Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft jMMMMmsseMfft 70© JJatas EMqia»ss®esdhiaft ■ Band l Band 2 Verfassung ■ Kirche • Kunst Peter Blickle Friede und Verfassung CarlPfaff Pfarrei und Pfarreileben Adolf Reinle Die Kunst der Innerschweiz von 1200 bis 1450 Gesellschaft • Alltag • Geschichtsbild Band 2 Gesellschaft - Alltag - Geschichtsbild Roger Sablonier Innerschweizer Gesellschaft im 14. Jahrhundert Werner Meyer Siedlung und Alltag Guy P. Marchai Die «Alten Eidgenossen» im Wandel der Zeiten Herausgeber Historischer Verein der Fünf Orte Redaktion Hansjakob Achermann Josef Brülisauer Peter Hoppe Walter-Verlag Guy R Marchai Die «Alten Eidgenossen» im Wandel der Zeiten DasBüd der frühen Eidgenossen im Traditionsbewußtsein und in der Identitätsvorstellung der Schweizer vom 15. bis ins 20. Jahrhundert «Das nennt man die Identität der Nation!»: Die Fragestellung Gottfried Keller hat in seinem großen Entwicklungsroman «Der grüne Heinrich» den Titelhelden einen für unsere Thematik tiefsinnigen «Heimattraum» erleben lassen. Auf einem sprachbegabten Goldfuchs nach Hause reitend, fand Heinrich die altvertraute Holzbrük-ke zu einer «niegesehenen Prachtsbrücke» verwandelt vor. In der weiten Brückenhalle sah er «die Wände mit zahllosen Malereien bedeckt, welche die ganze Geschichte .und alle Tätigkeiten des Landes darstellten. Das ganze abgeschiedene Volk war sozusagen bis auf den letzten Mann, der soeben gegangen war, an die Wand gemalt und schien mit dem lebendigen, das auf der Brücke verkehrte, eines zu sein; ja manche der gemalten Figuren traten aus den Bildern heraus und wirkten unter den Lebendigen mit, während von diesen manche unter die Gemalten gingen und an die Wand versetzt wurden. Beide Parteien bestanden aus Helden und Weibern, Pfaffen und Laien, Herren und Bauern, Ehrenleuten und Lumpenhunden; der Eingang und Ausgang der Brücke aber war offen und unbewacht, und indem der Zug über dieselbe beständig im Gang blieb und der Austausch zwischen dem gemalten und wirklichen Leben unausgesetzt stattfand, schien auf dieser wunderbar belebten Brücke Vergangenheit und Zukunft nur ein Ding zu sein. ifcbciiOem"ftuiii's von franco retcb vimoí&ŕosnoflen ju TtaaKrragďcbeben íít 3fm ňmfftícbeiibimocrt viio ore ^íebrnDen 3Jar* ^mfcbi»£Yt5críbon, 2fe|i»tlTAtf>i »Uli tiiijtrrt gotten ridr"'" fall uba ati.nidn'rt mHuiio ffey iTrmi/mttg ma mtniif]eluigen/iltirb l;rtt scrirttigctfvftvnD Iprtt/lcvl'c fid; vcr |ebjuipff gteiibctb.w b« boii 0 rerU (A) fiiiQcn. ^Khe?lnj trifcfrigEtitinit Pt.ifft/bne fley ftnnt getfjoiiberrftigii* fev^tfti/utbicfc'ii grvflcn iiv<^^ Jlcll S.i,llK«*ftlV*it({,K,TOOlti.'(l All) tilrill crfoOtltl. M93srrfiling x>M StSttaid) batcin grofle|di.tr/oG oi'trmi nti'ffig t,liiltfitiii,iitvti-,il') bcii nivrgtn. (jBi«lTf»irjvfT^r(Mlcii/WeUuiqFiiiicI^c woU ten turn rtior j>u!lmitH/ctt!rciirtlttti gotten liiffciitiiiiii/. 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(ill luclgerújí/iop pillŕír fKirl irjrlO rVMfJal/»ií •ailCertrntbCBin.nl eidt SM/t^K|>rt(8jmnbmWt^>4^biii)ôieiii>tn/tawfiit>t nMrbtmi (t|tl;lífj(ii, $2id) gcti'di mág irít nPclrtti/íflpbírbiio Iflybiu hfrrttfi trmty bya filen (ít>ryeiiro.ifliii/yiii |í1>ivcvtjfrlí>rtC>t ninnctlict? fiíiijt/ >inti 6ic|;cr |d;l.id;t(ä)iilbj[ifiiib[/t8njilirííiiiciii,iiit|lr,if)tii ^pDi'eteiVrdjen piibt |č> gnr Hthrf/cawítbmil diri|lena (S'nrj ver, jert/b.wiiiú'cht git cr(!flrmcii, in den Quellen iiberJieíeji Sind. Der Historiker kann nicht anders: er Im; von Teil, dem Urncr J-T«ih«-bfuebe vollkommen aus, Der Historiker findeI «ed«i Beweise für fteafi sok he s.i£t<\ Tills Hjíí-steiiz, Die ValSÄChe^dafiiS steh bei der j;T*11cii -tat:* um etrt altei, \veilverbml«!«, gcradesu w-clietypisch« Motiv handelt, im an sich lieacht-lictiuntts[iriirilnichtgeriidifllTtJLi.Histoi'iiirit der F.riÜhluLiS vom Metsterschuli in Alldorf. Kn tst denn schon ;KiSluliert -.vonten, daß Ceöfer die tbm 'tiekann I ě aordische Oííchichte mil Tel I nsítríittSíífriert habe J. Llus Beispiel 7cij;t, n> w^lcherj KoD.S'1'iiVrioiieri dj« V'cisudie,Tejl als üeit^ifhllitJi zu ^"weisen, Zuflucht nejimcn niüsEcii. F.; hat denn aueh noeli k«JMr üoer-«ju£tlj. Die Geschichte von den Burgen, die da in einer vereinbarten Aklioi: vjcrstdrt v/Ordto sein sollen., lieijt lurijcgin inr Bereich der bistorisetlöfl Uriiik: Hier htil oie Archaolrjgie - vnt oben riacliiulescn i?-tM—deri Nachweii srbracht, daß diese tiurtten t.ü sehr verjtSu'edencn Zeilen urx! l'iliei" eine iei tsjia onc von i^ei h und er'l Jahre n hinweP. auIfterjebeo worden tind und mit tltn H absbti r^ei n kü um etwas r.u tu n h arxn. SehlieLilLuli isl .ia hekanm, da Ii die Befrei tings.-aeicrtiofite ersl iibsr lumdert Jahre nach den vonihi überlieferten F.rcjgutssen,inifgeiiichne' v-ordeu isl. t.mler diesen Umsränden kam dem Ai jumen.t der mündlichen Tradition sine enl-seheiLtende Eedcutung iu. Dabei girtj mari davon &us, da'i die mOndliche Überlieferuitf in etiler naliwu scJlriftlc*c-n, auf das Otdächltiis rtnj«wicscrien Zeit über Jalirhu.nde.rle: hinweg tatssicliengcireu urid unvcrSndtrl >'un den Oe-schehrbtsseii bei'icatet habe. Allein diese kaum hintcrfrstgie Annahme ist wn dej Forschung, die iitli speziell mit der mündlidi&n übei'liefe-rung befaßt, schon seit einige; Zeit fallengelassen wnrden und rtiul) beim erreichten Wissens-starttfaküb*r'noUgi)t5n'\ Wenn aber die historisch« rCriUk, wu immer sie ansetzen Vann, trweist, daß die fJöcrtitht« so, wleiie^rlähltwird.niehtseiche.hen sein kiinfl, dunu muß sich doch diu Frage stell*", warum I Die ivicU* l.itirülüf ji*nt l*W«iu kann liier bíj^iíbvher. »(im ivkm *ilťecltUt< «vnSiii Vgl. iliř r"(ir.iiliunoat->thwt,ie. bei: Willi. Sw£h. S. XI XLYlUi Verrisui liül-V.01. CÍi*í*rttt!(« LireiStne ifc> MitniilK«. IkL I, Rer-HÁ 1*7.7: it. Hio: I3iü- - lur Wnk-jnjsjprfiitlii.t! SiVfii.WI; ftTEcií*. len, WiKtuKH/fiiiMU.Te*. Vjt. d w Auriiň:ir,íi«fcwiiviV£«. um Wtůteliicíl im jub* Is.iiüijltir |YSf. Dul: MaPí-ii*i. Cm? T.. O.e Srtbikl bin $eůa|McK Aínt>lJ WM^řič^ iinJ wir. in: yftrtipKhei SfWiifiljalMieii Dfüiidle PnlMkrlllg IÍS6. S, i: M*r.-emt-iiii^ fc iHninriKlic yoíítřiiing hl assussilliiv llVrtntb. ir.: Síinjiscl^r St^lstl-o^lv^eJL Qn'jtXflA T"«l ic-ii»'iS lifffe. 7; y.i'hs-lhi^ Jk^ft. Dnnkbir uixl w*di-sin'i. i.:,- Semoalliii íclilurtujnliKCU. OrTrädk l-«lMi-linii IVSÍ. 3. 7. V'üf, flvTierün^i die tUndtatua; Win-kelí-jídi-: >n ůnarII. bt 1^ »'in s. d :íi II MAlír:llAi.1ik;lilíeJll. ••' MUY-KK. ömil.S. ijjlffi I? VfJ Ml:ll.k, ISjlVí:ii:-.C!UilJitlUJi. Vil vi.k. ÜUtlr^'.tMS, IWií. nlííjl. - Turner. vl-JÍ;l irtriíklUabel: ^«-.mik. ■rvu 1 Mi'hk Bu^T.t^ii. Vil. iktsi] ili^n ßeitriie >uu Vťeinrr .Vieler ir. ťuťí,Ti' Werk i> Stsií Her ^:ililrvieliei> I.ncr^ltii: V^i-ůltichíiuJe ^.ifi-nfrjr s;l.....j. Ihv, Línmler Peliuldl. IJai .vmaól 1ÍSH (£hgc JL-i l-nrichciij; IS''|. w-- U>oua\^>n unuluC. Vňiuaiv ^■tihi-riri^Yii) LiI1.-1 a'.i.*"> Vel. aueli miieň Arm. 1I?. []fi Dťr ^MftUUilícrJuiL- Uí Eidgtíossf .* GlaasChffteVonNikluuS MsnuĚl unrl Híns ťuuk, tun laíí, íitiiruell 153?/ 1MtV?His(wistlws $]t19flint Itťm, man denn von den Anfangen so und nichl (lii-Ctsisenitltlt bat Dlis isi die ei^eritlieliu Fia^r- tri diesem Zusammenhang, Wer sie beam vor ten will, hat vor, der Tatsache auszugeben, daß die Tradition vLJiidej Befietutui dc.i WAklstäite am tnüedes 15. Jahrhunderts vull jusgebilder vorliegt, a lip In einer miete lall cd ictico Gesellschaft Sich Ircrausgptii Id ei liut. Oder ande« gesagt; Die [^Zählungen vom nichtlithen Schwur der bi-drttckteo Land knie auf dem Ruth, von der VeT-iiciÜNitgL der haÜSÜuir-jsch«[i VOat« und von Teils ßefretuna.s(at isnd tti jener Gesellschaft * ßlldinurprciDtion. Beim AufbKi Ji«er Altuniwippcii, !*h«he vemiKlect« Hans Ftink aie trniitia-iclle Farmcl. imfefii cf die tdnn atilieheri IUnue^en CMlgeiuiraer. erKeile unif w einen «ismal* licxiikiu*ll£ii iniKepoluifcheu D,*!^ führen I«*. fW UenthWilii*&dH Hoischafl ^lni*3 ihre d,ireh die Plivfilhr.ifi^ dr^itr «eflidAiisdier tihenän (ein m der fvltfi lir.nfu iiUaJUMifiaMfcH Sehern^): Er i^tjie I nwrpre«nL ebaadnn AJtmii*d-ja vw 1JIJ, und In Setin tlfcldvir m^isi^rie hirerpWfitJ'Vi, gehl de? ln-Imli jedenfalls die Forscbi:nii tat StrJi Ideieiiii", -aufei rte alte mündliche Überlieferung zurück. Stellt das fest, dann gi',1 e.s unter fäcizttc der Kr-jebnisse der Sassen- nur! Fr7üIiIfcniclni(len Charaklei der mündlichen Ubtaliefejuruj. 211 hestiuraen. AI s Weseniviige rrtündltoher Über-lieferung.geken die lockere form und der lockere Inhalt, sdic um einen festen Kern oszilliefert* Fine Gesellic.rH4 wird :> S^Ö ii erVrn nen ?:■> Sic bescJ-iirinlen J ie Armen, ihr aber achtet bii cTiftH Kriegen nur aufs G du1 und uieb L, ™ j rti gekü fiij.it'1 vi i ri. Sir kleideten sich .schlicht und batier. von der Ar-ImiL harte 1 lande: ihraKer lin.p1 oga n lf. 'vh «'•et grtden nn 1leh und starrend diefnigerriil v-uii iu-b?y t sonder t ü il (ds r rcü I i gen :i ugen n*. IJ ie V älter hallen sich aller Hcri^j", en tJeth£t. üir ahet lauft ihnen nach swiedie hfiuly der gLuujjereu::. Die G e&üj) üherü ellu n f, fallt Iii r di e Ju n gen Kid-genutsen vernkb le-iid a'uSi UelU tu c^jtüihh L sie Gutt, wieder aul'den recJKen V"' sji zurück zu wehren und de/ii Kai von Bruder Klans nachzuleben , den V uteri) gleich, ei 11 fach u nd mfl 8vell zti sein in Trinken, Essen und Kleidung. Lfltt alte ciriG;eiiossiscl-ie Wcmtl willen sie zurückgewinnen, «reformierer-a.. «Oligarchien wieder tiuivii 1 ] Dem n Vritie ersetzen, den figemei neu untren wieder ^tbej-den Fl gen nutz .stellen i.nd mi| LIeJim Leben iur einander eiuslelieu.^enn nkJi:, könne er aucn sin ^ruiisaTincr Gott sein und hart Stra-ej). wie er es liei Sr. JaVcli an df.i Rirs unu Marignanu bei ei^i aiigetl eu le I habe. Bemerkenswert ist! y\i LiuLLina,er diel oidcrun-gen der neuen /iit. Ulm I ich d ic retbrmatc rl seh Lh.eolc£i.jClien wie amh die eis: n unlieb siich-ku udig dai Au ;j?Eu4 ungsiy s:en: analysierenden ökonomisenen und poü tischen Fosiulate, mit einer Ldciir.".äl-svnrs.telliingverband, riie durchaus, mj11 eLglte'lich geprägt wai GeraJ e die seh: konkret tormu liej le Sozialkrilik bat vor dem Hnitcrginnd der allen Stand eidcologie ein.be' soneVs sejjsifes iWri erhallen nsr Vor-stel- hmg von der Unu^ehr der ständischen Urri nu na, wie übrigens auch dem KauIiisworl, das ihr nn-leflf^t wurdf-, WOhme fjne Tendenz au-jrjurid-sü:zhchen Adels- nnd Heiisuhaftskritik innc. die icdcrreit und aneh liiiLcr and^refl Vorici-e)ien iiufifrvj^e!tl /vt-f^en ton nie. Tn LlenPnfüig-Itn jnd DriKischriAcL der Relbrmiitor-jr. gewann sie eine für die fühlenden Gcschlcchtci lirvlr]] if I Lk die v ürs:fJ.u nj; v-üir. UmitnrieerSländiordnur.eimnieidcutliehci" veiwfi-f'en wurde. Bei .lehar.r.es S'umpf spteJl nix1 dw Au-wehr ".^geu ;iufwü[-,i^ 'AtfKufi* mit. wenn ct sien b^iapieLsweisc dLrs-s£cn vzr-wah rtc. d rJS d.c HidOjCiie-.ssen Ariels™" iljernrni Rui^enbivdj?] fBeesen j?jeri, und betonte, czii der fia.[[tpf ni;: den mutwilligen Ljndvdjjtcn sl^vie ilneu l>rJfii!u i ulekii Ad^ii^en He^ulleil nab-e, withr^nd dtT ^uls Adel in der Bidiienos-sensthafl seit je anerkannt und geachtet werde. I>entet sieb hie: sehen eine Reelltferti^tingder oerbai v+j.ts tti.m u-in sie bei Agidius T^Oiudi vu I le nds ml aj;e. Kr sa h sch, die im K<1 lupf ^esen die wiJ.kiubehe Herrschaft halfen. >ie hal^eman Llle Adligen aus ilcr Rjdge-^CJif.ni/-JLf;:"t iei Irieben, üjr.cern bloll jene, v/e.che Tyrannei iiiis'ihccn: ol^ic sind vnn den .er.rir.Hiten mit hilf:'der andern edlen ver/fiben worden.* Se> ei^iiti Stell bei Tschad] uuie dem Selbstversländnis des Patriziers heraus eine andere Sich'.: Die fühlenden Geschiehtei Sinti vi>[i r^leiti Anfunt} au dabei ^ev/esen und hüben fiutwahreud an der eidgenfSssisehen Rn'nviek-luug mirgewirkt. Kon tiiiuitril Stand im Voidei-y.i ii[n.l. nie regime]] lifähugen Geienleenter. das neth jurnje Patrrziat de.s 16. Ja'irhiinrfcrtSj 7U dem auch die'['schudi pcho^^i^ iU^nto i^e-ien 111 vi-einer Viitiseheu UrilwelL Seine Ehrbarkeit durch ein injöajiehsr alrcs Herkommen 7U hele-<;er.. Die Ken tinui tsürlhcsc widersfiraeh niehl n:.tr den au.slnndijeh-en Vt'jwürfen der Oauar-ehi^a, jij] LIij vefbarK. sich auult eine ^eE^'hüi'^tli-eheLeei'imiitiim des fatriziaü. Uicse nene Sieht lisdeuterc aliei iridjl, dr:.: die moralischen Fortlefunsen, die sich mit dem Dikl von den Allen Eidgenossen verbanden, von dieser Klihruns^schie-b'. in den Wind ?e ylilage:: worden wäivsn Mejjts zeig: das ceutLi-;nerali;ene V« np;jenüJaeil>e{aJi;) ius-üercehncr ein .se-hwcizeriiehcr Luvusajtikell), die Hani-Ftuil\ tirn 15 ¥l in Be-Tii für ein juuujverrnä hl res" Fzirizierpy-iir a n^eJ/srtLrjt narundriieria^T'-irma vam Al reu ui'.d .hiiigen Fidge Luisen in Eile und Tevt wieder aj^ialun. Freilich, der Geä-^satz z-wiicher, Ade] und Dauern ist aus der/, hier w.c-deraeaebeuen zlv/iegesprleh voll in au stehlen del. Und wo vc^n dem d ie R ty\c iit, wfi $ d je Al teil at^^eremet hätte iL jelv.l abej c'ie Junger, wieder pflanz!en. v'ini nicht der Adel genannt, sondern—abstrakt- uuf die Laste: Ho;fart. Gewi:': und großer i Jhermut hir.gewieseu. Sonst ut^er tet d?j Alle Hid^entvjse i'.uf die L'ra|^e de.1: Jungen, woher sein Glück, seine Klnv: und (iWoJv :> i leu gekommen seien, den alten Ti;-gend ka taJoj;: Gottesiu rehtigo' freue unri ei nffll ti&rs Wesen, kein Hoclimut, ionuttn niLiimLif-ts Dejntir.. Neu fü^t e: die Ei]]iajteit hinzu, und zwar in u rumtte.br.rem Zusznimcuhangmi'.dcr Veiaehm ng n n rceh Lmü füge.-, f t ,uj . Vt>n daJjer seien Gl'ieV und F.'iif.geVciiirnen. Die ::W ■■■ ■ Irz■ V^iM^Ihn'^ scrjuTd*' MilfT HMiuLerl Mkicii^Iu i imi K^ihnn* lirs: -Tcfo-'TiisTien Si^nr.= ; Üti'iLcni« ^"1 HU'&ruisr-liJti r^n^^^ri^rEü. t:n kr- den luiimniiUn-Jwii H.Mll.iii.\n iir« nhncfnr rck ?|wj IStO i:\n.it:\in;"" S^äi^C^ r^lunayo. ihr .Mjiqiüches 5t:hshtrvldüi!iiii ii'ialk'upM(ilro\ K.f>ifnii tu virrt^-.hrcn ilIi- Qeij[>* iei h.rr an mmen und i^cgen eine moderne SitLen-vejdei bnts ins Feld g-ftfli h r1, d i e man n ich r in eh r auf den hoffärtiseit AdeJ, iOridfiil nuf iiianjfi-sisehe, :we[sche> Eirdliisse zuriitkJführte. Auf diese We.se wurde für das patrizische Selbst-verslilndnis die Ijeuurutilgende sozialkritische Kuinptinente dei v(n ty^el*■ r.eri [dcnritiHsvor-■itclhin^ in ein innenpclitisdi gefahrloses, j<1 nutzbares Aräumen! verändert, nzirdidi in die Abwehr fjenader finfliis:se. 11$ Lür Uiirsfi.'Uuittnlö HuiHlesselmurs nli KtprFi-■sr-iitail.iii lurdi* E3mie Fi(|[;*in>>.™i^l'ljsfr.'' Ölbilil Tun Hunilitrr Ma-TJjsehet, Ufa. Ilisnifj-sehes Museuni HJcfii Alle hier behandelten Äußerungen galten der gesamten und einigen Eidgenossenschaft. Hie-von ging man ganz selbstverständlich auch dort aus, wo das Aufkommen eines neuen Adels gegeißelt wurde. Es gibt für dieses Verständnis der «Alten Eidgenossen» als ein allen gemeinsames Erbgut wohl kein sprechenderes Zeugnis als die unermüdlichen Bemühungen des Zürcher Anti-stes Heinrich Bullinger, der sich in einer Zeit größter gegenseitiger Entfremdung - nach dem Waffengang von Kappel - mit der Klärung der Schlacht bei Sempach befaßte, die damals immer mehr als eine nur die katholische Innerschweiz berührende Angelegenheit betrachtet wurde8. Mit diesem letzten Hinweis sind bereits die konfessionellen Gegensätze angesprochen, die den Blick auf das Gemeinsame trübten. Wem gehören die Alten Eidgenossen? Der Streit der konfessionellen Blöcke um das rechte Erbe Die Bünde der Alten Eidgenossen waren im alten Glauben vor Gott und den Heiligen beschworen worden. Der Abfall von diesem Glauben wurde daher nicht nur als religiöses Problem empfunden. Er bringe nicht nur Ungehorsam und Aufstand der Untertanen und Entbehrung für die ganze Eidgenossenschaft, er zerrütte und zerbreche auch «alle unser pünd, so wir Eydgnossen zu einandern hand», argumentierten die Sechs katholischen Orte 1524 bei ihren Verhandlungen mit den Reformierten9. Im Dezember 1525 sah man mit dem Abfall vom gemeinsamen Glauben auch die Gemeinsamkeit der Bünde aufgelöst. Die katholischen Orte beschlossen, die Bünde so lange nicht mehr zu beschwören, als die anderen auf ihrem Unternehmen beharrten10. Das war nicht nur ein Gegenstand hoher Bündnispolitik, sondern ging tiefer: Hans Salat berichtet, wie die neugläubigen Zürcher 1524 die Fünf Orte mit dem Kuh-Spott überschütteten - ein wenige Jahre zuvor noch völlig undenkbarer Vorgang", der zeigt, wie weit die Identitätskrise schon fortgeschritten war. Spätestens seit der Katastrophe von Kappel fing man an, sich gegenseitig die innere Gemeinschaft mit den frommen Altvordern abzusprechen. Diese Tendenz tritt für uns vollends zutage in den Auseinandersetzungen um die konfessionell bestimmten Bünde der reformierten Orte mit Genf, Straßburg und Mülhausen sowie um den Goldenen Bund der katholischen Orte von 1585. Im Umfeld dieser Verhandlungen ist eine Reihe von Druckschriften entstanden, in denen die gegenseitigen Standpunkte einer breiten Öf- fentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Allen ging es dabei darum, die Einheit der Eidgenos- | senschaft wiederherzustellen. Das Erstaunliche I ist nun, wie sehr hier beinahe ausschließlich mit j historischen Argumenten gefochten worden ist. i Inihrem «Fürtrag und proposition»12 legten die reformierten Orte dar, wie ursprünglich der Mehrteil der frommen Altvordern Fürsten und 1 Landvögten Untertan und gehorsam gewesen sei. Als aber diese «hoffart, unbillich gewalt, hochmut und stoltzheit» getrieben hätten, habe ; der allmächtige Gott, der solches nicht dulde, I die Eidgenossenschaft solcher Unterdrückung entledigt und vor allen Nationen mit Freiheit begabt. Mit Gottes Vorsehung und der frommen Altvordern «fürsichtigkeit» habe diese Freiheit in Frieden, Ruhe und Einigkeit bewahrt werden können, und nur in dieser Eintracht könne die Eidgenossenschaft bestehen. I Nun aber würden Potentaten, die den Eidgenossen diese Freiheit nicht gönnten, durch konfessionelle Bünde sowie üble Verleumdungen gegen die Reformierten die Eidgenossenschaft ! absichtlich entzweien. Wenn hier noch von einer gemeinsamen Rück-bindung an die Alten Eidgenossen ausgegangen wurde im Sinne einer Grundlage für die wieder- ' herzustellende Eintracht, so zeigte die «Antwort unser catholischen orthen»13 Punkt für Punkt auf, daß diese Geschichtsschau nicht j mehr galt, daß eben nicht mehr alle rechte Erben der Vorfahren waren. Die faktische Darstellung des «Fürtrags» teilte die «Antwort» durchaus, wies aber daraufhin, daß die Hoffart | und Gewalt der Herren am stärksten bei den Fünf Orten getrieben worden seien und somit sie zuerst die göttliche Kraft und Gnade erfahren und die Freiheit errungen hätten. Ihnen, die 1 «in so gar geringem ansehen und vermögen» gestanden hätten, habe Gott seine starke Hand geliehen und durch dreier «kleinfüeger, jedoch , frommer und verständiger personen» Vereini- | gung sowie nachmals in vielen harten Streiten und Schlachten Fortbestand und Freiheit verliehen und den Bund vermehrt. Die Ursache J " Suter, Winkelried, S. 45—54. . ' EA 4/la, S. 547, Nr. 229 (30.12.1524); ähnlich schon: EA4/la,S.455,Nr. 192(14.7.1524). I 10 EA 4/la, S. 810; Jörg Ruth, Johannes Salat. Reforma-tionschronik. 1517-1534, Bd. 1, Bern 1986 (QSG NF 8/ 1), besonders S. 288. 11 Ebd., S. 210: kukemenn, milchbengel, kumulier. l2EA4/2, 1, S. 896-901. Eine erste Übersicht über die für | das Geschiehtsbewußtsein aussagekräftige Druckproduktion dieser Epoche verbunden mit einem provisorischen Katalog der auftretenden Vorstellungsmotive bei: Guggisberg Daniel, Das Bild der Alten Eidgenossenschaft in Flugblättern und Traktaten des 16.-18. Jahr- 1 hundcrts (1575-1735), Lizentiatsarbeit Basel 1988 (unveröffentlicht). IJ EA 4/2, 1, S. 918-940. Nach Haller, Bibliothek 5, Nr. 596, von Renwart Cysat verfaßt. i hiefür liege zweifelsohne allein in «unser frommen altvordern wahren gottsfurcht, einträchtigkeit, trewe und rechte unverenderte Liebe». Nun aber habe man die großen Gaben Gottes vergessen; der Hochmut sei aufgekommen, und man sei so vermessen, sich die großen Taten selber zuzurechnen. Daher habe Gott die Eidgenossen gestraft, indem er sie durch einen einzigen schlechten, seinem Gelübde untreuen Menschen in «allerhöchste zertrennung gerathen» ließ, denn diese sei nicht von den Fünf Orten, sondern von den Reformierten ausgegangen. Wohlfahrt und Sicherheit hingen nur von «dem eintzigen puncten der Vereinigung des glau-bens» ab, alles übrige werde folgen. Daher richteten nun die Fünf Orte ihre dringlichste Bitte und herzlichste Mahnung an die andern Orte, «daß ir widerumb in den weg und die Fußstapf-fen ewerer frommen voreitern, in den wahren allein seeligmachenden catholischen römischen glauben tretten wollend». Mit aller Deutlichkeit wurde auf diese Weise klargestellt, daß es die Neugläubigen waren, die sich von der alteidgenössischen Tradition abgesondert hätten -eine Trennung, in der man Gottes Strafe erkannte. Nur die Rückkehr zum alten Glauben konnte die Eintracht der alten Bünde wiederherstellen. Die «Antwort» umriß den Grundzug des katholischen Geschichtsbewußtseins, wie es erstmals in der Reformationschronik des Hans Salat zum Ausdruck gekommen war und in der Folge die ganze hier ins Auge gefaßte Periode beherrschte. 14 Getreuwe Warnung und Vermanung au die treizehen Orth loblicher Eydgnosschafft wegen mannigerley böser Prattickenn und sorglicher leuffe so jetzund vorhanden, s.l. 1586 [Haller, Bibliothek 5, Nr. 600], Vgl. zu diesem Disput: Greyerz, Nation, S. 54ff. 15 Huldricus Johann Jakob, De Religione Antiqua [...] S. Felicis et Regulae Protomartyrum Tigurinorum, Zürich 1628 [Haller, Bibliothek 3, Nr. 1637]; Wahrhaffter Bericht [...] worinnen gründlich dargethan wirt [...] unserr handlungen gegen den widertaufferen eigentlicher an-laß [...], Zürich 1639 [Haller, Bibliothek 3, Nr. 509; verfaßt von Johann Jakob Breitinger]; Anklag Gottes Darinn in der Person Gottes eine gemeine Eydgnosschafft zu ernstlicher Bekehrung ermanet wird [...] durch Johann Wirtz Diener der Kirch und Schuel Zuerich, Zürich 1648 [Haller, Bibliothek 3, Nr. 306]; Kurtzes Tracktaetlein darinn erwiesen wird, I. Daß die lehr so in den Kirchen der Herrschafft Bern gelehrt wird nicht New sondern die seye, welche die heyligen Apostel und die vier allerelteste allgemeine Concilia uns hinterlassen [...], Bern 1650, 1676 [Haller, Bibliothek 3, Nr. 527]; Admonitio foederalis et sincera: oposita minime foede-ralibus et falsis [...] allegatis in deduetione adversus co-lonellum Zwyerum Uraniensem, s.l. 1658, 21659 dt./lat. [Haller, Bibliothek 5, Nr. 1203]; Frundt Eydtgenossi-sche Wexelschryben Dreyer Politischer personen Betreffend Allerhand [...] bedencklicher Sachen [...] s.l. s.a. [17. Jahrhundert; Haller, Bibliothek 3, Nr. 512; von Johann Heinrich Hottinger]; Froliche Widergedachtnuß des seligen Werckes der Reformation [...], Zürich 1719 [Haller, Bibliothek 3, Nr. 558], Damit befanden sich die Reformierten gleichsam in einem Beweisnotstand; denn wie sollten sie nun ihre eigene Identitätsvorstellung an die frommen Alten Eidgenossen anschließen? Dies zu leisten unternahm die «Getreuwe Warnung und Vermanung an die treizehen Orth»l4, indem sie das überkommene Bild von den «einfältigen, frommen, arbeitsamen, starken leuth», die sich allen Überflusses und unnützen Spiels enthalten hätten und kriegstüchtig gewesen seien, allen Eidgenossen vor Augen hielt als Spiegel, der leider schier erloschen sei. Jetzt habe Reichtum, Zerstörung des gemeinen Nutzens, Ungleichheit zwischen den Orten die Eintracht zerrissen. Alle trügen an dieser Entwicklung schuld, nicht bloß die Neugläubigen. Denn daß es die katholische Religion gewesen sei, welche die Wohlfahrt der Altvordern begründet habe, sei nicht erwiesen: Sie habe weder die Tyrannei der Vögte verhindert noch in der Gegenwart den Niederländern schreckliche Kriege oder den getauften Indianern in Amerika grausamen Tod erspart. Daher solle man sich besser auf das allen gemeinsame Fundament eines «uralten christlichen apostolischen Glaubens» berufen und sich weder durch die Ungleichheit der Vorteile zwischen Städten und Ländern noch durch Bündnisse oder die Konfession trennen lassen. Vielmehr sollten sich alle nach dem «Exempel unserer Voreltern» richten und sich mit eidgenössischen Herzen lieben zu Heil und Wohlfahrt des allgemeinen Vaterlandes. Mit diesem Rückgriff auf das gemeinsame «Urchristentum» war nun auch für den reformierten Verfasser der Weg frei, die ganze Geschichte von den Bundesgründern über alle Schlachtensiege bis hin zu Bruder Klaus, wiederum parallel gestellt zur Geschichte Israels, als allen Eidgenossen gemeinsame Heilsgeschichte zu erfassen und das allgemeine Vaterland zu erkennen in einer Vision, welche im Bild eines starken, mit einem Kranz von dreizehn Blumen gekrönten Stiers gipfelte, dessen Hörner nicht nach innen, sondern nach außen gerichtet seien gegen die anrennenden Löwen und Wölfe. Der hier vollzogene Rückgriff auf das gemeinsame Fundament des Urchristentums wurde bis ins 18. Jahrhundert hinein von vielen Traktaten15 übernommen. Er erlaubte es auch den Neugläubigen, sich legitimerweise in den Fußstapfen der Altvorderen zu sehen und die Vorstellung der Altgläubigen, daß eidgenössischer Bund und katholische Religion nichtzu trennen seien, zu umgehen. Auf einem tieferen Argumentationsniveau war allerdings eine solche theologische Begründung gar nicht nötig. So verfeindet man war, so empfand man sich eben doch als Eidgenosse; hüben und drüben nahm man für sich in Anspruch, in der Nachfolge der Vorfahren zu stehen - selbst 333 dort, wo es gar nicht zutreffen konnte: Als sich Bern, Zürich und Straßburg 1588 verbündeten, dichtete man davon, daß die drei Städte in die Fußstapfen der löblichen Vorfahren träten, die treu und standhaft für Freiheit und gegen fremde Neuerungen eingetreten seien. Die Freiheit zu bewahren, die jene geadelt habe, sei Pflicht, wenn man gegenüber seinen Vorfahren nicht meineidig werden wolle ".Und ebenfalls unter Berufung auf die Ahnen haben die katholischen Orte den Goldenen Bund gerechtfertigt. Auch im Toggenburger Handel, der den zweiten Vill-mergerkrieg von 1712 auslöste, haben sich ein katholischer «Toggenburgischer Bidermann» und ein reformierter «Eidgenössischer Toggenburger» wechselseitig als tyrannische Vögte und Gessler verschrien und die Alten Eidgenossen und den Teil für sich in Anspruch genommen 1712 trat noch ein anderer Teil auf, der alsbald als «Bauernrülz» entlarvt wurde. Man weiß, wie sich die Gestalt Teils immer wieder mit bäuerlichen Aufstandsbewegungen verbunden hat. Allerdings nicht nur er. Bisweilen fanden sich auch die Alten Eidgenossen auf dieser Seite. Die Bauern als wahre Sachwalter der Alten Eidgenossen Die gesellschaftliche Sprengkraft, die in Zwing-lis und Bullingers Äußerungen von den Alten Eidgenossen enthalten war, ist bei den unteren Gesellschaftsschichten aus Gründen, die hier nicht zu erörtern sind", zunächst kaum wirksam geworden. Vorerst hat nur Teil aufgelebt, und zwar erstmals 1561 in Unterwaiden. Teil, der entschiedene Kämpfer gegen herrschaftliche Willkür, ist immer wieder zum Führer bäuerlicher Unruhen erhoben worden". Im Bauernkrieg von 1653 ist nun aber der Standpunkt der Landleute so sehr von geschichtlichen Vorstellungen erfüllt, daß man geradezu von einer nachahmenden Identifikation mit den Alten Eidgenossen sprechen kann20. Selbstverständlich ist auch Teil mit von der Partie: Wie die drei Teilen, die in der volkstümlichen Auffassung den Rütlischwur geleistet haben, stehen am 26. Januar 1653 oben beim Ent-lebucher Wallfahrtskirchlein Heiligkreuz drei gewaltige Männer und leisten den Eid für die Talleute. Und später im Jahr, als die Sache der Bauern bereits verloren war, haben die Teilen im Hohlweg bei Schüpfheim den Luzerner Schultheißen und sein Gefolge überfallen, in bewußtem Nachvollzug der Tat in der Hohlen Gasse. Bedeutsamer ist in unserem Zusammenhang jedoch, was am 14. Mai 1653 in Huttwil geschah. Damals kamen Vertreter aus den «Herrschaf- ten» Luzern, Bern, Solothurn, Basel und den freien Ämtern zu einer Landsgemeinde zusammen, um nichts weniger zu tun, als da den «ersten eid genössischen Bund, vor etlichen hundert Jahren zusammengeschworen», zu bekräftigen sowie zu «erhalten». Die Gründe für diesen Schritt, die zunächst die Luzerner Untertanen und dann alle zusammen in einer vorausgehenden Landsgemeinde notifizieren ließen, entsprechen einer Selbstschau, die auch das Bild widerspiegelt, das man sich von den Alten Eidgenossen machte. Den gehorsamen, treuen Untertanen stehen die Vertreter der Obrigkeit gegenüber, die «Landvögte», die ihren eidlichen Pflichten «nicht allein nicht nachkommen», sondern durch «neue Aufsätze» und «ungebührliche Strafen» ihre Untertanen «belästigen», und zwar «wider ihre Brieff und Sigel». Wer sich gegen die Willkürakte bei der Obrigkeit beklagt und um sein Recht gebeten habe, sei bloß mit «schandworlen» und Drohungen «abgeputzt» und, wenn er beharrte, gar mit «Kopfabhauen und Strafe» bedroht worden. Deshalb hätten sich nun die Untertanen zusammengeschlossen, um «als getreue, liebe Nachbarn» Hab und Gut, Weib und Kinder in gutem friedlichen Wohlstand erhalten zu können. Unverkennbar scheint hier die Vorstellung vom alten Adel und seinen Willkürakten wieder auf, in Bildern, die bis in die verwendeten Begriffe hinein der Befreiungsgeschichte entnommen sein könnten, wie sie etwa Johannes Stumpf berich- 16 Ordentliche Beschreibung welcher gestalt die Nachbarliche Bundnuß [...] der dreyen loblichen Statt Zürich Bern und Straßburg [...] 1588 [...] ist ernewert bestattigt und vollzogen worden [...], Straßburg 1588 [Haller, Bibliothek 5, Nr. 627], S.41. 11 Toggenburgischer Bidermann. Das ist: historische [...] Unterscheydung zwischen dem treuen und untreuen Un-derlhan der Graffschafft Toggenburg. Von einem ge-freyten Eydgnossen [...], Im Thon: Wilhelm bin ich der Teile, s.l. 1712 [Barth, Bibliographie 1, Nr. 2651], Strophe 5f und 35f.; Der Eidgenossische Toggenburger Entgegengesetzt Dem Toggenburgisehen Bidermanne [...] von einem wahrhaften Eidgenossen [...]. In der Weise: Wilhelm bin ich der Teile, s.l. 1712 [Barth. Bibliographie l, Nr. 2732; von Johann Jacob Hardmeyer], Strophe 8-10. 18 Vgl. hierzu: Blickle Peter, Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil, München 1987, besonders S. 73ff. - Zugänge zur bäuerlichen Reformation, Hrg, Peter Blickle/Peter Bierbrauer, Zürich 1987 (Bauer und Reformation I). " Vgl. oben S. 311, Anm. 6 und S. 320, Anm. 9 sowie die grundlegende Materialsammlung in: Idiotikon 12, Sp. 1398-1405. 20 Als Gesamtdarstellung noch immer grundlegend: Vock Alois, Der große Volksaufstand in der Schweiz oder der sogenannte Bauernkrieg im Jahre 1653, in: Helvetia 6, 1830, S. 33-466 (hier auch S. 96-101, 237-241 und 297f. die zitierten Quellen). Stadler, Zeitalter, S. 652ff. (mit Literatur). - Zur Entlebucher Tellentat: Wackernagel Hans Georg, Volkskundliche Bemerkungen zum Auftreten von «Teilen» im schweizerischen Bauernkrieg 1653, in: Schweizerische Volkskunde 47, 1957, S. 93f. tet hat. Und das Schreiben der Leute aus der Vogtei Kriegstetten an die in Huttwil versammelten «Eidgenossen» stellt.den Bezug denn auch explizit her: Was «die großen Bürden und Ungerechtigkeiten, auch Tyrannei» anbetreffe, «darwider wollen wir streiten und fechten bis auf das Blut, wie unsere frommen Altvordern sei.». Der neue Bund, der jetzt beschworen wurde, stellte sich in einer formgerechten Invocatio unter den Schutz der Hl. Dreifaltigkeit und erhielt gleich im ersten Artikel seine historische Legitimation: Es geht um den Erhalt des ersten, «vor etlichen Jahrhunderten zusammengeschworenen» Bundes und damit also um den Kampf gegen das Unrecht. Auch die im gleichen Artikel formulierte Zielsetzung entspricht durchaus dem Bild von den maßvollen ersten Eidgenossen: Was den Herren und der Obrigkeit gehört, soll ihnen bleiben und gegeben werden; was aber den Bauern und Untertanen gehört, soll diesen bleiben und gegeben werden. Dabei wollen sie sich schützen und schirmen mit Leib, Hab, Gut und Blut und unbeschadet der jeweiligen Religion. Der Bund ist unbeschränkt und soll alle zehn Jahre beschworen werden. Hierin nahmen die Verbündeten sogar eine eigene Gerichtskompetenz in Anspruch: Bundesbrüchige sollten nach ihrem Verdienen bestraft werden. Und schließüch hielt man auch noch fest, den «Handel» mit der Obrigkeit nur gemeinsam zu bereinigen. Gewiß ist es die ländliche Oberschicht, die hier die Führung übernimmt und sich äußert. Dennoch ist bemerkenswert, wie sich die Bauernschaften als unmittelbare Erben der Alten Eidgenossen verstehen und in ihrer Gegenwartserfahrung die gleiche Situation erkennen, wie man sie sich damals für die Zeit der Bundesgründung vorgestellt hat. Nur aus solchem Selbstverständnis heraus läßt sich nachvollziehen, warum sie ihren Bauernbund als authentische Fortsetzung des ersten Bundes konzipieren und diesen als eigenes politisches Gebilde, ja geradezu als Staat im Staat dem eben herrschaftlich und dem Ursprung untreu gewordenen bestehenden Bundessystem entgegenstel- * Bildinterpretaticn: In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts werden nun die bisher verwendeten ikonographi-schen Repräsentationsvorstellungen (Wappenband, Ochse usw.) miteinander kombiniert. Die früheste Darstellung des mit einem Wappenband gekrönten Stieres zeigte das ganze Tier und schmückte ein Gedicht über die Eidgenossenschaft: Sie sei von den Alpen und den Flüssen Roddan (= Rhone) und Rhein begrenzt und durch die zwei Vorstädte Genfund Konstanz geschützt. Die letztere Stadr sei 1545 von kaiserlichen Spaniertruppen dem Bund «abgedrängt*) worden - deshalb das abgebrochene Horn. Die Reduktion der bildlichen Darstellung auf den Tierkopf diente hier zusätzlich zu einer Verdeutlichung dieser Aussage. Dttt> mmrum wir lang & a Die eidgenössische «Dam» und der anmaßende «Ritler« agieren in theatralischen Verkleidungen. Gegen die selbstherrlichen Ansprüche des Adels, illustriert durch den frechen Griff in den Blumenkranz, wehrt sich die Dame und will zu den am Baum angelehnten Waffen greifen. Ihr Schild zeigt den Wap-penkranz. Der Ritter hat die Kette für die Gefangenschaft schon bereit. Die Illustration bleibt im Gleichnishaften, ohne einen direkten Bezug zur damaligen Gegenwart anzugeben. zsammen stahn und Gott mit euch lassen verwalten». Ähnlich wie in den Liedern der Burgunderkriege beschwört er all die regierenden Orte, daneben aber auch die Untertanenländer (die eidgenössischen Vogteien) und zugewandten Orte in ihren heraldischen Figuren herauf-den Leu von Zürich, den Berner Bär, den Uris tier usw. -, damit sie füreinander einstehen und zusammenhalten. Am Ende steht das reizvolle 120 Jakob Wuhrmanns «Eidgenössische Dame».* Radierung von F. M., 1676, als Illustration zu Jakob Wuhrmanns «Buhlschaft der sich representie-renden Eydgnossischen Dam». Universitätsbibliothek Basel. Motto, dessen Hintergrund wir nun kennen: «Wen wir thäten, was wir sollten, so thät auch Gott, was wir wollten.» Die eigentümlichste Leistung dieser Periode stellt zweifelsohne Johann Caspar Weissen-bachs «Eydtgnossisch Contrafeth Auff- und Abnemmender Jungfrawen Helvetiae» dar, ein prachtvolles Freilichtspiel, das im September 1672 während zweier Tage in Zug aufgeführt und nachmals wiederholt neu aufgelegt worden ist26. Das Spiel bietet eine einzige groß angelegte politische Gewissenserforschung, deren Quintessenz gleich zu Beginn vom Sonnengott Phö-bus verkündet wird: «Ich wird euch so lang 336 337 scheinen, solang ihr habt die Einigkeit, so lang ihr grecht und fromb werd meinen, so lang bey euch Vorsichtigkeit, Hoffnung, Liebe und der Glauben, dise laßt euch nicht entrauben.» Einigkeit steht an erster Stelle. Im ersten Teil der «Auffnemmenden Helvetia» wird die eidgenössische Geschichte mit den üblichen Versatzstücken präsentiert Kampf der Bauern gegen den Adel, auserwähltes Volk, Kanon der Schlachtensiege - und bis zur Reformation geführt, welche Geduld erfordere und nicht scheiden solle. Die Eintracht der alten Bünde müsse das Fundament bleiben, und so möge Gott es geben, «in der Alten Fußtritt z'leben». Gegen Ende des ersten Teils werden die Versuchungen durch die fremden Mächte und die allgemeine Sittenverrohung erkennbar, und während Helvetia, auf ihrem Zenit stehend, von den Tugenden umgeben eine Magnificat-Variation anstimmt, warnt der Schlußchor vor dem Unkraut, das die Feinde aussäen, und erinnert an die Vergänglichkeit der Blumenpracht. Im zweiten Teil ist das Unkraut aufgegangen. Der Eigennutz herrscht, und die drei verkehrten Teilen Atheismus, Interesse und Politicus, der Doppelzüngige, vertreiben die Tugenden. Helvetia sinkt krank darnieder, und Christus zürnt ihrer Undankbarkeit. Die Helvetia klagt es den Dreizehn Orten, die in einer langen Beratung sich zunächst gegenseitig die Schuld zuschieben vor allem wegen der Glaubensspaltung, dann aber doch zu einigen tieferen Gründen vorstoßen: Eigennutz, fremde Bräuche, Verachtung der «Muttersprache», des aufrechten Wortes nämlich, und Selbstverblendung. Über die Heilung der Helvetia zerstreiten sich die wahren Ärzte, welche die Ursachen bekämpfen wollen, mit den politischen, die bloß den jetzigen Zustand konservieren möchten, während die göttliche Gnade rät, allein auf Gott zu vertrauen und den Alten zu folgen. Jetzt steigen die drei wahren Teilen aus dem Grab, die allerdings ihre Heimat nicht wiedererkennen und erzürnt die schlafende Helvetia aufrütteln. Bruder Klaus klagt über den «verkehrten Stand» seines Vaterlandes, will aber als «Patron schweizerischer Nation» bei Gott Fürbitte leisten. Zusammen mit der Gottesmutter besänftigt er ChristiZorn über die undankbare Helvetia, die nun, endlich erhört und geheilt, das Lob Gottes anstimmen kann. So sehr das Spiel auf die Aktualität bezogen ist, ebenso sehr wird es auch von Geschichthchem durchwirkt. Das Geschichtsbild aber, das mit einem atemberaubenden formalen Reichtum und prächtigen Ausstattungen im Geschmack der Zeit dargeboten wurde, entsprach völlig den damals geläufigen Vorstellungen. Die originale Leistung bestand jedoch darin, daß hier eine neue Identitätsfigur eingeführt wurde, als die Jungfrau Helvetia. Hiezu mochte beigetragen haben, daß Weissenbach die humanistische Hel-vetier-These übernahm und darum die Schweizer Geschichte schon vor Christi Geburt mit den freien Helvetiern beginnen ließ. Für ein ganz auf die Vermittlung zwischen den zerstrittenen Eidgenossen ausgerichtetes Spiel dürfte aber noch viel wichtiger gewesen sein, daß die alte Identitätsfigur des einfachen eidgenössischen Bauern, hüben und drüben beansprucht und der Gegenseite abgesprochen, mehrdeutig und für eine wirkungsvoll präsentierte gemeinsame Identität untauglich geworden war. Das bestätigen auch die anderen damals vorkommenden Ansätze zu einer solchen Personifizierung der Schweiz - Weissenbach stand damit nämlich nicht allein -, welche nun eine «eidgenössische Dam» auftreten ließen27. Es kommt nicht von ungefähr, daß gerade dort, wo man vermittelnd die Eintracht ins Zentrum des Geschichtsbildes rückte, eine neue, an sich wertneutrale Identitätsfigur geschaffen wurde, «die eidgenössische Dam» Helvetia. Sie kann als die eigentümlich innovative Leistung des 17. Jahrhunderts angesprochen werden. Volkstümliche Geschichtsvermittlung Wenn wir uns fragen, woher denn überhaupt die Geschichtskenntnisse kamen, die dem Traditionsbewußtsein zugrunde lagen, so werden wir weniger im Bereich der spärlichen Chroni-stik dieser Zeit eine Antwort finden25. Vielmehr sei beispielhaft auf zwei Bestseller hingewiesen, die neben dem «Schönen Spruch» Ulrich Wir-rys gegen Ende der hier betrachteten Periode immer wieder aufgelegt worden sind. Von der Liedsammlung «Summarischer Inn-halt der alten Schweitzerschlachten und Geschichten» hat schon Gottlieb Emanuel Hal- 11 Buhlschaft der sich repräsentierenden Eydgenosischen Dam welche einer hoch-loblichen Eydgnossenschafft ihre Hertzens-Gedanken in Treuen eröffnet [...] daß sie [.,.] bey ihrem biß dahin tragenden Krantz ihr Teil Ehr Gut und Blut auffsetzen dahbey leben und sterben wolle. Von einem retlichen und getreuen Eydgnoß auffgesetzt [,..], Zug 1672, 1673, Wisendangen 1676 [Haller, Bibliothek 5, Nr. 1278; von Jakob Wuhrmann]; Ein schon neu Lied genannt der Eydgenossischen Damen Ehren-Krantz Gestellt als der Eydgenossische Lands-Friederi ist geschlossen worden zu Aarau]...] 1712, s.l. 1712. 28 Es ist daran zu erinnern, daß zu dieser Zeit - abgesehen von Petermann Etterlin und Johannes Stumpf - keines der großen historiographischen Werke (Ägidius Tschudi, Conrad Justinger, Valerius Anselm, Vadian, die verschiedenen Bilderchroniken) ftir eine größere Allgemeinheit zugänglich im Druck vorlag. Tschudis Chronicon Helveticum wird erst 1734/36 gedruckt. Vgl. hierzu: Wessendorf, Geschichtsschreibung, S. 17-47. ler29 nur die «Vorrede» gefunden, und es ist durchaus denkbar, daß der in sich geschlossene Text beliebigen Sammlungen mit historischen Liedern als Vorspann vorangestellt werden konnte. Er wendet sich an den «armen Mann, welcher kein Chroneck bekomen kan», der aber wissen möchte, was Gott mit dem «Schweitzerland» getan hat, und er bietet eine knappe Inhaltsangabe vom Herkommen der Schweizer über die Gründungsgeschichte und die im Zentrum stehenden Schlachten bis hin zur Drei-zehnörtigen Eidgenossenschaft. Wichtiger als der Inhalt sind die Gedächtnishilfen, die hier einmal namhaft gemacht werden: Die Geschichten sollen «gesangs-weis» zusammengetragen werden, um den Landmann zu ergötzen und ihm das Wissen zu vermitteln, das ihm erlaubt, Gott zu danken und der «Alten Frommheit, Trewe und Tapfferkeit bestmöglichst» nachzustreben. Erinnerungsträger ist das Lied, aber auch das Sprichwort, das der Verfasser gerne einsetzt, wie jenes von der weinenden Demut und vom lachenden Hochmut oder das Merkverslein über die Burgunderkriege («Karl der Kühne verlor bei Grandson das Gut» usw.). Erinnerungsträger sind schließlich auch Denkmäler wie das Kloster Königsfelden, das an den Königsmord von 1308 erinnert, oder die Säule von Fraubrunnen, deren Inschrift über die Gugjer gänzlich wiedergegeben wird. Der eigentliche «Renner» hingegen muß das Büchlein «Kleine Schweitzer-Chronica» des Buchbinders, Trompeters sowie Flachmalers Hans Rudolf Grimm aus Burgdorf gewesen sein. Seit seinem ersten Erscheinen im Jahre 1723 immer wieder neu aufgelegt, hatte es «beim Pöbel» einen solchen Verkaufserfolg, «daß» - wie Haller nicht ohne Neid vermerkt -«kein Schriftsteller sich einer so schleunigen durchs ganze Land ausgebreiteten Begierde seine Schriften aufzukaufen und auswendig zu lernen rühmen kann»30. Was da zu lesen war und offenbar auswendig gelernt wurde, war eine recht ausführliche, naiv-lebendig erzählte, auf Bern zentrierte Geschichte der Schweiz mit vielen volkstümlichen Vorstellungen und Anekdoten, eingängigen Vereinfachungen, Sprichwörtern und verballhornten Ethymologien (etwa 29 Summarischer Innhalt der Allen Schweitzerschlachten und Geschichten. Aufs neue gedruckt, s.l. 1723 [HaLLER, Bibliothek 4, Nr. 471: «kleine häufig aufgelegte Druckschrift»]. 30 Grimm Hans Rudolff, Kleine Schweitzer Cronica oder Geschichl-Buch Darinnen in Erzelung über 200 Historien alles begriffen ist was ein Liebhaber der Schweitzer-Historien zu wtissen vonnothen hat [.,,] dem gemeinen Mann zu Gutem in Truck verfertiget von Hanss Rudolff Grimm Buchbinder, Trompeter und Flachmahler in Burgdorff, Burgdorf 1723, 1732, 1732, Basel 1733, 1786, 1796 [Haij.er, Bibliothek 4, Nr. 470]. Wessendorf, Geschichtsschreibung, S. 27-31. die «Helvetier», die aus ursprünglichen «Höllenvätern» zu «Heldenvätern» geworden seien) sowie etwas Staatskunde und Kirchengeschichte. Die eigentlichen Leckerbissen waren wohl die seitenlangen anschaulichen Schlachtenerzählungen. Der Grundzug aber bleibt - wiewohl durch einen Wust von zweifelhaften Informationen verdeckt - derselbe, den wir schon kennen: Der Kampf der Bauern gegen den Adel, das Bild von einem einfachen, «höflichen», gegenüber Bedürftigen barmherzigen, treuen und dienstbaren, von Natur starken Bauernvolk, wahrheits- und gerechtigkeitslie-bend, nach außen kriegerisch, wenn es genötigt wird, sonst aber friedliebend und viel auf seine Freiheit haltend. Der Grund des Erfolgs mochte abgesehen von der Simplizität auch darin liegen, daß Grimm diese alteidgenössische Tugend unbefangen auf die Realität des einfachen Landvolkes übertrug und nur gerade bei den Städtern fremde Moden grassieren sah. Die beiden Beispiele mögen genügen. Sie zeigen, wie statisch die spärliche Geschichtsvermittlung war und wie sehr sie überkommene Vorstellungen bestätigt und konserviert hat. Das erstarrte Bild vielfach gedeutet Wenn wir abschließend das Geschichtsbild dieser Periode überschauen, so fällt zunächst auf, daß es die Identitätsvorstellung, wie sie am Ausgang des Mittelalters ausgebildet worden war, nahezu unverändert beibehalten hat. Auch das wenige Neue gründete in diesen Vorstellungen: Auf sie nahm im 16. Jahrhundert die im Patriziat entwickelte Kontinuitätsthese Bezug, indem sie sich von ihr abhob; aus ihr ergab sich auch die neue Betonung der Einheit des auserwählten Volkes. Sonst aber war diese idealisierende Geschichtsschau während Jahrhunderten geradezu zu einem unveränderbaren Kanon erstarrt, an dem man die eigene Gegenwartserfahrung maß. Die Fußstapfen der Vorväter waren ein für allemal getreten: und da diese Vorväter so einzigartig tugendhaft gewesen waren, erschien es den Nachfahren als höchste Leistung, in diesen Stapfen zu stehen. Die frommen, selbstgenügsamen und maßvollen Bauern, die den Adel vertrieben hatten - wo waren sie geblieben? Schmerzlich empfand man das Fehlen der Eintracht, in der sie ihre historische Leistung vollbracht hatten. Und daß man das auserwählte Volk Gottes war, wollte man gerne glauben, allein, es fehlte die Gewißheit der immer siegreichen Väter. Man wiederholte noch und noch den Kanon der Schlachtensiege, um sich dieser Taten Gottes durch die Eidgenossen zu vergewissern, aber diese wurde je länger je mehr zur bloßen Leerformel. Die konkret erlebte Gegenwart ließ nur erkennen, wie weit man sich vonjenen lichten Gestalten entfernthatte. Die Beurteilung der Lage fiel je nach Standort unterschiedlich aus. In jedem Fall bildeten die «Fußstapfen der Väter» jene Orientierungspunkte, auf die sich die verschiedenen Lager ausrichteten und die trotz des lockeren staatlichen Zusammenhalts und bei allem Hader eine gemeinsame Tradition sowie die Vorstellung einer durch die Geschichte gehärteten Schicksalsgemeinschaft bewußt hielten. Mag auch das überkommene Geschichtsbild bis zur Formel, bis zur Schablone erstarrt gewesen sein, so hat es doch in tiefen Bewußtseinsschichten jenes Zusammengehörigkeitsgefühl aufrecht gehal- ten, das in der politischen Realität so selbstverständlich nicht mehr war. So ist während dieser mehrhundertjährigen Periode das Geschichtsbild, das der eigenen Identitätspräsentation unterlegt wurde und allgegenwärtig gewesen zu sein scheint, dasselbe geblieben. Das ist an sich schon bemerkenswert. Auch von der Geschichtsschreibung sind keine neuen Impulse ausgegangen, so daß man von dieser Periode schon sagen konnte, sie erscheine wie die Stille zwischen zwei geistigen Epochen - zwischen der Reformation und der Aufklärung31. Doch mit der Aufklärung kommt nun neues Leben in das «muntere Treiben» auf der Traumbrücke der nationalen Identität. 31 Feller/Bonjour, Geschichtsschreibung 1, S. 329. «Die Tugend der Bürger und die Glückseligkeit des Staates zu bevördern»: Die Alten Eidgenossen bei den Aufklärern «Die Geschichtskunde wird billig als eines der vornehmsten Mittel angesehen, die Tugend der Bürger und die Glückseligkeit der Staaten zu bevördern», beginnt der «Entwurf einer Helvetischen Gesellschaft» von 17621. Das ist ein ganz neuer Ton, der Klang der Aufklärung, und zwar sowohl im Programm wie im Rahmen, in dem dieses verwirklicht werden soll. Die Helvetische Gesellschaft, die hier zusammentrat, gehört in die damals allgemein verbreitete Sozie-tätenbewegung, in der sich die geistigen Eliten überall in Europa zur Verfolgung ihrer Ziele zusammenschlössen, und zwar außerhalb der engen Kontrolle von Staat und Kirche, denen die neuen Ideen als Gefährdung des Bestehenden erschienen. Gerade die Helvetische Gesellschaft, welche die Freiheit der Bürger postulierte, sich unabhängig von den jeweiligen ein-zelörtischen Loyalitäten gesamtschweizerisch zusammenzufinden, hat zu Beginn obrigkeitliche Zensuren und Repression erfahren müssen2. Denn während die erstarrte Politik der Orte auf ihre Souveränität im religiösen wie im politischen Bereich bedacht war, strebten die geistig Wachen, die sich in der Helvetischen Gesellschaft zu sammeln begannen, allerorten und immer mehr über die kantonalen und konfessionellen Grenzen hinweg auf das gemeinsa- me Vaterland hin. Vielleicht mag gerade diese Ausrichtung - neben der Vorliebe für gehobene, antikisierende Begriffe - dazu geführt haben, daß sich die Gesellschaft nicht mit einem politisch vorbelasteten Begriff wie «schweizerisch» oder «eidgenössisch» benannte, sondern mit jener Bezeichnung, die auch der «eidgenössischen Dam» ihren Namen gegeben hatte: der Helvetia nämlich, jener gerade im bewußtseinsmäßigen Bereich gewonnenen neuen Repräsentation der Einheit. Als 37 Jahre später beim Untergang der Alten Eidgenossenschaft die Helvetische Gesellschaft ihre Tätigkeit vorübergehend einstellte, war sie als einzige offene, gesamtschweizerische Vereinigung eine Institution geworden, die sich aus dem eidgenössischen Dasein nicht mehr wegdenken ließ. Wenn wir uns im folgenden vor allem mit Zeugnissen dieser Gesellschaft befassen, so entspricht das durchaus ihrer Bedeutung. In der Tat ist die Identitätspräsentation, wie sie in dieser Gesellschaft ausgeformt wurde, in nahezu allen Zeugnissen jener Zeit zu finden, seien es die «Patriotischen Reden vor dem äußeren ' [mhof/de Capitani, Gesellschaft, S. 232; Thommen, Zweckartikel, S. 353-380. 2 Imhof/de CapitaNI, Gesellschaft, S. 45-53. Zur gesamten Situation: Imiiof, Regime; de Capitani, Beharren. Stand der Stadt Bern»3, seien es die sich großer Beliebtheit erfreuenden verschiedenen «Neujahrsgaben an die Jugend»4 oder gar erste Schulgeschichtsbücher5. Des öfteren sind jene Redner, Herausgeber und Autoren ja auch Mitglieder der Helvetischen Gesellschaft gewesen. Geschichte für eine bessere Zukunft Die neue Sehweise6, die uns aus dem programmatischen Eingangssatz entgegentritt, ist jene der aufklärerischen Tugendphilosophie, wie sie zuerst von Johann Jakob Bodmer mit der schweizerischen Geschichte verknüpft worden ist'. Sie ging aus von einem neuen, autonomen Sittlichkeitssystem, dem nicht das von oben offenbarte Gotteswort, sondern das «natürliche» Gebot der Vernunft zum Maß allen Handelns wurde. Das höchste Prinzip dieser Sittlichkeit war das Streben nach Glück Seligkeit, das der Schöpfer dem Menschen eingepflanzt habe. Als soziales Wesen aber findet der Mensch Vollkommenheit und Glück nur in der Gemeinschaft, im Glück aller, in der «Glückseligkeit der Staaten». Der Weg zu dieser Vollkommenheit ist die Tugend, die Sittlichkeit als Regulativ der menschlichen Beziehungen. Sittlichkeit erscheint so nicht mehr als autoritäre, von einem höheren Wesen auferlegte Forderung, sondern als innere Konsequenz der Vernunft. Allein schon die Erkenntnis der Zusammenhänge mußte so zu sittlichem Handeln führen. Diese Einsicht aber ergab sich aus dem Wissen um die eigene Geschichte. Ihr entnahm man Wege sowie Irrwege des Menschengeschlechts, aus ihr zog man die Lehre für das eigene Streben. Nicht mehr göttlichem Plan entsprechende Heilsgeschichte war es, die auf die 3 Vgl. dazu Wessendorf, Geschichtsschreibung, S. 120-126. Patriotische Reden, hier insbesondere Bernhard Tschar-ners Rede über die Schlacht bei Laupen (1757), Rudolf Sinners Rede über die italienischen Kriege (1759), Ema-nuel von Graffenrieds Rede über die Burgunder Kriege (1760), Daniel Langhans' Rede über die Schlacht bei Morgarten (1763) und Rudolf Tscharners Rede über die Schlacht bei St. Jakob (1764). 4 Vgl. Neujahrsblatter der BUrgerbibliothek Zürich, Zürich 1645ff.; Hirzel, Züge; Balthasar Joseph Anton Felix, Neujahrgeschenke der luzernischen Jugend gewidmet 1779ff., Luzern 1781ff.; Kolin Carl Caspar, Versuch der zugerischen Jugend die Thaten ihrer allgemeinen und besondern Vorväter aus dem alten und mitleren Zeitalter einiger Maßen bekannt zu machen. Ihr zum Neujahrsgeschenk gewiedmet 1785 und 1786, 1. und 2. Stück, Zug s.a. [1786]. 5 Vgl. hierzu Wessendorf, Geschichtsschreibung. 6 Ebd., S. 56f.; ferner: Thommen, Zweckartikel, besonders S. 224-261 und 339-380. 7 Hierzu: Feller/Bonjour, Geschichtsschreibung2,11962, S.515ff.und21979, S. 4401T. 8 Verhandlungen 1764, S. 135-158. Vollkommenheit am Ende aller Tage hinführte, sondern eine Geschichte, die den Menschen, wenn er den natürlichen Geboten der sittlichen Vernunft nur folgte, der diesseitigen Glückseligkeit entgegenführen konnte. In diesem optimistischen sittlichen Eudaimonismus gewann die Geschichte eine ganz neue und umfassende Bedeutung: sie wurde zu einem der vornehmsten Mittel, «die Tugend der Bürger und die Glückseligkeit der Staaten» zu befördern. Bodmer hatte in Zürich seinen Geschichtsunterricht bereits tatkräftig in diese Richtung entwickelt. Doch den Gründern der Helvetischen Gesellschaft schien es, daß «unsere vaterländische Geschichte noch sehr wenig in diesem Gesichtspunkte behandelt» worden sei, und sie nahmen sich vor, «einen so reichen Stoff nicht ferners ungenutzt zu lassen». Wenn schließlich die Geschichte im Zweckartikel der Statuten von 1766 auch fehlte und nur noch allgemeine Ziele angeführt wurden - etwa die Förderung von Liebe, Eintracht und Friede, Freiheit, Tugend und edlen Taten -, so war sie in der Tätigkeit der Gesellschaft dennoch allgegenwärtig. Das «güldene Zeitalter» des Vaterlandes: Die Alten Eidgenossen als erzieherische Utopie Als Kinder eines gemeinsamen Vaterlandes fühlte man sich, dessen Bestand dem «mächtigen Trieb in die Glückseligkeit der Staaten» und den edlen Taten der «ruhmwürdigen Voreltern» zu verdanken war, ohne die es keine Dauer erhalten hätte. So sagte es Isaac Iselin in seiner Präsidialrede «Über die Liebe des Vaterlandes» von 1764». Die Liebe zu diesem Vaterland war nach ihm Ausfluß «reinster Menschenhebe» , die sich an der «unendlichen Menge alles Guten, welches für das menschliche Geschlecht getan werden» könne, freue und so im Grunde die ganze Welt miteinbeziehe, auch wenn der Mensch nun einmal schicksalhaft in einen gegebenen Bezirk, seine Heimat, eingebunden sei. Die «edle Vaterlandsliebe», die er auf diese Weise charakterisierte, stand der «gemeinen Vaterlandsliebe», die sich nur auf das eigene Vaterland beschränkte, entgegen. Aus diesem offenen Patriotismus heraus konnte Iselin in den Schweizern «wahre Weltbürger, wahre Mitbürger aller Nationen» erkennen, die ihren Beitrag zur kommenden «Glückseligkeit der Staaten» leisten sollten. Und der Helvetischen Gesellschaft, dieser «edlen vereh-renswürdigen Zusammenschwörung», teilte er die Aufgabe zu, «einen bewundernswürdigen Kampf wider mächtigere Tyrannen als die, welche euere Vorfahren vertrieben haben», zu 340 121 Johann Caspar Weis-senbachs «Eydgnössisches Contrafeth».* Kupferstich von CM. (Caspar Muos?), 1673, als Frontispiz für Johann Kaspar Weissenbachs «Eydgnbssisches Contrafeth Auff- und Abnehmender Jungfrauen Helve-äm>, 2. Auflage, Zug 1701. Universitätsbibliothek Basel. führen, nämlich «wider die Vorurtheile, wider die Leidenschaften». Diese weltoffene Grundsatzerklärung sollte später noch von den Helve-tikern selbst im Sinne der «gemeinen Vaterlandsliebe»' zusehends eingeengt werden: die eigene Heimat wurde gegenwärtiger als die Welt, und man sah das Ziel der Pflege republikanischer Tugenden zusehends in der Bekämpfung der «offenbaren Abnahme der alten Energie unseres Nationalcharakters» und im Ausschluß fremder Einflüsse. Immer aber ging es diesem Patriotismus um die Förderung der Tugenden zum Wohle des Staates. Die bewunder- ten Leitfiguren waren dabei, wie es schon bei Iselin anklingt, die «AltenEidgenossen», Menschen jenes «güldenen Zeitalters», in dem die Glückseligkeit einstmals erreicht worden war und denen man es, wenn auch mit andern Mitteln, gleichtun wollte. Das Bild der «Alten Eidgenossen», da es ja den Patriotismus, das Tugendstreben zum Wohle der Gemeinschaft fördern sollte, war ein Idealbild. Und da es um eine umfassende Sittlichkeit ging, erfaßte es auch die ganze Breite des menschlichen Seins, nicht nur politische, sondern auch die sozial-, wirtschafts-, Sitten- und kulturgeschichtlichen Aspekte. Als Caspar Hir-zel 1763 von der «Entstehung und den Zielen der Helvetischen Gesellschaft» sprach, da holte er weit in die Geschichte aus und entwickelte zunächst als «Beyspiel der wahren Eidgenössi-shen Freundschaft» seine Vorstellungen von den «Alten Eidgenossen»: Ihnen sei es ja um nichts anderes gegangen als um «die Erhaltung der bürgerlichen Freiheit»; «keine Begierde zu herrschen» habe sie angetrieben; keine «aufrührerische Bauern» seien sie gewesen, denn sie hätten ihr Vorhaben mit beispielloser «Mäßigung» ausgeführt, im ersten wie in allen folgenden Bünden die «besondern Rechte der Obern» gewahrt und «rechtmäßigem Befehle» gehorcht. Kein Blut habe die Stiftung des ersten Bundes besudelt, in erstaunlicher Mäßigung hätten die Eidgenossen die «tyrannischen Vögte mit ihrem ganzen Gefolge» und mit all dem zusammengerafften Gut an die Grenze geleitet. Keine andere Absicht habe sie geleitet als jene, die «Rechte der Menschheit» zu verteidigen. Wenn sie nachmals große Erobeningen gemacht hätten, so nur deshalb, weil sie dazu genötigt worden seien; «sie wurden ohne Absicht groß». Solches sei die «Frucht einer redlichen Staatsökonomie» und der Verschwendung des angrenzenden Adels gewesen, der die «traurige Erfahrung» habe machen müssen, «daß der Geist der Herrschsucht die Grundsäule der Glückseligkeit des Staates untergrabe». Wenn man alle Macht für das Glück der Einwohner einsetze, die Gerechtigkeit liebe, sich gegensei- 9Imhof/de Capitani, Gesellschaft 1, S. 214. Füssu Johann Heinrich, Abnahme der alten Energie [...], in: Verhandlungen 1782,S. 13-83. * Bildinterpretation: Die ganz besondere Leistung Weissenbachs bestand darin, ins Geschichtsbild eine neue Identitätsfigur eingeführt zu haben: die Jungfrau Helvetia. In der bildlichen Darstellung hat diese Figur zunächst noch keinen Niederschlag gefunden, wie das 1673 von CM. gestochene Frontispiz zeigt. «Glück zu»: So begrüßt der Autor das Publikum und verweist zugleich auf die Apfelschuß-Szene Teils auf der Bühne. Die Darstellung selbst unterlegt dem konventionellen barocken Bildvokabular eine Landschaftskulisse. Darüber erscheint im Wolkenkranz oberhalb eines Spruchbandes in antikisierend-hu-manistischer Art der Theatergott (Apoll?) mit einem Füllhorn. tig helfe, die «gesamte Eidgenossenschaft als einiges Vaterland» ansehe und so «in die Absichten und Grundsätze der ersten Stiftern der Eidgenossenschaft, dieser tugendhaften und weisen Helden, eintrette», dann werde die Schweiz vor ganzEuropageachtet werdenl0. Noch weiter in der Evokation der Alten Eidgenossen ging 1774 Nildaus Emanuel Tscharner, als er von der «alteidgenössischen Jugenderziehung» sprach11. Im «güldenen Zeitalter unseres Volkes» sah er erste Voraussetzungen alteidgenössischen Wesens schon im physisch-genetischen Bereich, nämlich in der «Zeugung ächter Schweitzer» durch «gesunde, starke, freye und tugendhafte Eltern» von «vollkommener Größe» und in Ehen, die nicht durch Ehrsucht und finanzielle Berechnung gestiftet waren; ferner in der Ernährung durch die Muttermilch, welche «die Neigung eines keuschen, treuen und liebenden Herzens» einflösse, im Beispiel des Vaters, das früh lehre, «frei zu denken und redlich zu handeln», und schließlich auch im Einfluß der Natur und des rauhen Klimas. Den Nationalcharakter umschrieb Tscharner so: geprägt sei er von Frömmigkeit, Redlichkeit und von der Liebe zum Vaterland. Diese sei vor der Liebe zur Freiheit dagewesen, welche sich erst im Widerstand gegen die ungerechte Herrschaft ausgebildet habe. Zum Nationalcharakter sei auch die Treue gegenüber der rechten Herrschaft zu zählen, wie sie sich in den Vorbehalten der Bünde geäußert habe, bevor sich dann Freiheits- und Vaterlandsliebe für immer verbunden hätten. Diese Eigenschaften hätten in jener Heldenzeit die Kinder ganz direkt vermittelt bekommen, indem «der bestäubte Held vor ihnen stund» und beinahe jeder Ort ein Denkmal, jeder Tag ein Zeuge ihrer Tapferkeit und Frömmigkeit gewesen sei. Jene Vorfahren seien aber nicht nur Krieger, sondern auch Bürger voller Mäßigung, Gerechtigkeit und Treue gewesen, wovon die Blätter der Schweizergeschichte zeugten. Aber nicht die Tugenden der Helden und nicht die Eigenschaften der Patrioten allein machten das Glück jenes goldenen Zeitalters aus. Dauerhaft war es nur, wenn es sicher war. Nach Tscharner war es «umso sicherer, je weniger dazu erfordert wurde». So bestand das Glück der Alten Eidgenossen im Tiefsten in der Genügsamkeit, in der Ruhe der Seele, in Arbeitsamkeit und Mäßigung, in einer standesgemäßen Lebensführung «ohne Lüsternheit, ohne Eifersucht». Hierin sah Tscharner - die ursprüngliche Vorstellung von den schlichten Auserwählten Gottes gleichsam rational begründend und säkularisierend - die Grundfeste ihres Wesens. 10 Verhandlungen 1763, S. 55-71, besonders S. 58-64. 11 Verhandlungen 1774, S. 13-63. 12 Verhandlungen 1790, S. 7-95. Als anno 1790 Salomen von Orelli seine Rede über «Die Sozial- und Kulturgeschichte der Schweiz» hielt, entwarf er in einer Anhäufung nun schon platter Klischeevorstellungen beinahe das Bild vom «edlen Wilden». Von der Sitteneinfalt jenes kleinen, armen und freien Volkes sprach er, bei dem der eingesessene Adel, durch Güterteilungen gezwungen, der landesüblichen Lebensart nahekam, in trauten Umgang mit Bürger und Landmann trat und gemeinsam mit ihm focht. Er redete auch von der Großzügigkeit, wenn es um die Freiheit ging, von der Würde der Ratsversammlungen, von der Gerechtigkeit und Milde des Gerichts und dem Fehlen der Folter; er sprach vom stillen Hirtenleben, von der Reinlichkeit und Einfachheit der Eßsitten, von der Wohlfeilheit des Lebens und dem täglichen Kirchgang, von Gastfreundschaft und vom edlen Zuge herzlicher Anteilnahme und noch von vielem mehrl2. Allen diesen Verlautbarungen - von Hirzeis Konzentrat einer geschichtlich ausgerichteten Identitätspräsentation über Tscharners weit ausholendes Tugendgemälde bis hin zu Orellis schon ahistorischen Wunschvorstellungen - lag unverkennbar das überkommene Bild von den «Alten Eidgenossen» zugrunde. Diese boten sich als mustergültige Vorbilder im Sinne des sittlichen Eudaimonismus geradezu an. Die recht unbefangene Idealisierung der Alten Eidgenossen wurde kaum behelligt durch historische Bedenken, sofern sie nur der erzieherischen Zielsetzung diente. Deshalb hat der aufklärerische Idealismus in der Schweiz nicht die lichte philosophische Abstraktion gewonnen wie in Deutschland oder Frankreich, sondern sich sehr konkret und handfest geäußert: Die Idealität ist hier durch das farbig ausgemalte Vorbild der Alten Eidgenossen verdeckt worden. Utopie und Wirklichkeit: Der historische Sündenfall und ein kreativer Neuanfang Das «güldene Zeitalter» indessen war offensichtlich vorbei, das Glück des Staates verlorengegangen, und mit Albrecht von Haller fragte mancher: «Sag an, du Heldenvaterland. Wie ist dein altes Volk dem jetzigen verwandt?» Es mußte demnach notwendigerweise einen Sündenfall in dieser Geschichte gegeben haben. Hier setzte die Kritik an den inneren Fehlern des Vaterlandes an, und man entwik-kelteeineeigentlicheZerfallsthese. Meistließen die Autorenmit den Burgunderkriegen, vereinzelt schon mit Beginn des 15. Jahrhunderts, eine Sittenverrohung einsetzen, etwa bedingt durch Herrschsucht, Neid, fremdes Geld und fremden Luxus, deren Versuchungen man bis in die eigene Gegenwart wirken sah und geißelte". Und man suchte im weltgeschichtlichen Vergleich - im Hinweis auf die Staatsentwicklung der Griechen und Römer — die Gesetzmäßigkeiten dieses Auf- und Niedergangs zu ergründen. Laurenz Zellwegers «Patriotischer Abschied)) von 1764 hat diese Schau wohl am geschlossensten zum Ausdruck gebracht14. Darin klingt das Denkmodell des Disputs zwischen dem Alten und dem Jungen Eidgenossen oder der «Abnemmenden Helvetia* wohl an, doch stand es nun unter einem anderen Zeichen. Man fühlte sich nicht mehr so unmittelbar wie ehedem als Erben der Alten Eidgenossen, der einfachen Bauern, «in deren Fußstapfen» man treten sollte. Die Zerfallsthese bezeichnete eine Diskontinuität, einen Bruch in der historischen Entwicklung; die «wahren Teilen» konnten ja nicht mehr einfach aus dem Grab erstehen, um das Vaterland zu retten. Man wußte, wie es Johann Heinrich Füßli sagte, daß der jeder Nation eigentümliche Charakter mit dem Genius der Jahrhunderte seine äußere Farbe und seinen Schnitt notwendig verändern müsse, daß aber zugleich dessen innere, wesentliche Bestandteile kein Volk ungestraft mit fremden und neuen vertauschen könne'5. Aus diesem Wissen heraus ergab sich ein kreativer Umgang mit dem Geschichtsbild. Die Glückseligkeit des Staates konnte nur hier und jetzt wieder errungen werden, und wenn die edlen Vorfahren auch als Vorbild dienten, so konnte dies nur in der Umsetzung ihrer Tugenden in die Auffassung der neuen Zeit geschehen. Die Standhaftigkeit der Alten Eidgenossen gelte nun neuen Feinden wie der Nachlässigkeit, Flüchtigkeit und Trägheit, meinte Salomon Hirzel. Vom Vorbild Winkelried ausgehend, empfahl er demjungen Leser, da er schon nicht «das Leben für die lieben Mitbürger lassen könne», wenigstens «eine Zierde, eine Bequemlichkeit, ein Vergnügen, eine Reizung der Wollust» zu opfern16. Das war helvetischer Patriotismus. Aus solchem Verständnis heraus wurde einerseits das Bild von den Alten Eidgenossen zwanglos umgebogen durch eine Rückprojizie-rung aktuellen Tugendverständnisses auf die «güldene Zeit» und andererseits eine zeitgemäße Vorstellung des eidgenössischen Heldentums entwickelt. Die neue Heldentat, das war-wiö Iselin es gefordert hatte - die Pflege der Wissenschaft, mit der das Ansehen des Vaterlandes in der Welt gefördert wurde. Die neuen Helden waren - wie es der Luzerner Franz Urs Balthasar in seinen «letzten Wünschen» aussprach - die Gelehrten und die um das Wohl des Vaterlandes verdienten Patrioten - so vor allem der später als «wahrer eidgenössischer Held» gepriesene Balthasar selbst, der ja das Ganze mit seinen «Patriotischen Träumen» inspiriert hatte. Die «Ehren-Gedächtnisse» sowie «Denkmale» für die verstorbenen Gesellschaftsmitglieder brachten nichts anderes als nachahmenswerte Umsetzungen alteidgenössischer Tugenden zum Ausdruck, besonders deutlich etwa beim Nachruf auf Laurenz Zell-weger". In den Selbstdarstellungen der Gesellschaft wurden die ersten Gründer, allen voran Balthasar, zusehends den ersten Stiftern der Eidgenossen gleichgesetzt, ja die Gesellschaft selbst als eine «edle, verehrungswürdige Zu-sammenschwörung» dargestellt und die erste «Lustpartie» in Schinznach mehr und mehr zu einem geheimen Rütlischwur umstilisiert,!. Viel später sollte Jeremias Gotthelf dieser Gründung in seinem «Schweizerwort» geradezu mythische Dimension verleihen". So fern diese Identitätspräsentation der historischen Wirklichkeit war, so sehr war sie dynamisch und kreativ auf die aktuelle Welterfahrung und auf die Zukunft, das Wohl des Vaterlandes und die Glückseligkeit des Staates ausgerichtet. 13 Kirchberger Niklaus Anton, Geschichte der eydsge-nössischen Tugenden, in: Patriotische Reden 1765 (Wessendorf, Geschichtsschreibung, S. 122ff.); Patriotische Reden 1760 (Emanuel von Graffenried); Fremder Luxus in der Gegenwart: Vorschlag Die Reisen Eydgenössischer Jünglinge mit Nutzen auf ihr Vaterland einzuschränken, in: Verhandlungen 1769, S. 13-34; Scheuchzer Johann Jakob, Von der Schweizeren Leibsund Gemühts-Beschaffenheit, Lebensart, Sitten ect., in: Scheuchzer, Beschreibung 2, Nr. 48-51, S. 196f. (seit «ettlich hundert Jahren» Mißbräuche, fremde Speisen); Lavater Johann Kaspar, Schweizerlieder, Bern 1767 (Abschiedslied an einen Schweizer, der auf Reisen geht; Lied für junge Schweizermädchen); Tscharner Niklaus Emmanuel, Die altschweizerische Jugenderziehung, in: Verhandlungen 1774, S. 6 lf. (betr. Frauen); Zellwe-ger Johannes, Das Problem des Luxus, in: Verhandlungen 1756, S. 11-27. 14 Zellweger Laurenz, Herrn Doctor Zellwegers patriotischer Abschied von der helvetischen Gesellschaft, in: Verhandlungen 1764, S. 47-63; Graffenried Emanuel von, Das alte Griechenland und die Schweiz, in: Verhandlungen 1780, S. 9-42; Gugger, Wesen, S. 41-106. 15 Füssli Johannes Heinrich, Die politische Tradition der Eidgenossenschaft, in: Verhandlungen 1780, S. 70. 16 Hirzel Salomon, Das Beharrungsvermögen des Bürgers in der Republik, in: Verhandlungen 1769, S. 39-65; Hirzel, Züge, 1. Stück «Die Enthaltsamkeit». Vgl. auch Suter, Winkelried, S. 85-87. 17 Iselin Isaac, Uber die Liebe des Vaterlandes, in: Verhandlungen 1764, S. 135-158; Balthasar Franz Urs, Die letzten Wünsche eines Helvetischen Patrioten, in: Verhandlungen 1763, S. 29-44; Hirzel, Entstehung. - Die Nachrufe sind zusammengestellt bei Imhof/de Capitani, Gesellschaft 1, S. 234f. 13 Hirzel, Entstehung; Iselin (wie Anm. 17); Glutz-Ruchti Karl Johann Stephan, Wesen und Nutzen der Helvetischen Gesellschaft, in: Verhandlungen 1767, S. 59-73. 19 Vgl. Gotthelf Jeremias, Eines Schweizers Wort an den Das Vaterland in Europa: Die Entdeckung der Alpenheimat am Gotthard Bei diesem kreativen Umgang mit dem eigenen Geschichtsbild sind auch neue Akzente gesetzt worden. Die Bauern, die man da pries, waren nicht «aufrührerische Bauern», wie nach Hirzel offenbar viele meinten und es von daher als gefährlich ansahen, «den Untergebenen die Geschichtsbücher der Eidgenossenschaft in die Hände zu geben»20. Das untertänige Landvolk, das man als alltägliche Realität erlebte, entsprach nur bedingt jenem Idealbild, mit dem man sich identifizierte. Die Helvetiker rückten diesen idealen Landmann in gewissem Sinne in die Ferne, gaben ihm die Züge des freien Alpenbewohners, des Hirten, und zwar um so ungezwungener, als die «ersten Stifter» ja tatsächlich in den Alpen gelebt hatten. In seiner vielgelesenen Schrift «Vom Nationalstolz», in der er den Schweizern aufgrund ihrer wahren Vorzüge - etwa der Tapferkeit der Altvordern - einen berechtigten Nationalstolz zugestand, ließ Johann Georg Zimmermann «Hirten» gegen den Adel siegen21. Und in Tscharners Charakterisierung der Alten Eidgenossen, ihrer Genügsamkeit und Seelenruhe schien auch jenes Bild des unverdorbenen Bergvolkes auf, dem Albrecht von Haller in seinem «Alpen»-Gedicht Jahrzehnte zuvor ein Denkmal gesetzt hatte22. Haller hatte im Jahre seiner Alpenreise, 1728, Johann Jakob Scheuchzer in Zürich besucht, jenen Mann also, der schon in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in seiner «Beschreibung der Naturgeschichten des Schwei-Schweizerischen Schützenverein. Manifest der schweizerischen Scharfschützen-Eidsgenossenschaft, in: Gotthelf, Werke 15, S. 282f. 20 Hirzel, Entstehung, S. 59. - Zum Mißtrauen der Obrigkeit gegenüber der Geschichte: Wessendorf, Geschichtsschreibung, S. 63 und 103ff.; Greyerz, Nation, S. 68; Imhof, Regime, S. 764 (mit Literatur). 21 Zimmermann Johann Georg, Vom Nationalstolz, s.l. 1758, S. 221-240; Hirzel, Züge (Winkelried erscheint als Hirte); Orelli Salomon, Sozial- und Kulturgeschichte der Schweiz, in: Verhandlungen 1790, S. 30, «unveränderliches Hirtenleben». 22 Haller Albrecht von, Die Alpen, in: Versuch schweizerischer Gedichte, Göttingen »1762 (Bern 1969), S. 24-56. 23 Scheuchzer Johann Jakob, Von des Sennen Person, Amt und Behausung, in: Scheuchzer, Beschreibung 1, Nr. 8, S. 30-32. 24 Scheuchzer Johann Jakob, Von der Schweizeren Leibsund Gemühts Beschaffenheit, Lebensart, Sitten etc., in: Scheuchzer, Beschreibung 2, Nr. 48-51, S. 189-104 (rec-te 204). 25 Scheuchzer Johann Jakob, Von dem Heimweh, in: Scheuchzer, Beschreibung 1, Nr. 15, S. 57-60. 26 Scheuchzer Johann Jakob, Vom St. Gotthards-Berg, in: Scheuchzer, Beschreibung l, S. 18f. zerlandes» die schweizerische Gebirgswelt und deren Bewohner auf eine ganz neue Weise dargestellt hatte: «Es ist der Senn insgemein ein ehrlicher, aufrichtiger Mann, ja ein Abtruck der alten schweizerischen und redlichen Einfalt.» Diese Einfalt erkannte Scheuchzer im Leben, in der Bekleidung- «raucher ehrbarer Kittel» - und in der einfachen «durchleuchten» Behausung, die «nach der kömlichen Einfalt der ersten Erdeneinwohneren eingerichtet» sei23. Als er «der Schweizer Leibs- und Gemütsbeschaffenheit, Lebensart und Sitten» zu begründen suchte, ging er von der ihm eigenen Vorstellung einer physiologisch-klimatischen Prägung der Menschen aus. Zwischen Äquator und Pol liege das Schweizerland auf dem «mäßigsten» Breitengrad, und in der gebirgigen Höhe genieße der Schweizer die reinste und subtilste Luft unter allen europäischen Völkern. Dieser Umstand bewirke eine ausgeglichene Bewegung des Blutes, Stärke und Größe und «kluge, heitere, zu allerhand Hirnarbeit geschickte Gedanken»24. Dementsprechend erklärte Scheuchzer andernorts das Heimweh als eine typisch schweizerische Krankheit, die sich dadurch einstelle, daß der an leichte Luft gewöhnte Alpenbewohner von der ungewohnt schweren Luft des Tieflandes bedrückt werde, eine Störung der Blutsbewegung erfahre und dadurch mutlos und traurig werde25. Der Schweizer, fuhr Scheuchzer in seinem Artikel über dessen Leibs- und Gemütsbeschaffenheit fort, ernähre sich überdies klimagerecht einfach mit Milch, Milchspeisen, Brot, Wasser und Früchten, und mit bestem Recht verdiene er den Titel Milchesser - wie es die alten Griechen sagten - und nicht «jenen verächtlichen der Kühmelkern, welchen der Haß benachbarter Teutscher uns zugesetzet». Freilich würde man heute «fehlen wider die Gebräuche unserer Voreltern» in Nahrung, Sitte und Kleidung. Doch könne man - und Scheuchzer begründet das mit einem kurzen geschichtlichen Abriß -noch immer davon ausgehen, daß die Schweizer der Gattung des homo alpinus angehörten, die schon «Altvater Hippokrates» beschrieben habe: «Von den Bergen wohl verwahrt» heranwachsend, gestählt, stark, gesund, «rauhärig», frisch, arbeitsam, geduldig, ausharrend, auch hartnäckig, gutmütig, zu Kunst und Wissenschaft, vorwiegend aber zum Kriege geschickt. Entsprechend bietet Scheuchzer, ausgehend von der Schlacht von St. Jakob an der Birs, ein Gemälde der Schweizer Kriegs tugenden - Tapferkeit, Klugheit, Frömmigkeit sowie Mäßigung im Sieg- samt einer langen Heldengalerie, worin sich der «genius nationis» äußere. In einem ganz kurzen Text schließlich benennt Scheuchzer das Zentrum dieser schweizerischen Alpenheimat26. Der Gotthard besitze 344 F über alle sich in den eidgenössischen Gefilden erhebenden Berge, ja über alle Berge Europas eine hohe Autorität. Die helvetischen Länder seien nämlich über alle anderen europäischen «in Ansehung der Situation hoch erhoben», und «in ihnen strecken den Kopfüber alle anderen Berge die Gotthardischen Alpenfirste». 122 Der natürliche Altar der Schweizer Alpen.* Kupferstich/Hudieriing von Johann Melchior Füttli, 1706, als Frontispiz zu Johann Jakob Schetichzers «Beschreibung der Natur-Geschichten des Schweizerlands». Universitätsbibliothek Basel. Die Begründung hiefür gebe die Natur selber, denn auf dem Gotthard und den «geschwister-ten» Bergen würden die Hauptquellen entspringen, welche uns und die anderen Länder Europas mit dem meisten Wasser versorgten: Tessin, Reuß, Rhein, Rhone und Aare. Wer vermöchte hierin nicht Gottes allmächtige Weisheit bei der Einteilung der Berge und Täler zu erkennen; j a, nicht ohne besondere göttliche Vorsehung sei der Gotthard, dieser oberste Helm des europäischen Brenn- und Wasserhafens, gestaltet und dahin gesetzt worden, wo er jetzt stehe. Mit diesem Gedankengang hat Scheuchzer den Alpen und dem Gotthard eine ganz neue Bedeutung erschlossen, die für das schweizerische Selbstverständnis sich als fruchtbar erweisen sollte. Daß die Alpen von Gott geschaffene Bollwerke seien, davon wußte man schon im Mittelalter. Man vergaß es auch später nicht. So fand Chorherr Gugger von Solothurn 1773 in seiner Präsidialrede die Alpenfestung besser als alle Vaubans zusammen11. Scheuchzer aber entwarf die großartige Vision einer Alpenheimat, deren Natur die in ihr lebenden Menschen prägte und ihnen Eigenschaften anerzog, die vor den großen Völkern Europas durchaus bestehen konnten; eine Alpenheimat, in die Gottes allmächtige Schöpferweisheit das Wasserschloß Europas, nämlich das Gotthardmassiv, gepflanzt hatte. Der Volkscharakter der Schweizer ergab sich so natumotwendig aus der hehren und kargen Bergwelt: Als Bodmer 1721 ein Beispiel «originaler Charakterzeichnungen einer Nation» geben wollte und hiefür als Thema «das Genie jenes Volckes, das den Anfang zu dem helvetischen Bündnis gemachet», wählte, ging er von der Alpenlandschaft aus und leitete hieraus den Volkscharakter der Eidgenossen ab28. Balthasar sah den Charakter dieser Nation mit der «rauhen, bergichten und ungehobelten Landschaft in einem vollkommenen Verhältnis»2'. 27 Am frühesten erscheint die «Wacht am Gotthard», allerdings im pejorativen Sinn als Strafe, um I45U in Felix Hemmeriis Dialogus (vgl. dazu Marchal, Schweden, S, 74-79). - Hairitz von Bechwinden spricht dann 1500 -der bekannten Morgartenüberlieferung von Johannes von Winterthur und Johannes von Victring folgend - die Berge als schützende Heimat der Schweizer an. Lorent-zen Theodor, Zwei Flugschriften aus der Zeit Maximilians I., in: Neue Heidelberger Jahrbücher 17, 1913, besonders S. 172, Verse 165-168. - Vgl. Ende des 15. Jahrhunderts die bemerkenswerte Abwandlung des Psalmes 124: «Nort commovebitur in eternum qui habitat in Switzia. Montes in cireuitu eius [...]». Marchal, Antwort, S. 790. - Getreuwe Warnung und Vermanung an die treizehen Orth löblicher Eydgnosschal'ft wegen man-nigerley böser Prattickenn und sorglicher leuffe so jet-zund vorhanden, s.l. 15S6 [Haller, Bibliothek 5, Nr. 600] (die inneren Orte haben die Berge als Burg). - Bal-thasar Franz Urs, Letzte Wünsche, in: Verhandlungen 1763, S. 17; Gugger, Wesen, S. 53f. 23 Bodmer Johann Jakob, Die Discourse der Mahlern, 1. Teil, 5. Discours, Zürich 1721, Die Charakterzeichnung entspricht im übrigen vollkommen dem bekannten Bild. 2'J Balthasar Franz Urs, Letzte Wünsche, in: Verhandlungen 1763, S. 31. * Bildinterpretation: Schon im Jahre 1706 verselbständigte sich die Landschaftskomponente. Von einem altarartigen Block aus, auf dem verschiedene geologische Funde und Fossilien (Zeichen der vergangenen Sündflut!) liegen, führt ein Zickzackweg in die Alpen hinauf bis zu den Wolken. Links im Vordergrund sitzt bei Pickel und Schaufel der Naturforscher. Er wendet sich, den gehobenen Kristall darbietend, zum Altar, während rechts ein Hirte eine Kuh heranführt. Beide Gestalten gleichen Priestern vor dem Altar; den Blick nach oben gerichtet, verleihen sie der Alpenszene eine weihevolle Würde. Auf neue Weise wird die ganze Alpenwelt der Friedgenossen-schaft als natürliche Weihestätte Gottes begriffen. Und da dieser Charakter mit dem Bild, das man sich von den Vorfahren machte, übereinstimmte, erkannte man in ihnenjenes Volk, das durch göttliche Bestimmung an diese Herzstelle Europas gesetzt worden war. Die Alpenlandschaft war also mehr als ein Naturerlebnis, sie war das wahre Abbild der Heimat, der Urgrund des Vaterlandes. Selbst in einem so unpolitischen Genre wie den Idyllen ließ Salomon Geßner 1758 im «hölzernen Bein» - übrigens der einzigen Alpenidylle - zwei Hirten sich begegnen und von der Schlacht bei Näfels, die der ältere noch erlebt hatte, sprechen. Die Idylle ergab sich aus dem tiefen Einklang zwischen dem alten und dem jungen Hirten30. Jetzt vermochten die Bergbewohner lebhaftestes Interesse auf sich zu ziehen, wie zum Beispiel in den beiden Reden Franz Joseph Stalders über «Charakter, Sitten, Festliche Spiele der Entlebu-cher» und über «den Charakter unserer Väter auf dem Schlachtfelde vor Sempach»31. Die patriotische Schweizer Reise mußte unbedingt in die Alpen führen. Bei Philippe Sirice Bridels Essay von 1795 über die Bildungsreise in der Schweiz galt der erste Besuch dem Gotthardmassiv32, und Friedrich Münch besang den Gotthard als das Quellgebiet der vier Ströme33. In den Alpen und ihrem Einfluß auf die Menschen sowohl zur «güldenen Zeit» der Alten Eidgenossen wie auch in der Gegenwart erkannte man nun ebenfalls eine Voraussetzung für die «Glückseligkeit des Staates». Philippe Sirice Bridel hat das zu einem Zeitpunkt, da die Alte Eidgenossenschaft bereits untergegangen war, in seiner Bittschrift an das helvetische Direktorium in die knappe Formel gegossen: «Ex 30 Gessner Salomon, Idyllen, Hrg, Theodor E. Voss, Stuttgart 1973, S, 132-136: Das hölzerne Bein. Eine Schweitzeridylle (1772). Vgl, hierzu: Straumann, Konservatismus, S. 32-37; Burk Berthold, Elemente idyllischen Lebens. Studien zu Salomon Geßner und Jean-Jacques Rousseau, Bern 1981 (Europäische Hochschulschriften Reihe 1, Bd. 426), S.67f. 31 Stalder, Fragmente. Vgl, ferner: Müller Johannes von, Briefe über ein schweizerisches Hirtenland, in: Der Teut-sche Merkur, Weimar 1781, Heft 2, S. 97-114, Heft 3, S. 38-54, 123-140,241-252. 32 Bridel Philipp Sirice, Essai Sur la maniere dont les jeu-nes Suisses doivent voyager dans leur patrie, in: Etren-nes Helvétiennes et patriotiques pour ľan de Grace 1796 á Lausanne; Mélanges Helvétiques 4, Lausanne 1797, S, 461-499. Vgl, auch Lavaters Abschiedslied an einen reisenden Schweizer, in; Lavater Johann Kaspar, Schweizerlieder, Bern 1767. 33 Imhof/de Capitanj, Gesellschaft I, S. 198. 34 Rjjynold Gonzague de, Le Doyen Bridel (1757-1845) et les angines de la littérature suisse romande. Etude sur l'Helvétisme littéraire au XVlIIe siécle, Lausanne 1909 (Motto). 3! 1 mhoeVde Capitani, Gesellschaft I, S. 199-204. 36 Ebd., S. 241-248. Zitate nach: Lava ier Johann Kaspar, Schweizerlieder, Bern 2176S. Das abschließende Zitat stammt aus «Die helvetische Eintracht». alpibus salus patriae» - «aus den Alpen das Heil des Vaterlandes»34. Die volkstümliche Vermittlung der Utopie Alle diese Vorstellungen von der «Alten Eidgenossenschaft» verfolgten unverkennbar ein pädagogisches Ziel, wie denn von allem Anfang an die Aufmerksamkeit der Helvetischen Gesellschaft ganz allgemein den erzieherischen Fragen, eben der Bildung der Tugenden, galt. An der Versammlung von 1766 schlug Martin Planta vor, «zur Erweckung tugendhafter und großmüthiger Gesinnung bey dem Landvolk die besten Thaten unserer Väter in einfältigen Liedern lebhaft vorzustellen», damit nicht nur den Leuten «höheren Standes», sondern auch dem «Pöbel», bei dem viele kaum lesen könnten, eine «edlere Denkungsart» beigebracht werden könne. Weltliche Lieder historischen Inhalts sollten es sein, und sie sollten nicht bloß den Kriegshelden gelten, sondern auch von «rechtschaffenen Leuten» handeln. Wenn man eine solche Liedersammlung propagiere, könne man bald «unter den Schnittern, Taglöh-nern, Acker- und Handwerksleuten die rühmlichen Thaten unserer Vorältern besingen hören und bey vielen den Geist der Nachahmung aufwachen sehen»3'. Daß der Wunsch und in gewissem Ausmaß auch die Prophezeiung in Erfüllung gingen, dafür sorgte der junge Johann Caspar Lavater, der 1766 der Versammlung beigewohnt hatte. Wenige Wochen später ließ er den Mitgliedern sein Schweizerlied zukommen, das in einprägsamen Versen mit frischem Schwung eine Identitätspräsentation bot, die ganz dem Programm der Helvetischen Gesellschaft entsprach und begeisterte Zustimmung fand: «Wer, Schweizer! Wer hat Schweizer Blut? Der, der mit Ernst und frohem Muth dem Vaterlande Gutes thut...» In rascher Folge dichtete Lavater je ein Dutzend Kriegs- und patriotische Lieder (wo nötig mit einem historischen Kommentar versehen), die von 1767 bis Ende des Jahrhunderts mehrfach aufgelegt wurden". In den Kriegsliedern entfaltete er in grellen, pathetischen Tönen Gemälde der alten Schweizerschlachten, wobei er die Form von Gleims damals so beliebten Grenadiersliedern übernahm. Nahe dem volkstümlichen Bänkelsän-gerton, durchmischt mit Kraftversen, dann aber auch treuherzig und hausbacken, fanden die Lieder beim Volk eine begeisterte Aufnahme. Wenn sie auch in literarischen Kreisen belächelt wurden und die obrigkeitliche Zürcher Zensur gar vom «Aufwärmen des alten Mists» sprach - Lavater war doch ein Könner, was vor allem dann erkennbar wird, wenn man seine Lieder mit jenen seiner Nachahmer vergleicht, welche die «Schweizerlieder» mit immer weiteren Stücken ergänzten. Verse wie jene auf «die großmütigen Belagerten» (Solothurn 1318), die in schwungvoller Direktheit die wesentliche Lehre vermitteln, trifft man sonst in jener Zeit kaum: «Schön, schön ist Heldentapferkeit, Ihr Ruhm fliegt himmelhoch! Doch unbesiegte Menschlichkeit Unendlich höher noch! O goldne Zeit, wo Treue groß, noch größer Großmuth war...» Mehr als in den Kriegsliedern, deren unerwartet große Wirkung ihm eher ungelegen kam und von denen er sich schon 1769/70 in aller Form lossagte37, trachtete Lavater durch seinepatriotischen Lieder die edlen Tugenden zu fördern. In diesen Liedern, am deutlichsten im «Schweizerlied», im «Gemeineidgenössischen Lied» und im «Abschiedslied an einen Schweizer, der auf Reisen geht», wird der ganze patriotische Tugendkanon in einer Weise entfaltet, die immer wieder die Rückbesinnung auf das Beispiel der Väter sowie die innere Verbundenheit mit dem «Schweizeralpenland» zum Ausgangspunkt nimmt. Ein Schweizer sei, «wer seiner Väter Tugend ehrt, sie ausübt und sie andere lehrt». Dem reiselustigen Schweizer empfiehlt Lavater, «wie man reisen soll im Schweizeralpenland»: zunächst «auf der Berge stolzes Haupt», wo die Freiheit erfühlt werden kann, «die kein Neid uns raubt»; dann auf das Schlachtfeld, wo die Väter fochten und wo auch die Natur zum jungen Herzen spreche; und dann schließlich: «lerne jeden freien Staates Recht, der steht im Schweizerbund». Die Fremde solle er jedoch meiden, wo «vergiftet wird dein Schweizersinn von Monarchienluft». Im «Gemeineidgenössischen Lied» hat Lavater die Alpenwelt unmittelbar in das Lob eidgenössischer Tugenden einbezogen, und in einem anderen Lied sind Bergnatur und eidgenössische Eintracht in Verse von kristallener Klarheit gegossen: «Schweizerberge-undurchdringlich Hohe Festung der Natur! - Aber, Brüder! Unbezwinglich Sind wir doch durch Eintracht nur.» Lebendige Auseinandersetzung mit den «Alten Eidgenossen» Nicht nur Lavaters Lieder und jene seiner Epigonen vermittelten das Geschichtsbild der Helvetischen Gesellschaft an die weitere Öffentlichkeit. Gleiches taten auch die nun allenthal- ben erscheinenden «Neujahrsgaben». Auch wo man die eudämonistische Auffassung nicht übernahm, waren die Alten Eidgenossen, wie man sie jetzt sah, eben doch Beispiele auserlesener Tugend und Vorbilder für die Nachfahren. Die durch den Luzerner Rat veranlaßten vaterländischen Dramen der Luzerner Jesuiten Joseph Ignaz Zimmermann und Franz Regis Crauer boten ein ganz ähnlich idealisiertes Bil d, auch wenn sie der diesseitsbezogenen Tugendauffassung nicht folgten38. Und die «Neujahrsblätter ab den Chorherren» inZürichhaben dieselben Vorstellungen von den Vorfahren bewußt nicht im Sinne des aufgeklärten Patriotismus ausgelegt, sondern als Vorbild für Frömmigkeit, Liebezur Religion und Seelengüte39. Bei dieser Idealisierung der Alten Eidgenossen wurden durchaus unterschiedliche Akzente gesetzt, und zwar schon im Schöße der Helvetischen Gesellschaft selbst. Die Ambivalenz zwischen dem kriegerisch-heldischen und dem durch friedliche Tugenden gekennzeichneten Bild der Alten Eidgenossen tritt gerade bei Lavater zutage, der sich dessen bewußt wurde und sich explizit für das letztgenannte entschied. Und während Gottlieb Konrad Pfeffel40, besonders aber der Solothurner Chorherr Gugger und Josua Hofer41 die eidgenössischen Kriegstaten im Überschwang hochleben ließen und Johann Heinrich Füßli nach dem Freiheitssinn den «ächten Militärgeist», den Wehrwillen, als zweiten den Staat erhaltenden Grundsatz vorstellte42, stand Isaac Iselin einer solchen Sicht eher verständnislos gegenüber. NLklaus Anton Kirchberger sah im Überhandnehmen der kriegerischen Eigenschaften gar den ersten Anlaß zum Zerfall eidgenössischer Tugend43. 37 Vgl. Luginbühl-Weber Gisela, «Die Schlacht bey Sem-pach». Johann Kaspar Lavater als Patriot und Pazifist, in: Tiiommen, Schlacht, S. 31-39. 38 Eberle Oskar, Staatsfestspiel am Vierwaldstättersee, in: Jahrbuch der Gesellschaft für schweizerische Theaterkultur 10/11, 1938/39, S. 58. - Zimmermann Joseph Ignaz: Wilhelm Teil. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, Basel 1777; Petermann von Gundoldingen oder die Sem-pacherschlacht. Ein eidgenössisches Trauerspiel, Basel 1779; Nikolaus von Flüe oder die gerettete Eidsgenossenschaft, in fünf Aufzügen, Luzern 1781; Erlachs Tod, ein vaterländisches Trauerspiel, Augsburg 1790. - Dann: Crauer Franz Regis: Die Mordnacht zu Luzern. Ein vaterländisches Schauspiel, Luzern 1792; Julia Alpinula, oder Gefahr der Sicherheit, ein helvetisches Nalional-Trauerspiel, Luzern 1792. 39 Wessendorf, Geschichtsschreibung, S. 160-165. 40 Pfeffel Gottlieb Konrad, Kriegshandwerk in alter Zeit, in: Verhandlungen 1785, S. 19-53. 41 Vgl. Gugger, Wesen; Hofer Josua, Die eidgenössischen Hilfeleistungen für Mülhausen, in: Verhandlungen 1781, S. 9-37. 42 füssli Johannes Heinrich, Die politische Tradition der Eidgenossenschaft, in: Verhandlungen 1780, S. IS-SS. 43 Kirchberger Nikiaus Anton, Geschichte der eydsge-nössischen Tugenden, in: Patriotische Reden 1765. Schließlich sei nicht verschwiegen, daß es neben der Idealisierung auch andere Auffassungen gab. Das beliebte, 1779 erstmals erschienene, bis ins 19. Jahrhundert wiederholt aufgelegte, ins Französische übersetzte und - von konfessionellen Parteilichkeiten gereinigt-auchin Sitten und Solothurn als Lehrmittel verwendete Schulbuch des Zürchers Hans Rudolf Maurer ließ die Alten Eidgenossen kaum mehr in einer idealisierenden Gloriole erscheinen44. Hier dominierten schlichtweg «rohe, einfältige, tapfere; freyheitsliebende Leuthe», und nur gerade in ihrer bescheidenen Lebensführung und Tapferkeit vermochte Maurer Ansätze zu repu- j blikanischen Tugenden zu erkennen. Schon im Eingreifen Luzerns im Entlebuch am Anfang des Sempacherkrieges sah er eine «leichtsinnige» Einmischung in «fremde Händel»; und die i Burgunderkriege, Tummelfeld «geldhungriger Schweizerhelden», malte er dann vollends in düsteren Farben. Maurers Interesse galt der Reformation; in ihr sah er eine der Gegenwart ' verwandte «Aufklärungszeit», und so konnte er der von den Patrioten gehegten alteidgenössischen Tradition nur kritisch gegenüberstehen. Folgerichtig trat die politische und militärische Geschichte mit ihren sagenhaften und anekdotischen Begleiterscheinungen in den Hintergrund. Geistige, kulturelle und ökono- i mische Zustände wurden in nüchternem Tone behandelt, und vielleicht lag gerade hierin der Erfolg des Büchleinsbegründet. Denn die überschwengliche, pathetische Ge- i bärde der HelvetLker fand nicht nur Anklang; von nüchternen Zeitgenossen wurde sie belächelt. Mochten sie sich auch durch Josua Hofer für die Taten der Vorfahren preisen lassen - 1 «Ihr habt so viele Unschuldige beschützt... daß man Euere Heerzüge nicht genug bewundern und Euer unerschrockenes Herz nicht I genug preisen kann»45 -, viele Zeitgenossen erkannten das Phrasenhafte dieser ganzen i Selbstdarstellung durchaus: «Wenn das Vater- land in Gefahr ist, werden diese Patrioten nicht i die Männer seyn, die es retten», notierte ein 44 Maurer Hans Rudolf, Kurze Geschichte der Schweiz. Für Anfänger, Zürich 1779, 1782, 1791, 1816. Übersetzt ins Französische: Gaudin Jean, Abre^ de l'hisloire de la Suisse, Zürich 1817. Dann veränderte Auflagen in Sitten und Solothurn 1819, 1829. Vgl. Wessendorf, Geschichtsschreibung^. 166-169. 4! Verhandlungen 1781, S. 14. i 46 Imhof/de Capitani, Gesellschaft 1, S. 216f. 47 Feller/Bonjour, Geschichtsschreibung 2, 11962, S. 500 und =1979, S.425. 4£ Von der Aufklärung zum Historismus. Zum Strukturwandel des historischen Denkens, Hrg. Horst Walter 1 Blanke/Jörn Rüsen, Paderborn 1984 (Historisch-politi- sche Diskurse I). Siehe auch Aufklarung. 49 Wessendorf, Geschichtsschreibung, S. 49, 118-120. 50 Bodmer Johann Jakob, Die Discourse der Mahlern, 1. I Teil, 5. Discours, Zürich 1721. ausländischer Beobachter46. Als in der Katastrophe von 1798 die «Probe aufs Exempel» -für einmal stimmt die Wendung genau - wirklich erbracht werden mußte, taten sich diejenigen, welche tausendfach den Tod fürs Vaterland besungen hatten, nicht besonders hervor. Nur gerade zwei Helvetiker, unter ihnen Lavater, der den falschen Ton in seinen Kriegsliedern erfühlt und sie widerrufen hatte, sind als Opfer der Besatzungsmacht namhaft zu machen. Der Weg zur Geschichte der Nation: Die Geschichtsschreibung Unter den patriotischen Helvetikern gab es auch Historiker. Auch sie waren geprägt von der eudämonistischen Auffassung, daß Geschichte- wie Isaac Iselin es sagte- «ein Experi-mentalcours der Sittenlehre, der Staatskunst und des guten Geschmacks»47 sei. Sie ließen sich durchaus von der patriotischen Begeisterung der Helvetischen Jahresversammlungen mittragen. Das verhinderte aber nicht, daß sich in dieser Zeit, der allgemeinen Entwicklung folgend48, in der Geschichtswissenschaft auch Neues tat. Nicht nur daß Geschichte jetzt als Bildungsfach institutionalisiert wurde: in Zürich am Carolinum im Jahre 1712 und in Bern in der nicht realisierten Schulreform von 1767 sowie 1787 am «Politischen Institut»49. Auf dem Lehrstuhl am Carolinum saß seit 1722 Johann Jakob Bodmer, der große Anreger, der die aufklärerische Sinngebung und erzieherische Funktionalisierung der Geschichteja geradezu programmatisch gefordert hat. Für die Frage nach dem Neuen in der damaligen Geschichtswissenschaft bietet Bodmers durchaus wertende Einteilung der Historiker in «Copisten», «Critici» sowie «Originale» einen Ausgangspunkt50. Zu den «Copisten» zählte er die meisten «Chronick-Schreiber des Schweizerlandes», die kritiklos aus allen möglichen Quellen ihre Angaben sammelten, sie ungeordnet aneinanderreihten, ohne eigene Überlegungen beizumischen, da sie zur eigenen Absicherung immer eines Vorgängers bedürften. Inden «Critici» erkannte er jene, die in den von den «Copisten» gesammelten Quellen Wahres von Falschem, Wichtiges von Unwichtigem unterschieden, über die Handlungen und Reden, welche der «Registrator» aufgezeichnet, «meditierten und also den Begriff von dem Humor und der Politi-que eines Volckes oder einer Person formirten». Aus dieser Vorstellung von «kritischer» Geschichtsbetrachtung ergaben sich die Bemühungen um die editorische Erschließung der Quellen, und zwar sowohl bei Bodmer selbst in 348 123 Eidgenüssische Selbstdarstellung.* Kupferstich/Radierung von Johann Melchior FüJHi, 1722, als Frontispii zu Josias Simlers «Von dem Regiment der Lobl. Eydgenollschaft». Universitätsbibliothek Basel. seinem «Thesaurus Historiae Helveticae» von 173 5 wie auch im Rahmen der Helvetischen Gesellschaft. Bereits 1766 schlug der Bodmer-Schüler Salomon Hirzel vor, die Quellen «wie arbeitsame Bienen» zu einem Gebäude zusammenzutragen, das sich durch Ordnung auszeichnen und zur Ergründung der Wahrheit in den Taten der Väter dienen solle. Eine solche Arbeit «läßt uns mit den lang entschlafenen Vätern wie mit Hausgenossen umgehen» und an ihren Sitten, Freuden und Sorgen teilnehmen, schließe deren «redliche Herzen» auf, lasse * Bildinterpretalion: In dieser eidgenössischen Selbstreprö-sentation läßt Füßli im Vordergrund die Interpreten sprechen, nämlich die F.inigkeit, die «Vis Unita» mit Füllhorn und umschlungenem Pfeilbündel, und den alten Krieger, dessen altertümliche Rüstung auf die frühere Kampfbereitschaft der Alten Eidgenossen verweisen soll. Dahinter öffnet sich in zwei verschiedenen Ansichten die schweizerische Alpenwelt. Vom Dreifalligkeitssymbol aus senken sich Segensstrahlen auf eine retabelartige Präsentation der Eidgenossenschaft. Zwischen dem Pilaster der Zugewandten Orte und dem der Untertanenländer umfaßt der 13teilige Wappenkranz der eidgenössischen Orte den Kern des Bildes: die drei beständigen Eidgenossen, die im Gegensatz zu den Zugvögeln vereint geblieben sind. 349 auch ihre «Schwachheiten» einsehen und ihre Gemütsart und ihre Unruhe entdecken51. Hirzel stell te gl eich sei bst einige Quellenstücke vor, die alle zur Erhellung jener nur schwer durch-schaubaienZeitumstände dienten. Das Ziel der Bemühungen war die Erkenntnis der Zusammenhänge. Die Geschichte sollte, wie es Hirzel ausdrückte, «die Wege der göttlichen Vorsehung mit [den] Nationen» aufzeigen. Das war das Programm eines Kritikers Bodmerscher Prägung: Suche nach den Grundlagen, aber nicht bloßes Sammeln, sondern auch sinnvolle Einordnung der Materialien. Im vertrauten Umgang mit den Altvordern wird das Interesse an der ganzen Spannweite menschlichen Daseins signalisiert, ander «Wahrheit der Taten», der Schwachheiten und Sorgen, am Dasein eben, «wie es gewesen». Ein quellennahes Bild sollte entstehen und damit die erzieherische Zielsetzung, die natürlich dieselbe blieb, nur um so glaubhafter erfüllt werden. In seiner beachtlichen Präsidialrede über «Das eidgenössische Recht» gab Hirzel 1770 eine Probe seiner Vorstellung - eine von idealisierenden Klischees beinahe freie und geradezu modern anmutende Sicht der Entstehung der Eidgenossenschaft, Nach ihm hätten die Zeitumstände, die durch das «anarchische Lehensrecht», durch Streit zwischen Kaiser und Papst und durch den Kampf zwischen großen und kleinen Herren gekennzeichnet waren, dazu geführt, daß sich Städte und Lander in Bündnissen vereinigten, um sich gegen den «Ubertrang der Tyranney» zu verteidigen und ihre gegenseitigen Konflikte nicht mehr mit Gewalt und Krieg zu regeln, sondern vor einem bestimmten Richter beizulegen. Aus diesem Grunde «entstunden eine unendliche Anzahl Bündnisse» Hirzel weist auf die Urkunden hin, die er gesehen habe -, wobei erstmals die Städte zu «ewigen Verbindungen» geschritten seien. Er hielt es für «eine nicht unsichere Vermuthung, daß auf diese Art die Eidgenossenschaft entstanden» sei52. Von den Richterartikeln ausgehend, würdigte Hirzel nun die Schwierigkeiten, aber auch den Segen der Schiedsgerichtsbarkeit und stellte diese Friedenswahrung schließlich als «den ersten Zweck der Stifter unserer geheiligten Verbindung» hin, von dem man sich weder durch Leidenschaft noch durch Vorurteile abbringen lassen dürfe, Vielmehr solle man «die erhabene Gesinnung tief verehren, mit welcher 51 Vgl. Hirzel Salomon, Vorschlag, die Eidgenössischen Urkunden in den verschiedenen Orten zu sammeln, in: Verhandlungen 1766, S. 65-82; Imhof/de Capi-tani, Gesellschaft 1, S. 180. 52 Hirzel Salonion, Das Eidgenössische Recht, in: Verhandlungen 1770, S. 23-50. " Stalder, Fragmente. S4 Vgl. Aufklärung, darin besonders den Beitrag von Ursula A. J, Becker, die ersten Eidsgenossen, diese friedliebenden Brüder, die Zweytracht verabscheut und die Ruhe auf weit entfernte Zeiten» befestigt hätten. Bemerkenswert ist hier nicht so sehr der frühe Entwurf einer Landfriedensthese als vielmehr die Tatsache, daß zur Erklärung des Besonderen der Eidgenossenschaft nicht mehr die überkommenen Identitäts-Vorstellungen dienten, sondern ein neuer, verfassungsrechtlicher Ansatz gefunden wurde. Dies entsprach der allgemeinen Entwicklung der Aufklärung, in der ein Begründungsbedürfnis des Staates, seiner Form und seiner Aufgaben bewußt wurde -eines Staates, der nun nicht mehr von Gottes Gnaden erschien, sondern -je nach Auffassung - als «contrat social» unter Menschen oder als «organisch» gewachsenes Gebilde verstanden wurde. Die Entstehung von Staatlichkeit selber war zum Gegenstand der Betrachtung geworden; die Gesetzmäßigkeiten dieses Prozesses suchte man modellhaft durch den Vergleich mit den klassischen Vorbildern der Griechen und Römer zu erfassen. Wie Hirzel das historische Interesse andeutungsweise auf das ganze Dasein ausgeweitet hatte, so hat die aufklärerische Geschichtsschreibung bereits begonnen, ein weiteres Feld als die bloß politische Fragestellung zu bearbeiten: so Bodmer 1769 in seinem Unterrichtsmittel «Historische Erzählungen, die Denkungsart und Sitten der Alten zu entdecken», ferner Johann Schinz in seinem wirtschaftsgeschichtlich orientierten «Versuch einer Geschichte der Handelschaft der Stadt und Landschaft Zürich» von 1763. Bodmers Nachfolger am Caro-linum, Obmann Johann Heinrich Füßli, hat in seinem «Johann Waldmarin» von 1780 ebenfalls einen breiten Ansatz gewählt. Es war, wie der Titel sagte, «ein Versuch, die Sitten der Alten aus den Quellen zu erforschen». Auch die volkskundliche Fragestellung ist damals angegangen worden, vor allem durch Franz Joseph Stalder in seinen «Fragmenten über das F-ntle-buch»53. So weit und unterschiedlich die Fragestellungen dieser Historiker waren, so ist ihnen allen gemeinsam, daß sie nicht eine abgeschlossene Geschichte bieten wollten, sondern «Versuche» oder «Fragmente» erarbeiten, wobei Erörterungen über Methodenprobleme - wie bei Füßli - ebenfalls in die Darstellung einflössen. Sie standen damit durchaus im Trend der Zeit54. All diese Autoren waren Mitglieder der Helvetischen Gesellschaft, deren Verhandlungen einen Eindruck von der Spannweite des historischen Interesses vermitteln, auch wenn die Fragen-wie wir gesehen haben-zumTeil recht naiv verfolgt wurden. Bodmer hat aber auch vom originalen Geschichtsschreiber gesprochen. Ihm brachte er höchste Achtung entgegen. «Original» war derjenige, welcher die Charaktere einzelner Menschen oder ganzer Völker wie aus eigener Erfahrung und Anschauung so darzustellen verstand, daß sich aus der «subtilen und ordentüchen Beschreibung der Qualitäten» deren Eigenheit in der Geschichte ergab. Dazu brauchte es natürlich die Vorarbeit der «Critici» und die eigene Auseinandersetzung mit den historischen Zeugnissen. Bodmerbot dazu gleich selbst eine Kostprobe: die «Caractere des Genius des Volkes, das den Anfang zu dem helvetischen Ver-bündnis gemachet hat», wie er sie «in der Qualität eines critischen Historici» zusammengetragen habe. Das Beispiel stellt eine aus den überkommenen Vorstellungen bewußt gestaltete Komposition dar, die den Lauf der späteren Geschichte schon erkennen läßt. Bewußt gestaltet: denn Bodmer wie überhaupt die besten aufklärerischen Geschichtsschreiber ahnten, daß es nicht bloß um eine als «objektiv» verstandene beschreibende Addition von Kenntnissen gehen konnte, sondern daß es durchaus einer Konstruktionsleistung der «historischen Vernunft» bedürfe, und daß der Historiker schöpferisch Geschichte produziere. Gerade hieraus sollte sich auch der Bezug zur Gegenwart ergeben. Bodmer und die Aufklärer erfühlten damit den konstruktiven Charakter historischen Wissens, auch wenn sie ihn noch nicht systematischbegründenkonnten. Im Kreise der Helvetischen Gesellschaft lassen sich Ansätze zu solch originaler Geschichtsschreibung bei Obmann Johann Heinrich Füßli erkennen. Nach seinen historischen Vorlesun-genüber «Nikiaus von Flühund das Stanser Ver-konrmnis», über «Rudolf von Erlach und die Schlacht von Laupen» und über die Burgunder-kriege setzte er 1782 in seiner Präsidialrede auf «die politische Tradition der Eidgenossenschaft» ss gleichsam zu einer Gesamtwürdigung an. Ein Staat werde nur durch jene Grundsätze erhalten, durch die er begründet worden sei, begann Füßli seinen Gedankengang. Aus ihnen ergab sich nun die politische Tradition der Schweiz. An erster Stelle nannte Füßli den «Freiheitssinn», der seit dem ursprünglichen, gerechten Kampf gegen die Tyrannei zu den Grundpfeilern des Staates gehöre und sich in der Achtung traditioneller Rechte äußere, insbesondere - Füßli sah hierin eine schweizerische Eigentümlichkeit - auch in der Achtung gegenüber dem kleinen Volk, wobei man ohne «Polyceyplunder» sowie ohne «militärisches Aussehen» zur Einschüchterung des «Pöbels» auskomme. Den zweiten Grundsatz sah er im Wehrwillen, dem «ächten Militärgeist», denn durch Verträge allein ohne Abschreckung jeder äußeren Macht gebe es keine Sicherheit. Wie die eidgenössischen Schlachten bewiesen, kön- ne man auch in Minderheit gegen eine Übermacht bestehen; die Tapferkeit sei die «angestammte Tugend» der Schweizer. Notwendige Voraussetzung sei allerdings «ein Gefühl der gemeinen Ehre». Es gelte daher, ein «verfassungsmäßig mitwirkendes National-Daseyn» zu fördern - eine damals revolutionäre Forderung - und zu einem tragenden «Nationalgefühl» zu erheben. Ein weiterer Pfeiler der politischen Tradition bestand für Füßli in der Bündnispolitik. Äußerst zurückhaltend gegen außen sollte sie sein, dem Worte Bruder Klausens folgend. Den Kern der Bündnistradition im Innern sah Füßli in der weisen Institution des Schiedsgerichtes, die wegen der Schwierigkeit und den zwingenden Folgen dieses Rechtsweges ein Verfahren «in Minne» nahegelegt und dadurch «die wahren Interessen einer conföde-rierten Republik» und eine «ungeheuchelte gegenseitige Achtung» als Grundlage der «treuen Zusammensetzung aller Kräfte des Landes» gefördert habe. Den «eigentümlichen Charakter der Nation» erkannte Füßli schließlich in der «energischen Einfalt» und «unedlen Rohig-keit», welche die «Mutter aller Tugenden» darstellten. Diesen Charakter gelte es durch Erziehung und «Pflege der Geschichte unseres eigenen Geburthslandes» zu beleben. Auch wenn Füßli hier kaum mit konkreten historischen Reminiszenzen argumenüerte, sprach er doch als der anerkannte Historiker, und was er vorbrachte, kann durchaus als Entwurf einer historischen Gesamtwürdigung, als eine großzügige Interpretation der frühen Schweizergeschichte angesehen werden; eine Reflexion über die in der Geschichte erkennbaren Grundwerte, die das Besondere der Schweizerischen Eidgenossenschaft ausmachten. War das noch die Meditation des Kritikers über «Humor und Politique des ganzen Volkes» oder im großen Entwurf schon die originale Leistung einer «Caractere der Nation»? Die große Schweizergeschichte hat Füßli nicht geschrieben. Er beabsichtigte, sie zusammen mit Johannes von Müller zu verfassen, trat aber vom Vorhaben zurück, als er dessen größere Begabung erkannte. In der Tat hat Johannes von Müller wie kein anderer Bodmers Vorstellung eines originalen Geschichtsschreibers entsprochen. Aus einem Quellenfundus schöpfend wie kein schweizerischer Historiker vor ihm, seine eigene Gegenwartserfahrung in die Deutung einbeziehend -durch «Observation», wie von Müller es nannte -, in bewußt kunstvoller, oft pathetischer Sprache immer das anschauliche Bild anstrebend, beschwor er das Vergangene lebendig herauf. 55 Helvetischer Caküder 1780, S. 89-106; Helvetischer Kalender 1781. S. 42-58 und 1782, S. 193-323; Verhandlungen 1782, S. 13-83. I Die Kritik, die Bodmer auch gefordert hatte, hat er weniger geübt - ein Hirzel und Füßli waren hier weiter fortgeschritten als er —,■ und in seiner Darstellung ist die idealisierende Tendenz nicht zu übersehen. Was er aber schrieb, war neu, war die Geschichte einer schweizerischen Nation mit ihrem eigenen Charakter und Nationalgeist, der er in kühnem Ausgriff ihre eigene Stellung im Kreis der europäischen Völker zumaß. Daß es die Eidgenossenschaft gebe, daß sie seit fünfhundert Jahren eine Nation sei, während andere politische Gebilde - «Stände» - untergegangen seien, das hätten die von Gott gefügten Umstände bewirkt. «Hätte Gott diese Entwicklung nicht gebilligt, hätte er die Umstände anders gefügt; und wären die Vorfahren unwürdig gewesen, sie hätten jene ungenützt verstreichen lassen.» So vertrat von Müller die Auffassung einer «organischen Entwicklung» des Staates und sah diese bestimmt und gehalten durch den «untilgbaren Nationalcharakter», durch «das, was eingegraben in den Geist, sich fortpflanzt von Geschlecht zu Geschlecht». Nur wenn die Schweizer diesem treu blieben, habe ihre Nation Bestand. «Für uns ist vor Europa hiezu kein anderer Weg, als die zu sein, die wir sein sollen.» In den fünf Bänden der «Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft» erstrebte von Müller nichts anderes, als seinen Mitbürgern aus ihrer eigenen Geschichte - genauer: der Geschichte der Alten Eidgenossen -heraus zu zeigen, wie sie vor Europa zu sein hatten. Ein in sich geschlossenes, auf europäische Zusammenhänge Bezug nehmendes nationales Geschichtsbild war entstanden. Das Bild eines ursprunglich freien und einigen Volkes, das sich zur Römerzeit, vor allem aber seit dem 13. Jahrhundert gegen fremde Anmaßungen heldenhaft wehrte, wobei Adel, Bürger und Landmann gemeinsam gegen Raubritterund widerrech tliche Herrschaftsansprüche kämpften und die einzelnen Orte, nachdem sie sich hierzu als würdig erwiesen hatten, in den eidgenössischen Bund eintraten; ein Bild, in das auch die traditionelle Anschauung von den Alten Eidgenossen mit allen Heldengeschichten einfloß, nachdem Müller seine anfänglich kritische Zurückhaltung aufgegeben hatte; ein Bild schließlich, das auch die neue Auffassung der Alpen als schicksalhaft prägende Landschaft mit einbezog56. Es war die von Bodmer geforderte große 56 Müller Johannes von. Der Gesthichten schweizerischer Eidgenossenschaft erster Band: Von dem Anbau des Landes, 1. erweiterte Auflage, Winterthur 1786, darin: Vorrede an alle Eidgenossen. Imhof Ulrich, Müllers Verhältnis zur schweizerischen Nationallegende, in: Johannes von Müller - Geschichtsschreiber der Goethezeil, Hrg. Christoph Jamme/Olto Pöggeler, Schaffhausen 1986, S. 47-65. «Caractere einer gantzen Nation». Allerdings barg sie mit ihrer nationalen Ausrichtung auch die Gefahr einer Verengung in sich, die nur noch wenig mit den Vorstellungen von Müller selbst und nichts mehr mit jenen der frühen Helvetiker, eines Isaac Iselin oder Georg Zimmermann, zu tun hatte. Auf dem Weg zum Mythos Wenn abschließend das «muntere Treiben» der aufklärerischen Zeitgenossen auf der Brücke der nationalen Identität gewürdigt werden soll, so gilt es zunächst festzuhalten, daß es sich bei dem im Schöße der Helvetischen Gesellschaft gewachsenen Geschichtsbild nicht um das einzige in dieser Zeit erkennbare handelte. Bestimmend wurde es indessen ohne Zweifel durch seine volkserzieherischen Zielsetzungen. Den Ausgangspunkt bildeten die überkommenen vorteilhaften Vorstellungen von den Alten Eidgenossen, wie sie sich seit dem Ausgang des Mittelalters durch die Jahrhunderte nahezu unverändert erhalten hatten. Es war eine Identitätsvorstellung, die sich von ihrem Gehalt wie von ihrem seit dem 16. Jahrhundert deutlich werdenden Vorbildcharakter her als Unterlage für das eudämonistische Verständnis der Geschichte geradezu anbot. Und da das aufklärerische Erziehungsideal, das zur «Glückseligkeit des Staates» führen wollte, nicht nur die im engen Sinn poUtischen Tugenden ins Auge faßte, sondern den ganzen Menschen als soziales Wesen, das sich nur durch eine umfassende Tugendbildung zum Glück in der Gemeinschaft führen lasse, erweiterte sich auch die Vorstellung von den Alten Eidgenossen auf die ganze Spannweite menschlichen Daseins. Hier bot das überkommene Bild mit den für die Alten Eidgenossen beanspruchten Tugenden einen ersten Satz von fertigen Bausteinen an. Von dieser Vorgabe ausgehend, haben die Helvetiker recht unbefangen und naiv aus ihrem aufklärerischen Sittlichkeitsverständnis heraus das Bild weiter ausgemalt. So entstand eine in die Vergangenheit projizierte Utopie von vollkommenen Patrioten im aufgeklärten Sinn, die nur noch sehr bedingt historisch begründet war, dafür um so mehr durch die - als wissenschaftlich angesehene - Auffassung von der physiologisch-klimatischen Prägung der Menschen gestützt wurde. Jetzt traten die Alpen und ihre Bewohner aus einer inneren Logik heraus in eine immer engere Verbindung mit dem Bild von den Alten Eidgenossen. Hier beginnt der Weg, der die Hirten und die Alpen - jene des Bemer Oberlandes eher als Gemütswerte, jene des Gotthardmassivs mehr als Wahrzeichen politischer Identität - zusehends zu einem konstitu- ierenden Bestandteil der schweizerischen Identitätspräsentation werden ließ. Das gemeinsame Vaterland, das man, dem Beispiel der Alten folgend, in Einigkeit wiederherstellen wollte, war Lavaters «Schweizeralpenland». Unter der tätigen Liebe zum Vaterland verstand man bald weltoffen und humanitätsgläubig die ganze Weite menschlicher Tugendübung, bald enger und pragmatisch die Förderung des «Nationalcharakters», So oder so war sie aber die Aufgabe eines jeden Patrioten. Die Geschichtsschreibung selbst war einer eu-dämonistischen Grundvorstellung verpflichtet und hat gerade hiedurch eine Weite des Untersuchungsfeldes angestrebt, die sie der modernen Geschichtswissenschaft näher erscheinen läßt als die kritische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. Die Frage nach der Besonderheit der schweizerischen Entwicklung wurde verschiedentlich angegangen, und sie führte schließlich zu jenem gewaltigen Gemälde der «Charaktere einer Nation» unter den andern Nationen Europas, das in der Folgezeit einen bestimmenden Einfluß auf die Identitätspräsentation ausübensollte. Insofern in diesem Traditionsbewußtsein das Bild der Alten Eidgenossen als Imperativ, das Vorbild der Vorfahren ins Hier und Jetzt umzusetzen, mehr und mehr idealisiert und absolut gesetzt wurde, war im Kern die Voraussetzung zum nationalen Mythos gegeben. Noch ist aber dieses Bild zu sehr das Ergebnis einer elitären Reflexion, die wohl auf landläufigen Vorstellungen aufbaut, die aber die mit ihm verfolgte aufklärerische Zielsetzung noch viel zu sehr bewußt popularisieren muß. Noch ist das von den Helvetikern geforderte und gepriesene Vaterland aller Schweizer ein frommer Wunsch. Erst die große Zeitwende der Französischen Revolution und, in ihrem Gefolge, das Erwachen von nationalen Leidenschaften in ganz Europa soll ten auchin der Schweizdienötige Voraussetzung für einen eigentlichen nationalen Mythos schaffen. «Oh mein Heimatland, oh mein Vaterland!» -Die Alten Eidgenossen und die Schweizer auf dem Weg zu einer nationalen Identität Selten sind in der Schweiz historische Epochen so erfahrbar zusammengeprallt wie anfangs 1798 in Aarau, Hier hat sich, als bereits französische Truppen auf schweizerischem Gebiet standen, die Alte Eidgenossenschaft noch einmal aufgebäumt, als die Tagsatzungsgesandten am 25. Januar die Neubeschwörung der Bünde vollzogen in feierlicher Erinnerung an «die drei Helden von Schwyz, Uri und Unterwaiden», die sich «vor dem Angesicht Gottes vereinigt» hätten1. Dem begeisterten Wort folgte die Tat aber nicht; die heraufbeschworenen Siege der Alten Eidgenossen blieben aus, und unter dem Ansturm der französischen Armeen wurde die Alte Eidgenossenschaft hinweggefegt. In Aarau wurden am 12, April die Bildung der «einen und unteilbaren Helvetischen Republik» verkündet und die souveränen Orte zu bloßen Verwaltungsbezirken degradiert. Tief muß damals das nationale Selbstverständnis verunsichert gewesen sein: «Wir schämten uns, ferner Schweizerlieder zu singen, und einzelne verschworen sich, im ganzen Leben von ihnen nichts mehr wissen zu wollen», schrieb Peter Scheitlin, der zu jener Generation gehörte, die Lavaters «Schweizerlieder» bei jedem Anlaß «mit unerhörter Lust» gesungen hatte2. Und wenn die Regierung von Schwyz der göttlichen Vorsehung dankte, daß General Brune die Schweiz in drei Republiken aufteilen wollte, worunter der Tellgau, in dem die innerschweizerischen Verfassungen gewahrt bleiben sollten- wo blieb da der Gedanke an die eben beschworene Einigkeit der Alten Eidgenossen?3 Man wird wohl die bewußtseinsmäßige Zäsur jener Tage nicht hoch genug einschätzen können. Um so beachtlicher ist es, wie rasch sich ein wieder von Traditionsbewußtsein getragenes Selbstverständnis hat durchsetzen können. ' EA 8, S. 694. 2 Vgl. Imhof/db Capitani, Gesellschaft 1, S. 217 und 369, Anm. 37. 3 Frei, Nationalbewußtsein, S. 14f, Die Verwirklichung der Utopie: Die Alten Eidgenossen im helvetischen Intermezzo Die Helvetik4, dieses völlig neue, zentralistische Staatsgebilde, stand während ihrer kurzen Existenz unter einem dauernden Legitimationszwang, Gerade weil sie auf fremden Bajonetten beruhte, suchte sie diese Legitimation im Rückgriff auf die eidgenössische Geschichte. Die Vorstellungen, die sie dabei propagierte, entsprachen so sehr dem in der Helvetischen Gesellschaft entwickelten Geschichtsbild, daß man geradezu davon sprechen kann, die Helvetik habe die rückwärts projizierte Utopie jener Idealisten auf dem Verordnungsweg in die Realität umsetzen wollen. Die Einigkeit der Alten Eidgenossen, von der jene über die Kantonsgrenzen hinweg geträumt hatten, schien ja nun im neuen Staat realisiert, und man präsentierte das als Resultat ein und derselben Geschichte: «Unsere neue Staatsverfassung rufe aufs neue unsre biedern Väter in unser Andenken zurück. Heilig und ehrwürdig bleiben uns die Stifter und Befestiger unseres glücklichen Freystaats» — und nun werden sie aufgezählt, all die Helden der eidgenössischen Schlachten. Wie hier durch den unmittelbaren Bezug der neuen Staatsverfassung auf die alten Helden die Alten Eidgenossen in den neuen Staat eingebunden wurden, so geschah dies auch im Oktober 1798 durch die Fahrt der in Luzern tagenden gesetzgebenden Räte zur «ersten Geburtsstätte der helvetischen Freiheit», zum Rütli5. Auch die zentralistische Helvetische Republik wollte unmittelbar von den Alten Eidgenossen herstammen. Diese leuchteten nun in all den Tugenden, die schon von der Helvetischen Gesellschaft besungen worden waren und jetzt auch offiziell für den neuen Staat gelten sollten: Es waren «1. die alte Schweizertapferkeit, 2. die Redlichkeit unserer entschlossenen Vorväter, 3. die glückliche Eintracht, 4. die schöne Tugend des wahren Patriotismus», ferner Ehrfurcht vor der Religion, edle Bescheidenheit, Uneigennützigkeit und anderes mehr«. Selbstverständlich waren es die Berge, welche diesen tugendreichen kollek- " Grundlegend für das Folgende ist: FREI, Nationalbewußtsein. 'Ebd., S. 51 und77f. 4 Ebd, S. 64. 7 Ebd., S. 65. - Actensarnmlung aus der Zeit der Helvetischen Republik (1798-1803), Bd. 3, Bern 1889, S. 465 (Johann Rudolf Suter, 10.11.1798). Der Satz geht so weiter: «und haben sie gleich weniger Geld, so haben sie doch mehr inneren Gehalt und mehr Charakter als diese.» Es folgen Hinweise auf den Freiheitskampf der Vater und das Riitli. ' Frei, Nationalbewußtsein, S. 78. ' Ehd., S. 73. tiven Charakter prägten: «Alle Gebirgsvölker der Erde waren von jeher und sind noch besser und tugendhafter als die Flächenbewohner», tönte es etwa von der Rednertribüne des Helvetischen Großen Rates herab7. Mochten auch kritische Geister sich von diesen «Tiraden vom Hirtenvolk» distanzieren, die Berge erschienen doch als der Inbegriff schweizerischer Landschaft, «als unvergängliche Altäre der Freiheit Europas», wie es Heinrich Zschokke sagte, als von Gott «im Mittelpunkt unseres Weltteils erbaute ewige Denkmäler der Geschichte Europas, daß hier schon damals Freiheit und Menschenrechte galten, als noch überall die Sklavenketten klirrten»ä. Im Gehalt war dies alles ein Erbe der Aufklärung. Neu war allerdings die geradezu fiebrige Emphase, mit der diese Vorstellungen vorgetragen wurden - und neu war auch der Fremdenhaß. Weniger an die Ablehnung des natürlich immer nur «fremden» Luxus, die sich ja schon im 16. Jahrhundert geäußert und auch in den Vorstellungen der Helvetischen Gesellschaft gelebt hatte, ist dabei zu denken, sondern an die bewußte Förderung eines Feindbildes als wirksames Mittel zur nationalen Integration. Daß sie von Frankreichs Gnaden errichtet worden war, blieb für die Helvetische Repubük eine schwere Hypothek. Seit Beginn des zweiten Koalitionskrieges bot sich nun für die helvetische Regierung eine Gelegenheit, den antifranzösischen Abwehrreflex auf Österreich umzulenken und zugleich für die bewußtseinsmäßige In-tegration im neuen Staat zu nutzen: Mit dem Feindbild Österreich war sofort der Bezug zur alten «Heldenzeit» hergestellt, und die helvetische Propaganda nützte diese Möglichkeit gar gründlich aus. Gegen Österreich sollte gekämpft werden, das die Eidgenossen «seit 500 Jahren als Rebellen» ansehe, «weil Urvater Teil sein Joch abgeschüttelt habe». Gegen den nämlichen Feind zog man ins Feld, «welchen unsere Voreltern mit so viel Ruhm überwunden hatten». Morgarten, Sempach und der gegenwärtige Krieg standen nun in einer Linie und wurden unterschiedslos unter dem revolutionären Gesichtspunkt gesehen9. Zugleich ergab sich die Möglichkeit, eine positive Vorstellung von der Sendung der Schweiz zu entwickeln: Vor aller Welt sollte sie ein Musterstaat der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sein, als solcher an vorderster Front im großen Entscheidungskampf der revolutionären Republiken gegen die Despotien der Fürsten stehen und die Aristokraten auch im Innern bekämpfen. Auch hier fiel die Herleitung von den Alten Eidgenossen leicht. Nicht «hochwohlgeborene, hochgeehrte, wohlweise Herren» hätten «die Leopolde bei Morgarten und Sempach» geschlagen, «es waren Helvetier, arm und ländlich, frey 354 355 und gleich»'". So scheint jetzt wieder die alte Vorstellung vom Kampf der Bauern gegen den Adel auf, aber nun schon säkularisiert: Nicht mehr um die von Gott auserwählten Kleinen ging es, die von der christlichen Gesellschaftsordnung ausgenommen waren. In einer Verknüpfung von allgemeiner Revolutionsideologie und nationalem AnHegen sah man sich als mustergültige Republik, als geeinte Nation an der Spitze der fortschrittlichen Nationen im großen Kampf der Zeit für «das Heil der Völker». Unter dem Druck der rapide anwachsenden wirtschaftlichen sowie politischen Probleme suchte die helvetische Regierung diese Identitätsvorstellung in Fiebriger Eile mit allen nur möglichen Propagandamitteln - von der Schule über Staatszeremonien und Volksfeste bis hin zu Ansätzen des Gesinnungsterrors — unter das Volk zu bringen". Wenn auch vieles Entwurf blieb, so hat es doch die Gegner vor allem in der Innerschweiz zur Reaktion, zur Formulierung auch ihrer Vorstellungen genötigt. Daß diese sich in den gleichen Bahnen bewegten wie jene der Helvetiker, erstaunt nach den bisherigen Ausführungen gewiß nicht mehr. Auch hier sah man sich - und mit mehr Recht - als das Hirtenvolk mit einfachen Sitten und Bräuchen, wie es 1801 die Kantonal-Tagsatzung von Schwyz formulierte, und nahm sich vor - wie es der Luzerner Rat seinen Bürgern und Landleuten zurief-, «wie unsere Väter» zu bleiben, nämlich «gottesfürchtig, menschlich, tapfer»l2. Aber die Feinde waren und blieben die Franzosen. Der neue Geßler war der französische Regierungs-kommissär Rapinat13; und von missionarischen Revolutionskriegen wollte man da nichts wissen, wo es um den Kampf für die eigene Freiheit ging. Sonst aber erschienen hüben wie drüben die gleichen Argumente und Stereotypien. Einmal mehr wurde der jeweiligen Gegenseite das Erbe der Alten Eidgenossen, «achtes Schwei-zertum» nämlich, abgesprochen. Der helvetische Einheitsstaat ist eine kurze Episode geblieben. Die im Schoß der Helvetischen Gesellschaft gehegte Utopie hat sich so nicht realisieren lassen. Aber indem die helvetische Regierung zur Legitimation ihres Staates wie zur Integration der Bevölkerung auf die bestehenden wirkungsvollen Vorstellungen von den Alten Eidgenossen zurückgriff, diese in ihrer Argumentation tausendfach einsetzte, auf vielfältige Weise propagierte und dadurch auf der Gegenseite Reaktionen auslöste, hat sie etwas Wichtigeres für den langen Weg der Schweizer zu ihrer nationalen Identität erwirkt: Sie hat die Vorstellungswelt von den Alten Eidgenossen, die bisher doch nur in einer verhältnismäßig beschränkten Öffentlichkeit, jener der gebildeten Elite, gelebt hatte, für die Massen zu öffnen be- gonnen. Insofern bildet die Helvetik für den Transfer des von der Aufklärung mit neuem Gehalt erfüllten Bildes von den Alten Eidgenossen ins erwachende Nationalbewußtsein die eigentliche Scharnierstelle. Das Unspunnenfest von 1805 Der Streit um das wahre Erbe der Alten Eidgenossen fand ein versöhnliches Nachspiel, das ganz im Zeichen des «Hirtenvolkes» stand und gerade für das Brauchtum seine Folgen zeitigen sollte. Das erste Unspunnenfest von 1805, das auf die Initiative eines kleinen Kreises um den Berner Schultheißen von Mülinen zurückging, war als Nationalfest zur Versöhnung unter den Kantonen gedacht, sollte aber auch das Oberland der Stadt Bern wieder näherbringen und durch die Schaustellung der «guten Wilden» in den Bergen, «ihrer rührenden Einfalt und reinen Sitten», erzieherisch auf die «überkultivierten» Städter wirken1,1. Die ganze Anlage des Festes war erfüllt von historischen Fiktionen und Reminiszenzen: Es wurde am Bertholdstag gefeiert in Erinnerung an Berthold V. von Zähringen, in dem man den Freundschaftsstifter zwischen Bern und dem Oberland sah. Veranstaltet wurde es auf der Burgwiese von Unspunnen, weil dort seit dem 13. Jahrhundert Versöhnungsfeste zwischen dem Oberland und Bern stattgefunden hätten. Als Festkulisse dienten einerseits die Burgruine, «die in der Geschichte der Stadt Bern und der Schweiz so berühmt» sei - Symbol der gebrochenen Adelsherrschaft -und andererseits «die majestätische Schnee-und Eispyramide der Jungfrau», Symbol der Schweizer Alpenheimat. Die Spiele, die hier stattfanden, wurden als uralte Wettkämpfe der Hirtenvölker gesehen15. Und der Eröffnungsumzug, an dem Greise und Jünglinge - Alte und Junge Eidgenossen - in historischen Kostümen mit Bannern und Hellebarden mitmarschierten, atmete so sehr Geschichtliches, daß eine feinfühlige Beobachterin wie Madame de Stael, welche die Bezüge zu den Alten Eidgenossen sofort bemerkte, zum Schluß kam, daß hier «eine immer gleichbleibende Geschichte nur ein Augenblick zu sein scheint, dessen Dauer mehrere 10 Ebd., S. 94. 11 Vgl. ebd., S. 109-200. 12 Ebd., S. 97f. 13 Ebd., S. 103. 14 Vgl. zum Ganzen; spreng, Alphirtenfeste (mit Quellen); Baumann Max Peter, Musikfolklore und Musikfolklorismus, Winterthur 1976, S. 122, 143,210-214,227; Balimann, Bibliographie, S. 192-194. 15 Zur faktischen Entwicklung: Schaufelberger, Wettkampf. Jahrhunderte umfaßt»16. Unter den Liedern schließlich, die eigens zu diesem Anlaß gedichtet und den Festteilnehmem geschenkt wurden, nahm eines eben jenes Motiv wieder auf, das immer dann wirksam wurde, wenn es um die innere Bewußtwerdung ging - das Zwiegespräch zwischen Alten und Jungen Eidgenossen. Das Lied «Die alten und neuen Schweizer» von Gottlieb Jakob Kuhn war ein Wechselgesang zwischen einem «Altvordern» und seinen heutigen Enkeln, der auf hausbackene Art Harmonie und Traditionsverbundenheit signalisierte und wenigstens am Unspunnenfest gelten ließ, denn der Alte deutet an, daß der Schweizersinn nicht mehr bei allen lebe17. Obwohl die Initianten ihr Fest enthusiastisch propagierten und die «ächten Schweizer, welchen alte Sitten ihres Vaterlandes werth sind», zum Besuch aufboten, wurde es kein schweizerisches Volksfest. Es war eher eine folkloristische Schaustellung, an der vor allem Teilnehmer aus der näheren Umgebung auftraten, und zwar für eine erlesene Gästeschar - Madame de Stael sind wir schon begegnet , die sich in romantischen Naturgefühlen erging. Aber gerade durch das geringe Echo in der Bevölkerung aufgeschreckt und auch angespornt durch das Erlebnis des Tages, setzte nun eine wirkungsvolle Förderung des heimatlichen Volksliedes, der Kühreihen und des Alphornblasens ein, so daß diese als typisch und altschweizerisch empfundene Folklore als Element der Identitätspräsentation in der Folgezeit mächtig auflebte. Das Unspunnenfest, für das Volk von einer gebildeten Elite entworfen und organisiert, zeigt noch die Grenzen der vaterländischen Motivation: noch waren keine Volksmassen zu gewinnen. Spreng, Alphirtenfeste, S. 53; öUne histoire, toujours la meine, ne semble qu'un seul moment dont la duree est de plusieurs siecles.» 17 Spreng, Alplurtenfeste, S. 21 f. - Bibliographie zu Kuhn: Baumann, Bibliographie, S. 108, I76f. 1HZur faktischen Geschichte vgl. Biaudet Jean-Charles, Der modernen Schweiz entgegen, in: Handbuch 2, S. 871-986; Greyerz, Bundesstaat; Andrey Georges, Auf der Suche nach dem neuen Staat (1798-1848), in: Geschichte, S. 527-639; Ruffieux Roland, Die Schweiz des Freisinns (1848-1914), in: Geschichte, S. 639-730; Dierauer, Geschichte 5/1. * Bildinterpretation: Die Kriegsgöttin Bellona lehrt den städtischen Bürger, das Chronic[on] Helvet[icum] zu begreifen. Beide Figuren stehen auf dem Boden der vaterländischen Erziehung, dessen Fundament durch die «Trias Helvetica» gebildet wird. Die drei Bundesgrilnder werden moralisch gedeutet als Symbole alleidgenössischer lugenden: Treue, Stärke und Klugheit. Neben dem beziehungsreichen Rückblick auf die eidgenössische Geschichte macht Bellona auf die aktuellen Gefährdungen aufmerksam. Wie leicht fallen jene, die dem Tanz, der. Fastnacht, dem Glücksspiel und ahnlichen Modetorheiten anhängen, dem zum Fenster hereinschwebenden Sen-senmannzum Opfer! SB " " ■ ' Die Alten Eidgenossen auf dem Weg zum neuen Staat Was die Helvetische Gesellschaft erträumt und die helvetische Regierung zu realisieren gesucht hatte, die Einheit der Eidgenossenschaft als Nation unter Nationen - dieser Gedanke war ausgesät, auch wenn 1815 mit dem Bundesvertrag das alte föderative System wieder restauriert wurde18. Der vaterländische Gedanke lebte weitgehend außerhalb der staatlichen Institu- 124 Tugend und Bildung am Beispiel der Alten Eidgenossen.* Kupferstich von David Heitliberger in seinem Werk: «Rücksicht in das Vergangene, und Aussicht in die Zukunft...», Zürich 1776. Universitätsbibliothek Basel. 356 357 tionen und sogar gegen sie weiter, in der liberalen Opposition zunächst, dann - immer heftiger - in der radikalen. Träger waren einerseits die Vereine, andererseits das Militär. 1819 nahm die Helvetische Gesellschaft nun als Organ einer elitären liberalen Opposition ihre Tätigkeit wieder auf. Im gleichen Jahr erfolgte - bezeichnenderweise angeregt durch eine historische Gedenkfeier, nämlich jene der Reformation -die Gründung des Zofingervereins15, dessen Zweck unabdingbar mit der Förderung des gemeinsamen Vaterlandes verbunden war. 1824 wurde in Aaraujener Verein gegründet, der wie kein anderer gesamtscirweizerisch die Massen bewegen und zum wichtigsten Kommunikationsmittel des Vaterlandes werden sollte: der Schweizerische Schützenverein. Schließlich ist auch auf die einzige zentralistische staatliche Neuerung hinzuweisen, das 1818 verabschiedete allgemeine Militärreglement, das ein gesamtschweizerisches Militärwesen einführte. 1819 wurde in Thun die Zentralschule eröffnet. Hier wie in den eidgenössischen Übungslagern, in denen nun Truppen aus den verschiedenen Kantonen zusammenfanden, wurde das Bewußtsein von nationaler Zusammengehörigkeit ebenfalls ganz gezielt gefördert2". Diese vielfältige Propagierung des vaterländischen Gedankens fand in einer Zeit des inneren Kampfes um die Überwindung der Restauration und um die Neugestaltung der Eidgenossenschaft statt; in einer Zeit auch, die zahlreiche Einmischungen der restaurativen Mächte in die inneren Angelegenheiten der Schweiz erlebte. Dieses politische Umfeld und der Charakter der Hauptpromotoren des vaterländischen Gedankens- Schützenverein und Militär- prägten das Geschichtsbild inganzbesonderer Weise. Die Alten Eidgenossen standen diesen Bestrebungen nämlich keineswegs fern. Gerade die studentische Jugend, die im Zofingerverein zusammenfand, begeisterte sich an der ruhmvollen Geschichte der Vorväter, wie sie Johannes von Müller lebendig und packend dargestellt hatte. «Müllern» las man gemeinsam bei einem Glas Wein, «Müllern» deklamierte man bei Rütlifeiern und Schlachtgedenktagen, die dort, wo der Brauch abgebrochen war, gerade auf Initiative des Zofingervereins wieder durchgeführt wurden, und man nahm sich vor, einst den Kindern «beinahe mit der Mutterniilch die Geschichte des Vaterlandes» einzuflößen, bis dahin und «fürjetzt aber nächst der Bibel vor allen Büchern unsern Müllern hoch und theuer zu schätzen»21. Ein Vorsatz, der um so leichter zu halten war, als gerade jetzt, 1823, jenes Buch erschien, welches das Müllersche Geschichtsbild popularisierte und in der Folge immer wieder neu aufgelegt werden sollte: Des «Schweizerlandes Geschichte» von Heinrich Zschokke22. Eines der Ziele in den militärischen Übungslagern bestand darin, den Wehrpflichtigen durch das Lagerzeremoniell, durch eigens zusammengestellte Liedsaimnlungen und besonders durch die im Feldgottesdienst gehaltenen Predigten ein freudiges Gemeinschaftsgefühl und große Vorstellungen von der nationalen Geschichte zu ve'rmitteln. Die «Waffenrüstung des Schweizers», predigte Ignaz Staffelbach 1827, sei eine ideelle: Eintracht, Mut und Religion seien die Hauptrüstung für «unserer Väter heilige Schar» gewesen: die Eintracht des Rüt-lischwurs und der Bünde - nun symbolisiert im «einen Feldzeichen»; der Mut, dessen Denkmäler noch die Schlachtfelder von Morgarten, Laupen, Sempach, St. Jakob und Dornach seien, wo der Väter Geist die Enkel zur Nachfolge auffordere; als «Hauptwaffe» aber Gott, denn nur aus einer richtigen Glaubensgesinnung heraus seien die Heldentaten der Väter mögl ich gewesen. Der «Vaterlandsdienst ist dem Christen Gottesdienst»; wer «auf Gott baue», der werde «siegen mit Gott», und so werde «das Vaterland, das erhabene Land mit seinen Bergen und Tälern», «das Land geheiliget mit dem Blute der Väter», derNachwelt erhalten bleiben23. Zu einer eigentlichen geschichtlichen Synthese holte 1824 Johannes Schenkel aus, als er das 19 Beringer, Zofingerverein 1, S. 26ff. 20 Lenherr, Militärwesen. " Beringer, Zofingerverein, S. 10, 250f„ 296ff. (Zitat auf S. 251). 22 Fei.i.er Richard, Die schweizerische Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, Zürich/Leipzig 1938, S. 80ff.; Feller/Bonjour, Geschichtsschreibung 2, 21979, S. 720f,; Scandola Pietro, «Schule und Vaterland». Zur Geschichte des Geschichtsunterrichts in den deutschsprachigen Primarschulen des Kantons Bern, 3 Bde., Diss. Bern 1986 (Manuskript), Bd. 2, Nr. 12. Zschokkes Geschichte erschien 1822 als Fortsetzungsserie im cSchweizerbotenV) und 1823 in Buchform; sie wurde bis 1853 achtmal aufgelegt und auch ins Französische Übersem. 23 Staffei.bach Ignaz, Die Waffenrüslung des Schweizers. Rede gehalten am 20. August 1826 in dem eidgenössischen Übungslager bey Thun von Tgnaz StalFelbach, Kaplan zu Hitzkirch, derzeit Feldprediger ftlr die sämmtli-chen daselbst anwesenden katholischen Truppen, Lu-zern 1827. * Bildinterpretation: Auf einem Felsenthron sitzt die freie Helvetia- cHelvetiae liberae s[anctuarium]>). In mehreren Reliefs werden die verehrungswürdigen Voraussetzungen dieser Freiheit erwähnt. Sie gehören der Ebene des zu Interpretierenden an, ebenso die Hängemedaillons und Inschriften, die der Kriegslaten der Eidgenossen gedenken. Die redenden Figuren der Geschichtsschreibe-rinnen wenden sich ganzder Huldigung und der Interpretation der helvetischen Freiheit zu. Das Ergebnis soll von der Jugend aufgenommen werden; als Zeichen dafür spielen die Pulti mit den papierenen Rollen der Geschichtsschreiberinnen. Die aufwendige barocke Orchestrierung und die technische Brillanz des französischen Künstlers, eines Peintre du Roy, bewirken, daß diese Darstellung von allen bisher vorgestellten die unhelvetischste ist. mSSmi 125 Spätabsolutistisches Selbstverständnis.* Kupferstich von Jean Michel Moreau le Jeune/ Francois Denis Nee, 1781, in Beat Fidel Zurlaubens «Tableaux de la Suisse au Voyage pittoresque». Kunstmuseum Ollen, Stiftung für Kunst des 19. Jahrhunderts. AVKc i"ui\ n.iioi: ov rot. Übungslager als Beweis dafür auffaßte, daß der Rütlibund noch bestehe, und dann die drei Fragen stellte: «Wodurch sind unsere Väter in den schönsten Tagen ihres Bundes ein großes und starkes Volk geworden? Warum sind die Enkel nicht immer geblieben, was die Väter waren? 126 Die Alten Eidgenossen im Dienste der Erziehung.* Kupferstich/Radierung von Johann Martin Ustfi-ri/Johann kurloll Schel-lenberg, 1791: «Neujahrsgeschenk ab dem Musiksaal an die Zürcherische Jugend Auf das Jahr 1791». Kunstmuseum Ölten, Stiftung für Kunst des 19. Jahrhunderts. Und wie kann alteidgenössische Sitte, Treue und Kraft unter uns erneuert werden?» Wenn «die Hirten der Alpen» gegen «Ritter und Edle» immer gesiegt hätten, so liege das «in ihrer Gottesfurcht, ihrer Demut und in jener acht christlichen Begeisterung für Vaterland und Freyheit, welche die Selbstverleugnung nicht» scheue. So habe Gott die Hoffärtigen zerstreut, die Gewaltigen vom Stuhle gestoßen und sei allen Demütigen gnädig gewesen. Die <i.BLiwG Hanno, Geltall und Deutung der Schweizer Geschichte. Zur Historiographie seil Johannes von Müller, in: Handbuch 1, S. 19-22 Die Alten Eidgenossen am Ausgang des 19. Jahrhunderts Seit ihrer Wiedererweckung durch die Aufklärer haben die Allen Eidgenossen einen beachtlichen Weg hinter sich gebracht. Sie haben die Revolu tionswirren gut ü berstanden, sich hüben und drüben im Kampf um den neuen Staat engagiert und berei twil lig das Patronat desjungen Bundesstaates übernommen. Das alles ist nicht spurlos an ihnen vorbeigegangen und hat ihr Aussehen verändert. Zunächst haben sie einen Bekanntheitsgrad erreicht wie nie zuvor. Wie man im neuen Staat, der 1848 entstand, die altgewohnten Strukturen soweit als möglich berücksichtigte und in ein zwischen traditionellem Föderalismus und modernem Zentralismus stets fragiles Gleichgewicht brachte, so fand man auch seine Legitimation und integrierende Kraft ganz wesentlich in der vorgegebenen, erstaunlich ungebrochenen Rückbindung an die 129 DieTelleníahrl.!! Gabriel Lory d.J,/Johannes Hiirlimann; (iLa clia-pelle de Guillaume Tell sur le lac des quatre cantons avec la Isle religieuse qu'on y célěbre chaque an-née en mémoire lies éve-nements de 1307»; Aqua-tinřa auf aufgeivalztem Chinapapier, koloriert, * Bildinlerpretation: Als Gabriel Lory d. J. 1824 einen Bild vorwurf wählte, der die Messe bei der Tellskapelle zeigt, traf er einen Wichligen Schnittpunkt der schweizerischen Idenlilatsreprasentalion: Vor der Alpenkulisse der Ur-schweiz versammeln sich die Nauen aus den drei Wald-siatten vor der Tellspltitle. Ihr friedliches Zusammenkommen hat zum Zweck, vor den Bildern der Allen Eidgenossen in der Tellskapelle des göltlidiien Schulzes zu gedenken. Neu an diesem Bild ist die natürliche Einheit, welche die drei semantischen Ebenen zwar noch unterscheiden, zugleich aber fast selbstverständlich und konhiklfrei in einander aufgehen läßt erste Bundesgründung, an die Zeil der Alten Eidgenossen, in deren Erbe man sich eintreten sah. Dieses Bewußtsein war so tief und allgemein verankert, daß man im Vergleich zum An-cien Regime bald einmal weniger das qualitativ Neue empfand, sondern vielmehr im neuen Bundesstaat den Schlußstein einer konsequenten Entwicklung sah, die ihren Anfang zur Zeit der Alten Eidgenossen genommen hatte. Diese sHeldenzeit» überstrahlte die ganze Geschich- 1824. Landesbibliothek Bern, graphische Sammlung. te - deren Wege und Irrwege -, und ihr verklärendes Licht schien auch auf die Gegenwart zu fallen. Die «Heldenzeit» entsprach aber nur mehr bedingt dem «güldenen Zeitalter», welches die Aufklärer zu erspähen geglaubt hatten. In einer Zeit bald mehr, bald weniger heftig empfundener unmittelbarer äußerer Bedrohung trat zunehmend der kriegerische Aspekt der Alten Eidgenossen in den Vordergrund. Das differenzierte, eine breite Palette an menschlichen Tugenden darbietende Bild, das die humanitätsgläubigen Aufklärer entworfen hatten, wurde reduziert auf einen verhältnismäßig elementaren Kanon von männlichen Tugenden, welche der Kriegstüchtigkeit der Alten Eidgenossen zu-und untergeordnet waren. Das Erscheinungsbild der Alten Eidgenossen hatte so eine vorab auf die Abwehr äußerer Gefahren ausgerichtete, holzschnittartige Vereinfachung erfahren mit einer klaren Aussage, die leicht zu vermitteln und einprägsam war. Es ist bemerkenswert, daß diese Reduktion auf den militärischen Aspekt zu einer Zeit geschah, in welcher die Kriegsgeschichte ihre zentrale Funktion im Rahmen einer heilsgeschichtlichen Selbstlegitimation innerhalb der christlichen Gesellschaftsordnung längst verloren hatte. Die nun einsetzende Steigerung der Vorstellung von den Alten Eidgenossen zum nationalen Mythos bildete gleichsam einen säkularisierten Ersatz für die ursprüngliche Funktion, Ausdruck für einen Paradigmawechsel, welcher der neuen, von nationalen Leidenschaften geprägten Zeit entsprach. Daß die Erhebung zum nationalen Mythos just zu diesem Zeitpunkt geschah, war folgenschwer. Denn nun verblaßten neben dieser heroisch-kriegerischen Identitätspräsentation alle übrigen im Bild der Alten Eidgenossen eben auch angelegten Möglichkeiten. Der nationale Mythos wirkte vor allem integrierend gegen außen. Hierin lag seine Stärke. Kaum eine Rolle spielte er bei inneren Identitätskrisen und der bewußtseinsmäßigen Bewältigung innenpolitischer und sozialer Probleme. Das Gespräch zwischen den Alten und Jungen Eidgenossen, das seit Beginn des 16. Jahrhunderts in Zeiten innerer Orientierungssuche so offen geführt worden war, verstummte unter dem exklusiven Anspruch des einzig «wahren» Mythos. In dieser Starrheit lag auch seine inne- re Gefährdung, und zwar von allem Anfang an. Weniger Wirkung kam in diesem Zusammenhang der modernen Geschichtswissenschaft zu, die in diesem 19. Jahrhundert erstmals dem volkstümlichen Diskurs von den Alten Eidgenossen gegenübertrat. Die Auseinandersetzung war heftig und leidenschaftlich, und als sich gegen Ende des Jahrhunderts die Wogen glätteten, zeigte sich, daß es keinen Sieger gab, sondern lediglich die Grenzen bereinigt waren. Die Historiker hatten ihre Position bezogen und diese wohl begründet: In den großen, wissenschaftlich fundierten Darstellungen war von der «Heldenzeit» nur mehr wenig übriggeblieben. Das ist ein Faktum. Aber zugleich wurde deutlich, daß die Alten Eidgenossen der wissenschaftlichen Beglaubigung gar nicht mehr bedurften. So standen sich nun zwei Auffassungen gegenüber, von denen die volkstümliche für die Identitätspräsentation der Schweizer zweifelsohne auch weiterhin den Ton angab. Beiden, der volkstümlichen Auffassung aus einer langen Tradition sowie der wissenschaftlichen Auffassung aus dem Gedankengut des Bundesstaates heraus, war jedoch gemeinsam, daß sie die Zustände in der Gegenwart ganz selbstverständlich auf die Gründungszeit der Eidgenossenschaft zurückführten. Das «Urteil der Geschichte» schien auch diese Entwicklung zu bestätigen. Das freilich war wiederum nicht so, wie es sich jene vorgestellt hatten, die am Anfang einer solchen diesseitig zielgerichteten Geschichtsinterpretation gestanden waren. Für die Aufklärer lag das Ziel in der Zukunft, in der Glückseligkeit der Staaten, und das «Urteil der Geschichte» bestätigte nicht, sondern forderte Tugend. Auch diese Erscheinung läßt sich wie die Reduktion des Bildes von den Alten Eidgenossen als Verkümmerung des ursprünglich Angelegten verstehen, eine Erscheinung, die allerdings einer Zeit zunehmender nationaler Selbstbehauptung und Selbstbestätigung entsprach. Schließlich war beiden - der volkstümlichen wie der wissenschaftlichen Auffassung - aus unmittelbarem Erleben wie aus dem beschriebenen Kontinuitätsverständnis heraus der Gedanke von der schweizerischen Alpenheimat gemeinsam. Und hier, am Gotthard, sollten sie denn auch in einer Zeit höchster äußerer Bedrohung einmütig zusammenfinden. Die Alten Eidgenossen im Geschichtsbild der Geistigen Landesverteidigung Das «muntere Treiben» auf der Brücke der nationalen Identität beginnt seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine ganz ähnliche Funktion zu erfüllen wie damals, als wir ihm erstmals verstehend begegnen konnten, nämlich am Ausgang des Mittelalters. Nur steht es jetzt unter einem anderen Zeichen. Damals wurden sich die Eidgenossen im christlichen Abendland der monarchischen Fürstenstaaten ihrer Besonderheit bewußt, und sie sahen sich veranlaßt, diese zu legitimieren; jetzt ist die Schweiz umringt von Nationalstaaten, die ihre Legitimation immer mehr auf die gemeinsame «Rasse» und Sprache zurückführen, weshalb die Schweiz die Besonderheit und den Sinn des mehrsprachigen und vielfältigen Kleinstaates im Europa der Großnationen ergründen muß. Damals verunsicherten soziale und wirtschaftliche Entwicklungen und die Bewegung der Reformation das Selbstverständnis der Eidgenossen in einem Ausmaß, in dem sich bereits eine Identitätskrise andeutete; jetzt sieht sich die Schweiz durch die zweite industrielle Revolution einem Wandlungsprozeß ausgesetzt, welcher die traditionellen Lebensverhältnisse von Grund auf erschüttert und der durch die Katastrophe des Ersten Weltkriegs noch beschleunigt wird, eine «Zeitenwende», die am Selbstverständnis der Schweizer nicht spurlos vorübergeht. Die Identitätspräsentation dieser Zeit kündet von einem hehren europäischen Sendungsbe- 1 Vgl. allgemein zur Zeitsituation: Ruffieux Roland, La Suisse de l'entre-deux-guerre, Lausanne 1974; Greyerz, Bundesstaat, S. 1144-1212; Jost, Bedrohung; Stettler, Bewußtsein; Frei Daniel, Sendungsgedanken in der schweizerischen Außenpolitik, in: Schweizerisches Jahrbuch für politische Wissenschaft 6, 1966, S. 98-113; Frei Daniel, Neutralität - Ideal oder Kalkül? Zweihundert Jahre außenpolitisches Denken in der Schweiz, Frauenfeld 1967; Union et division des Suisses. Les relations entre Alemaniques, Romands et Tessinois aux XIXe et XXe siecles, Hrg. Pierre Du Bois, Lausanne 1983; Jost, Politique; Die 30er Jahre. Ein dramatisches Jahrzehnt in Bildern, Zürich 1981; Mattioli Aram, Gonzague de Reynold und die Rechte in der Schweiz. Ein Beitrag zur Entstehung des schweizerischen Neokonservatismus (1910-1935), Lizentiatsarbeit, Basel 1987 (unveröffentlicht). 1 Reynold Gonzague de, Le Saint-Empire Romain Ger-manique, in: Bannieres flammees, Lausanne 1915, S. 29-43 (Übersetzung von Marchal). Zu Gonzague de Reynold: Berchtold, Suisse, S. 689-709; Mattioli, Reynold (wie oben, Anm. 1). 3 Zur Interpretation Schiners: Reynold, Schiner, S. I-VIII. wußtsein. Anderseits verhärtet und verengt sie sich zusehends zum elementaren Ausdruck eines Selbstbehauptungswillens, der gegen die aufkommenden Totalitarismen gerichtet ist1. So oder so ist sie immer auch von geschichtlichen Anschauungen mitgetragen. Gerade die «Alten Eidgenossen» - sie um vieles mehr als die Zeitgenossen irgendeiner Epoche - nehmen an den geistigen Auseinandersetzungen regen Anteil, beziehen merkwürdig irrlichternd Position für die verschiedensten Ideologien, bis sie sich schließlich, zu heroischer Gebärde erstarrt, in die Phalanx der Geistigen Landesverteidigung einreihen. Sankt Gotthard, der Berg der Mitte, und die Sendung der Schweiz «Wißt ihr, wo pocht das Herz des Reiches? Es pocht in den Bergen, Es pocht in meinem Land... im Sankt Gotthard ist es gefaßt.»2 Diese Verse stehen im Zentrum der dichterischen Meditation eines jungen Freiburgers, der später eine große und inhaltlich nicht unumstrittene Wirkung auf die geistige Auseinandersetzung in unserem Land ausüben sollte: Gonzague de Reynold. Sie erscheinen, 1906 niedergeschrieben, wie ein Auftakt zum Thema, Vision und Programm zugleich. Auf der Gotthardhöhe träumt er von der Weite des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, dessen Herz im Gotthard ruht, behütet von Handwerkern, Kuhhirten und Gemsjägern, von eidgenössischen Kriegern, Bannerherren und Am-männern, von Stadtbürgern und freien Bauern, von den Schweizer Städten und Ländern: «Wir hüten das Herz des Reiches, wir hüten den Schatz.» Es war das mittelalterliche Reich, das de Reynold erträumte, wo die kleinen Talschaften und der Kaiser zusammengehalten hatten gegen die zersetzende Kraft der Territorialherren. Es war der große abendländische Entwurf Kardinal Schmers, wie de Reynold ihn sah, der Entwurf einer geeinten christlichen Welt, mit dem Papst in Italien, dem Kaiser in Deutschland und dazwischen als Schlußstein des Gewölbes die Eidgenossenschaft, Hüterin der Pässe und Quellen3. Noch würden in der Schweiz Institutionen, Sitten und Prinzipien des deutschen Mittelalters im Geist der freien Bauern 374 375 und souveränen Bürger überdauern. Und so erschien de Reynold in der geographischen und geschichtlichen Konfiguration des Gotthards die Essenz der Schweiz, ihr Daseinsgrund und ihre europäische Aufgabe ausgedrückt. Die stille Wacht der Gotthardfestung, deren Stahl dem Felsenchaos sein Gesetz auferlege, wird zum Symbol von Ordnung und Beständigkeit, sie «ist in diesem Land wie ein Gewissen»4. Am Gotthard, wo die wichtigste Grenze Europas, jene zwischen deutschem sowie lateinischem Reich, deutscher sowie romanischer Kultur auf geradezu dramatische Weise erlebt werden könne, am Gotthard, der europäischen Wasserscheide, wo der Blick die Gedanken fliegen lasse über die Reiche und Länder Europas bis zu den Slawen und bis an die Pforten Asiens, am Felsgebirge des Gotthards mit seinen Festungen empfinde man mehr als irgendwo die nationale Energie der Schweiz, die sich sammle und vorbereite. Der Gotthard sei mehr als ein Ge-birgsmassiv, mehr als ein Paß. An ihm, von dem wie von einem Kreuz die Wege hinaus in alle Teile Europas strebten, erweise sich, wie sehr die Wirkkraft der Alpen, dieser Schöpferinnen von Einheit, stärker sei als alle andern Einflüsse der Rassen und Religionen5. Das war nicht bloß die Träumerei eines exaltierten Schöngeistes. Hier wurde erstmals und gleich in visionärer Kraft ein Gedanke formuliert, der für die Identitätspräsentation dieser Epoche von tragender Bedeutung werden sollte. Er war nicht neu. De Reynold griff lediglich das Gedankengut der helvetischen Aufklärer auf, mit dem er vertraut war wie keiner6, und gab ihm einen erweiterten Gehalt: Aus den Alpen erwuchs nicht mehr bloß das Heil des Vaterlandes, Salus patriae, sondern nun immer mehr das Heil des Reiches, der europäischen Völkergemeinschaft. Im übrigen entsprach seine Gotthardbegeisterung durchaus dem allgemeinen Empfinden jener Tage, hatte doch der Gotthard seit der Tunneleröffnung von 1883 eine ganz neue geopolitische Bedeutung erhalten. Als de Reynold seine Gotthardgedichte verfaßte, wogte ein von patriotischen Geftihlen überschäumender Kampf um die Ratifikation jenes Gotthardvertrages, dessen Meistbegünstigungsklausel für Deutschland und Italien als Zugeständnis an fremde Mächte empfunden wurde. Gerade in der Westschweiz entflammte der Widerstand besonders heftig. Aber auch in der deutschen Schweiz klangen ganz ähnliche, nun allerdings dem innenpolitischen Kampf verpflichtete Töne an wie bei Gonzague de Reynold. Was sollen Gotthardfestung, gutes Militär und Neutralität bei solcher Vertrauensseligkeit der Politiker? «Drum, Eidgenossen, hütet treu, was noch zu hüten ist. [...] Am Gotthard jetzt zusammensteht mit einem Herzens- schlag», dichtete 1911 der «Gletscherpfarrer» Gottfried Strasser in der «Berner Volkszeitung»'. In solchen Stimmen erscheint der Gotthard auch schon in der Tagespolitik als Kern der Eidgenossenschaft, als Symbol der Einigkeit und Unabhängigkeit. Bereits war auch auf einer höheren, grundsätzlichen Ebene der Selbstreflexion dem Gotthardmassiv und den Alpen eine die schweizerische Identität begründende Sinndeutung zugewachsen, nämlich in der Auseinandersetzung mit den aufkommenden sozialdarwinistischen und rassistischen Thesen. Es kommt nicht von ungefähr, daß diese Diskussion von einem Waadt-länder aufgenommen wurde, dessen Mutter aus dem Bernischen stammte, und der sowohl in Lausanne wie in Bern, in Berlin wie in Rom studiert hatte und nun in Zürich den Lehrstuhl für romanische Philologie innehielt: Ernest Bovet. Wie kaum ein anderer setzte er sich für die Verständigung zwischen welscher und deutscher Schweiz und nachmals für die Zusammenarbeit unter den Nationen ein8. In unserem Zusammenhang interessieren vor allem zwei Artikel, in denen er sich 1908 und 1909 zum Problem der Nationalität äußerte. Die «Reflexions d'un homo alpinus» hielten den Rassentheorien entgegen, daß die Nationen, die in Europa so vielfältig und dicht ausgeprägt erscheinen, nicht durch die Rasse, sondern durch Geschichte und Zivilisation geformt worden seien. So sei die Schweiz mehr als ein «Rassengemisch», sie sei eine Nation, stark genug, um die verschiedenen Elemente zu verschmelzen, stolz genug, um jede Unterwerfung zurückzuweisen, bewußt genug, um ein eigenes Ideal zu besitzen. In diesem Sinne könne der Schweizer - Bovet braucht den Rassenbegriff durchaus ironisch - als homo alpinus angesprochen werden. Denn in der Tat: .«Unsere Unabhängigkeit wurde geboren im Gebirge, und das Gebirge prägt noch immer unser ganzes Leben, gibt ihm seine Eigenart, seine Einheit.» Wie die Alpenflora etwas Besonderes sei und zugleich zur europäischen Flo- 4 Reynold Gonzague de, Sur la Forteresse du Saint-Got-hard, in: Bannieres flammees, Lausanne 1915, S. 24f. 5 Reynold Gonzague de, Cites et pays Suisses, Bd. 1, Lausanne 1914, S. 265-285. 6 Reynold Gonzague de, Le Doyen Bridel (1757-1845) et les origines de la litterature suisse romande. Etüde Sur rhelvetisme litteraire au XVIIIe sidcle, These Paris, Lausanne 1909, besonders S. 471, 493. 7 Berner Volkszeitung, 26. Januar 1911. - Vgl. Wegelin-Zbindln Sibylle, Der Kampf um den Gotthardvertrag. Schweizerische Selbstbesinnung am Vorabend des 1. Weltkrieges, Diss. Bern, Teufen 1973 (auch: Schriften der Neuen Helvetischen Gesellschaft 16, Horgen 1974), S. 108; Bosshard Felix, Der Gotthardvertrag von 1909. Ein Beitrag zur schweizerischen Innen- und Außenpolitik vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Zürich 1973. 8Berchtold, Suisse, S. 190-193; Stettler, Bewußtsein, S.281f. ra gehöre, so widerlege die Schweiz den Rassenwahn. «Der Rasse halten wir entgegen die Nation, dem Haß die Zivilisation, der blinden Natur die Gesinnung. Das ist mitten in der dinghaften Welt die glorreiche Schöpfung des Menschen ; das ist in der Nacht der Zwänge der Weg, der hinaufsteigt ans Licht und zur Freiheit.»' che noch die Religion, welche die schweizerische Nation ausmachten. Das geheimnisvolle Band, das alle eine, sei die Geschichte; aber nicht etwa die Ruhmesgeschichte der Festredner, nicht jene selbstgefällige Legende, welche ernstlich unsere Zukunft zu gefährden drohe. Die Entstehungsgeschichte des schweizeri- ^ .Al; JilnniiffrvVmit imtil '[Wlnmiidh Isidil jfewnpd nln'Söv* fr,: Lu1-Ii ml Ii! .unjtiirh 1 . Was Bovet hier bloß angedeutet hatte, suchte er in seinem Beitrag über «Nationalite» tiefer auszuloten. Es seien offensichtlich weder die Spra- 9 Bovet Ernest, Reflexions d'un Homo Alpinus, in: Wissen und Leben 3, 1908, S. 296-299 (Übersetzung Marchai); im weiteren: Büttiker Georges, Ernest Bovet 1870-1941, Basel 1971 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 122). * Bildinterpretation: Die lehrhafte Art der konservativen Historienmalerei, in der das zu Interpretierende und die Interpreten in eins gesetzt wurden, vergab die Möglichkeit einer kritischen Distanz und blieb deshalb ausschließlich auf positiv bewertete Größen beschränkt. - In der Darstellung von Heß wird die Konsensbildung auf dem Rüth zu einer überlegten, beinahe mathematisch zu nennenden Konstruktion, Die Hirtenkleider sollen historisierend oder besser idealisierend das einfache, bäuerliche Leben der Alten Eidgenossen anschaulich machen. Der klassizistischen Komposition steht die negativ bewertete, scheinbar ungeordnete Neue Schweiz gegenüber: Beim Cham-pagnertrunk werden die Bürger kaum auf die Gefahren der neuen Zeit aufmerksam, welche in Form von Todes-und Unheildämonen um den verkehrt eingepflanzten französischen Freiheitsbaum schwirren. Als Radikale huldigen diese Bürger dem Zentralismus, der absoluten Freiheit und der Industrie. Dtjrli ['s 1 hinwi DJT'iit^'^ii t'itij lil's [)im Ihuuil lUVtlii'ebr'Xminth, sehen Vaterlandes sei viel nüchterner, voll von Eigeninteressen und menschlichen Unzulänglichkeiten - und dennoch: die Schweiz habe überdauert, die Eidgenossenschaft alle Krisen überwunden und stelle nun als älteste Republik der Welt etwas Einzigartiges dar. Den tieferen Grund für diesen Tatbestand erkannte Bovet im Schutzwall der Alpen. Das sei der einzige Trumpf gewesen, den Fortuna ins Kartenspiel der Eidgenossen gemischt habe; alles übrige hing letztlich von ihrem eigenen Willen ab. Dieser Wille sei Ausdruck eines allen gemeinsamen Geistes, des helvetischen Geistes, sei erster Daseinsgrund der Schweiz, seit 1291 und bis heute. Seine sichtbarste Schöpfung: unsere Institutionen, die Demokratie, zusammengehalten durch den gemeinsamen Kult der nationalen Unabhängigkeit. Daher sei die Schweiz in Europa die erste Gesinnungsnation (nation consciente) gewesen. Hier, im politischen Bereich, habe die Schweiz tatsächlich eine eigene Kultur, eine eigene Zivilisation entwickelt. Im Europa der übermächtigen Nationalismen indessen, unter 130 Alte und Neue Schweiz* Lithographie von Hieronymus Heß, um 1837. Kunstmuseum Ölten, Stiftung für Kunst des 19. Jahrhunderts. der fatalen Anziehungskraft der Rassentheorien sah Bovet auch dieses einigende Band gefährdet. So kehrte sein Gedankengang wieder zurück zu den nun schon in mythischem Licht erstrahlenden Schweizer Alpen: «Eine geheimnisvolle Kraft hält uns seit 600 Jahren zusammen und hat uns unsere demokratischen Institutionen gegeben. Ein guter Geist wacht über unsere Freiheit. Ein Geist erfüllt unsere Seelen, lenkt unser Handeln und schafft aus unsern verschiedenen Sprachen harmonischen Lobgesang auf das eine Ideal. Es ist der Geist, der von den Höhen weht, der Genius der Alpen und Gletscher, die im heroischen Gestus der Arve symbolisierte Kraft. Der Berg war nicht nur zufällig Schutzwall der Hirten gegen die Ritter. Er war ihre Geburtsstätte selbst; sein aperer Boden, seine rauhen Himmel haben ihren Charakter geformt, und seither hat immer der Berg unser inneres Leben bestimmt.»10 Bei aller Vielfalt gebe es einen gemeinsamen schweizerischen Grundzug: Ernsthaftigkeit und Pflichtbewußtsein, Einfachheit und Ehrlichkeit, Ausdauer und Findigkeit, eine etwas rauhe Tatkraft und die Neigung zum Widerstand gegen unrechten Befehl. Der Zusammenhang zwischen Gebirgs-natur und Volkscharakter sei offensichtlich und habe unsere nationale Besonderheit geformt. So gelte es nun, der Größe der nationalen Einheiten die Stärke unserer Einheit entgegenzustellen, und zwar so lange, bis die Vereinten Nationen Europas gebildet würden, deren Vorkämpferin dannzumal die Schweiz gewesen sein werde; denn hier habe sich erstmals erwiesen, daß Sprache, Rasse und Religion zurückzuweichen hätten vor der Humanität, vor dem ganzheitlichen Menschentum. Alle diese Äußerungen stammen aus den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, und bereits sind die Grundelemente der schweizerischen Identitätspräsentation dieser Zeit entworfen. Wann immer man versuchen wird, das Wesen der Schweiz zu ergründen, wird man in reicher Variation auf diese zwei Grundgegebenheiten zurückkommen: auf die Berge und auf die Geschichte. Und den das Schicksal der Schweiz prägenden Zusammenhang zwischen den Bergen und der sich in ihnen und aus ihnen entwickelnden vaterländischen Geschichte wird man besonders in der Gründungszeit, in der Epoche der Alten Eidgenossen, erkennen. Sei es, daß man die Sendung der Schweiz in Europa zu bestimmen sucht, sei es, daß man innenpolitisch die Erneuerung der Schweiz erstrebt, immer werden die Berge Urgrund und Hort, immer die Geschichte Zeugnis und Sinndeutung der schweizerischen Besonderheit und der ihr anvertrauten Mission sein. Als Jahre später, mitten im Ersten Weltkrieg, der Theologe Leonhard Ragaz unter dem Ein- druck des deutsch-welschen Grabens und der großen Ereignisse des Jahres 1917 - der russischen Revolution im Osten, des Kriegseintritts der USA im Westen -, Ereignisse, in denen er den Anbruch einer neuen «Weltzeit» erkannte, ! seine Stimme erhob und sein vielbeachtetes Programm veröffentlichte, wie für die «neue j Schweiz»11 die Zukunft zu gewinnen sei, konnte er, so sehr er ähnliche Gedanken entwickelte, es nicht mehr in jenem Optimismus tun wie sein Zürcher Kollege Ernest Bovet. Ob es den «schweizerischen Geist» noch gebe, von dem jener selbstverständlich ausgegangen war, wagte er, wenn überhaupt, nur noch zögernd zu bejahen. Nicht nur leide die Schweiz an einer | «Überfremdung der Sitten» und des Geistes, die das «einfache, aber kulturell wertvolle Dasein in den Hochtälern» bereits auflöse; es fehle auch ein geistiger Glaube, der Freiheitsgeist und Freiheitsglaube, und statt eine nationale , Idee und Aufgabe hochzuhalten, breite sich i Verwirrung und Leere aus. Aus reinem Geld-denken zerstöre man die Natur, «das Heiligtum der Alpen», was in der Schweiz mehr bedeute als anderswo, nämlich Zerstörung auch der Kultur. Denn «es gehören zu uns vor allem die Berge in ihrer Macht und Majestät, ihrer Stille und Unberührtheit. Es gehört ferner zu uns eine gewisse Einfachheit des Lebensstils, ein gewisser Hauch der urwüchsigen Kraft und Natur- I lichkeit, ein Zug unverdorbener Ländlichkeit». Das Rütli und Teil seien «nicht zufällige und unwesentliche Symbole des Schweizertums». Dieses aber sei gefährdet und das Schweizervolk bereits kein Bauernvolk mehr. Wie hier die Berge als bestimmendes Merkmal des Schweizertums hervortreten, so kehrt Ragaz am Ende, als er die Aufgabe der «wahren Schweiz» evoziert, zu den Bergen zurück: zum Ejid des «Hochlandes» als Menschheitshort. Das Erdbeben des Weltkriegs habe nicht nur Bankrotte gebracht, sondern eben auch diesen Schatz bloßgelegt, so daß sein Glanz als Verheißung weit in die Welt hinausleuchte. Dieses Bild von der alpinen Schweiz als Hort des Menschentums gleitet in einer letzten Wendung hinüber in ein unmittelbares Landschaftserleb-nis: im sommerlichen Morgen geht der Blick vom Etzel aus ins Schwyzer Land, in die «Wiege der Schweiz», die sich «weit, groß, über wogende Wiesen und grün schimmernde Weiden ausbreitet bis zu den hochragenden Alpen». Und wie in diese friedliche Schau das ferne Grollen der großen Schlacht hereindringt und der Weltenbrand bewußt wird, erinnert sich Ragaz an 10 Vgl. Bovet Ernest, Nationalite, in: Wissen und Leben 4, 1909, S. 432-445 (Übersetzung Marchai). 11 Ragaz, Schweiz: Mattmüller Markus, Leonhard Ragaz und der religiöse Sozialismus, Bd. 2, Basel 1968, S. 427-489. den großen Auftrag der Schweiz, die Quellen zu hüten. Wichtig seien die Ströme, an denen Dörfer und Städte entstehen, aber wichtiger noch seien die Quellen. Daß diese Quellen rein erhalten würden, dafür zu sorgen sei ein heiliger Beruf. Die Schweiz, das Land der Höhen, sie ganz besonders hüte die Quellen. Auch wenn Ragaz dieses Bild von einem Fremden vermittelt bekommen hat12, die Vorstellung von der Bewahrung der Quellen war damals -wie wir sahen - bereits auch von Gonzague de Reynold formuliert worden und lag in der Luft. Doch nun mitten in der Krise auf die Zukunft der «neuen Schweiz» in einer neuen «Weltzeit» hin gedacht, gewann sie an besonderer Wirkungskraft. Und als in der Folge die Schweiz dem Völkerbund beitrat und in die Bewegungen der internationalen Politik unmittelbarer hineingezogen wurde als je zuvor, da bildeten der Gotthard und das Alpenmassiv den festen Halt, von dem aus die Aufgabe der Schweiz ins Auge gefaßt und ihre Identität bedacht wurde. Als 1932 Max Eduard Liehburg, ein junger Schriftsteller, der damals - was allein ihn für uns interessant macht - in gewissen gut bürgerlichen Kreisen nicht geringen Anklang fand, später jedoch totgeschwiegen wurde und völlig in Vergessenheit geriet, sein «neues Weltbild» veröffentlichte, da ließ er seinen mythischen Führer Rolf auf dem Gotthard die «Rede vom heiligen Paß» vortragen13. Auch hier wird das Geheimnis der Schweiz aus den Bergen, dem zentralen Gotthardmassiv und der Geschichte heraus gedeutet: jetzt aber aus dem Urauftrag eines mythischen Kaisers an die Schweizer, den Gotthard zu hüten, bis nach der langen Nacht der Fürstentümer sowie Nationalstaaten der «helle Tag» des neuen Reiches hereinbreche. Das innerste Wesen der Schweiz liege in der 12 Ebd., S. 431. Das Bild stammt vom französischen Politiker und Historiker Etienne Marie Victor Lamy (1845-1919). 13 Vgl. Liehburg Max Eduard, Das neue Weltbild, Zürich 1932. - Zu Liehburg: Wüest Markus, Max Eduard Liehburg und die «Stiftung Luzerner-Spiele». Ein Kapitel der «geistigen Landesverteidigung!) (Manuskript, Druck vorgesehen in JHGL 8, 1990). Etter Philipp, Geistige Landesverteidigung. Rede, gehalten an der Versammlung des vaterländischen Verbandes des Kantons Bern am 29. Januar 1936, in: Monatsrosen, Zeitschrift des schweizerischen Studentenverbandes 81, 1936, S. 250-261. besonders 252. Der Text nimmt die entsprechenden Passagen der bundesrätlichen Botschaft vom 9. Dezember 1938 z.T. wörtlich vorweg! Die Erwähnung Liehburgs geschieht an zentraler Stelle: «Der Schweizer Dramatiker Max Eduard Liehburg nennt den St. Gotthard den heiligen Berg der Mitte.)) Vgl. hierzu unten S. 390f. Siehe auch Wüest, Liehburg (wie oben, Anm. 13). - Zu Etter: Letter Paul, Philipp Etter und seine Zeil 1891-1977, Freiburg 1981. 15 Thürer Georg, Das Spiel vom St. Gotthard. Ein Gleichnis des jungen Schweizers in der werdenden Eidgenossenschaft, 1934 (Reihe schweizerischer Volksspiele 2). Treue zu dieser Sendung, der Wacht am heiligen Paß, und damit in der Treue zum abendländischen Reich. Als «Garde des europäischen Gedankens» hätten die Schweizer die Zeiten durchgestanden; nun habe der Völkerbund bei ihnen Einsitz genommen. Und da überall die Nachkriegsjugend gebrochen und ohne Orientierung sei, müße diese «tausendjährige Garde» jetzt zur Tat schreiten: Hier und jetzt, am Gotthard, sei die Stunde der europäischen Jugend gekommen. Gleich wie am Gotthardkreuz vier Pässe und vier Ströme nach allen Seiten Europas hinweisen, so heiße nun im wahren Sinne Schweizer sein auch Europäer sein. So beunruhigend schillernd die Begriffe erscheinen mögen, die sich da mit vagem paneuropäischem Gedankengut mischten, sie gehörten damals wie die ganze von Liehburg aufgegriffene Vorstellungswelt, der er etwas später im «Hüter der Mitte», einem «bündischen Weihespiel», monumentalen Ausdruck zu geben versuchte, zu den geläufigen Versatzstücken dieser geistigen Auseinandersetzung. Liehburg verlieh einem europäischen Sendungsbewußtsein der Schweiz lediglich die pathetische Sprache. Vor allem in diesem Sinne haben damals auch gebildete Geister Liehburgs Äußerung durchaus Anerkennung zollen können, hat sich gar Bundesrat Philipp Etter 1936 in einer Rede über «Geistige Landesverteidigung» öffentlich auf ihn berufenlä. Nichts zeigt die Geläufigkeit dieser Vorstellungen deutlicher als die auffallende Ähnlichkeit des « Spiels vom St. Gotthard», das Georg Thürer, der später einer der Exponenten der Geistigen Landesverteidigung werden sollte, beinahe zur selben Zeit in der «Reihe schweizerischer Volksspiele», die selber schon im Zeichen der geistigen Aufrüstung stand, erscheinen ließ15. Auch hier steht am Anfang der mythische Kaiser, der, über den Gotthard heimkehrend, den «Männern des Urgebirges» die Losung übermittelt, die ihm auf fernem Kreuzzug eingegeben worden ist: Das «Herzstück» des «abendländischen Bereichs», wo «des Reiches Achse» den «Längsbalken des Schweizerkreuzes» bilde, der «den Weg von Rom zum Rhein, von Deutsch zu Welsch» weise, und der Querbalken durch den Alpenwall, «den natürlichen Rückgrat unseres Erdteils», geformt werde, dies Land und sein Paß solle «unmittelbar unter dem Reich» sein. Auch wenn der Kaiser die politische Losung nicht selber ausgibt, sondern dies Ruodi, dem «Genossen und Führer», Uberläßt - der Auftrag ist derselbe: «dem Reich hier oben eine Insel zu retten, wenn die Flut der Urgewalten durch die Tiefen brandet». Wiederum ist es der Gotthard, der die Mission der Schweiz im Reich bestimmt, «Freistaat zu sein», den «Hader zwischen den Nationen» zu überwin- 378 37' den und «Völker jeder Zung' sich friedwillig begegnen» zu lassen. Was bei Liehburg wie bei Thürer bald gestelzt, bald eher hausbacken der Öffentlichkeit nahegebracht wurde, äußerte sich auch in der politischen Reflexion. Geradezu nüchtern nimmt es sich noch aus in Philipp Etters Betrachtung der Geographen gefunden hat. Als 1934 der ETH-Professor Paul Niggli einem breiteren Publikum die Struktur der Schweizer Alpen in ihrer geopolitischen Bedeutung erläuterte, tat er dies in einer merkwürdigen Verquickung von naturwissenschaftlich-geologischen und auch geschichtlichen Argumenten. Der große Kom- 131 Sitzende Helvetia.* SilbermUnze von Antoine Bovy, 1850/51. Historisches Museum Basel. über den schweizerischen Staatsgedanken von 1933. Dessen Reichtum ergebe sich aus dem «Bestehen einer übersprachlichen und rassenverbindenden Völkerfamilie im Herzen Europas, in den Bergen, die den Rückgrat des europäischen Festlandes bilden», eine Tatsache, die «eine europäische Lebensnotwendigkeit» darstelle16. Direkt emphatischen Ausdruck verüeh Bundesrat Giuseppe Motta diesem Gedanken, und zwar 1937, zu einem Zeitpunkt, da die Rolle der Schweiz im Völkerbund bereits in Frage gestellt wurde. Die Beteiligung der Schweiz sei wohl bescheiden, aber doch nicht unbedeutend, wenn sie sich ihrer besonderen Mission bewußt sei, «Mutter der Ströme» und «Hüterin der Pässe» zu sein, ja noch viel mehr: «Land der durch gemeinsame Wurzeln tief im alpinen Boden verankerten Einheit, Volk und Nation der verschiedenen Sprachen, die aber über die Berggipfel hinweg in eins klingen in jenem Kult und jener Leidenschaft für die Freiheit, welche sind göttliches Privileg und Ruhm des Menschen. Das ist das wahre Wunder der Schweiz. Der Mensch der Berge - der homo alpinus helveti-cus - bekleidet dieselbe eigenständige Würde» wie irgendeine Weltnation, «wenn er in sich zu vereinen weiß das Feuer des Patrioten und den Willen, ein Weltbürger zu sein» Die Vision von einem das geistige Wesen der Schweiz begründenden Zusammenwirken der Berge und der Geschichte war so allgegenwärtig, daß sie sogar Eingang in die Überlegungen plex des Aar- und Gotthardmassivs schien ihm geologisch-strukturell geradezu die Voraussetzung zu sein für die Bildung und Erhaltung eines vom Jura bis ins Hochgebirge reichenden Staates. Aus dem «Kernland» am Gotthard, vom «Kernvolk der Eidgenossenschaft» habe nach der Öffnung des Passes wie vom Drehpunkt des alpinen Bogens aus aktive Stoßkraft ins Vorland ausgestrahlt und zur Bildung der schweizerischen Nation geführt in einer «zu- 16 Exter, Philipp, Der Schweizerische Staatsgedanke. In: Schweizerische Rundschau 33,1933/34, S. 2. 17 Vgl. Motta Giuseppe, Testimonia temporum, Series 3a: 1936-1940. Ausgewählte Reden und Schriften, Bellinzo-na 1941, S. 208: Antwort auf Interpellation Theodor Gut betr. Stellung der Schweiz im Völkerbund vom 22. Dezember 1937 vor dem Nationalrat (Übersetzung Marchai). * Bildinterpretation: Im Vergleich zu der schweizerischen Selbstdarstellung in der Zeit der Helvetik und der Mediation fällt auf, daß die Münze des neuen Bundesstaates noch um eine weitere Ebene reduziert ist und nun mit einer einzigen Figur, mit der Helvetia, auskommt. Auf der kleinen Rundfläche bleiben jedoch Elemente, welche schon bisher auf die Alten Eidgenossen verwiesen haben: Der Bezug zu den Alpen wird da weitergeführt. Selbst im Zeitalter rasanter Industrialisierung wird der Thron der Helvetia immer noch mit einem Symbol der Landwirtschaft, den beiden Holmen eines Pfluges, geschmückt. Erst ein Vierteljahrhundert später braucht die stehende Helvetia gar keine entsprechenden Bezugsgrößen mehr-jetzt sind weder weitere Personen noch personenbezogene Gesten noch irgendwelche Verweiselemente wie Alpen oder Bauerntum vonnöten. Jetzt ist sich Helvetia selbst genug. sammenhängenden Landschaft», deren «Dominante» die Alpen bildeten. Die Tektonik der Alpen umschließe die «Urelemente, die zum Wesen der Eidgenossenschaft gehören», die vier Sprachgebiete, den Gotthardpaß und die Längsfurche Rhone-Rhein, die beiden Achsen also, welche die Einheit der Schweiz verwirklichten. Dabei sei der Jura nicht zum vornherein als Grenzgebirge zu bestimmen, sondern nur . durch einen «mächtigen Staatswillen mit alpiner Rückendeckung» dazu geworden. Erst der Bund mit Bern habe diese «natürüche, Bestand verheißende Zusammenfassung möglich gemacht». Die Betrachtung der geologisch-tek-tonischen und der geographisch-sprachlichen Mannigfaltigkeit einerseits wie der engen Beziehungen zwischen ihnen andrerseits vermittle «den Glauben an die natürliche Einheit der föderalistischen schweizerischen Nation, an die Notwendigkeit eines die Völker freiwillig zusammenfassenden Staates im Mittelstück von Ost- und Westalpen». So war die «europäische Lebensnotwendigkeit», von der Etter gesprochen hatte, bei Niggli geradezu zu einer Naturnotwendigkeit geworden, verwirklicht im Verlauf der Geschichte und begründet durch die vom Gotthard dominierte Tektonik'B. Als schließlich am 9. Dezember 1938 PhiUpp Etter jene bundesrätliche Botschaft zur schweizerischen Kulturwahrung und Kulturwerbung vorlegte, welche das Fundament der Geistigen Landesverteidigung bilden sollte, da holte er zu einer grundsätzlichen Betrachtung über «Sinn und Sendung der Schweiz» aus, die für uns vor allem deshalb außerordentlich aufschlußreich ist, weil hier die bisher entwickelten Gedankengänge in einer hochoffiziellen Verlautbarung aufgegriffen und sanktioniert wurden. Jeder Staat lebe aus der Kraft der geistigen Grundlagen, die ihn geboren und im Laufe seiner Geschichte «organisch» weiter ausgestaltet hätten. Diese deckten sich mit einer bestimmten Sendung, die einem Volk und seinem Staat in der Geschichte der Nationen zugewiesen sei. Die große historische Sendung des schweizerischen Staatsgedankens sei die Verwirklichung des Zusammenlebens der europäischen Völker. So stelle «die Zugehörigkeit der Schweiz zu drei 18 Niggli Paul, Die Hauptstrukturlinien der Schweizer Alpen und ihre geopolitische Bedeutung, in: Die Alpen 1934, S. 121-136, 175-183. Zur ganzen Problematik: Siegrist Dominik, Landschaft - Heimat - Nation. Ein ideologiekritischer Beitrag zur Geschichte der Schweizer Geographie während der Zeit des deutschen Faschismus, Diplomarbeit Geographisches Institut Zürich 1985 (unveröffentlicht). 19 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Organisation und die Aufgaben der schweizerischen Kulturwahrung und Kulturwerbung (9.12. 1938), in: Bundesblatt 90, 1938, Nr. 50, besonders S. 997-1001. Vgl. auch oben S. 377, Anm. 14. großen Lebensräumen des Abendlandes» und deren Zusammenfassung in einem gemeinsamen Lebensraum eine der Konstanten dar, die das geistige Antlitz der Schweiz prägten. Die Begründung hiefür ergab sich für Etter aus der besonderen Lage und Funktion des «Sankt Gotthard». Es komme nicht von ungefähr, daß die ersten Bünde sich um den Gotthardpaß lagerten, dort, wo der gewaltige Wall der Alpen an einer Stelle sich zusammenziehe auf einen massigen und einzigen Gebjrgsblock. Dies sei providentiell gewesen und entscheidend für Sinn und Sendung des eidgenössischen Staatsgedankens. Am Gotthard entsprängen jene drei Ströme, durch welche die Schweiz mit den drei für die Geschichte des Abendlandes bedeutungsvollsten Lebensräumen verbunden sei. Der «Berg der Mitte» trenne und verbinde diese Lebensräume. Und weil der schweizerische Staatsgedanken nicht aus der Rasse, nicht aus dem Fleisch geboren sei, sondern aus dem Geist, erwachse ihm hieraus die Freiheit und die Kraft zur eigenständigen Teilhabe an diesen großen geistigen Lebensräumen. «Es ist doch etwas Großartiges, etwas Monumentales, daß um den Gotthard, den Berg der Scheidung und den Paß der Verbindung, eine gewaltig große Idee ihre Menschwerdung, ihre Staatswerdung feiern durfte, eine europäische, eine universelle Idee: die Idee einer geistigen Gemeinschaft der Völker und der abendländischen Kulturen!» Diese Idee berge in sich Sinn und Sendung des schweizerischen Staatsgedankens und bedeute im Grunde nichts anderes als den Sieg des Gedanklichen über das Materielle auf dem harten Boden des Staatlichen. Auf dieses «wahrhaft Monumentale, wahrhaft Wunderbare in un-serm eidgenössischen Staatsgedanken» sich zu besinnen, das allein schon sei ein wesentliches Element der Geistigen Landesverteidigung". So hat am Vorabend des Zweiten Weltkriegs die Entwicklung der Vorstellung von den Alpen als Wesensmerkmal schweizerischer Identität ihren Kulminationspunkt erreicht. Die Vorstellungen, die seit Beginn des 18. Jahrhunderts ans Licht getreten waren und die in der Identitätspräsentation des 19. Jahrhunderts in vielen Schattierungen immer mitgeschwungen hatten, diese Vorstellungen waren stets bestrebt, die Besonderheit des schweizerischen Hirtenvolkes im europäischen Umfelde herauszuarbeiten: Die providentielle Bestimmung der Schweiz war es, anders zu sein als die Flachlandbewohner, besser zu sein, wobei die Alpen als Hort der Unverdorbenheit, der schweizerischen Tugenden, der Demokratie und im Laufe der Zeit immer mehr als Hochaltar der Freiheit erschienen. Diese Sicht wandelte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts; neue Akzente traten in den Vordergrund. Die Erfahrung der großräumigen, 380 auch in die Schweiz hineingreifenden Sprach-nationalismen, die gar im traumatischen Erlebnis des deutsch-welschen «Grabens» gipfelte, machte die schweizerische Besonderheit bewußt wie nie zuvor. Die neue Eisenbahnverbindung durch den Gotthard veränderte die Vorstellung von den Alpen, steigerte die Bedeutung des zentralen Gotthardmassivs als internationale Verbindungsachse. Das wurde nun in einem weiteren als bloß verkehrstechnischen Sinne gesehen: In der Schweiz, am Gotthard, dem Berg der Scheidung und dem Paß der Vermittlung, da fand der Austausch der großen abendländischen Kulturen statt. Aus diesen neuen Erfahrungen heraus blieb die Identitätsbestimmung der Schweiz nicht mehr bei der Feststellung der Andersartigkeit stehen. Dem Sonderfall kam nun eine europäische Funktion zu: im eidgenössischen Staatsgedanken eingeschlossen war auch die Sendung zur Vermittlung zwischen Sprachen und Kulturen und -immer stärker - zu ihrer Bewahrung. Das alles wurde zunächst ganz offen und sehr europäisch gedacht im Gleichnis vom abendländischen Reich, in dem den Schweizern am Gotthard eine besondere Aufgabe zukam. Aber unter dem Eindruck der erwachenden Totalitarismen wurde diese Schau hinfällig. Die geistige Orientierung richtete sich auf das Ureigenste, auf den Sankt Gotthard - verstanden als Mitte Europas -, der nun zum «wahrhaft monumentalen» Symbol für den eidgenössischen Staatsgedanken wurde20. Und indem dieses Symbol eben nicht nur den Sinn deutete, vielmehr auch der Schweiz eine Sendung gab - wie die Botschaft des Bundesrats betonte -, ist diese Schau vom granitenen und kargen Gebirgsmassiv im Herzen der Schweiz zu einem eigentlichen Gotthardmythos erhoben worden. Die «Alten Eidgenossen» im Kampf um die Erneuerung der Schweiz Daß dem erwachenden Gotthardmythos eine historische Komponente innewohnte, ist bereits deutlich geworden. Daß diese beinahe ausschließlich von Vorstellungen geprägt war, welche die mittelalterliche Eidgenossenschaft betrafen, erstaunt nicht. Bemerkenswert ist hingegen, daß die Alten Eidgenossen, welche man sich selbstverständlich im weißen Hirtenhemd vorstellte, ganz allgemein zu einem von allen verstandenen Bezugspunkt wurden. Bald ausdrücklich erwähnt, bald nur aus den Spiegelungen ihres Bildes erkennbar, waren sie in den politischen Argumentationen und Selbstdarstellungen jener Zeit in einer Weise gegenwärtig, wie es sich die heutige Generation kaum mehr vorstellen kann. Wir haben bereits gesehen, wie düster Leonhard Ragaz 1917 in der «Neuen Schweiz» die geistige Lage zeichnete. Gleichwohl ergab sich für ihn die notwendige Erneuerung - «wenn wir Schweizer bleiben wollen» - doch nur aus der Wiedererweckung des «Schweizergeistes». Nicht die Abstammung und nicht die Sprache forme nämlich die schweizerische Nation, sondern der Geist, der das Volk durch dessen Geschichte bilde. «Die Seele unseres Volkes ist unser geschichtliches Erleben, und die Seele dieser Seele ist die Freiheit.» So erscheint die Schweiz seit ihrem Anfang als Symbol der «klassischen Freiheit» und Demokratie und zugleich seit der Reformation auch als Symbol der «christlichen Freiheit». Ihr sei es vergönnt gewesen, solchen Befreiungen auf ihrem Boden Ausdruck zu verleihen. Aus dieser doppelten Auszeichnung erwachse auch die Verpflichtung zum Größten, nicht zum Mittelweg, nicht zum «neutralen Schattendasein». Und in Gedankengängen, die immer wieder an Vorstellungen von den Alten Eidgenossen anschließen, entwickelte nun Ragaz die Prinzipien der «neuen Schweiz»: Verkörperung von Freiheit und Gerechtigkeit, von Demokratie und Föderalismus gegen außen, im Innern aber das Zusammenleben in wohlverstandenem Föderalismus und in der Basisgruppe der Gemeinde, in sozialer Freiheit durch Überwindung der Kluft zwischen Stadt und Land. Die Geschichte selbst erscheint so als ureigenster Ausdruck der schweizerischen Kultur. Und wo Ragaz Letztes und politisch eigentlich nicht Sagbares ausdrücken will, werden selbst die mythischen Gestalten der eidgenössischen Frühgeschichte als Symbole für die Idee heraufbeschworen, als Schirmgeister gleichsam, die das echt Schweizerische beglaubigen sollen: Teil als Symbol für den schweizerischen .Stolz gegenüber fremden Anmaßungen, aber auch gegenüber den Verlockungen des Profits, und Winkelried als Symbol für eine Schweiz, die bereit sei, in der Rolle des «Knechtes Gottes» stellvertretend für andere zu leiden und im Dienste an der Menschheit für alle Völker das Wagnis auf sich zu nehmen bis zum eigenen Opfer21. Hier standen die Alten Eidgenossen in der Pflicht eines christlichen Denkers, der die in ihnen angelegten moralischen Werte - besonders etwa bei Winkelried - konsequent zu Ende dachte und mit der Sendung der Schweiz in der anbrechenden «Weltzeit» in Verbindung brachte. Sie sind diesem anspruchsvollen Weg nicht weiter gefolgt. Nach dem Schockerlebnis 10 Siehe vor allem: Rougemont, Gotthardbund, S. 6: «Auf diesem Felsen gründet sich die Geschichte eines sechshundertjährigen Staates. Der Name Gotthard enthält schon ein ganzes Programm [.,.].» 21 Ragaz, Schweiz, S. 178 und 193. 381 des Landesstreiks, unter dem Eindruck der Erschütterungen am Ende des Weltkriegs, deren epochale Bedeutung Ragaz erahnt hatte, und in den Krisenjahren begannen sie sich aus einer Abwehrreaktion heraus zusehends in merkwürdigem Zwielicht zu bewegen. und an der damit verbundenen liberalen Geschichtsauffassung anbrachte, tat er dies von seiner geistigen Heimat, der alten, vorrevolutionären Eidgenossenschaft aus22. Der Bundesstaat von 1848/1874 erschien in dieser Sicht nicht mehr als folgerichtiges Endziel der Ent- DER GENIUS DER EIDGENOSSENSCHAFT. Als Gonzague de Reynold, dem wir bereits am Gotthard begegnet sind, 1929 in «La democra-tie et la Suisse» seine Kritik am liberalen Staat 22 Reynold Gonzague de, La democratie et la Suisse. Essai d'une Philosophie de notre histoire nationale, Bern 1929. Vgl. hierzu Mattioli, Reynold (wie oben, S. 373. Anm. 1). * Bildinterpretation: Wie auf den Historienbildern fallen die Alten Eidgenossen, die es zu interpretieren gilt, mit deren Interpreten, den kostümierten Zeitgenossen, zusammen. Im historisierenden Kostüm artikuliert sich der staatspolitische Appell, «so wie seinerzeit» zu handeln. Buben und Mädchen legen am Leichnam Arnold Winkelrieds, des Prototyps eines Alten Eidgenossen, Ehrenkränze nieder. Alle sind bezogen auf die monumentale Kunstfigur Helvetia. Als Personifikation des neuen Bundesstaates gibt sie mit ausgestrecktem Lorbeerkranz dem mythisch vergrößerten Helden die Weihe. So wird Winkelrieds Fürsorgegedanke als alteidgenössisches «Erbgut» der neuen zentralen Bundesgewalt zugeordnet: Kurz zuvor waren die ersten Sozialgesetze (Arbeitsrecht usw.) erlassen worden. Anläßlich der Schlachtfeier von 1886 wurde auch die Winkelriedstiftung ins Leben gerufen, die sich um die Hinterbliebenen von im Militär Verunfallten kümmert. Wicklung, sondern als Bruch mit der Tradition, in der die «Seele» der Schweiz nach wie vor lebe. Daher sei es in der Gegenwart zu einem Auseinanderklaffen des «pays vivant» und des «pays legal» gekommen; die gegenwärtige Schweiz lasse sich eben nicht mehr mit den Methoden von 1848 und 1874 regieren. Den Höhepunkt der ursprünglichen Schweiz erkannte de Reynold in der vorreformatorischen Eidgenossenschaft mit ihrer ungebrochenen Christlichkeit, ihrem offenen Föderalismus sowie ihrer noch nicht nach unten abgeschlossenen Führungselite. Die aus der «Seele» der Schweiz hergeleitete Erneuerung, die de Reynold nun forderte, ging - neben der Wertschätzung der Familie - vom korporativen Gedanken aus, welcher seinerseits nicht ohne nationale, soziale und christliche Gesinnung möglich sei, und sie beinhalte auch eine autoritäre Stärkung der Regierungsgewalt. De Reynold betrauerte in diesem Zusammenhang das vorzeitige Erlöschen der Zähringerdynastie als einen tragischen Schicksalsschlag für 132 Die Schlachtfeier als nationales Ereignis.*' Lithographie von Karl Jauslin, 1886: «Der Genius der Eidgenossenschaft». Festalbum zur Sempacher Schlachtfeier 1886, Universitätsbibliothek Basel. die staatliche Entwicklung der Schweiz und berief sich schließlich sogar auf den napoleonischen «Landammann» der Mediationszeit, «der nach Name und Funktion schweizerischer Tradition entstamme». Er hätte von der Funktion her auch Kardinal Schiner nennen können, den er früh schon, 1915, als staatsmännisches Ideal, als Führerpersönlichkeit der schweizerischen Mittelmäßigkeit entgegengestellt hatte. «Was hätten die Eidgenossen nicht alles vollbracht unter Schiners Diktatur?» hat er 1923 gefragt23. Sie hätten mit Kaiser und Papst die Einheit der christlichen Welt für immer befestigt. In «La democratie et la Suisse» kam die autoritäre Tendenz gemäßigter zum Ausdruck, aber unter Berufung auf die Alten Eidgenossen immer noch deutlich genug, um in ihr eine grundsätzliche Abrechnung mit der radikal-freisinnigen Demokratie erkennen zu können. Entsprechend lebhaft fielen die Reaktionen in der «Af-faire de Reynold» aus. Das Gedankengut jedoch, die antiliberale Demokratiekritik, entsprach einem latenten Unbehagen und erlangte in den frühen 1930er Jahren eine Breitenwirkung, die de Reynold bisweilen geradezu als Schrittmacher der Erneuerungsbewegungen erscheinen läßt. Allenthalben begann man sich angesichts der erfolgreichen totalitären Entwicklungen im Ausland und enttäuscht Uber das als farblos empfundene politische Leben in der Schweiz Gedanken über den Schweizer Staat und sein Demokratieverständnis zu machen. Und da man dies - so schillernd das Gedankengut auch war - aus einem schweizerischen Selbstverständnis heraus tat, suchte man den Anschluß an die Tradition und berief sich bald mehr, bald weniger ausdrücklich auf das Vorbild der Alten Eidgenossen. Als der reformierte Zürcher Studentenseelsorger Julius Schmidhauser für eine akademische Jugend, diebald politisch aktiv werden sollte, in den Jahren 1929 bis 1931 eigentliche nationale Einkehrtage hielt, da ging er in einer seiner Meditationen von der schicksalhaften Verbindung der Schweiz mit der Demokratie aus24. Die schweizerische Urdemokratie führte er in bemerkenswerter Weise auf den Kampf zweier «politischer Grundformen» zurück, als den Kampf der «Herrschaft der Priesterschaft und des Adels» gegen die «Genossenschaft des Bauern- und Bürgertums». In dieser säkularen Auseinandersetzung bedeutete schon der Name «Eidgenossenschaft» ein politisches Bekenntnis. Die Genossenschaft beruhe nämlich nicht auf bloß vertraglicher Übereinkunft von freien Individuen, sondern allein auf «bündischer Treue». Beschworen vor Gott, sei diese Eidgenossenschaft auch ein ewiger Bund mit Gott -Schmidhauser weist hier auf die Bundesbriefe von 1291 und 1315 hin. Die Freiheit des Einzelnen gründe in der Treue der Genossen; Untreue erzeuge Willkür. Freiheit sei also nicht individuelle Autonomie, denn die mittelalterliche Genossenschaft kenne auch die «strenge, verantwortliche und mächtige Führerschaft» -Schmidhauser glaubte diese bei den eidgenössischen Hauptleuten erkennen zu können. Diese genossenschaftliche Demokratie sei Schicksal und Berufung der Schweiz «im Reich» - das der Theologe als Reich Gottes verstanden wissen wollte-, wie Rußlands Berufung im Marxismus liege, jene Deutschlands im Nationalsozialismus und jene Italiens im Faschismus. Wenn die Schweiz die Demokratie von den Schlacken des Individualismus, Rationalismus und Materialismus befreien und erneuern wolle, so müsse dies in der Treue zur «bündischen Urdemokratie» geschehen. Das bedeute hier und jetzt, «Führung um der Gemeinschaft willen in Frei-heitzu bejahen». So stellte Schmidhauser der liberalen Demokratie die Alte Eidgenossenschaft als eine autoritär geführte Genossenschaft gegenüber. Der Studentenseelsorger suchte diese Schau von einer theologischen Grundlage her zu orientieren, ergab sich doch für ihn der Charakter der Alten Eidgenossenschaft aus dem Einklang von germanischem Rechtsdenken und Christentum und die gegenwärtige Aufgabe der Schweiz aus ihrer Berufung im Reich Gottes. Als Paul Lang 1932 ebenfalls vor Zürcher Studenten jene drei Vorträge hielt, die zur ideologischen Grundlage der Nationalen Front werden sollten, verzichtete er auf christliches Beiwerk und griff auf psychologische Überlegungen und die von der antiliberalen Staatslehre übernommene Polarität von organischen und mechanischen Entwicklungsstadien zurück, um die «Morphologie» . der schweizerischen Entwicklung zu erfassen und hieraus - nicht aus einer göttlichen Beru-f ung - die Forderung der Zeit abzuleiten25. r' Reynold, Schiner, S. III. zů Schmidhauser Julius, Die Schweiz im Schicksal der Demokratie, in: Schweizerische Monatshefte für Politik und Kultur 10, 1931, Heft 11; Glaus, Front, S. 54ff. -Zu den hier ins Blickfeld tretenden politischen Bewegungen vgl. GlLG Peter/gruner Erich, Nationale Erneuerungsbewegungen in der Schweiz, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 14, 1966, S. 1-25; dann Glaus, Front; Wole Walter, Faschismus in der Schweiz. Die Geschichte der Frontenbewegungen in der deutschen Schweiz, Zürich 1969; Zöberljn Klaus-Dieter, Die Anfänge des deutsch-schweizerischen Frontismus. Die Entwicklung der politischen Vereinigungen «Neue Front» und ({Nationale Front» bis zu ihrem Zusammenschluß im Frühjahr 1933, Diss. Marburg, Meisenheim a. Glan 1970 (Marburger Abhandlungen zur politischen Wissenschaft 18). 2S Lang Paul, Tote oder lebendige Schweiz? Versuch eines Systems politischer Morphologie, entwickelt an der Dynamik des eidgenössischen Staates, Zürich 1932 (Schriften der Nationalen Front 20); Glaus, Front, S. 56-58. Organisch sei jene Politik, welche neue Formen schaffe, mechanisch diejenige, welche innerhalb der erstarrten Formen bleibe. Im Gesamtverlauf der Schweizergeschichte, welche Lang durch den Kampf zwischen aristokratischem und demokratischem Prinzip gekennzeichnet sah, sei Orgaitik immer dann aufgetreten, wenn zwischen diesen beiden Prinzipien fruchtbare Spannung geherrscht habe, Mechanik jedoch dann, wenn entweder die Aristokratie oder die Demokratie dominierend gewesen sei. Als hohe Zeit der Organik erschien ihm die Gründungsund Heldenzeit. Es sei damals nicht wie bei Schillers «Teil» um die individualistische Freiheit der liberalen Demokratie gegangen, sondern um die Verteidigung des durch genossenschaftliche Treue gebundenen Zustandes; nicht gegen Richter und Herren schlechthin, sondern nur gegen fremde und unrechtmäßige. Stauffa-cher und Fürst hätten das aristokratische Prinzip repräsentiert, Teil das demokratische. Diese Spannung sei in der Neuzeit verlorengegangen. Im Ancien regime habe das aristokratische, dann bis 1930 das demokratische Prinzip vorgeherrscht. Beide Male sei am Ende eine vollkommene Erstarrung erfolgt. Im weiteren erkannte Lang in der schweizerischen Geschichte drei ihrem eigenen Rhythmus folgende, nebeneinander verlaufende Geschichtsebenen: die Geschichte der Kantone, jene der Eidgenossenschaft und jene Europas. In Epochen der Mechanik vermittle der Kanton dem Eidgenossen sein wesentliches Geschichts- und Staatserlebnis, in Epochen der Organik aber die europäische Entwicklung. Auch in dieser Beziehung erschien die Epoche der Alten Eidgenossen bis Marignano als die große Zeit. Aus solcher Geschichtsschau ergab sich konsequent die Zielrichtung der Erneuerung hin zur Organik: Es ging darum, wieder den fruchtbaren Zustand «mittleren Ausgleichs» zu schaffen durch Aufnahme von aristokratischen Elementen und Errichtung einer autoritären Führungsstruktur, an deren Spitze ein Landammann stehen sollte, ferner durch Beschränkung der Volksrechte sowie Einschränkung des Parlaments auf ein von Korporationen gewähltes Wirtschaftsparlament; es ging darum, denAus-gleich herzustellen zwischen dem noch dominierenden Föderalismus und einem zu stärkenden Zentralismus, und vor allem galt es, die Schweiz «als Funktion Europas» zu sehen. Hier lehnte sich Lang offenkundig an Gonzague de Reynolds «en fonction de l'Europe» an. Der Ausgleich der so hervorgerufenen Spannung könne nur durch Synthese, diese aber nur durch 26Ambrunnen Arnold, Der Inglin Meinrad, Jugend eines Volkes. Fünf Erzählungen, Horw 1933. Im Jahr 1934 wurde die 3. Auflage als erste Vierteljahresgabe der Schweizer Buchgemeinde an ihre Mitglieder abgegeben i0 Vgl. die Hinweise in den Programmheften der Aufführungen von «La Gloire qui chanle» und «La Cite sur la Montagne.) von 1940. Ähnlich gelagert ist auch der große Erfolg einer ethnographisch-psychologischen Mystifikation der Urner Bevölkerung, eben der «Eingeborenen», in: Renner Eduard, Goldener Rrng über Uri. Ein Buch vom Erleben und Denken unserer Bergler, von Magie und Geistern und von den ersten und letzten Dingen (mil III. von Heinrich Daniolh), Zürich 1941 und 31976 Das Buch ist eine popularisierende Version von Renners Dissertation: Renner Eduard, Über das Magische und Animjslische im Erleben und Denken der Urner Bergler, Diss. med. Bern 1937 (Maschinenschrift), 41 Waser Maria, Lebendiges Schweizertum. Aus einem Vortrag, in: Neue Schweizer Rundschau NF 1, 1934, S 709-722, Als Buch: Waser Maria, Lebendiges Schweizertum, Zürich 1934 (Schriften für Schweizer Art und Kunst 126/127). I nissen stehen», «der heimlichen Meinung des wirklich Geschehenen» erst Ausdruck verleihe. Und da erkannte sie neben und hinter den drei Bundesstiftern zwei Einzelgestalten, Teil und die Stauffacherin, als Symbole «großer überzeitlicher Zusammenhänge des Allernatürli-chen». Beide, von Freiheitsliebe erfüllt, handeln nach Maßgabe des eigenen Gesetzes: Teil in der raschen, dem Augenblick dienenden Tat; * Bildinlerpretation: Alberl Anker entwirft eine ganz private Vorstellung von Heimat. Daß sich in diesem Zusammenhang wie selbstverständlich die Gedanken des Betrachters auf den Kopf des sinnierenden Großvaters konzentrieren, zeigt, wie sehr der Heimatbegriff, und zwar nicht nur der schweizerische, mit dem Bild eines lebenserfahrenen, patriotisch denkenden, allen Mannes verbunden ist. Er ist für den Betrachter Vermittler des Heimalge-fühls, welches von den gespielten Tönen in Schwingungen geräl, ohne daß der Inhalt des Liedes dargestellt wäre. Interpretiert wird die Musik von der halbwüchsigen Enkelin. Soll man sie oder vielmehr den kleinen Bruder, welcher der Interpretation aufmerksam folgt, als Jungen Eidgenossen bezeichnen? die Stauffacherin, «weil sie Frau ist», «im weisen, von geheimen Glaubensmächten eingegebenen, Zukunft und Allgemeinheit erfassenden Rat». Schlicht in Hirtenhemd und Hausfrauentracht gekleidet zwar, aber uralte Symbole verkörpernd: das männliche und das weibliche Prinzip, reinigende Naturgewalt und bauendes Naturgesetz, die elementaren zerstörenden und befruchtenden Kräfte aus Wolken und Gestirn und die fruchtbaren, Leben bewahrenden und erneuernden Kräfte der Großen Mutter. Unter dem Zeichen dieser Natursymbole stehe die ganze sich auf natürliche, organische Weise entwickelnde Eidgenossenschaft. Und nun unternahm Maria Waser nichts anderes als eine Deutung der mit knappen Strichen bis in die Gegenwart skizzierten Schweizergeschichte aus dem wechselseitigen Wirken dieser beiden Grundprinzipien heraus. Von dieser eigentümlichen Geschichtsschau her fand sie Orientierung in der eigenen Zeit gegen den Hader der zum Selbstzweck herabgesunkenen Parteien und ge- 133 Das Lied der Heimat.* Ölbild von Albert Anker, vor 1874. Privatbesitz. gen den Ruf nach dem Führerstaat. Der Volksstaat, die wahre Demokratie, gehe auf ein Urnatürliches zurück, was die Sage dadurch kundtue, daß sie neben die Männer die Frau hingepflanzt habe, sie, die aus «Urstimmen des Lebendigen Weisung empfing». Deshalb habe Pestalozzi als Grundlage des lebendigen Volksstaates das Wirken der Mutter hingestellt, die in natürlicher Selbstverständlichkeit die Freiheit des einzelnen mit dem Wohl der Gesamtheit in Einklang bringe. Beachtlich ist, wie hier erstmals eine Frau in kräftigem Gedankengang von der Sage und Geschichte her ihren Zeitgenossen das Schweizer-tum deutete und dabei aus der Stauffacherin das eine Urprinzip aller Schweizergeschichte entwickelte, das den Unabhängigkeitswillen sowie den «klaren, gesunden, bundeskräftigen Geist unserer Heimat» bestimmte, jenen «Ur-geist», der auch Männer wie Bruder Klaus und Nikiaus Wengi durchdrungen habe. Beachtlicher noch in unserm Zusammenhang, wie bewußt die Mythisierung der Urprinzipien bejaht wurde, was den augenfälligsten Ausdruck darin fand, daß Teil nur Hodlers Teil sein konnte. Der Wille zum Mythos floß hier noch aus einem sicheren Heimatgefühl, und Maria Wasers gedankliche Ableitungen wurden denn auch bereitwillig als echt schweizerische Einkehr, als ureigenes Gut empfunden. Noch deutlicher offenbart sich der Wille zum Mythos natürlich dort, wo es um die traditionelle Vorstellung der Befreiungsgeschichte selber ging. In den Altdorfer Tellspielen erkannte Adolf Hüppi 1935 eine Manifestation von nationaler Bedeutung, und zwar gerade deshalb, weil sie dem Mythos galten"2. Die seelischen Werte seien nämlich nicht in dem zu finden, was geschehen sei. Sie äußerten sich vielmehr im Mythos als dem Wunschgebilde, das in wechselnder Gestalt das Denken und Hoffen eines Volkes auf seinem Gang durch die Geschichte begleite. Geradejetzt sei der Teilmythos wieder doppell wertvoll, denn während man überall begierig nach Symbolen und Mythen suche, könnten die Schweizer auf ihre alte Uberlieferung hinweisen. An deren Geist könne man wieder gesunden. Heute, wo es wie ein Frühlingssturm d urchs Land gehe und alles nach Erneuerung strebe, verdeutliche der Mythos, daß die Schweiz unter einem anderen Gesetze stehe, «organisch» aus heimatlichem Boden wachse, nur demokratisch sein und sich nicht dem Willen einer einzelnen Persönlichkeit, wäre sie auch noch so genial, anvertrauen könne. Wie Adolf Hüppi suchten damals viele, durchaus der allgemeinen Zeitstimmung entsprechend, in den bewußt bejahten Mythen Orientierung für ihre Gegenwart zu finden. Daß der Mythos nicht der geschichtlichen Wirklichkeit entsprach, dessen war man sich bewußt. Es zeugt gerade für die Lebendigkeit des Mythos, daß man sich damals in keiner Weise dazu veranlaßt sah, zu seiner Rettung die Historizität des im Mythos Erzählten zu beweisen. Im Gegenteil: man war bereit, im Mythos jene verborgene, zeitlose Wahrheit des Schweizertums zu erkennen, wie sie die wirkliche Geschichte allein niemals vermitteln könne. Aus dem Mythos wollte man die innere Stärkung gegen die «Arglist der Zeit» schöpfen. Das war ein durchaus reflektierter Vorgang, und deshalb läßt sich tatsächlich von einem Willen zum Mythos sprechen. Dieser Wille zum Mythos fand übrigens seinen augenfälligsten Ausdruck auf der ursprünglichen Landstraße nach Küßnacht, die damals, 1937, mit Geldmitteln, die von der Schuljugend gesammelt worden waren, von einer vielbefahrenen, vier Meter breiten Straße in einen Hohlweg verwandelt wurde, den man ausgehoben, mit Felsbrocken gefaßt, bepflanzt und «mittelalterlich» gestaltet hat, während der Verkehr auf eine neue Streckenführung verwiesen wurde: So entstand die Hohle Gasse. Der Vorgang hat symbolischen Charakter für das, was damals mit der Geschichte geschah: Der tatsächlich historische, ununterbrochen bis in die Gegenwart genützte Verkehrsweg wird aufgehoben und umgeleitet, um jetzt der zum Mythos erhobenen Sage Raum zu schaffen43. Die innere Wahrheit des Schweizertums in Sage und Mythos war jedoch interpretierbar, durch bewußte Schöpfung deutbar. Wenn diese Deutungen, so sehr sie auch persönlich geprägt waren, von der Allgemeinheit begeistert aufgenommen wurden, so immer deshalb, weil man sie als Emanationen der Heimat empfand. Fehlte einer Deutung dieser Einklang mit der Heimateinkehr, so verweigerte sich das in dieser Beziehung überaus feinfühlige «Volksempfinden», so sehr sich auch die Schöpfer solcher Deutungen bemühen und sich auf die Unterstützung staatlicher Instanzen berufen mochten. GonzaguedeReynold hat diesem Bedürfnis auf seine Weise zu dienen gesucht. Uberall höre er: «Wir brauchen Mythen!» Doch könnten Mythen nicht improvisiert oder eingeführt werden, wenn sie nicht schon vorgegeben seien. Gleichwohl erkannte er in dieser Forderung eine Sehnsucht nach Glauben, die durchaus begründet sei, da ohne Glaube, ohne ein tiefes, aus Heimatboden sowie Geschichte entspringendes 4: Huppi Adolf, Die Teilspiele in Alldorf und wir Schweizer, in: Schweizerische Rundschau 34, 1934/35, S. 471-478. 43 Urz. Gasse, S. 292-294; Etter Philipp, Hohle Gasse, Llgenlum der Schweizer Schuljugend. Geschichtliches über die alle und neue Gasse, Ansprache von Bundesral Philipp Eller bei der Einweihung, Küßnachl 1937, 389 Gefühl - de Reynold nannte es «patriotische Frömmigkeit» - nichts erneuert werden könne. Man müsse daher wieder einen heiligen Ort finden, wo man sich innerlich sammeln könne, und er verwies auf die alten patriotischen Feste, die wieder würdig zu begehen seien4''. Er selbst hat durch seine symbolisch-dichterischen Deutungen diese patriotische Frömmigkeit früh schon zu fördern gesucht: durch seine «Cites et Pays Suisses», eine beachtliche historisch-geographische, aber durchaus dichterisch gestaltete Beschreibung der Schweiz45, durch die «Contes et Legendes de la Suisse heroique», eine frei nachempfundene, mehr noch aus Eigenschöpfungen bestehendeSagensammlung46, dann auch durch seine «La Gloire qui chante», einen militärgeschichtlichen Bilderbogen, der 1919 von der Truppe erstmals aufgeführt und nun 1940 wieder aufgenommen wurde, bezeichnenderweise um zwei Gotthardszenen - «Der Aufstieg zum Gotthard» und «Die Wacht am Gotthard» - erweitert45, vor allem aber durch sein symbolisches Mysterienspiel «La Che sur laMontagne» von 1940. Darin stellt er nun die Schweiz als eine auf das Hirtenpaar Svizerus und Ladina zurückgehende Stadt auf einem Berg - unverkennbar der Gotthardpaß - dar, eine Stadt, die im 14. Jahrhundert wegen des Paßverkehrs wirtschaftlich aufblüht, durch die dem Gemeinwohl zuwiderlaufenden Eigeninteressen aber zusehends gefährdet wird. Erst der durch Ausländer aus dem Norden angezettelte Arbeiteraufstand und der Opfertod des Dich- 44 Reynold Gonzague de, Conscience de la Suisse. Billei ä ces messieurs de Berne, Neuchälel 1938. 43 Rjeynold Gonzague de, Cites et Pays Suisses, Lausanne 1914-1937; Reynold Gonzague de, Schweizer Städte und Landschaften, überselzt von Eduard Fritz Knuchel, Zürich 1932. 46 Reynold Gonzague de, Conles el Legendes de la Suisse heroique, Lausanne 1914 41 Reynold Gonzague de, La Gloire qui chante, Lausanne '1919, -1940. 40 Vgl. die folgenden Rezensionen: NZZ 11.2.1941; Die Tat, 18.2.1941; Der Bund, 21.1.1941; Aargauer Tagblall, 26 2.1941; Schweizer Monatshefte 15. 1941, S. 369ff. (Kail G. Kactiler); Cahiers Proteslanls, mars-avril 1941; Gazelle de Lausanne, 5.3.1941; L'Effort, 30.3.1941 (Bedauern über den «echec inconleslable en Suisse alleman-de»). Die Hinweise verdanke ich Herrn Dr. med. Jean-Yves Probst, Basel. * Bildinterpretalion: Hodler hal in dieser Telldarslellung versteckt ein stark stilisiertes Selbstbildnis geschaffen. In dieser Figur sammeln sich also porlrailhafte Momen-le des Malers, aber auch Kennzeichen des Teils: die Erscheinung des einfach lebenden, aber entschiedenen Allen Eidgenossen, der Unabhängigkeitswilleii eines ganzen Volkes, ja der Freiheitsdrang der ganzen Menschheil. Hodlers vielschichtige Figur weist über den nationalen Rahmen hinaus auf allgemeinmenschliche Anliegen. Anschaulich wird dies, indem der Maler den Teil aus dem historischen Kontext der Innerschweiz heraushebl und. ikonographisch Auferslehungsdarstelhingen ahnlich, vor einen Wolken- oder Grabesvorhang stelll. lers Montfort läßt die Bürger, denen die Bergler vom Platifer zum Sieg verholfen haben, wieder zur Besinnung kommen und unter dem Diktat des Ammanns den Bund mit Gott erneuern, während Montfort in der gotischen Kathedrale neben dem Stifterpaar beigesetzt wird. Obwohl das Stück 1940 von Truppen als «Botschaft der Armee an das Schweizer Volk» aufgeführt wurde und obwohl die Aufführungen unter dem Patronat General Guisans standen, stieß das Stück bloß auf reservierten Anklang, auf merkliche Zurückhaltung, ja auf offene Ablehnung. Schon das Konzept, aber auch viele Einzelheiten rieben sich am politischen Bewußtsein und an konfessionellen Empfindsamkeiten, vor allem aber: Es wurde als etwas dem erlebten Heimatgefühl völlig Fremdes empfunden, nicht zuletzt deshalb, weil es - so die Neue Zürcher Zeitung - als «Botschaft der Armee an das Volk» daherkam, denn die Armee sei ja schon das Volk, und dieses Volk denke nicht so wie Herr Reynold4". Das war nicht nur auf die politischen Ansichten eines Gonzague de Reynolds gemünzt, sondern auch auf die ganze von ihm 134 Hodlers Teil.* Ferdinand Hodler: Teil; Öl und Tempera (?) auf Leinwand, 1897/98. Kunstmuseum Solothurn. zur Deutung der Schweizergeschichte gewählte Symbolik. Das empfindliche Wechselspiel zwischen Heimatgefühl und unterschwellig Fremdem tritt besonders dort zutage, wo es um den Nationalmythos selber ging. So hatte Max Eduard Liehburg, der nun in einer Literaturgeschichte bereits als wegweisender Dramatiker gepriesen wurde49, in seinem «bündischen Weihespiel» «Hüter der Mitte» den Teil in einen ganz neuen Rahmen gestellt, einen Rahmen, den er schon in seinem «neuen Weltbild» abgesteckt hatte. Dort hatte ein mythischer Kaiser der Schweiz den historischen Auftrag zur Hut am Gotthard geben lassen. Jetzt erschien Teil als der Führer im Kampf um die durch die Habsburger gefährdete Sendung der Schweiz, eben den Gotthard in der Mitte Europas frei zu bewahren bis zur Wiederkunft des Reiches30. Liehburg gestaltete sein Spiel wie alle seine «sakral-politischen Großdramen», die er den «Grundgedanken» der Schweiz und Europas widmete, als dreidimensionales Theater, in dem Mythos, Geschichte und Gegenwart zugleich vergegenwärtigt werden sollten, was eine besondere Gestaltung des Theaterraums erforderte. Mit diesen Werken wollte Liehburg geistige Landesverteidigung betreiben, und zwar in einem Zentrum für nationale Festspiele, das am «heiligen See» des «schweizerisch-europäischen Mythos» in Luzern errichtet werden sollte. In fiebriger Eile errichtete er die sogenannte «Stiftung: Luzerner-Spiele» und gewann im Winter 1936/1937 die Unterstützung mehrerer Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Militär. Unter ihnen stachen Namen hervor wie jene der Altbundesräte Schultheß und Haab, der National- und Ständeräte Emil Klöti, Gottlieb Duttweiler, Heinrich Walther und Theodor Gut, der Professoren Max Huber, William Rappard und Gonzague de Reynold, aber auch Namen aus der miUtärischen Führungsspitze wie Wille, Miescher, Bircher, von Pfyffer und schließlich Guisan, der auch dem Stiftungsrat angehörte bis zu dessen Auflösung im Jahre 1943. Schließlich ließ sich auch Bundesrat Etter, bei dem Liehburg wiederholt vorgesprochen hatte, von dem Vorhaben «sympathisch berühren». Auch wenn die Unterschriften zum Teil voreilig gegeben worden waren, so zeigen sie doch, auf welche Resonanz Liehburgs Ideen stießen, eben weil sie verschiedene Elemente der damals geläufigen Identitätsvorstellungen aufnahmen. Im März 1937 sollten nun mit dieser Unterstützung die erheblichen finanziellen Mittel beschafft werden, und dawurdedie Auseinandersetzung ernst. Ein unter größter Verschwiegenheit ablaufender Entscheidungsprozeß in Et-ters Departement, bei dem eine hochkarätige Sachverständigenkommission mitwirkte, führ- te im Spätsommer 1937 zur Ablehnung der Liehburgschen Pläne. Doch Etter zögerte. Erst am 31. Mai 1938 wurde der Entscheid vom Gesamtbundesrat publik gemacht. Dieses lange Schweigen, während Liehburgs Propaganda schon von einer Zustimmung sprach, veran-laßte die «Neue Zürcher Zeitung» zu einer öffentlichen Auseinandersetzung: In drei Artikeln meldete sich vom 19. bis'21. September 1937 ein gewisser «Lynkeus» zu Wort. Um einen sachlichen Ton bemüht, der Liehburg gewisse Qualitäten nicht absprach, deckte Lynkeus mit gedanklicher Schärfe auf, welche ideologischen Hintergründe sich in Liehburgs Symbolen verbargen. Volksfremd, wie er sei, bemühe sich Liehburg, den vermeintlich unwissenden Schweizern zu zeigen, weshalb sie Schweizer seien, und dies mit «seltsamen Fragestellungen und noch seltsameren Antworten», welche der «naturhaften, im Gefühl verankerten Sicherheit der unbewußten Heimatliebe» ferne stünden. Mit seinen «sakral-politischen» Vorstellungen, mit denen er christliche Werte ersetze, rücke er in «bedenkliche Nähe der Diktatoren, die das Politische zur Religion erheben» würden. Die pathetische Beschwörung der Reichsidee sei zur Zeit nicht unverfänglich; sie führe zudem in eine voreidgenössische Zeit zurück und schwäche damit die eben allein in der eidgenössischen Geschichte wurzelnden Grundlagen des schweizerischen Staates. So stehe Liehburg im Gegensatz zum demokratischen Grundverständnis sowie zum mehrheitlich christlichen Empfinden der Bevölkerung. Doch gerade das gelte es nun in der geistigen Landesverteidigung hochzuhalten, «weil vielleicht in absehbarer Zeit ein christliches Schweizervolk einen wichtigen Unterschied zum neuen deutschen Bekenntnis» verkörpern werde. Lynkeus hatte genau die neuralgischen Punkte offengelegt, wo Liehburgs übersteigerter Wille zum Mythos das Heimatgefühl verletzen mußte. Es waren dies deutliche Worte, die bei der Beschlußfassung im Departement des Innern möglicherweise mitgewirkt haben, gelangte doch der abschließende Kommissionsbericht erst nachher, anfangs Oktober, in die Hände Bundesrat Etters. Die an Etters Haltung damals tatsächlich geäußerten und durch das bundesrätliche Schweigen geschürten Zweifel wie die unverhohlen aggressive Reaktion des Kreises um Liehburg zeigen, wie verunsichert man in jenen Tagen war. Auch Lynkeus sah sich veranlaßt, in der Anonymität zu bleiben. Erst Jahrzehnte später kam es aus, daß sich hinter Lyn- 49 Hierzu Nadler Josef, Literaturgeschichte der deutschen Schweiz, Zürich 1932, S. 466,485-488. 50 Liehburg Max Eduard, Hüter der Mitte, Zürich 1934. -Zum Ganzen vgl. wüest, Liehburg (wie oben, S. 377, Anm.13). keus der Luzerner Kantonsschullehrer Dr. Heinrich Bühlmann verborgen hatte, der, ermutigt durch einen eng verschworenen Luzerner Freundeskreis, gegen die Festspielpläne angetreten war. Während überall und besonders im Militär führende Persönlichkeiten Liehburgs Aktivitäten unterstützten, hatte man im unmittelbar betroffenen Luzern das Fremdartige und beunruhigend Zwielichtige des Vorhabens erkannt und die Initiative zur Abwehr ergriffen. Die Episode um die Luzerner Festspiele läßt wie kaum eine andere erkennen, wie schillernd der bewußtseinsmäßige Umgang mit dem eigenen Mythos damals werden konnte51, und sie zeigt zugleich, wie das Befremden über solche ideologische Einvernahmung gerade aus dem verletzten Heimatgefühl herauswuchs. Daß hier wie dort der geistigen Landesverteidigung gedient werden wollte, macht deutlich, wie schwankend und widersprüchlich die Meinungen immer noch waren. Klärend wirkte hier vor allem die tiefe Erschütterung, die im März 1938 der «Anschluß» Österreichs auslöste. Jetzt schieden sich endlich die Geister - und die «Hüter der Mitte» standen nun offen im Lager der Frontisten52. Geschichtsschreibung im Zeichen des Mythos Als Fritz Ernst mitten in der Zeit höchster Bedrohung, 1940/1941, das «nationale Vermächtnis» Johannes von Müllers in Erinnerung rief, ging er von der Feststellung aus, daß die Schweiz «mindestens zwei Totalkunstwerke» hervorgebracht habe: als «ihre Geschichte und ihre Geschichtsschreibung»53. Dieses Urteil läßt sich nach allem, was bisher vorgestellt wurde, nachvollziehen, und zwar gerade in dem Sinn, den Fritz Ernst gemeint hatte, daß nämlich «die Schweizergeschichte, als Vorgang wie als Rechenschaft, ein kaum übertroffenes Beispiel von Allgegenwart des Geschichtlichen» 51 Vgl. etwa: Schumacher Edgar/däniker Gustav, Haltung des Soldaten zum Luzerner-Plan, Aarau 1937 [September]. 52 Siehe oben, S. 385, Anm. 33. In ihrer Sondernummer zur «Geistigen Landesverteidigung» läßt die Zürcher Illustrierte, Nr. 12, 18. März 1938, S. 342 Liehburg bereits als Kasperle-Spott erscheinen: «Häilige Liehburg, das chäm nett use!» 53 Ernst Fritz, Johannes v. Müllers Schweizergeschichte als nationales Vermächtnis, in: Neue Schweizer Rundschau NF 8, 1940/41, S. 267. 54 Schmidt, Bewährung. Vgl. etwa zur Historiographie dieser Zeit: Stadler, Klassenkampf. 55Vgl. Nabholz Hans/von Muralt Leonhard/Feller Richard/BoNJOUR Edgar, Geschichte der Schweiz, Zürich 1932. 56 Ebd., S. 139-148, besonders 148. darstelle. Wenn im folgenden kurz auf die Geschichtsschreibung eingegangen werden soll, so nur unter dem Gesichtspunkt, wie sich namhafte Historiker bewußt und im Hinblick auf eine breite Öffentlichkeit solcher geschichtlichen «Rechenschaft» gestellt und an der von Ernst vertretenen «Allgegenwart von Geschichtlichem» mitgewirkt haben. Dem großen Interesse weiter Kreise, zu erfahren, «auf welchen Grundlagen und auf welche Weise sich die Unabhängigkeit und Eigenart der Schweiz herausgebildet» habe54, ein Interesse, das gerade durch die in jenen Jahren üppig sprießende politische Vereinnahmung der Geschichte geschürt wurde, kamen damals zwei große Gesamtdarstellungen entgegen, wie sie -bei gleicher Zielsetzung - gegensätzlicher nicht hätten ausf allen können. 1932 erschien die vielbeachtete «Vier-Männer-Geschichte», in der Hans Nabholz die mittelalterliche Eidgenossenschaft behandelte55. Im Vergleich zu dem Pathos, das damals die geschichtliche Rückbesinnung erfüllte, erscheint diese «Geschichte der Schweiz» denkbar nüchtern, in einem sachlichen Ton nummernweise -ähnlich einem Schulbuch - die Geschichte abhandelnd. Nabholz bot ein Bild von bemerkenswerter Ausgewogenheit und Übersicht. Den damals in weiten Kreisen bald hoffnungsvoll, bald enthusiastisch begrüßten Thesen Karl Meyers - wir kommen auf ihn zurück -stand er sehr zurückhaltend gegenüber. Im Kapitel «Geschichte und chronikalische Überlieferung» ging er auf dessen gewagte Konstruktionen um die Historizität der Befreiungssage Uberhaupt nicht ein, sondern übte eine Kritik, die zum Teil mit Argumenten arbeitete, welche erst viel später wieder aufgegriffen und wissenschaftlich fundiert werden sollten. Doch so kritisch der Wissenschaftler war, in der abschließenden Würdigung - der einzigen Stelle, wo Nabholz wenigstens ansatzweise ein Schweizer-tum evozierte - meldete sich doch der Patriot zu Wort: Wenn auch die Befreiungstradition, «soweit es um die genaue Erfassung des rein äußerlichen staatlichen und rechtlichen Verlaufs der Dinge» gehe, «gewiß aus dem Gedächtnis ausgemerzt werden» müsse, so verkörpere diese «jedem Schweizer teure Überlieferung» doch die «seelische Grundstimmung, aus der heraus die Eidgenossenschaft geschaffen wurde» und die «heute noch im tiefsten Seelengrund des Schweizers» ruhe. Diesen Wert behalte die Tradition aber nur, wenn sie als das genommen werde, was sie sei - eben die «ideelle Seite» des Verlaufs der Dinge und nicht willkürlich in einen historischen Rahmen gezwängt werde56. So suchte Nabholz von der wissenschaftlichen Seite her die Grenze zwischen Mythos und Geschichte zu ziehen und dem Mythos seinen Die Alten Eidgenossen und wir: Zusammenfassung 1941 signalisierten die Schweizer mit ihren «Alten Eidgenossen» Bereitschaft bis zum letzten. Die Prüfung ist ihnen jedoch erspart geblieben. Andere haben gekämpft und gelitten und eine neue Friedensordnung errungen, die auch die Schweiz aus der Bedrängnis befreite. Wir aber wollen mit dem Jahre 1941 unseren Gang durch das muntere Treiben auf der «Brücke der nationalen Identität» abbrechen, und wir tun das mit Absicht. Denn die Welt hat sich in den letzten fünfzig Jahren unverkennbar verändert; ein Vorgang, der sich nicht nur äußerlich, sondern auch bewußtseinsmäßig voll-zogenhat. Dennochhat das Geschichtsbild, wie es zur Zeit der Geistigen Landesverteidigung konkretisiert worden ist, in einem beachtlichen Maß überdauert, weil es sich mit einem Gefühl der Bewährung verbunden hatte1. Andrerseits unterliegt der Stellenwert, der den einzelnen Elementen des Geschichtsbildes, ja der geschichtlichen Rückbesinnung überhaupt beigemessen wird, den unverkennbar unterschiedlichsten Gewichtungen bis hin zur Ablehnung national orientierter Geschichtsvorstellungen und bis zur völligen Interesselosigkeit. Der «Glaube an eine geschichtüche Aufgabe, die uns zur Nation verbindet»2, scheint abhanden gekommen zu sein. Es ist unnötig, an dieser Stelle das ganze Spektrum ausführlich darzustellen. Denn hier sind alle betroffen und können aus ihrem eigenen Erfahrungsschatz erwägen, welcher Sinn und welche Funktion der Rückbesinnung auf nationale Traditionen zukommen kann. Gerade hiefür kann das Wissen um das Werden und den Wandel des Traditionsbewußtseins anregend und hilfreich sein. In diesem Sinne seien die Hauptlinien unserer Darstellung zusammengefaßt. Die volkstümlichen Vorstellungen lassen sich Ende des 15. Jahrhunderts erstmals als kohärentes System erkennen. Darin erscheinen die Eidgenossen als diejenigen, welche die christliche Ständeordnung von Grund auf umgestürzt haben: Bei ihnen sind die Bauern an die Stelle des zur Herrschaft bestimmten Adels getreten. Diese geschichtliche Entwicklung ist gottgewollt; den Hauptbeweis hiefür liefert wiederum die Geschichte: gemeint sind die zahlreichen Schlachtensiege, verstanden als Gottesurteile zugunsten der Eidgenossen. Folgerichtig betrachten sich die Schweizer als Gottes auserwähltes Volk. Um diesen begnadeten Stand zu bewahren, müssen sie dem Wesen der Alten Eidgenossen treu, das heißt schlichte, selbstgenügsame, fromme und gerechte Bauerri bleiben. Wann aber der beschriebene Umbruch der Ständeordnung stattgefunden habe, darüber gab es verschiedene Auffassungen; am wirksamsten ist schließlich die Befreiungstradition geworden, die vollkommen in diese Vorstellungswelt eingebettet ist und gerade deshalb einen glaubhaften Ansatz für den Beginn des eidgenössischen Wesens anbot. Daß der Bauer dabei nicht mehr die soziale Realität, sondern eine ideologische Identifikationsfigur darstellt, versteht sich von selbst. Im übrigen war man sich damals bewußt, daß die geschichtliche Realität andere Züge aufgewiesen hatte, vor allem aber, daß die erlebte Aktualität - zu Beginn des 16. Jahrhunderts - diesen Idealvorstellungen nicht entsprach. In den folgenden Jahrhunderten bis zur Aufklärung werden diese Vorstellungen nahezu unverändert weiter tradiert. Lediglich die ständische Umsturzthese, die sich für jede Art Herrschaft als brisant erweist, wird von den regierenden Kreisen abgeschwächt, indem neben den Bauern auch ein guter Adel eingeführt wird, auf den sich nun die führenden Geschlechter zurückführen. Sonst aber wird das überkommene, vorteilhafte und in sich geschlossene Bild der «Alten Eidgenossen» bewahrt: «In den Fußstapfen der Vorfahren zu stehen», das beanspruchen 1 Vgl. die Auseinandersetzungen um die nationalen Helden zur Zeit der «Entmythologisierungskampagne» Marcel Becks und neuerdings anläßlich der Jubiläen (1986/ 1991). Für die Schulbücher vgl. Anliker Rene/ScHMiD Viktor, «Frei und auf ewig frei!» Politische Identität im Schweizer Geschichtsbild der Volksschule, Zürich 1980 (betr. Schulbücher von 1975). - Zur gegenwärtigen Spielart schweizerischer Identitätsvorstellungen, deren historische Dimensionen hier offengelegt wurden, vgl. Saurma Adalbert, Schweizer Treu und Glaube. Gedanken über das Eidgenössische, in: Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa, Hrg. Heinz Kleger/Alois Müller, München 1986 (Religion, Wissen, Kultur 3), S. 12H46. 3 Frisch Max, Schweiz ohne Armee? Ein Palaver, Zürich 1989, S. 39. Vgl. auch Bundesrat Kaspar Villigers Luzerner Rede vom 2. März 1989, die eine Absage an große Ideen zum Ausdruck brachte. Ansatzweise wird indes neuerdings das Konzept einer «geschichtlichen Aufgabe» der Schweiz erkennbar, wobei vor allem der Gotthardmythos wiederbelebt werden soll (Bundesrat Adolf Ogi über die Gotthardtransversale als schweizerischer Beitrag zum europäischen Binnenmarkt; Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz am 1. August 1989 auf dem Gotthard - Wiederaufnahme der gesamten Gotthardsymbolik zur Begründung einer weltoffenen Grundhaltung). die Reformierten wie die Katholiken und den Herrschenden gegenüber auch die bäuerlichen Untertanen für sich. Neben diesen Antagonismen wird immer eindrücklicher die Einigkeit der Alten Eidgenossen beschworen, zu der man zurückkehren müsse. Hierbei entsteht am Ende des 17. Jahrhunderts eine neue Formel der Identitätspräsentation: die Helvetia, dieneben dem allseits beanspruchten und belasteten Bild vom Schweizer Bauern gleichsam wertneutral erscheint. Bemerkenswert ist gesamthaft gesehen der Tatbestand, daß während dieser Jahrhunderte jenes Bild, das schon um 1500 seine volle Ausgestaltung gefunden hatte, die argumentative Grundlage für alle Auseinandersetzungen geliefert hat. Erst mit der Aufklärung kommt neues Leben in die «Alten Eidgenossen». Aus der Grundauffassung der eudämonistischen Philosophie heraus, die in der Pflege der Tugenden die künftige Glückseligkeit des Staates angelegt sieht, wird der Beschäftigung mit der Geschichte eine ganz neue Bedeutung zugemessen: Sie wird zur eigentlichen Tugendlehre, aus der der vernunftbegabte Mensch für sich die moralischen Konsequenzen ziehen kann. Das überkommene vorteilhafte Bild von den Alten Eidgenossen bietet sich hier als Grundlage geradezu an. In der Epoche der Alten Eidgenossen erkennt man nun das «güldene Zeitalter», wo die Glückseligkeit einmal erreicht worden war. So entwickelt sich das Bild zu einer rückwärts projizierten Utopie, in die nun - da es ja um die ganze Lebenshaltung geht - völlig unbefangen alle für notwendig erachteten Tugenden hineininterpretiert werden. So entsteht ein Bild von den Alten Eidgenossen, das auch die sozialen, ökonomischen und kulturellen Belange einbezieht. Die mangelnde historische Fundierung wird ersetzt durch die vermeintlich wissenschaftliche, biologisch-klimatische Erklärung des homo al-pinus. Als Folge davon wird der etwas gewöhnliche Ackerbauer als Identifikationsfigur durch den entrückten und idealisierten Hirten abgelöst. Hier entsteht nebenbei auch die Grundlage für den späteren Alpen- und Gotthardmythos. Mit dieser erzieherischen Utopie wird nun recht kreativ umgegangen: Man mißt sich nicht mehr bloß am übermächtigen Beispiel der Vorfahren, sondern setzt es in zeitgemäßer Form mit jeder tugendhaften Tat in die Gegenwart um. Die neuen Helden erkennt man jetzt in den Wissenschaftern, Dichtern, Künstlern und verdienten Patrioten. Das von den Aufklärern entworfene Bild wird von der Helvetik übernommen und in vielfältiger Weise propagandistisch für die eigene Legitimation und die Integration der Bevölkerung eingesetzt. Dadurch und durch die Reaktionen, welche die Helvetik damit auslöst, bewirkt sie eine breite Rezeption dieser Vorstellungen. In der Folgezeit wird das Bild von den Alten Eidgenossen im Sinne einer nationalen Integration im Kreise der Zofinger gepflegt, vor allem aber vom Schweizerischen Schützenverein und vom Militär propagiert, wobei man die Freiheit und Einigkeit der Alten betont. Im Vergleich zum aufklärerischen Bild stellt sich allerdings eine merkliche Verengung ein: Die Alten Eidgenossen sind nur noch Kriegshelden für die Freiheit, ihre Taten nur mehr Schlachten um die Freiheit, und die weiteren Tugenden werden höchstens so weit vermerkt, als sie die kriegerische Tüchtigkeit fördern. Auch der Antagonismus zwischen Radikalen sowie Konservativen im Kampf um den neuen Staat wirkt sich zusehends aus: Beide berufen sich in ihrer Argumentation auf die Alten Eidgenossen, wobei das Bild in der Rhetorik jener Tage zusätzlich eine holzschnittartige Vereinfachung erfährt. Nach der Gründung des Bundesstaates gewinnen die Alten Eidgenossen - in der nun erreichten Reduktion - ihre alle Schweizer einschließende nationale Identitätspräsentationsfunk-tion. Sie werden nun zum Ausdruck authentischen Schweizertums, j a zum verpflichtenden Vorbild für die Schuljugend. Hier ist denn auch die Überhöhung des Geschichtsbildes im nationalen Mythos anzusetzen. Daß dies auf einer Stufe starker Vereinfachung geschieht, macht die Stärke und die Schwäche des Mythos aus. So mißlingt trotz erkennbarer Bemühungen der Versuch, die Arbeiterschaft in diese Identitätsvorstellung mit einzubeziehen. Daß das heroisierende Bild mit seinen Ansprüchen der erlebten Wirklichkeit nicht standhält, erkennen kritische Geister schon damals. Im übrigen hat die kritische Geschichtswissenschaft ja dem Mythos die vermeintlich historische Grundlage zu Ende des 19. Jahrhunderts bereits entzogen. Im 20. Jahrhundert formt sich dann unter dem Eindruck der Sprachnationalismen und der auch in die Schweiz hineingreifenden großen Kulturräume der Alpen- und Gotthardmythos aus. Er bildet den Ausgangspunkt für die verschiedenen Spielarten eines geschichtlichen Sendungsbewußtseins der Schweiz im Herzen Europas. Unter dem Eindruck der aufkommenden totalitären Systeme wandelt er sich immer mehr zum alle einschließenden Kristallisations-kern einer auf sich selbst zurückverwiesenen Schweiz, bis schließlich in diesem «granitenen Fels» die Essenz des schweizerischen Staates erkannt wird, welche es auf jeden Fall zu verteidigen gilt. Diese auf geopolitische und tektoni-sche Gegebenheiten abgestützte Vorstellung erscheint von Anfang an auch durch die Geschichte bestimmt. Vom «Kernvolk» am Gotthard, der geschichtlichen «Urheimat», geht die 402 Staatsbildung aus, und das überkommene Bild von den Alten Eidgenossen konzentriert sich immer mehr auf die Innerschweizer Bergler. Die hier angesiedelten Gründungsmythen werden jetzt bewußt gefördert, in «patriotischer Frömmigkeit» (Gonzague de Reynold) hoch-und den totalitären Staatsreligionen entgegengehalten. In der innenpolitischen Auseinandersetzung bemächtigen sich die verschiedensten weltanschaulichen Tendenzen solcher Gründungsmythen wie auch der Alten Eidgenossen, bis sich dann Ende der dreißiger Jahre die Fronten klären und für alle Schweizer das Bild von den Alten Eidgenossen am Gotthard in der Landi 39 und in den Jubiläumsfeiern von 1941 in einer Geschlossenheit wie nie zuvor den für die Zeitgenossen überzeugenden Ausdruck findet. Aus der beschriebenen Entwicklung ergeben sich einige Erkenntnisse, die für die Reflexion über unser Traditionsbewußtsein hilfreich sein könnten und deshalb hier zur Diskussion gestellt seien: 1. Das volkstümliche Bild von den Alten Eidgenossen geht nicht auf die historische Wirklichkeit zurück, sondern auf eine in der geistigen Auseinandersetzung mit den Gegnern entwik-kelte spätmittelalterliche Ideologie, die eine sehr zeitbedingte Deutung der eigenen Geschichteenthält. 2. Die Wiedererweckung der Alten Eidgenossen zur Zeit der Aufklärung, die für die folgenden Epochen prägend wurde, beruht auf einem im Grunde ahistorischen, von einer zeitbedingten philosophischen Auffassung und Tugendlehre her bestimmten Umgang mit dem überkommenen spätmittelalterlichen Geschichtsbild. 3. Von Anfang an steht dem vorteilhaften Bild von den Alten Eidgenossen auch eine selbstkritische Tradition gegenüber, die das Idealbild an der aktuellen Wirklichkeit mißt. In den Dialogen zwischen alten und jungen Eidgenossen tritt sie uns am sinnfälligsten entgegen. 4. Die Verengung des Geschichtsbildes auf den wehrhaften Aspekt ist erst im 19. Jahrhundert erfolgt. Während vom 15, bis ins 18. Jahrhundert die Kriegsgeschichte als Beweis für die zentrale Vorstellung göttlicher Auserwähltheit der tugendhaften Eidgenossen diente, wird jetzt die Kriegstüchtigkeit selbst ins Zentrum gerückt; auf sie führen alle Tugenden hin. 5. Die Erhebung eines Geschichtsbildes zum nationalen Mythos gehört ebenfalls erst ins 19. Jahrhundert. Daß dies zur Zeit der Verengung des Geschichtsbildes auf den rein wehrhaften Aspekt geschah, ist für die selbstkritische Tradition zum Verhängnis geworden. Unter dem exklusiven Gebot des Mythos verstummt das Gespräch zwischen alten und jun- gen Eidgenossen - eben Eidgenossen hier wie dort. Die Selbstkritik wird im Traditionsbewußtsein marginalisiert. 6. Ganz abgesehen von der Idealisierung muß die im Bild von den Alten Eidgenossen angelegte Identitätspräsentation auch sonst nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Sowohl bei den durch eine städtische Kultur geprägten Führungsschichten wie später in der industrialisierten Schweiz ist das Identifikationsmuster bäuerkch-ländlichbestimmt. 7. Das Bild von den Alten Eigenossen ergibt nicht aus sich selbst heraus eine ethische und politische Grundhaltung. Es ist verfügbar und bedarf der Interpretation. Dabei ist es nicht dagegen gefeit, von zweifelhaften und der schweizerischen Staatsidee, ja selbst der Humanität zuwiderlaufenden Tendenzen vereinnahmt zu werden - so zur Zeit der Helvetik oder in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts. 8. Die Funktion des im Traditionsbewußtsein bewahrten Geschichtsbildes ist die der historischen Sinnstiftung, auf die der vielfältig segmentierte Kleinstaat Schweiz, der weder eine Sprach- noch eine Kulturnation ist, als Willensnation angewiesen zu sein scheint. Das schweizerische Selbstverständnis ist somit in hohem Maße durch ein nationalpolitisches Geschichtsbild geprägt. In Zeiten äußerer Bedrohung gewinnt dieses Bild immer wieder an Intensität und Geschlossenheit, verdichtet sich zur nationalen Norm, die nicht so sehr der Gegenwartsanalyse dient, sondern viel mehr der politischen Sammlung um patriotische Integrationssymbole. Zugleich wirkt das nationalpolitische Geschichtsbild abgrenzend, aber auch sinnstiftend im Verhältnis zum europäischen Umfeld - so in den verschiedenen Erscheinungsformen eines schweizerischen Sendungsbewußtseins. So verstanden wirkt die Idee vom Sonderfall Schweiz wie die säkularisierte Form der frühen Vorstellungen vom auserwählten Volk Gottes. 9. Bei aller Konstanz haben sich die Vorstellungen von den Alten Eidgenossen den Zeitumständen entsprechend gewandelt und gerade dadurch ihre Funktion gewahrt. Dabei sind sie kaum je einheitlich gewesen. Die Einheitlichkeit und Geschlossenheit des nationalpolitischen Geschichtsbildes zur Zeit der geistigen Landesverteidigung stellt die große Ausnahme, keinesfalls die Regel dar. Wenn heute dieses Bild verblaßt und - noch zögernd - durch andere Vorstellungen ersetzt wird, so hat das nichts mit dem Verlust des Traditionsbewußtseins zu tun, sondern ist Ausdruck eines lebendigen, interpretierenden Umgangs mit der eigenen Vergangenheit. 10. Das volkstümliche Geschichtsbild von den Alten Eidgenossen besitzt eine jahrhunderte- alte Tradition und war bereits fest etabliert, als die im modernen Sinn wissenschaftliche Geschichtsforschung einsetzte. Beide befassen sich auf völlig unterschiedliche Weise mit Geschichtlichem, was auch sofort zu heftigen Auseinandersetzungen voller Mißverständnisse geführt hat. Das Traditionsbewußtsein ist weitgehend durch eine konservative Grundhaltung bestimmt, welche die ins Selbstverständnis eingesickerten Geschichtsvorstellungen geradezu mit dem Ziel, die Identität zu bewahren, immer wieder wachruft und in dieser Wiederholung deren Bestätigung erkennt. Zugleich aber verleiht es diesen Vorstellungen in einem eher un-reflektierten Vorgang unter dem Einfluß der Zeitströmungen inhaltlich unterschiedlichste Botschaften. In dem Maß, wie diese Botschaften der Gemeinschaft insgesamt gelten, erfüllt das Traditionsbewußtsein für einen mentalitätsmäßig wie kulturell vielfältigen Kleinstaat eine wichtige integrative Funktion. Die im Traditionsbewußtsein mitgeführten Geschichtsauffassungen werden aber dadurch nicht «wahrer» . Die Geschichtswissenschaft hingegen ist durch eine kritisch-innovative Grundhaltung bestimmt, die mit immer wieder anderen Fragestellungen und neu entwickelten Methoden an die Quellen herantritt, die bestehenden «Lehrmeinungen» überprüft und neue Konzepte zur Deutung der geschichtlichen Entwicklung entwirft. Diese Fragestellungen, Methoden und Konzepte sind ihrerseits immer auch zeitbedingt. Daher können die Resultate, zu denen die Forschung führt, niemals als abgeschlossen gedacht werden. Aus einer gegensätzlichen Grundhaltung heraus folgen also Traditionsbewußtsein und Geschichtswissenschaft einem völlig anderen Diskurs, wenn auch gegenseitige Einflüsse nicht ausbleiben. Das dürfte gerade bei der Lektüre der verschiedenen Forschungsbeiträge in dieser dem nationalen Jubiläumsanlaß «700 Jahre Eidgenossenschaft 1291-1991» gewidmeten Festschrift doch deutlich geworden sein. Vermengt man die beiden Möglichkeiten, sich mit GeschichtUchem zu befassen, oder siedelt man sie auf derselben Ebene an, so ergeben sich bloß zahlreiche irritierende Mißverständnisse. Weder kann das Traditionsbewußtsein seine Vorstellungen einer Geschichtswissenschaft gegen ihre Erkenntnisse aufnötigen, ohne daß letztere tödlichen Schaden erleidet, noch kann es Ziel der Geschichtswissenschaft sein, die im Traditionsbewußtsein sich widerspiegelnden Identitätsvorstellungen zu korrigieren. Denn diese werden auf einer ganz anderen Ebene durch das gesamte gesellschaftliche Umfeld bestimmt. Emanzipatorisch kann die Geschichtswissenschaft hier nur in dem Sinne wirken, daß sie das Werden und den Wandel, die Beweggründe, Funktionen und auch Instru- mentalisierungen der im Traditionsbewußtsein mitgeführten Vorstellungen offenlegt und damit - durchaus im Rahmen eines nationalen Selbstverständnisses - deren politisch-ethische Begründungsbedürftigkeit aufzeigt. Diese Begründung aber wird nicht die Geschichtswissenschaft geben können; sie ist im Bereich des aktuellen geistigen und gesellschaftlichen Umfelds zu suchen, in dem letztlich jede Identitätserfahrung fußt. In ihrem ureigensten Bereich emanzipatorisch wirken kann die Geschichtswissenschaft allemal dadurch, daß sie jenem, der «aus der Geschichte lernen» will, den jeweils in wissenschaftlicher Verantwortimg gewonnenen Wissensstand über die geschichtliche Entwicklung als Alternative anbietet. Das ist in den vorausgegangenen Beiträgen hinsichthch der Frühgeschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft unternommen worden. Ob man diesem Wissen oder den traditionsbestimmten Geschichtsbildern eines «patriotischen Glaubens» den Vorzug geben will, bleibt schließUch jedem selbst anheimgestellt. * Unser Aufenthalt auf der geträumten Brücke der nationalen Identität geht zu Ende. Der Schreibende ist sich nur zu sehr bewußt, daß er bloß einen unvollkommenen Eindruck von dem «munteren Treiben», dem er in der Brückenhalle begegnet ist, hat wiedergeben können. Im Laufe seiner Forschung haben an die fünfzehn Generationen in einer verwirrenden Stimmenvielfalt auf ihn eingeredet, bald lauthals schreiend, bald bedächtig, bald rechthaberisch, bald schlicht gläubig, bald in fanatischem Eifer, bald betulich selbstzufrieden - immer und alle aber überzeugt. Von all dem bieten die vorausgegangenen Seiten nur einen Nachklang, in dem lediglich einige Leitthemen aus dem Stimmengewirr heraustreten. Manches ist fragwürdig geworden und verbleibt in diesem Schwebezustand, auch Widersprüchlichkeiten bleiben offen. Das mag irritieren. Aber gehört es letztlich nicht zu jenem Widerspruch, in dem sich -wie wir eingangs sahen - Gottfried Kellers Traumpferd bei seiner Behauptung von der «Identität der Nation» versteifte? Wie in jenem Traum sei auch hier das letzte Wort dem Goldfuchs überlassen. «, so antwortete der Gaul bedächtig, indem er sich auf allen vieren spreizte, wisse, wer diese heikle Frage zu beantworten und den Widerspruch zu lösen versteht, der ist ein Meister und arbeitet an der Identität selber mit. Wenn ich die richtige Antwort rund zu formulieren verstände, so wäre ich nicht ein Pferd, sondern längst hier an diese Wand gemalt.)»