen Wochen, die noch kamen. Dieser Bart entstellte ihn, aber er war wie Tonka: je häßlicher, desto ängstlicher behütet. Vielleicht wurde sein Gefühl für sie desto zärtlicher, je tiefer es enttäuscht war, denn es war innerlich ein so guter Bart, weil er äußerlich so häßlich war. Tonka mochte den Bart nicht und verstand ihn nicht. Er hätte ohne sie gar nicht gewußt, wie häßlich dieser Bart war, denn man weiß von sich so wenig, wenn man nicht andere hat, in denen man sich spiegelt. Und da man nichts weiß, wünschte er Tonka vielleicht zuweilen tot, damit dieses unerträgliche Leben ein Ende finde, und mochte den Bart bloß deshalb, weil er alles verstellte und verbarg. IX Zuweilen überfiel er sie noch immer aus dem Hinterhalt mit einer geheuchelt arglosen Frage, auf deren glattem Klang ihre Vorsicht ausgleiten sollte. Häufiger aber überfiel es ihn. «Es ist ja ganz unsinnig, die Tatsache zu leugnen, also sag mir nur, damit wieder Aufrichtigkeit zwischen uns ist, wie konnte es geschehen?» fragte er einflüsternd. Aber sie hatte immer die eine Antwort: schick mich fort, wenn du mir nicht glauben willst; und das war gewiß ein Mißbrauch ihrer Schutzlosigkeit, aber es war ebenso gewiß auch die allerwahrste Antwort, denn mit medizinischen und philosophischen Gründen konnte sie sich nicht verteidigen und vermochte für die Wahrheit ihrer Worte nur mit der Wahrheit ihrer Person einzu- stehn. Dann begleitete er sie bei ihren Ausgängen, weil er sich nicht traute, sie allein zu lassen; er fürchtete nicht etwas Bestimmtes, aber es beunruhigte ihn, sie allein in den weiten, fremden Straßen zu wissen. Und wenn er sie abends irgendwo abholte, und sie gingen, und im Halbdunkel begegnete ihnen ein Mann, der nicht grüßte, so kam es vor, daß er bekannt erschien, und Tonka wurde scheinbar rot, und mit einemmal war die Erinnerung da, daß sie sich früher einmal bei irgendeiner Gelegenheit in seiner Gesellschaft befunden hatten, und zugleich war auch - mit der gleichen Gewißheit, wie sie Tonkas unschuldigem Gesicht zukam — die Überzeugung da: dieser war es! Einmal schien es ein wohlhabender Volontär aus einem Exportgeschäft zu sein, den sie flüchtig gekannt hatten, und ein andermal ein Tenor aus einem Chantant, der die Stimme verloren hatte und bei der gleichen Wirtin wohnte wie Tonka. Stets waren es solche lächerlich ferne Gestalten, die wie ein verschnürtes schmutziges Paket in die Erinnerung geworfen wurden, das die Wahrheit enthielt und beim ersten Versuch es aufzuschnüren nichts als den Staubhaufen quälender Ohnmacht hinterließ. Diese Gewißheiten über Tonkas Untreue hatten etwas von Träumen. Tonka ertrug sie mit ihrer rührenden, wortlos zärtlichen Demut: aber was konnte diese nicht alles bedeuten!? Und wenn man dann alle Erinnerungen durchging, wie waren alle zweideutig! Die einfache Art zum Beispiel, wie sie ihm zugelaufen war, konnte Gleichgültigkeit sein oder Sicherheit des Herzens. Wie sie ihm diente, war Trägheit oder Seligkeit. War sie anhänglich wie ein Hund, so mochte sie auch jedem Herrn folgen wie ein Hund! Das hatte er doch gleich in jener ersten Nacht empfunden, und war es auch ihre erste Nacht? Er hatte nur auf die seelischen Zeichen geachtet und keinesfalls waren die körperlichen sehr merklich gewesen. Jetzt war es zu spät. Ihr Schweigen war jetzt über alles gebreitet und vermochte Unschuld oder Verstocktheit zu sein, ebensogut List und Leid, Reue, Angst; aber auch Scham für ihn. Doch hätte es ihm nicht geholfen, wenn er auch alles noch einmal hätte erleben 74 können. Mißtraue einem Menschen, und die deutlichsten Anzeichen der Treue werden geradezu Zeichen der Untreue sein, traue ihm, und handgreifliche Beweise der Untreue werden zu Zeichen einer verkannten, wie ein von den Erwachsenen ausgesperrtes Kind weinenden Treue. Es war nichts für sich zu deuten, eines hing von dem andern ab, man mußte dem Ganzen trauen oder mißtrauen, es lieben oder für Trug halten, und Tonka kennen, hieß in einer bestimmten Weise auf sie antworten müssen, ihr entgegenrufen, wer sie sei; es hing fast nur von ihm ab, was sie war. Tonka verwirrte sich dann sanft blendend wie ein Märchen. Und er schrieb an seine Mutter: Ihre Beine sind vom Boden bis zu den Knien so lang wie von den Knien nach oben, und überhaupt sind sie lang und können gehen wie Zwillinge, ohne zu ermüden. Ihre Haut ist nicht fein, aber sie ist weiß und ohne Makel. Ihre Brüste sind fast ein wenig zu schwer, und unter den Armen trägt sie dunkle, zottige Haare; das sieht an dem schlanken, weißen Körper lieblich zum Schämen aus. An den Ohren hängt ihr Haar in Strähnen herab, und zuweilen glaubt sie es brennen und hoch frisieren zu müssen; dann sieht sie wie ein Dienstmädchen aus, und das ist gewiß das einzig Böse, was sie in ihrem Leben getan hat . . . Oder er antwortete seiner Mutter: Zwischen Ancona und Fiume oder wohl auch zwischen Middelkerke und einer unbekannten Stadt steht ein Leuchtturm, dessen Licht allnächtlich wie ein Fächerschlag übers Meer blinkt; wie ein Fächerschlag, und dann ist nichts, und dann ist wieder etwas. Und im Vennatal auf den Wiesen steht Edelweiß. Ist das Geographie oder Botanik oder Nautik? Das ist ein Gesicht, das ist etwas, das da ist, einzig und allein und ewig da ist, und deshalb gleichsam nicht da ist. Oder was ist das? Er schickte diese unsinnigen Antworten natürlich niemals ab. X Etwas Ungreifbares fehlte, um die Überzeugung zur Überzeugung zu machen. Er war einmal nachts mit der Mutter und Hyazinth gereist, und so um zwei Uhr, in der rücksichtslosen Müdigkeit, wenn die Körper im Eisenbahnzug schwanken und nach Unterstützung suchen, 75 schien es ihm, daß seine Mutter sich an Hyazinth lehnte, voll Einverständnis, und Hyazinth faßte ihre Hand. Seine Augen waren weit geworden vom Zorn damals, denn sein Vater tat ihm leid; aber als er sich vorbeugte, saß Hyazinth allein und seine Mutter hatte den Kopf zu der von ihm abgewandten Seite geneigt. Und nach einer Weile, als er sich wieder zurückgelehnt hatte, wiederholte sich das Ganze. So groß war die durch das ungenaue Sehen hervorgerufene Qual oder so ungenau durch die Qual in der Dunkelheit das Sehen. Er sagte sich schließlich, daß er nun doch überzeugt sei, und nahm sich vor, seine Mutter am Morgen zur Rede zu stellen; aber als der Tag schien, war das verflogen wie die Dunkelheit. Und ein anderes Mal war die Mutter auf einer Reise unwohl geworden, und Hyazinth, der an ihrer Statt dem Vater schreiben mußte, fragte unlustig: was soll ich denn schreiben? — er, -welcher der Mutter bogenlange Episteln bei jeder Trennung schrieb! -: da gab es Zank, denn der Junge war wieder böse geworden, das Unwohlsein seiner Mutter verschlimmerte sich, schien gefährlich zu werden, man mußte helfen, Hyazinths Hände kreuzten dabei immerzu die Wege der seinen, und immerzu stieß er sie weg. Solange, bis Hyazinth fast traurig fragte: «Warum stößt du mich denn fortwährend weg?» Da war er über den Ton des Unglücks in dieser Stimme erschrocken. So wenig weiß man, was man weiß, und will man, was man will. Das kann man begreifen; jedoch er vermochte in seinem Zimmer zu sitzen, von Eifersucht gequält zu sein und sich zu sagen, daß er gar nicht eifersüchtig war, sondern etwas anderes, Entlegenes, merkwürdig Erfundenes; er, dessen eigene Gefühle, das waren. Wenn er aufsah, fehlte nichts. Die Tapete des Zimmers war grün und grau. Die Türen waren rötlich braun und voll still spiegelnder Lichter. Die Angeln der Türen waren dunkel und aus Kupfer. Ein weinroter Samtstuhl stand im Zimmer und hatte eine braune Mahagonirahmung. Aber alle diese Dinge hatten etwas Schiefes, Vornübergeneigtes, fast Fallendes in ihrer Aufrechtheit, sie erschienen ihm unendlich und sinnlos. Er drückte seine Augen, sah umher, aber es waren nicht die Augen. Es waren die Dinge. Von ihnen galt, daß der Glaube an sie früher da sein mußte als sie selbst; wenn man die Welt nicht mit den Augen der Welt ansieht und sie schon im Blick hat, so zerfällt sie in sinnlose Einzelheiten, die so traurig getrennt voneinander leben wie die Sterne in der Nacht. Er brauchte nur zum Fenster hinauszusehen, so schob sich plötzlich in die Welt 76 eines unten wartenden Droschkenkutschers die eines vorübergehenden Beamten und es entstand etwas Aufgeschnittenes, ein ekelhaftes Durcheinander, Ineinander und Nebeneinander auf der Straße, ein Wirrwarr von bahnenziehenden Mittelpunkten, um deren jeden ein Kreis von Weltgefallen und Selbstvertrauen lag, und das alles waren Hilfen, um aufrecht durch eine Welt zu gehen, der das Oben und Unten fehlte. Wollen, Wissen und Fühlen sind wie ein Knäuel verschlungen; man merkt es erst, wenn man das Fadenende verliert; aber vielleicht kann man anders durch die Welt gehen als am Faden der Wahrheit? In solchen Augenblicken, wo ihn von allen ein Firnis der Kälte trennte, war Tonka mehr als ein Mädchen, da war sie fast eine Sendung. Er sagte sich: entweder muß ich Tonka zur Frau nehmen oder sie und diese Gedanken verlassen. Aber niemand wird es ihm übelnehmen, daß er aus solchen Gründen weder das eine noch das andere tat. Denn alle solche Gedanken oder Eindrücke mögen ja ihre Berechtigung haben, doch zweifelt heute niemand, daß sie zur Hälfte nur Gespinst sind. Also dachte er sie und dachte sie nicht ganz ernst. Er kam sich wohl manchmal wie geprüft vor, aber wenn er erwachte und zu sich wieder wie zu einem Manne sprach, mußte er sich sagen, daß solche Prüfung doch nur in der Frage bestand, ob er gegen die neunundneunzig Prozent Wahrscheinlichkeit, daß er betrogen worden und ein Dummkopf sei, gewaltsam am Tonka glauben wolle. Allerdings hatte diese beschämende Möglichkeit schon viel von ihrer Wichtigkeit verloren. XI Es war merkwürdigerweise eine Zeit großer wissenschaftlicher Erfolge für ihn. Er hatte seine Aufgabe in den Hauptzügen gelöst und bald mußten sich auch die Folgen zeigen. Schon fanden Menschen zu ihm den Weg. Sie brachten ihm Herzenssicherheit, wenn sie auch von Chemie sprachen. Sie glaubten alle an die Wahrscheinlichkeit seines Erfolges; neunundneunzig Prozent betrug sie schon! Und er betäubte sich mit Arbeit. Aber während seine bürgerliche Person sich festigte und gleichsam in einen Reifezustand der Weltlichkeit eintrat, liefen seine Gedanken, sobald er von der Arbeit abließ, nicht mehr in festen 77 Bahnen, sondern es brauchte in ihm bloß Tonkas Dasein anzuklingen, und ein Leben von Figuren begann, die einander ablösten, ohne ihren Sinn zu verraten, wie Unbekannte, die sich täglich auf dem gleichen Wege begegnen. Da war der Kommis-Tenor, den er einmal im Verdacht der Untreue gehabt hatte, und alle, an die sich je eine Gewißheit knüpfte. Sie taten nicht viel, sie waren bloß da; oder wenn sie selbst das Fürchterlichste taten, bedeutete es nicht viel; und weil sie manchmal zwei oder noch mehr in einer Person waren, konnte man gar nicht einfach eifersüchtig sein, sondern es wurden diese Geschehnisse so durchsichtig wie klarste Luft und noch klarer bis zu einer jeder Selbstsucht ledigen Freiheit und Leere, unter deren unbeweglichen Kuppel die Zufälle des Weltlebens sich winzig abspielten. Und oft wurden das Träume oder vielleicht waren es ursprünglich Träume gewesen, über deren blasse Schattenwelt er unmittelbar aufstieg, wenn die Schwere der Arbeit sich löste, als sollte er gewarnt sein, daß diese Arbeit nicht sein eigentliches Leben war. Diese wirklichen Träume lagen auf einer tieferen Stufe als sein Wachen; sie waren warm wie niedrige bunte Stuben. In ihnen wurde Tonka von der Tante herzlos gescholten, weil sie bei Großmamas Begräbnis nicht geweint hatte, oder es bekannte ein häßlicher Mensch, der Vater von Tonkas Kind zu sein, und sie, fragend angeblickt, leugnete zum ersten Mal nicht, sondern stand mit einem unendlichen Lächeln reglos da; das war in einem Zimmer mit grünen Pflanzen geschehen, das rote Teppiche hatte und blaue Sterne an den Wänden, und als er nach der Unendlichkeit aufsah, waren die Teppiche grün, die Pflanzen hatten große rubinrote Blätter, die Wände schimmerten gelb wie die sanfte Haut eines Menschen, und Tonka stand klarblau wie Mondlicht auf ihrem Platz. Er flüchtete beinahe in diese Träume wie in ein einfaches Glück; vielleicht waren sie nichts als Feigheit, sie sagten wohl nur, Tonka sollte gestehen, und alles wäre gut; er wurde durch ihre Häufigkeit sehr verwirrt, aber sie hatten nicht die unerträgliche Spannung des Halbwachens, die immer höher hinausführen wollte. In diesen Träumen war Tonka immer groß wie die Liebe und nicht mehr das kleine mitgenommene Geschäftsmädchen, das sie war, aber sie sah stets auch anders aus. Sie war zuweilen ihre eigene jüngere Schwester, die es niemals gegeben hatte, und oft war sie bloß ein Rauschen von Röcken, der Klang und Fall einer andern 78 Stimme, die fremdeste und überraschendste Bewegung, der ganze berauschende Reiz unbekannter Abenteuer, die in einer nur im Traum möglichen Weise von der warmen Vertrautheit ihres Namens ihm zugeführt wurden und eine mühelose Seligkeit des Vorbesitzes schon in dem Augenblick spendeten, wo sie noch ganz Spannung des Unerreichten waren. Eine scheinbar ungebundene, noch wesenlose Zuneigung und übermenschliche Innigkeit trat mit diesen Doppelbildern in ihm auf, aber es war nicht zu sagen, ob sie sich darin von Tonka lösen oder erst mit ihr verbinden wollte. Wenn er darüber nachsann, erriet er, daß diese rätselhafte Übertragungsfähigkeit und Unabhängigkeit der Liebe sich auch im Wachen zeigen müsse. Nicht die Geliebte ist der Ursprung der scheinbar durch sie erregten Gefühle, sondern diese werden wie ein Licht hinter sie gestellt; aber während im Traum noch ein feiner Riß besteht, an dem sich die Liebe von der Geliebten abhebt, ist er im Wachen verwachsen, als würde man bloß das Opfer eines Doppelgänger-Spiels und von irgend etwas gezwungen, einen Menschen für herrlich zu halten, der es nimmer ist. Er brachte es nicht über sich, das Licht hinter Tonka zu stellen. Aber es mußte damit zu tun haben und etwas Besonderes bedeuten, wie oft er an Pferde dachte. Das war vielleicht Tonka und die Pferdelotterie mit den Nieten, oder es war seine Kindheit, denn darin kamen schöne braune und gescheckte Pferde vor, in schweren, mit Messing und Fellen beschlagenen Geschirren. Und manchmal glühte plötzlich das Kinderherz in ihm auf, für das Großmut, Güte und Glauben noch nicht Pflichten sind, um die man sich nicht kümmert, sondern Ritter in einem Zaubergarten der Abenteuer und Befreiungen. Es war aber vielleicht bloß das letzte Aufleuchten vor dem letzten Verlöschen und der Reiz einer Narbe, die sich bildete. Denn die Pferde zogen immer Holz, und die Brücke unter ihren Hufen gab einen dunklen Holzlaut, und die Knechte trugen kurze, violett und braun gewürfelte Jacken. Sie nahmen alle den Hut vor einem großen Kreuz ab mit einem blechernen Christus, das in der Mitte der Brücke stand, nur ein kleiner Bub, der im Winter bei der Brücke zuschaute, hatte den seinen nicht ziehen wollen, denn er war schon klug und glaubte nicht. Da konnte er plötzlich seinen Rock nicht zuknöpfen; er konnte es nicht. Der Frost hatte seine Fingerlein gelähmt, sie faßten einen Knopf und zogen ihn mit Mühe heran, aber so wie sie ihn in das Knopfloch schieben wollten, war er wieder 79 auf seinen alten Platz zurückgesprungen, und die Finger blieben hilflos und verdutzt. Sooft sie es auch versuchten, endeten sie in einer steifen Verwirrung. Diese Erinnerung war es nämlich, welche ihm besonders oft einfiel. XII Zwischen diesen Unsicherheiten schritt die Schwangerschaft fort und zeigte, was Wirklichkeit ist. Es kam der beladene Gang, der Tonka eines stützenden Armes bedürftig erscheinen ließ, der schwere Leib, der geheimnisvoll warm war, die Art des sich Niedersetzens, mit offenen Beinen, unbeholfen und rührend häßlich; alle Wandlungen des wunderbaren Vorgangs kamen, der, ohne zu zögern, den Mädchenkörper umformte zur Samenkapsel, alle Abmessungen veränderte, die Hüften breit machte und hinunterrückte, den Knien die scharfe Form nahm, den Hals kräftiger, die Brüste zum Euter machte, die Haut des Bauches mit feinen roten und blauen Adern durchzog, so daß man darüber erschrak, wie nah der Außenwelt das Blut kreiste, als ob das den Tod bedeuten könnte. Nichts als Unform war durch neue Form ebenso gewaltsam wie duldend zusammengehalten, und das gestörte menschliche Maß spiegelte sich auch im Ausdruck der Augen wider; sie blickten etwas blöd, sie hafteten lange auf den Gegenständen und lösten sich nur schwerfällig von ihnen los. Auch an ihm hafteten Tonkas Augen oft lange. Sie besorgte wieder seine kleinen Angelegenheiten und diente ihm mühevoll, als wollte sie ihm noch zuletzt beweisen, daß sie nur für ihn lebte; nicht ein Funke Scham über ihre Häßlichkeit und Entstellung war in ihren Augen, nur der Wunsch, mit ihren plumpen Bewegungen recht viel für ihn zu tun. Sie waren jetzt beinahe wieder so oft beisammen wie früher. Sie sprachen nicht viel, aber sie blieben einer in des andern Nähe, denn die Schwangerschaft rückte vor wie ein Zeiger, und sie waren hilflos davor. Sie hätten sich aussprechen sollen, aber nur die Zeit ging vorwärts. Der Schattenmensch, das Unwirkliche in ihm rang manchmal nach Worten, eine Erkenntnis wollte aufsteigen, daß man alles nach ganz andern Werten messen müßte; aber sie war, wie alles Erkennen ist, zweideutig, unsicher. Und die Zeit lief, die Zeit 80 lief davon, die Zeit verlor sich; die Uhr an der Wand war dem Leben näher als die Gedanken. Es war ein kleinbürgerliches Zimmer, in dem nichts von Großem geschah, darin sie saßen, die Wanduhr war eine runde Küchenuhr und zeigte eine Küchenzeit, und seine Mutter beschoß ihn mit Briefen, darin alles bewiesen stand; sie sandte kein Geld, sondern gab es für die Meinung von Ärzten aus, die ihm den Kopf zurechtsetzen sollten: er verstand es recht gut und nahm es nicht mehr übel. Einmal schickte sie sogar eine neue ärztliche Erklärung, aus der nun wirklich hervorging, daß Tonka ihm damals doch untreu gewesen sein mußte; aber statt Alarm in ihm zu schlagen, erregte sie nur eine fast angenehme Überraschung, er dachte, als ob es gar nicht ihn berührte, darüber nach, wie das damals wohl zugegangen sein mochte, und fühlte bloß: die arme Tonka, die dann an den Folgen einer einzigen flüchtigen Verwirrung so litt . . .! Ja, er mußte sich manchmal in acht nehmen, daß er nicht plötzlich ganz lustig sagte: Tonka, gib acht, jetzt ist mir endlich eingefallen, was wir vergessen haben - mit wem du mir damals untreu warst! So verrann alles. Nichts Neues kam. Es blieb nur die Uhr. Und die alte Vertrautheit. Und auch ohne daß sie sich ausgesprochen hatten, brachte sie die Augenblicke des Nacheinanderverlangens der Körper wieder. Sie kamen, so wie alte Bekannte auch nach langer Abwesenheit ohne viel Umstände ins Zimmer treten. Die Fenster jenseits des engen Hofes lagen blind im Schatten, die Menschen waren zur Arbeit gegangen, wie ein Brunnen dunkelte unten der Hof, die Sonne schien wie durch Bleischeiben in die Wohnung, sie hob jeden Gegenstand heraus und ließ ihn tot aufleuchten. Und da lag zum Beispiel auch einmal ein kleiner alter Kalender so aufgeschlagen, als hätte Tonka eben in ihm geblättert, und in der weiten, weißen Ebene eines Blattes stand, wie eine Pyramide der Erinnerung zu einem Tag gesetzt, ein kleines rotes Rufzeichen. Alle andern Blätter waren mit Eintragungen des alltäglichen Lebens, mit Preisen, Besorgungen gefüllt, und nur dieses war leer bis auf das Zeichen. Keinen Augenblick zweifelte er daran, daß dies die Erinnerung an jenen Tag bedeutete, dessen Vorfälle Tonka verbarg, die Zeit mochte ungefähr stimmen, und die Gewißheit schoß wie ein Blutsprudel in den Kopf. Aber die Gewißheit lag ja in nichts als eben in dieser plötzlichen Heftigkeit, und im nächsten Augenblick hatte sie sich wieder in ein Nichts zurückgezogen; wollte man diesem Ruf- 81 zeichen glauben, so mochte man ebensogut dem Wunder glauben, und das Vernichtende war doch gerade, daß man keins von beiden tat. Es ging da ein erschrockenes Aufblicken von einem zum andern. Tonka hatte wohl das Blatt in seiner Hand bemerkt. Die Gegenstände in dem seltsamen Zimmerlicht sahen jetzt wie Mumien ihrer selbst aus. Die Körper wurden kalt, die Fingerspitzen vereisten, und die Eingeweide hielten wie ein heißer Knäuel alle Lebenswärme fest. Der Arzt hatte wohl gewarnt, Tonka bedürfe äußerster Schonung, sollte ihr nicht ein Unglück zustoßen; aber gerade den Ärzten durfte man ja in diesem Augenblick nicht trauen. Und auch nach der andern Seite blieben alle Anstrengungen vergeblich; vielleicht war Tonkas Kraft zu gering, sie blieb ein halbgeborener Mythos. «Komm zu mir,» bat Tonka, und sie teilten Leid und Wärme mit traurigem Gewährenlassen. XIII Tonka war ins Spital gekommen; die böse Wendung war eingetreten. Er durfte sie besuchen; stundenweise. So hatte sich die Zeit verloren. An dem Tage, wo sie aus dem Hause fortgekommen war, hatte er sich den Bart abnehmen lassen. Nun war er "wieder mehr er selbst. Aber dann erfuhr er, daß sie am gleichen Tag - ungeduldig, kopflos, um es los zu sein, was sie aus Sparsamkeit so lange aufgespart hatte, bis sie nun Angst litt, es nicht mehr tun zu dürfen- rasch sich einen Backenzahn hatte reißen lassen, als letzte Handlung der Freiheit, bevor sie ins Spital fuhr. Ihre Wangen mußten nun traurig eingefallen sein, weil sie sich niemals helfen lassen wollte. Da wurden wieder die Träume stärker. Ein Traum kehrte in vielen Formen wieder. Ein blondes, unscheinbares Mädchen mit blasser Haut erzählte ihm, daß seine neue, irgendeine erfundene Geliebte ihm durchgegangen sei, und wieder von Neugierde erfaßt, warf er hin: «Und glauben Sie, daß Tonka besser war?» Er schüttelte den Kopf und machte ein recht zweifelndes Gesicht, um das Mädchen damit zu einer ebenso kräftigen Beteuerung von Tonkas Tugenden zu reizen, er kostete schon den Wohlgeschmack der Erleichterung, welche ihm ihre Entschie- 82 denheit bringen würde; aber statt dessen sah er langsam ein Lächeln auf dem Gesicht vor ihm entstehen, sah es mit fürchterlicher Langsamkeit sich ausbreiten, und dann sagte das Mädchen: «Ach, die hat ja so furchtbar gelogen. So war sie ganz nett, aber man konnte ihr kein Wort glauben. Sie wollte immer eine große Lebedame werden.» Die größere Qual dieses Traumes war nicht das wie ein Messerschnitt ansetzende Lächeln, sondern daß er sich gegen die platte Ereiferung des Endes nie wehren konnte, weil sie in der Ohnmacht des Schlafes wie ihm aus der Seele gesprochen war. Wenn er an Tonkas Bett saß, war er daher oft stumm. Er wäre gern so großmütig gewesen wie in früheren seiner Träume. Er hätte sich vielleicht auch aufschwingen können, wenn er etwas von der Kraft Tonka zugewandt hätte, mit der er an seiner Erfindung arbeitete. Die Ärzte hatten ja nie eine Krankheit an ihm finden können, und so umschlang die Möglichkeit eines geheimnisvollen Zusammenhangs ihn mit Tonka: er brauchte ihr nur zu glauben, so wurde er krank. Aber, vielleicht, sagte er sich, in einer andern Zeit wäre das möglich gewesen — er gefiel sich schon in solchen rückblickenden Gedanken -, in einer andern Zeit wäre Tonka vielleicht ein berühmtes Mädchen geworden, das zu freien, Fürsten sich nicht für zu gut gehalten hätten; aber heute?! Man müßte wohl einmal weitläufig darüber nachdenken. - So saß er an ihrem Bett, war lieb und gut zu ihr, aber er sprach nie das Wort aus: ich glaube dir. Obgleich er längst an sie glaubte. Denn er glaubte ihr bloß so, daß er nicht länger ungläubig und böse gegen sie sein konnte, aber nicht so, daß er für alle Folgen daraus auch vor seinem Verstand einstehen wollte. Es hielt ihn heil und an der Erde fest, daß er das nicht tat. Die Bilder des Spitals quälten ihn. Ärzte, Untersuchungen, Disziplin: sie war ergriffen von der Welt und auf den Tisch geschnallt. Aber das erschien ihm fast schon als ein Mangel an ihr; sie mochte wohl etwas Tieferes sein, unter dem, was mit ihr in der Welt geschah, aber dann müßte auch alles anders sein in der Welt, damit man dafür kämpfen könnte. Er gab schon etwas nach, sie war ihm wenige Tage nach der Trennung bereits etwas fern geworden dadurch, daß er die Fremdheit ihres allzu einfachen Lebens, die er ein wenig wohl immer mitempfunden hatte, nicht mehr täglich reparieren konnte. Und weil er an Tonkas Spitalsbett oft wenig sprach, schrieb er ihr Briefe, in denen er vieles sagte, was er sonst verschwieg, er schrieb ihr fast so ernst wie einer großen Geliebten; bloß vor dem Satz: ich glaube an dich! machten auch diese Briefe halt. Tonka antwortete nicht, er war ganz verdutzt. Da erst fiel ihm ein, daß er die Briefe nie abgeschickt hatte; sie waren ja nicht mit Sicherheit seine Meinung, sondern eben ein Zustand, der sich nicht anders helfen kann als mit Schreiben. Da merkte er, wie gut er es immer noch hatte, der sich ausdrücken konnte, und Tonka konnte es nicht. Und in diesem Augenblick erkannte er sie ganz klar. Eine mitten an einem Sommertag allein niederfallende Schneeflocke war sie. Aber im nächsten Augenblick war dies gar keine Erklärung, und vielleicht war sie auch nur einfach ein gutes Mädchen, die Zeit ging zu schnell, und eines Tages überraschte ihn fürchterlich die Mitteilung, daß es nicht mehr lange mit ihr dauern würde. Er machte sich bittere Vorwürfe wegen seines Leichtsinns, der sie nicht genug geschont hatte, aber da er sie Tonka nicht verbarg, erzählte sie ihm einen Traum, den sie in einer der letzten Nächte gehabt hatte; denn auch sie träumte. Ich hab im Schlaf gewußt, sagte sie, daß ich bald sterben werde, und, ich kann's gar nicht verstehen, ich war sehr froh. Eine Tüte Kirschen hab ich in der Hand gehabt; da hab ich mir gedacht: Ach was, die ißt du vorher schnell noch auf! . . . Und am nächsten Tage durfte er Tonka nicht mehr sehen. XIV Da sagte er sich: vielleicht war Tonka gar nicht so gut, wie ich mir eingebildet habe; aber gerade daran zeigte sich das geheimnisvolle Wesen ihrer Güte, das vielleicht auch einem Hund hätte zukommen können. Ein trocken wie ein Sturm fegendes Leid ergriff ihn. Ich darf dir nicht mehr schreiben, ich darf dich nicht mehr sehn, heulte es um alle Ecken seiner Festigkeit. Aber ich werde wie der liebe Gott bei dir sein, tröstete er sich, ohne sich etwas dabei denken zu können. Und oft hätte er gern bloß geschrien: Hilf mir, hilf du mir! Hier knie ich vor dir! Er sagte sich traurig vor: Denk dir, ein Mensch geht mit einem Hund ganz allein im Sternengebirge, im Sternenmeer! — und Tränen quälten ihn, die so groß wurden wie die Himmelskugel und nicht aus seinen Augen herauskonnten. Er spann wachend nun Tonkas Träume. 84 Einmal, träumte er vor sich hin, wenn alle Hoffnung Tonkas geschwunden ist, wird er plötzlich wieder eintreten und da sein. In seinem weitkarierten braunen englischen Reisemantel. Und wenn er ihn aufmacht, wird ohne Kleider darunter seine weiße, schmale Gestalt sein, mit einer dünnen goldenen Kette und klingelnden Anhängseln daran. Und alles wird wie ein Tag gewesen sein, sie war dessen ganz sicher. So sehnte er sich nach Tonka, wie sie sich nach ihm gesehnt hatte. Oh, sie war nie begehrlich! Kein Mann lockte sie; es ist ihr lieber, wenn ihr einer den Hof macht, ein wenig ungeschickt weltschmerzlich auf die Gebrechlichkeit solcher Beziehungen hinweisen zu können. Und wenn sie abends aus dem Geschäft kommt, ist sie ganz ausgefüllt von seinen lärmenden, lustigen, ärgerlichen Erlebnissen; ihre Ohren sind voll, ihre Zunge spricht innerlich noch weiter; da ist kein kleinstes Plätzchen für einen fremden Mann. Aber sie fühlt, wohin das nicht reicht in ihr, dort ist sie überdies groß, edel und gut; kein Geschäftsmädel ist sie dort, sondern ebenbürtig und verdient ein großes Schicksal. Darum glaubte sie auch, trotz allen Unterschieds, ein Recht auf ihn zu haben; von dem, was er trieb, verstand sie nichts, das ging sie nicht an, sondern weil er im Grunde gut war, gehörte er ihr; denn auch sie war gut, und irgendwo mußte doch der Palast der Güte stehen, wo sie vereint leben sollten und sich niemals trennen. Aber was war diese Güte? Kein Tun. Kein Sein. Ein Schimmer, wenn sich der Reisemantel öffnet. Und die Zeit ging zu schnell. Er hielt sich noch an der Erde fest und hatte den Gedanken: ich glaube an dich! noch nicht mit Überzeugung ausgesprochen, er sagte noch: und wenn alles auch so wäre, wer könnte es denn wissen — da 'war Tonka tot. XV Er hatte der Wärterin Geld geschenkt und sie hatte ihm alles erzählt. Tonka hatte ihn grüßen lassen. Da fiel ihm nebenbei ein wie ein Gedicht, zu dem man den Kopf "wiegt, das war gar nicht Tonka, mit der er gelebt hatte, sondern es hatte ihn etwas gerufen. Er wiederholte sich diesen Satz, er stand mit dem Satz auf der Straße. Die Welt lag um ihn. Wohl war ihm bewußt, daß er geändert worden war und noch ein anderer werden würde, aber das war er 85 Licht und sie lag unter der Erde, aber alles in allem fühlte er das Behagen des Lichts. Bloß wie er da um sich sah, blickte er plötzlich einem der vielen Kinder rungsum in das zufällig weinende Gesicht; es war prall von der Sonne beschienen und krümmte sich wie ein gräßlicher Wurm nach allen Seiten: da schrie die Erinnerung in ihm auf: Tonka! Tonka! Er fühlte sie von der Erde bis zum Kopf und ihr ganzes Leben. Alles, was er niemals gewußt hatte, stand in diesem Augenblick vor ihm, die Binde der Blindheit schien von seinen Augen gesunken zu sein; einen Augenblick lang, denn im nächsten schien ihm bloß schnell etwas eingefallen zu sein. Und vieles fiel ihm seither ein, das ihn etwas besser machte als andere, weil auf seinem glänzenden Leben ein kleiner warmer Schatten lag. Das half Tonka nichts mehr. Aber ihm half es. Wenn auch das menschliche Leben zu schnell fließt, als daß man jede seiner Stimmen recht hören und die Antwort auf sie finden könnte.