DIE ENTSTEHUNG DER SCHWEIZ VOM BUNDESBRIEF 1291 ZUR NATIONALEN GESCHICHTSKULTUR DES 20. JAHRHUNDERTS Herausgegeben von Josef Wiget Schwyz 1999 nichtlinearen Zusammenhangs zwischen dem konventionellen 14C-Alter und dem wahren Alter wird im vorliegenden Fall der erlaubte Altersbereich nicht einfach nur vergrössert, sondern sogar in zwei getrennte Bereiche aufgetrennt. Das Integral über beide Bereiche liefert die Wahrscheinlichkeit, das wahre Alter in einem dieser beiden Bereiche zu finden mit folgendem Ergebnis: Mit einer Wahrscheinlichkeit von 85% liegt das wahre Alter zwischen 1252 und 1312 AD. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 15% könnte es aber auch irgendwo zwischen 1352 und 1385 AD liegen. Schlussfolgerungen Die Altersbestimmung des Bundesbriefpergaments hat zwei mögliche Zeitbereiche ergeben, wobei das angegebene Datum von 1291 innerhalb des älteren und auch wesentlich wahrscheinlicheren Zeitbereichs liegt. Die Vermutung, dass der Brief erst im 15. Jahrhundert geschrieben wurde, kann auf Grund der vorliegenden Messungen mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Die Möglichkeit, dass der Brief erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts geschrieben wurde, kann zwar nicht völlig ausgeschlossen werden, ist aber nicht nur aus methodischen, sondern auch aus historischen Gründen wenig wahrscheinlich. In diesem Zusammenhang sei noch erwähnt, dass der vorliegende Test nur eine Aussage über das Alter des Pergaments und nicht über den Zeitpunkt des Schreibens liefert. Es ist aber wiederum sehr unwahrscheinlich, dass ein Pergament präpariert und dann viele Jahre unbeschrieben liegen blieb. Aus dem Altertum ist hingegen bekannt, dass Schriftrollen über längere Zeiträume mehrmals benützt wurden. Solche Palimpsets können heute mit einem Infrarottest leicht identifiziert werden. Es wäre angebracht, mit Hilfe eines solchen Tests diese Möglichkeit auch im Fall des Bundesbriefs auszuschliessen. Verdankungen Die vorliegende Arbeit wurde von Peter Lippuner, Redaktionsleiter Naturwissenschaft, Technik und Medizin, und Hans-Peter Sigrist, Redaktor Menschen, Technik, Wissenschaft des Schweizer Fernsehens DRS, initiiert und organisiert. Die Probennahme ermöglichten Franz Auf der Maur, Archivadjunkt, und Erwin Horat, Archivar am Staatsarchiv Schwyz. Irka Hajdas war verantwortlich für die Probenaufbereitung. Wir danken allen Beteiligten für ihren Einsatz und die erfreuliche Zusammenarbeit. Der Bundesbrief von 1291: eine Fälschung? Perspektiven einer ungewohnten Diskussion Roger Sablonier Der in Schwyz aufbewahrte Bundesbrief von Anfang August 1291 ist im schweizerischen Geschichtsbewusstsein seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert tief als «Gründungsurkunde» der Schweizer Eidgenossenschaft verankert, und die seit 1891 gefeierten Staatsjubiläen nahmen auf dieses «Gründungsdatum» direkt Bezug. Ist das einzigartige Dokument aber auch wirklich echt, d.h. ist die überlieferte Urkunde wirklich 1291 entstanden? In den «Mitteilungen des Historischen. Vereins des Kantons Schwyz» von 1992 berichten Willy Woelfli und Georges Bonani über ihre £n der ETH Zürich mit Hilfe der Radiokarbon-Methode (Cl4-Datierung) durchgeführte Zeitbestimmung am Pergament des Bundesbriefs. Der hochinteressante Bericht weist über interdisziplinäre Methodendiskussionen zwischen archäologischer und historischer Forschung hinaus und zeigt neue Möglichkeiten auf, moderne C14-Datierungstechniken anzuwenden. Vielleicht erinnern sich auch noch einige Leserinnen und Leser an den entsprechenden Fernsehbeitrag in der Reihe «Menschen, Technik, Wissenschaft» vom 5. Juni 1991. Nach Ansicht der beiden Naturwissenschaftler führte das ungewöhnliche Experiment zu einem klaren Resultat: Die Messungen ergaben, dass das Pergament, auf dem der Bundesbrief von 1291 geschrieben ist, mit grösster Wahrscheinlichkeit in der Zeit um 1280 gewonnen worden ist. Die Echtheit des Bundesbriefs im Sinne der Frage, ob die Urkunde tatsächlich, wie im zeitgenössischen Text selber angegeben, zu Beginn des Monats August 1291 entstanden ist, glauben sie bestätigen zu können. «Nachdem unterdessen die Echtheit des Bundesbriefes auch mittels natur-wissenschafdicher Methoden anerkannt worden ist, dürfen wir alle getrost ins achte eidgenössische Jahrhundert fahren» - so kommentiert Josef Wiget im Jahresbericht des Präsidenten in den gleichen «Mitteilungen» 1992 das genannte Untersuchungs-Resultat. Der leicht ironische Unterton in diesem Satz trifft sich gut mit meiner eigenen Uberzeugung, dass heutzutage allein wegen allfälliger quellenkritischer Probleme mit dem Bundesbrief niemand Angst für die Zukunft der Schweiz zu haben braucht. Uber die Bewertung des Untersuchungsresultats können die Ansichten allerdings auseinandergehen. Die Redaktion der «Mitteilungen» bietet mir freundlicherweise die Möglichkeit, in der lockeren Form eines persönlichen Kommentars - wissenschafdiche Anmerkungen sind zum Thema Bundesbrief schon genug geschrieben worden - darauf zurückzukommen. Allerdings: Stellt sich denn die Frage nach der Echtheit überhaupt? Und: Muss das wirklich sein? Das Besondere der Situation verlangt einige Vorbemerkungen. 126 127 Sind Zweifel überhaupt möglich? Kann überhaupt an der Echtheit des im Bundesbriefatchiv zu Schwyz aufbewahrten Bundesbriefs von 1291 gezweifelt werden? Das ist sicher die erste Frage, die sich beim Lesen der genannten Untersuchungsresultate stellt. Schliesslich nennt die Urkunde selber ein Datum, und an diesem für die Schweizergeschichte so wichtigen Datum hat bisher niemand gezweifelt. So reagierten wohl vielfach Leserinnen und Leser des Artikels, und das ist verständlich, aus wissenschaftlicher Sicht aber nicht unbedingt die überzeugendste Argumentation. Zur Begründung der Vorbehalte muss ich im folgenden kurz auf die histo-riographische Lage rund um die Erforschung der sogenannten «Gründungszeic» eingehen. Bekanntlich ist es ein klassisches, seit dem 19. Jahrhundert immer und immer wieder diskutiertes Problem, dass die chronikalisch-erzählenden Berichte über die Frühzeit der Eidgenossenschaft ganz unverbunden neben den urkundlichen Nachrichten aus der Zeit um 1300 stehen. Auf der einen Seite kennen wir die rechtsformalen Akte wie das Bündnis von 1291, also fast ausschliesslich auf Rechtshandlungen bezogene, oft trocken-formalistische und inhaltlich dürftige Urkunden, von denen zudem noch um 1300 sehr wenige - für die Zeit von 1282 bis 1291 betreffen höchstens zehn Urkunden schwyzerische Angelegenheiten - überhaupt vorhanden sind. Auf der andern Seite steht die chronikalische Befteiungstradition. Diese hatte sich seit dem Berner Chronisten Justinger und dem sogenannten Weissen Buch aus Obwalden zunächst in unterschiedlicher, dann in einer immer stärker auf bestimmte Vorstellungen konzentrierten Form im 15. Jahrhundert entwickelt. Es sind dies die farbigen Bilder von bösen Vögten, Widerstand, Tellentat, Burgenbruch und Bundes-schwur, die schon im 16. Jahrhundert von Aegidius Tschudi glanzvoll zu einem Gesamtbild der Anfänge zusammengefügt worden sind. Seit langem ist bekannt, dass nicht einfach entweder die urkundliche oder die chronikalische Überlieferung richtig ist, dass also die beiden unterschiedlichen Überlieferungsströme nicht einfach ein Entweder-Oder darstellen. Verbindungen wurden von den Historikern auf ganz verschiedene Weise konstruiert, grundsätzlich wurde dabei allerdings immer versucht, die chronikalischen Berichte als «wahr» zu erweisen, im Sinne der Erschliessung inhaltlicher Übereinstimmungen mit den als «objektiv» aufgefassten urkundlichen Nachrichten. Heute wissen wir, dass auch mit dem allergrössten Aufwand an Gelehrsamkeit ein solches Vorgehen nicht zu überzeugenden Resultaten führt. Ich teile zudem die heute vorherrschende Forschungsmeinung, dass dieser Weg methodisch falsch ist. Er zielt am überlieferungsgeschichtlichen, kommunikationstechnischen und literarischen Charakter der chronikalischen Überlieferung vorbei, eine Überlieferung, die in ihrer heute bekannten Gestalt jedenfalls erst im 15. Jahrhundert entstanden ist und in wichtigen Teilen auch nicht, das nebenbei, direkten «volkstümlichen» Charakter besitzt. Chronikalische Berichte sind keine Reportagen, sondern nach besonderen Regeln sorgfältig konstruierte 128 Das Nidwaldner- oder Unrerwaldner-Siegel am Bundesbrief von 1291. 129 Bilder, nach Vorstellungen und Absichten, die auf ihre eigene Art «Wahrheiten» vermitteln wollen. Die eidgenössischen Chroniken dienten ausgeprägt der staatlichen Rechtfertigung, also politisch-propagandistischen Zwecken. Gehören diese Einsichten in den Charakter der chronikalischen Überlieferung heute bereits zum Allgemeingut, so sind erst in letzter Zeit auch ganz neue methodische Überlegungen zum Charakter des urkundlichen Schriftgutes aktuell geworden. Darauf wird ausführlich zurückzukommen sein. Aber auch schon auf dem bisherigen Forschungsstand sind von alters her einige Fragen beim Bundesbrief selber ungelöst, wie natürlich auch bei manchen anderen Schriftstücken aus der Zeit. Tatsächlich stimmt auffallend viel nicht so recht zusammen: Form und Stil des Briefes sind im Vergleich eher ungewöhnlich, und der (nach Ladner) auffallend schreibkundige Schreiber ist in anderen Schriftstücken der Zeit (bisher) nicht nachweisbar. Der Umstand, dass der Brief im 15. und 16. Jahrhundert offensichtlich kaum beisannt war und erst im 18. Jahrhundert wieder neu entdeckt wurde, ergibt doch eine reichlich seltsame Überlieferungs-geschichte. Bis heute nicht endgültig geklärt ist, warum anstelle eines zu erwartenden Unterwaldner nur ein Siegel der «universitas hominum de Stannes» (im Text selber als «conmunitas hominum Intramontanorum Vallis Inferioris» bezeichnet!), daran hängt, ein Siegel also, das zunächst eher auf Nidwaiden bezogen werden müsste und dessen Legende entsprechend durch nachträgliches Eingraben einer Ergänzung auch auf Obwalden erweitert worden ist. Zudem fehlt das Schwyzer Siegel, obschon das einzige erhaltene Original der Urkunde ausgerechnet in Schwyz überliefert ist. Und warum ist mit der sogenannten Nidwaldner Fassung nur eine einzige echte deutsche Übersetzung vorhanden, gemäss Bruno Meyer der Schrift nach zu schliessen aus dem Ende des 14. oder aus dem beginnenden 15. Jahrhundert? Diese und andere auffällige Merkwürdigkeiten des Bundesbriefes kumulieren sich in recht ungewöhnlicher Weise. Es gibt jedoch für alle diese merkwürdigen Details mehr oder minder plausible Erklärungen, die eine Entstehung des berühmten Dokuments um 1291 trotz allem als möglich erscheinen lassen. Entsprechend besteht in der heutigen Geschichtswissenschaft der breite Konsens, dass einer Datierung des berühmten Schriftstücks auf Ende Juli/anfangs August 1291 nichts im Wege steht. Diese Auffassung wird auch von Pascal Ladner in seinem Aufsatz über urkundenkritische Aspekte des Bundesbriefs in den «Mitteilungen» von 1991 vertreten. Es handelt sich dabei um die erste spezialdiplomatische Auseinandersetzung mit dem Bundesbrief als Ganzes seit Jahrzehnten, übrigens in einerwohltuend kurzen und sachlichen Darstellungsweise. Für die Kenntnis des weiteren Umfelds der mittelalterlichen Urkundenüberlieferung für die Innerschweiz überhaupt sind ausserdem die kompetenten Kommentare von Bernhard Stettier zu den bei Tschudi vorhandenen Urkunden (wo ja interessanterweise gerade der Brief von 1291 fehlt) sehr wertvoll. Dem allgemeinen Konsens über die Echtheit des Bundesbriefs schloss ich mich bisher ohne weiteres an, nur schon aus dem einfachen Grund, weil es für die Geschichtsforschung heute tatsächlich viel wichtigere Probleme gibt. Bei •r \ i - y. *• -xffiX-Sj ........... MisfM'^UJ-'"/*' ■V.^)-,«.JL.:..'CÍ.'ftlS^aíK;. < «« n-_„_„. f'^aji^ «rjfii *,n>« co „ „ 4, U.V. ^ - 4>J " r r „1} „1 -~ J>*-Ö3)B Die sogenanncc Nidwaldner Fassung des Bundesbrieres von 1291, die einzige echte zeitgenossische Übersetzung. näherem Hinsehen und angesichts der aktuellen Bedeutung, die dieses Dokument 1991 dann doch wieder erhalten hat, bekam für mich jedoch eine eher seltsame Feststellung immer mehr Gewicht: Alle mir bekannten ernst zu nehmenden Argumentationen in der Fachliteratur seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts - von Ladner wird die Frage nach der Echtheit als überflüssig schon gar nicht mehr gestellt - sind einseitig oder stillschweigend auf die «Echtheit» ausgerichtet. Ist das nicht problematisch? Warum wurde trotz allem nicht auch einmal umgekehrt und ganz konkret nach der Möglichkeit einer Fälschung gefragt, wie es schon im 19. Jahrhundert der berühmte Urkundenspezialist Harry Bresslau verlangt hatte? Ich meine, dies sei nicht in erster Linie darauf zurückzuführen, dass sich die Fälschungsfrage wissenschaftlich gar nicht stellen würde. Eine umfassende spezialdiplomatische Untersuchung des Bundesbriefs hatte früher gar nie stattgefunden, erstaunlicherweise auch nicht durch Bruno Meyer, der doch die heute massgebliche Textedition mit ausführlichem Kommentar für das «Quellenwerk zur Entstehung der Eidgenossenschaft» erstellt hat. Die forschungsgeschichtlich bedingte Tatsache, dass ganz genetell die urkundenkritische Aufarbeitung des regionalen Urkundenbesrandes zu wünschen übrig lässt, ist dafür auch nicht allein verantwortlich zu machen. Umgekehrt wäre ja der Fälschungsverdacht an sich völlig harmlos und alltäglich: Jeder Mediävist weiss, dass Hunderte von überlieferten Urkunden des Mittelalters (gerade etwa «Gründungs»-Privilegien) gefälscht, mit unechten Teilen durchsetzt oder nachträglich hergestellt worden sind. Warum also wurde die Echt- 130 131 heitsfrage nicht ausdiskutiert? Es braucht nicht viel Phantasie, um in erster Linie politische Gründe zu vermuten, insbesondere in den Zeiten geistiger Landesverteidigung während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Es hätte einfach nicht sein dürfen, und das macht auch die Haltung der Fachhistorie verständlicher. Darf und soll die Fälschungsfrage untersucht werden? Das Dürfen ist heute tatsächlich kein Problem mehr. So gab es offenbar auch auf die damalige Fernsehsendung mit den Naturwissenschaftlern nur vereinzelte negative Reaktionen. Einige meiner Vorgänger aus der Historikerzunft haben anderes erlebt, in einer Art und Weise, die heute wissenschaftlich Interessierten einer jüngeren Generation schon kaum mehr begreiflich ist. Beileibe nicht der einzige,aber sicher der bekannteste Skeptiker war der 1986 verstorbene Zürcher Universitätslehrer Marcel Beck. Selbsternannte Hüter der Tradition grenzten ihn wegen dieser Skepsis aus der erlauchten Gemeinschaft der «echten» Wissenschaftler aus und diffamierten ihn wirksam als publikumsgierigen Mythenstürmer. Dabei wagte er nur ganz selten und hinter vorgehaltener Hand zum Gaudium respektloser Studierender die Bemerkung, der Bundesbrief sei doch höchstens eine gelehrte Schreibübung eines zugelaufenen Klerikers - was in dieser Form nicht stimmen kann, aber auch eher als Denkanstoss denn als Forschungsresultat gemeint war. Die Zeiten haben sich geändert, und das Thema ist nicht mehr in den Giftschrank der schon fast selbstmörderischen nationalen Ketzerei verbannt. Heute ist es ohne weiteres erlaubt, wie bei zahlreichen anderen mittelalterlichen Urkunden, auch bei diesem besonders wertvollen Dokument eidgenössischer Nationalgeschichte nach der Echtheit zu fragen. Das ist nicht nur dem Lauf der Zeit - sprich der befreienden Veränderung des politischen Klimas - zu verdanken. Befreiend hat auch eine wesentliche Innovation innerhalb der Geschichtsforschung gewirkt: Unterdessen ist endgültig klar geworden, dass die Frage nach der tatsächlichen Bedeutung dieses Dokuments in der Zeit um 1300 etwas anderes ist als das Problem, welche symbolische Bedeutung dem Bundesbrief seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert im nationalen schweizerischen Geschichtsbild und für die nationale Einigung überhaupt zukam. Allen voran Guy P. Marchai konnte klarstellen - ich verweise hier unter anderem auf seinen Aufsatz in den «Mitteilungen» von 1990 -, wie sehr der symbolische Gehalt bzw. das nationale Verständnis dieser eidgenössischen Befreiungsgeschichte eine reale geschichtliche Bedeutung erlangt hat für die moderne Schweiz des 19. und 20. Jahrhunderts. Dieser Symbolgehalt reicht bis hin zum Bundesbriefarchiv, das heute schon für sich selber als ein Denkmal ersten Ranges aufzufassen ist. Hier stellt der Brief von 1291 die wichtigste nationale Profanreliquie dar, den zentralsten aller «lieux de memoire» (Gedachtnisorte) des 1848 gegründeten Bundesstaates. Dass die Wirkungsgeschichte von Vorstellungen des 19. Jahrhunderts über die «Gründung» für die an Schweizerge- schichte interessierten Historikerinnen und Historiker als wissenschaftliches, nientalitäts- und ideologiegeschichtliches Problem erforschbar ist und sogar ausserordentlich interessant sein muss, ist gar keine Frage mehr und kann, so zeigte sich 1991 ganz klar, nicht einmal mehr von den eifrigsten patriotischen Mythenverwaltern als sogenannte Mythenstürmerei diffamiert oder gar anathematisiert werden. Was demgegenüber die Erforschung der «Gründungs»-Zeit um 1300 herum selber angeht, muss ein grosses Verdienst von Hans Conrad Peyer erwähnt werden: Mit seiner sorgfältig ausgewogenen Darstellung der Anfänge der Eidgenossenschaft 1972 im Handbuch der Schweizergeschichte hat er den Karren, der von einer zerstrittenen Historikergeneration tief in die Gräben persönlicher Querelen hineingefahren worden war, rücksichtsvoll und wenigstens rückwärts wieder herausgezogen. Die Veränderung im politischen Klima, vor allem aber auch alle die genannten wissenschaftlichen Leistungen machen den Weg frei dafür, die Zeit um 1300 und die in Tat und Wahrheit zahlreichen ungelösten Fragen um den Bundesbrief von 1291 ohne Belastung, ganz nüchtern und in Kenntnis heutiger wissenschaftlicher Methoden neu zu beurteilen. Nüchtern will besagen, sich endgültig von jenem überholten Verständnis von Geschichte zu lösen, das viel zu sehr einer als nationalpädagogische Aufgabe verstandenen Selbstzensur verpflichtet ist. Zu häufig wurde in Sachen «eidgenössische Vergangenheit» zugunsten des überzeugungsorientierten Argumentierens die echte, erkenntnisorientierte, eben die «wissenschaftliche» Neugier zurückgedrängt. Die Beurteilung nach dem Stand heutiger wissenschaftlicher Methoden bedeutet, dass - wie jetzt geschehen - beispielsweise naturwissenschaftliche Möglichkeiten zur Altersbestimmung genutzt werden, dass aber auch die Vermehrung der Kenntnisse und ' die methodischen Fortschritte bei der Quellenkritik zur Anwendung kommen, f So weit, so gut! Eine letzte wichtige Frage muss unter den Vorbemerkungen I trotzdem beantwortet werden: Soll überhaupt die Diskussion nochmals aufge- i griffen werden? Ist das sinnvoll? Unter Historikern meiner Generation weckt i das Thema «Gründungszeit» noch heute sehr zwiespältige Erinnerungen an kaum nachvollziehbare Streitigkeiten unter den Vorgängern, ja angesichts der Sturzbäche von akribischer und rechthaberischer Gelehrtenlogik, die sich darüber ergossen haben, sogar ausgeprägte Unlustgefühle. Geht es allein darum, Themen und Fragen der Geschichte des schweizerischen Raumes um 1300 gewichten zu müssen, kommt vielem anderem als dem Bundesbrief eine bedeutend höhere Forschungspriorität zu. Ferner haben gerade die mit grösstem Aufwand an Detailklauberei geführten Auseinandersetzungen mit dem Inhalt des Bundesbriefes (insbesondere durch Bruno Meyer) den historiographisch-natio-nalpädagogischen Topos einer «Staatsgründung» definitiv erschüttert und zum Resultat geführt, dass wir mit der Urkunde von 1291 einen in der Zeit keineswegs unüblichen Akt der Friedenssicherung vor uns haben. Eine solche «normalisierte» Sichtweise gehört heute zum wissenschaftlichen Allgemeingut und dringt nach und nach doch auch ins Geschichtswissen breiter Bevölkerungskreise ein. Mit dieser Sichtweise war doch schon ein erster wichtiger Schritt 132 133 ■ getan, dem Bundesbrief von 1291 etwas von jener fast katechisierten Überhöhung zu nehmen, die ihm seit 1891 zuteil geworden war. Trotzdem: Eine erneute Auseinandersetzung mit dem Problem Bundesbrief stösst angesichts der nationalen Bedeutung dieses Dokuments immer noch auf öffentliches Interesse, und sie ist in einem gewissen Sinne sogar notwendig. Die Quellenbasis hat sich zwar nicht erweitert, es sind jedoch neue methodische Möglichkeiten und Einsichten dazugekommen. Sie müssen genutzt werden, da es ja um Forschungsfortschritte und nicht einfach um eine beliebige «neue Sicht» - wie das manchmal mit wissenschaftsfeindlicher Stossrichtung behauptet wird - geht. Zu diesen neuen Möglichkeiten gehören zunächst einmal naturwissenschaftliche Zeitbestimmungstechniken. . Forschungs-High-Tech und offene Fragen Die vom Fernsehen DRS angebotene Möglichkeit, einmal mit der Radiokarbon-Methode die Sachlage zu überprüfen, habe ich seinerzeit sehr begrüsst. Warum sollte ausgerechnet diese neue Chance, einen Erkenntnisfortschritt zu erzielen, nicht aufgegriffen werden? Ich habe also - zurückhaltendere Kollegen mögen mir das verzeihen - gerne mitgemacht, obschon in Fernsehsendungen differenzierte Aussagen, die nun einmal die mir eher vertraute wissenschaftliche Argumentationsweise prägen, nur selten möglich sind. Als an bescheidene Apparaturen gewöhnter Archivquellen-Verwerter erlebte ich das Ganze als glanzvolle Inszenierung von Forschungs-High-Tech, für mich allerdings nicht unbedingt ein Grund zu mehr Vertrauen in die Resultate. Ausdrücklich hervorheben möchte ich jedoch die - entgegen oft gehörter Pauschalvorwürfe -äusserst sorgfältige und verständnisvolle Vorbereitung und Durchführung durch das Fernsehteam der Sendereihe MTW. Auch ist es nicht alltäglich, dass sich hochkompetente naturwissenschaftliche Spezialisten eines Problems unserer (für sie doch recht abseits liegenden) Wissenschaft annehmen, zudem in einer Frage, bei der sie sich je nach Resultat ganz unverdienterweise auch einigen Ärger aus der Ecke wissenschaftsfeindlicher Fundamentalisten hätten holen können. Ist mit der aufwendigen naturwissenschaftlichen Untersuchung nun tatsächlich etwas Brauchbares herausgekommen? Die Frage darf gestellt werden, ohne in irgendeiner Weise die Kompetenz der Durchführenden anzuzweifeln. Die Folgerungen der Autoren sind, um sie nochmals zusammenzufassen, eindeutig: Sie schliessen eine spätere Entstehung als das 14. Jahrhundert aus und halten das angegebene Datum von 1291 für wesentlich wahrscheinlicher als alles andere. Die Tatsache, dass nur das (wahrscheinliche) Alter des Pergaments, nicht aber das Datum des Schreibens bestimmt werden konnte, scheint ihnen aus historischen Überlegungen unerheblich. Sie räumen immerhin ein, dass ein Infrarot-Test noch definitiv klären müsste, ob es sich nicht um ein altes, später aber gereinigtes und wiederverwendetes Stück Pergament handelt, sind doch ff»— Die Übertragung des Bundesbnefes ms neue Archiv. I solche wiederverwendete Schreibunterlagen (sog. Palimpseste) durchaus schon f im Altertum nachweisbar. I Alles klar? Nach meiner Meinung gar nicht, und ich will dies kurz begrün- l den. Im nachhinein müssen zunächst gewisse Mängel der Untersuchungsanlage ; genannt werden. So war es nicht möglich, auch den Siegelstreifen oder noch besser den Siegeln selber eine Materialprobe zu entnehmen. Deren Untersuchung wäre für eine zuverlässige Beurteilung des Herstellungsvorgangs und für die wichtige Frage, ob die vorhandenen Siegel gleichzeitig angebracht worden sind, von erheblicher Bedeutung gewesen. Interessant zu wissen wäre auch, ob andere (bzw. bestimmte andere) innerschweizerische Urkunden aus dem Jahre 1291 die selben Messwerte ergeben hätten. Solche Mängel, durch die Rahmenbedingungen unausweichlich gegeben, haben gewisse Vorbehalte gegenüber dem Resultat zur Folge. Sie sind aber weniger wichtig als eine zweite Kategorie von Unsicherheiten: Zu welchem Zeitpunkt das vorliegende Pergament mit dem heute vorliegenden Text beschrieben wurde, ist nicht definitiv geklärt. Das gestehen sich die Verfasser der Studie grundsätzlich - im Widerspruch zu ihrer Behauptung, eine Herstellung erst im 15. Jahrhundert könne mit Sicherheit ausgeschlossen werden - ebenfalls ein. 134 135 Aber selbst unter der Annahme, dass ein einmal gewonnenes und gekauftes Pergament nicht allzulange unbenutzt geblieben ist, stellen sich Probleme: Ein Zeitrahmen, der für das Pergament selber innerhalb der Wahrscheinlichkeitsstufe 85% immerhin bis 1312 reicht (dazu könnten ja doch noch einige Jahre des unbenutzten Herumliegens kommen), ist für eine historische Argumentation zu wenig präzis. Es handelt sich im übrigen um ein für die Zeit relativ breites Format, wie es meines Wissens (in der Gegend selber) vor allem bei Urkunden aus Städten und aus dem Kloster Einsiedeln verwendet worden ist, alles Orte, wo grössere Pergamentvorräte möglich wären. Ein weiteres gewichtiges Argument: Das zweite statistisch relevante Zeitniveau (mit einer Wahrscheinlichkeit von 15%, neben 85% von 1252 bis 1312) für die Gewinnung des Pergaments liegt offenbar zwischen 1352 und 1385. Zudem bleibt, wenn ich die Ausführungen lichtig verstehe, insgesamt doch ein «Restrisiko» von 5%, die Datierung ausserhalb der Zeit zwischen 1252 und 1385 ansetzen zu müssen. Könnte bei einem einmaligen historischen Geschehen das, was möglich ist, nicht auch eben tatsächlich zutreffen, geringere statistische Wahrscheinlichkeit hin oder her? Dass die Autoren als Resultat ihrer Messwerte sozusagen eine Maximalvariante - also die schon fast zur Gewissheit verdichtete Variante Echtheit im Sinne der Entstehung am in der Urkunde selber genannten Datum - wählten, ist verständlich, auf dem Hintergrund der damals stark emotionalisierten Atmosphäre erst recht. Schliesslich konnten sie als NichtSpezialisten auf historischem Gebiet nicht richtig einschätzen, wie weit in mittelalterlichen Urkunden Handlung und Beurkundung zeitlich und örtlich auseinanderliegen kön-v nen und wie häufig die Rückdatierung von rechtlichen Vorgängen vorkommt. Demgegenüber würde die Minimalvariante, dass letztlich mit der naturwissenschaftlichen Untersuchung überhaupt nichts gewonnen und die Sache nach wie vor gänzlich offen sei, aus meiner Sicht der Situation nicht ganz gerecht. Aber zwischendrin scheint mir eine Version zu liegen, die nicht einfach wegzudisku-tieren ist: Aus der statistischen Argumentation kann auch der Schluss gezogen werden, dass eine Entstehung des Bundesbriefes nach 1350 bzw. im Laufe des ganzen 14. Jahrhundetts (und sogar danach) durchaus in einen realen Bereich des Möglichen rückt. Die Untersuchungsergebnisse könnten also sinnigerweise gerade die Zweifel am heutigen Konsens stützen. Denkt man an die fast unendlichen Diskussionen um die Entstehungsumstände im Jahre 1291, dann wäre nur schon mit einer möglichen Entstehung des Briefes erst um 1309 oder 1316 eine völlig neue Situation für die Interpretation der politischen Vorgänge in dieser Zeit gegeben. So gesehen, muss der Spiess nicht einmal vollständig umgedreht werden, um einzusehen, dass die Anwendung der Radiokarbon-Methode letztlich nicht allzuviel Sicheres gebracht hat; ich sage das mit Bedauern und nicht als Kritik an der Zielsetzung. Die publizierte Untersuchung lässt trotz der Meinung ihrer Verfasser auch jetzt noch zu viele wichtige Fragen offen. Das anstehende Problem der Echtheit des Bundesbriefs ist mit der naturwissenschaftlichen Analyse des Pergaments keineswegs gelöst. In der mit geschichts- und staatsideologi- Isehen Schlagworten wesentlich weniger belasteten Zeit nach dem Jubiläum fällt eine solche Aussage nicht meht so schwer wie 1991. Damals hätte eine entsprechende Diskussion fast als murwillige Gefährdung des eidgenössischen Festwillens erscheinen können. Heute sollte es möglich sein, die Frage ohne falsche Prämissen und mit der nötigen Gelassenheit nochmals anzugehen, auch von historischer Seite. Nicht um alte bzw. längst kalte Gluten wieder anzufachen, und auch nicht, um das letzte Wort zu haben. Schon ganz und gar nicht in jener gestrengen, zu Zeiten von Karl und Bruno Meyer bitterbös rechthaberischen und geradezu wahrheitsfanatischen Ernsthaftigkeit, mit der nach Wilhelm Oechsli während Jahrzehnten monumentale Gebäude von Gelehrsamkeit rund um die «Gründung» und den Bundesbrief von 1291 errichtet worden sind. Geschichte mit Augenmass, aber auch mit Augenzwinkern kann dennoch ernst gemeint sein. In diesem Sinne möchte ich im folgenden versuchen, einige unkonventionelle Gedanken in diese Diskussion einzubringen. Dazu noch eine allgemeine Bemerkung: Der «gewöhnliche» Historiker, der sich mit dem schwierigen textlichen Inhalt und der oft merkwürdigen Überlieferungsgeschichte solcher seltener Pergamente herumschlagen muss, ist sich bei seiner Arbeit immer bewusst, dass unter Umständen auf wichtige Fragen gar keine definitiven Antworten möglich sind. Zumindest sind wir gewohnt, dass bei unserer Tätigkeit häufig Beurteilungsfragen anstehen und unterschiedliche Interpretationen möglich sind. Ich glaube nicht, dass wir deshalb neidvoll auf die imponierende Messgeräte-Kulisse schielen müssen, welche der naturwissenschaftlichen Unter- I suchung das Eruieren oder wenigstens das Verbreiten von Wahrheit erleichtert. I Auch im Bericht von Wölfli und Bonani werden übrigens zahlreiche historische I Ermessensentscheide indirekt mitverwendet. I Ich schlage also vor, Argumente für eine Fälschung einmal ernsthaft auch i von historischer Seite zu prüfen, und ich bin der Meinung, dass sich zumindest I das Gedankenexperiment lohnt. Gtundsätzliche Überlegungen zum Problem ergeben sich vor allem aus der erst neuerdings aufgekommenen Forschungsdis-i kussion zur Frage der Funktion von Schriftlichkeit in der mittelalterlichen Gesellschaft. Tatsächlich rechtfertigen in besonderem Masse solche methodisch neuartigen Zugänge, das Problem gezielt nochmals aufzugreifen. «Fälschung» und Schriftlichkeit Um über das Problem «Fälschung» zu diskutieren, sind die oben schon genannten Merkwürdigkeiten allein nicht ausschlaggebend. Fast alle Ungereimtheiten lassen sich irgendwie (wenn auch manchmal nur mit grossen Verrenkungen) erklären. Und es liegt durchaus innerhalb des plausiblen Ermessensspielraums, in den politischen Umständen um 1291 mögliche Voraussetzungen für die Entstehung des Bundesbriefs zu sehen. Trotzdem: Die selben Umstände könnten auch für eine spätere Rückdatierung eines solchen Schriftstückes massgeblich sein; 136 137 zudem ist der Ermessensspielraum in die Richtung einer erst späteren Entstehung ebenfalls gegeben. Fragen in Richtung Fälschung stellen sich zunächst schon aus ganz traditionellen Überlegungen zur frühen Übeiiicfcrungsgcschichte. Für eine spätere Entstehung spricht ein grosses, bisher nie richtig ausdiskutiertes Problem dieser Überlieferung: dass nämlich der Brief von 1291, der doch selber explizit auf eine «antiqua forma confoederationis», d.h. nach allgemeiner Meinung auf ein (schriftliches) älteres Bündnis verweist, im nach der Schlacht am Morgarten -also mit konkretem Anlass - entstandenen Vertrag der drei Länderorte vom 9. Dezember 1315 nicht erwähnt wird, übrigens ebenfalls nicht im Vertrag vom 16. Oktober 1291 zwischen Zürich, Uri und Schwyz. Die gängige Bezeichnung des Briefes von 1315 als Übersetzung ist unrichtig und wäre so oder so keine Erklärung für diese Lücke. Nun ist zwar das Argument der Nichterwähnung nicht unbedingt zwingend. Ich sehe aber zurzeit wirklich keine plausible Erklärung dafür, dass eine Vereinbarung, der eine derartige Wichtigkeit für den Anfang der Bundestradition zukommen soll, schon unmittelbar darauf in einem ganz ähnlichen Rechtsakt bzw. Schriftstück einfach nicht mehr erwähnt wird. Im übrigen ist beizufügen, dass der Brief von 1291 für die zur Hauptsache von den Bündnissen nach 1351 ausgehende, um 1500 unzweifelhaft vorhandene gesamteidgenössische Bundestradition eigentlich keine Rolle spielte. Möglicherweise wurde er aus diesem Grund von Aegidius Tschudi gar nicht beachtet, wenn er ihn überhaupt kannte. Die Fälschungsfrage verlangt allerdings noch eingehendere Erörterungen, weit über die seltsame Überlieferungsgeschichte hinaus. Sehen wir zunächst von einer allzu skeptischen These (die Idee ist nicht neu) ab, nämlich dass ein gebildeter und geltungssüchtiger Publizist und Patriot des 18. Jahrhunderts ein solches Schriftstück als bewusster Fälscher auf einem alten Pergament und in gekonnt archaisierender Weise herstellen liess. Das ist zwar ein sonst gar nicht so seltener Vorgang und kann auch in unserem Falle immer noch nicht völlig ausgeschlossen werden. Er dürfte aber doch eher unwahrscheinlich sein, aus meiner Sicht vor allem wegen der nach Bruno Meyer auf das 15. Jahrhundert datieibaren Dorsualnotiz auf dem Original, auch wegen der aufgrund der Schrift um 1400 zu datierenden deutschen Fassung aus Nidwaiden. Emsthafter in Frage kommt dagegen eine Fälschung des 14. oder 15. Jahrhunderts. Eine Diskussion darüber setzt eine zumindest kurze Auseinandersetzung mit dem Begriff der «Fälschung» voraus. Das Wort «Fälschung» hat im Allgemeinverständnis einen miserablen Beigeschmack. Laien wittern sofort einen Kriminalfall mit schändlichen Profiteuren, Journalisten zumindest eine Story aus der Schublade Sex and Crime, und für echte Patrioten ist der Gedanke, wackere Eidgenossen könnten sich als Fälscher betätigt haben, ganz und gar unerträglich. Aus wissenschaftlicher Sicht ist das Problem Fälschung kein Grund zu Aufregung. Eine differenzierte Beurteilung von Echtheits- bzw. Fälschungs-Fragen ist hier schon lange üblich, und die Diskussionen ,über dieses Phänomen sind gerade in der neuesten Zeit sehr ak- tuell. Mittelalterliche Menschen hatten zum «Original» ein anderes Verhältnis als wir in der heutigen Zeit von «Akten»-Ablage und «Denkmal»-Bcgriff. Zusätzlich sind im Gefolge der seit etwa einem Jahrzehnt neu angegangenen Erforschung des kulturellen Prozesses der Verschriftlichung wesentlich zutreffendere Modellvorstellungen für den Zugang zum Problem erarbeitet worden. Ausgangspunkt einer solchen neuen Betrachtungsweise ist die triviale Tatsache, dass in einer ländlichen Gesellschaft des 13. Jahrhunderts Schriftstücke wie der Bundesbrief (oder eben allgemein Urkunden und anderes Schriftgut) nicht dieselbe Bedeutung haben wie in einer modernen Gesellschaft. Es ist zwar (ausser in einem Teil schweizergeschichdicher Historiographie) seit langem bekannt und akzeptiert, dass Urkunden nicht einfach als sozusagen «objektive» Zeugnisse der «subjektiven» historiographischen Darstellung (wie in unserem Falle im Weissen Buch) gegenüberzustellen sind. Auch Urkunden enthalten häufig erzählende Teile. Nach meiner Ansicht ist aber noch weit über diese Feststellung hinauszugehen: Letztlich sind auch Urkunden eine Art und Weise, Geschichte zu schreiben, indem soziale Akte zu bestimmten Zwecken in eine rechtsformalisierte Darstellung gebracht werden. Ausserdem setzen sich immer mehr neueste methodische Zugänge durch, die noch von einer ganz anderen Seite her die traditionelle Urkundenkritik ergänzen: Erstens ist auch bei der Auswertung einer urkundlichen Überlieferung in allen Fragen das Verhältnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu überlegen. Zweitens: Eine Urkunde wird nicht nur «geschrieben» und verfasst (das sog. «making», die «Verschrif-tung»), sondern auch als Text und gleichzeitig als Objekt im sozialen Verkehr für bestimmte Zwecke bzw. Handlungen gebraucht (das sog. «using», der «Schriftgebrauch») und zudem auf bestimmte Art und Weise von bestimmten Leuten an bestimmten Orten aufbewahrt und zugänglich gemacht - odet eben nicht (das sog. «keeping», die «Schriftbewahrung»). Solche Modelle setzen für die Interpretation von Urkunden völlig neue Massstäbe. In Sachen Bundesbrief sind alle diese Gesichtspunkte bisher nur ungenügend ausdiskutiert, am ehesten noch (siehe den erwähnten Aufsatz von Ladner) die Verschriftung mit der Diskussion über Schriftcharakter und Schreiber sowie mit Vorstellungen über den Entstchungsvorgang. Eine systematische Analyse nach den erwähnten Kriterien ist auch mir an dieser Stelle nicht möglich. Aber einige Punkte aus der aktuellen Diskussion um Verschriftlichung sind trotzdem festzuhalten und von unmittelbarem Nutzen: Es gilt nicht nur die schon alte Vorsichtsregel, dass für das tatsächliche Handeln das, was in einer Urkunde drin steht, nicht wichtiger ist als das, was ebenfalls dazugehört und nicht verschrift-licht worden ist. Viel entscheidender noch: Die immer noch gängige Vorstellung, dieses Schriftstück sei als solches massgeblich gewesen für das Zusammenwirken in der politischen Praxis, entstammt dem Verfassungs- und Vertragsdenken des 19. Jahrhunderts. Ein schriftliches Dokument der vorliegenden Art diente im 13. Jahrhundert vorwiegend dazu, gegenüber Dritten, die über die Schriftlichkeit verfügten (also z,.B. gegenüber der kaiserlichen Kanzlei), Ansprüche oder formalisierte Konfliktlösungen festzuschreiben. In der Gesellschaft des 138 139 ausgehenden 13. Jahrhunderts ist nicht denkbar, dass die Herstellung (hier im Sinne des «making») dieses Schriftstücks gewissermassen den entscheidenden politischen Akt darstellen würde. Mit anderen Worten: Dass allenfalls eine eidliche Vereinbarung unter Vertretern der Führungsgruppen aus den Waldstätten über die Landfriedenswahrung bestanden haben könnte und dass unter gegebenen konkreten Umständen eine gemeinsame Politik auch tatsächlich betrieben worden wäre, für dieses mögliche Faktum bedeutet die Verschriftung solcher Vereinbarungen in Form eines «Bundesbriefes» in keiner Weise eine Voraussetzung. Erst um einiges später erscheinen «Politik» und «Amtsführung» in dieser Art an die Schrift gebunden; es handelt sich um eine langfristige Entwicklung, wie sie dem langen Prozess staatlicher Verdichtung von landesherrlichen und städtisch-kommunalen Territorien entspricht. Neue Möglichkeiten und Spuren Diese Überlegungen eröffnen nun ganz neue Perspektiven für die Entstehungsgeschichte des Bundesbriefs. Inhaltlich präsentiert er sich (zur Hauptsache) als gemeinsame Aktion zur Friedenssicherung. Nun sind Innerschweizer Führungsgruppen - von «Volk» ist zu dieser Zeit im Zusammenhang mit «grosser» Politik besser nicht die Rede - ja tatsächlich schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts situationsbedingt manchmal gemeinsam aufgetreten. Es wäre aber ohne weiteres möglich, dass erst eine spätere Zeit das Bedürfnis nach einer schriftlichen Festlegung bzw. Legitimierung der Abmachungen unter den waldstättischen Führungsgruppen empfunden hat. Die Folge davon: Ein Schriftstück «zum Vorzeigen» (auch für die «Frühzeit») und als Legitimierung gegenüber Dritten wurde erst in diesem späteren Zeitpunkt hergestellt, ohne dass dabei von einer Fälschung im landläufigen Sinne die Rede sein muss. Es könnte sich um die schriftliche Nach-Herstellung einer als richtig und «alt» empfundenen Tradition handeln. Dabei wäre das aus der Sicht der «Herstellergeneration» Wichtige und Richtige aufgeschrieben, unter Umständen auch sehr auf die Einhaltung von als alt (und daher als echt) aufgefassten Formen geachtet worden. Gerade in dieser letzten Hinsicht ist die Qualität solcher «Fälschungen» nicht zu unterschätzen. Bei einem solchen Vorgang wurde in Urkundenform sozusagen die «Geschichte» eines in der jeweiligen Gegenwart bestehenden Zustandes neu geschrieben und gemäss gegenwärtigen Auffassungen gerechtfertigt. Grundsätzlich sind dabei die Grenzen zwischen bewusster Falschdarstellung, selektiver Tatsachenrekonstruktion und einer als öffentlich-objektive Wahrheitsbestätigung verstandenen Handlung fliessend. So oder so muss aber diese urkundliche «Geschichte» nicht frei «gefunden» bzw. «erfunden» sein, und sie war es in der Regel auch nicht. Dem nunmehr schriftlich Rekonstruierten konnte eine mündliche (und daher rasch wandelbare) Tradition zugrundegelegt werden. Allerdings: Im Zeitpunkt und überhaupt mit dem Prozess der Verschrifdichung wird nicht auf simple Art vorher «Mündliches» jetzt einfach («genau so») aufgeschrieben, sondern es entsteht jetzt eben Verschriftlichtes, eine schriftliche Tradition, für deren Form (und Inhaltsstruktur) man sich am vorhandenen Schriftlichen - an Urkunden herrschaftlicher Herkunft - orientiert. Beim Aufschreiben ist also auch verfügbares Geschriebenes aus ähnlichen Zusammenhängen als Vorlage beigezogen worden. Für den Bundesbrief würde dies bedeuten, dass er unter ganz bestimmten I Umständen und mit klaren Intentionen einer bestimmten politisch-sozialen , Gruppe erst nachträglich entstanden ist. Dem Inhalt nach konnte er in ganz verschiedener Hinsicht politischen Absichten dienen: Zunächst der Rechtfertigung einer gegenseitigen Einbindung und Kontrolle (mindestens so stark wie der oft einseitig hineininterpretierten gegenseitigen Solidarität), stark aber auch der Legitimierung von eigener Staatlichkeit durch die - nach ständischer Ordnung nicht gegebene und darum immer wieder bestrittene - Fähigkeit zur auto-! nomen Friedenswahrung. Inhaltlicher Anknüpfungspunkt war vielleicht eine j ältere, zumindest ihrem historischen Sinn nach nicht etwa unzutreffende j mündliche Tradition. Diese könnte sich z.B. auf einen Schwurverband in der j Führungsgruppe oder auf Abmachungen aus ei nem konkreten politischen Han- I del beziehen, in jedem Falle aber nicht notwendigerweise auf anfangs August I 1291 getroffene Vereinbarungen. Sicher wurden auch tatsächlich vorhandene ! Dokumente mitbenutzt. { Wird der Text von 1291 einmal unter diesen neuen Gesichtspunkten näher geprüft, dann erhält ein längst bekanntes Merkmal ein ganz anderes Gewicht: : Von der formalen Gestalt her steht fest, dass der überlieferte Text aus mehreren verschiedenen Textteilen zusammengesetzt ist, also ein Konglomerat bildet, und nicht alles gleichzeitig entstanden sein kann. Die Existenz zeitlich und sachlich verschiedener Textschichten wäre für einen überlieferten Text dieser Art (wie bei einer Öffnung) ausserordentlich typisch. Wahrscheinlich ist an Vorlagen ganz unterschiedlicher Herkunft zu denken. Bestimmt kommt der Vertrag vom 9. Dezember 1315 in Frage; möglicherweise lag auch eine Fassung des Geschworenen Briefs aus Luzern vor, und anderes. Teilweise dürfte der Brief tatsächlich auf eine (normalerweise undatierte) Satzungsquelle zurückgehen; nachträglich erfolgte Verurkundungen solcher Satzungen (und Offnungen) sind auch sonst bekannt. Nicht zuletzt die feierliche Sorgfalt, die nach Ladner auf die äussere Gestaltung dieses Textes verwendet wurde, könnte als solche ebenfalls auf eine spätere Herstellung hinweisen. Schrift und Schreibweise wirken schon für die Zeit um 1300 altertümlich und orientieren sich jedenfalls an älteren Beispielen; ebensogut könnte auch noch (viel) später als um 1300 eine Vorlage nachgeahmt worden sein. Datierungen ausschliesslich nach dem Schriftcharakter bergen übrigens erhebliche Unsicherheiten. Warum ist dann aber der Brief, wenn er erst später entstanden ist, ausgerechnet auf 1291 rückdatiert? Paradoxerweise würde gerade die Rückverlegung des Geschehens auf das Jahr 1291 eine Nachherstellung ausserordentlich plausibel machen. Denn in dieser Hinsicht darf man den «Fälschern» durchaus einige Kenntnisse zutrauen: Von Februar 1291 datiert das Schwyzer Richterprivileg, 140 141 und der sogenannte Richterartikel steht im Bundesbrief an auffälliger Stelle. Ferner war mit Sicherheit auch viel später das Todesdatum Rudolfs von Habsburg (15. Juli 1291), des Friedensgaranten, noch bekannt. Für Hersteller einer legitimierenden Tradition war für einen solchen Akt der Zeitpunkt unmittelbar nach dem Tode König Rudolfs jedenfalls besonders gut denkbar. Vom 16. Oktober 1291 datiert das in Zürich geschriebene Bündnis zwischen Zürich, Uri und Schwyz, das ebenfalls als Modell späterer Bündniskonstellationen gelten konnte. Ferner ist an die Erwerbung Luzerns durch Habsburg in diesem Jahr (mit den entsprechenden Auseinandersetzungen, die jüngst von Fritz Glauser kompetent analysiert worden sind) zu denken. Die Version einer Nachherstellung kann somit den Realitäten ebenso nahekommen wie die übliche Festlegung auf 1291. In welcher Situation eine solche «Fälschung» - oder sprechen wir doch zutreffender von der nachträglichen Herstellung einer schriftlichen Tradition - erstellt worden sein könnte, ist vorläufig nicht zu entscheiden und bedarf einer ausführlichen Recherche und Diskussion. Dabei müssten die gesamte Bündnis-Uberlieferung und die örtlichen Archivtraditionen bis ins ausgehende 15. Jahrhundert unter dieser Fragestellung miteinbezogen werden. Die Argumente wären für jeden möglichen Zeitpunkt gesondert zu prüfen. Grundsätzlich ohne weiteres denkbar sind ganz verschiedene Situationen: Etwa schon in Zusammenhang mit dem Unterwaldner Reichsprivileg von 1309 oder der Bestätigung der (vorhandenen und nicht vorhandenen) Reichsprivilegien von 1316 durch Ludwig den Bayern, im Umfeld des Zürcher Bundes vor oder nach 1351, im ausgehenden 14. Jahrhundert oder allenfalls noch später in Zusammenhang mit der Entstehung einer gesamteidgenössischen Bundestradition. Sicher braucht es sich nicht notwendigerweise um eine gemeinsame Aktion der drei Orte zu handeln. Den Hinweis auf eine bis zur weiteren Abklärung besonders spannende Spur möchte ich mir nicht verkneifen: Nicht zuletzt könnte die auffällige Stellung Nidwaldens im Bundesbrief einen Fingerzeig geben. Aus Nidwaiden stammt auch die schon erwähnte, einzige bekannte sogenannte Ubersetzung aus der Zeit um 1400. Der Zusammenhang zwischen dem «Original» von 1291 und dieser Übersetzung müsste unbedingt genauer als bisher diskutiert werden. Dies nicht nur von der sprachlichen Gestalt her, sondern auch im Hinblick auf den möglichen Gebrauch dieser Dokumente. Ohne damit voreilig kühne Lösungen zu favorisieren: Wir wissen heute, dass lateinische Texte aus rückübersetzten Teilen von deutschen Texten zusammengesetzt sein können und gerade auch in dieser altsprachlichen Form gleichzeitig oder gar erst nachträglich als besonders feierliche Texte hergestellt worden sind; das gibt es als Phänomen auch bei Offnungen, zumindest im 15. Jahrhundert. Es wäre ohne weiteres möglich, dass «Original» und «Übersetzung» des Bundesbriefs zum gleichen Zeitpunkt entstanden sind. Vielleicht sind es doch Nidwaldner Führungsgeschlechter gewesen, die in irgendeiner konkreten politischen Situation mit einem solchen Brief ihre Gleichstellung mit jenen der selbständigen Talkommunen Uri und Schwyz legitimieten mussten. So wie sich schliesslich 1309 und 1316 die Unterwaldner auch Privilegien von Ludwig dem Bayer bestätigen Hessen, die sie (nach Stettier) sicher gar nie besessen hatten! Geschah dies etwa in den schwierigen Zeiten nach 1360 oder nach dem Sempacherkrieg, als man die bedrohlichen Erfolge der Luzerner Territorialpolitik gegen die Autonomiebestrebungen von Weggis und im Entlebuch - auch das Reichsland Hasli war ja unter die Kontrolle Berns geraten - vor Augen hatte? Perspektiven Sicher würde es sich lohnen, in diesem Sinne das Fälschungsproblem beim Bundesbrief ganz neu zu überdenken. Was wären die Konsequenzen für eine allgemeine Einschätzung der Vorgänge um 1300, wenn eine Nachherstellung im obigen Sinne noch besser wahrscheinlich gemacht werden könnte? Sie sind nicht revolutionär, aber doch bedeutend genug, um zwei Aspekte hier am Schluss aufzugreifen. Zum einen geht es um Grundvorstellungen eidgenössischer Staatlichkeit, zum andern um allgemeine Forderungen für die regionale Geschichte der Innerschweiz. Für das alte Problem des Auseinanderklaffens von chronikalischer und urkundlicher Überlieferung könnte sich tatsächlich eine neue Lösung andeuten. Einiges ist hier weitaus besser zu verstehen, wenn die These stimmt, dass auch die urkundliche Bundes-Tradition, zumindest in der Rückführung bis in die Zeit um 1300 («Der Bundesbrief»), erst später geschaffen worden ist. Es wäre also in der auf 1291 datierten Urkunde, auf andere Weise als in Chronikteilen, aber ebenfalls mit bestimmten Vorstellungen eine schriftliche Tradition hergestellt worden, und zwar so, wie der ganze Hergang aus späterer Sicht zu verstehen war, wie er also rekonstruiert und zugleich als wahr empfunden wurde. In den inhaltlichen Motiven und Themen sind solche Rekonstruktionen an ihre jeweilige Form gebunden und daher verschieden, auch wenn die Grundvorstellungen übereinstimmen. An Hinweisen auf Parallelitäten in den Grundvorstellungen fehlt es nun nicht, und das finde ich deshalb besonders interessant, weil damit eine Nachherstellung im Sinne der erst im 15. Jahrhundert nach und nach gestalteten «Gesamtbundestradition» in den Bereich des Möglichen rückt. Bekanntlich ist es im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert ein zentrales Problem der eidgenössischen politischen Eliten, ihren Anspruch auf Eigenstaatlichkeit - v. a. die Ordnungswahrung ohne Mitwirkung eines adligen Fürsten - zu legitimieren, weil dieser Anspruch nach zeitgenössischer Ansicht gegen die gottgegebene Ständeordnung verstösst. Letztlich propagieren nun sowohl das Weisse Buch wie der Bundesbrief ganz ähnliche Grundhaltungen gegenüber den (so im 15. Jahrhundert imaginierten und zu rechtfertigenden) «Ursprüngen» von Eigenstaatlichkeit der Eidgenossenschaft. Was im Weissen Buch die Begründung mit dem gerechten Widerstand gegen die Vögte, ist im Bundesbrief die innere Friedenswahrung unter erstaunlich strikt betonter Verpflichtung auf die Gehorsamspflichten gegenüber der Herrschaft - der Bundes- 142 143 Schluss erscheint also als ein rechtmässiger Akt. Wenn das Weisse Buch den Weg von der «gesellschaft» Stauffachers zum «bund» der drei Länder schildert, dann entspricht dem im Bundesbrief möglicherweise die Berufung der jetzt gesetzten «statuta» auf die vorangegangene «antiqua forma confoederationis», mit der ja nicht bloss ein älteres Bündnis, sondern ebensogut eine - eben vorstaatliche -Fehdeschlichtung bzw. ein Schwurverband gemeint sein könnte. Zu solchen Parallelitäten der Rekonstruktion passt vielleicht ein weiterer Punkt, der noch ganz andere Diskussionen auslösen könnte: Morgarten erscheint bekanntlich im Weissen Buch nicht, was eigendich sehr erstaunt. Vielleicht steckt dahinter eine besondere regionale Tradition; noch plausibler allerdings wäre die These, dass Morgarten aus einer staats-legitimierenden Sicht ursprünglich gar nicht zur eidgenössischen Befreiungstradition gehörte. Denn auch der Autor des Weissen Buches verfolgte letztlich ein legitimierendes Anliegen, wollte also die eidgenössische Staatlichkeit rechtfertigen. So wäre es möglich, dass dort aus legalistischen Motiven ein Geschehen - eine unrechtmässige Tat, nämlich der Widerstand von Bauern gegen die rechtmässige Herrschaft - verschwiegen wird, das aus der Sicht der auf politische Legitimierung bedachten Traditionsbildner für die Anfänge keine essentielle Bedeutung haben konnte bzw. durfte. Auf der Ebene des Bundesbriefs würde dem entsprechen, dass die Nachherstellung den Zeitpunkt des Bundes auf die Zeit vor Morgarten legt. Das wäre sonst, da ja der Vertrag vom 9. Dezember 1315 bekannt war, nicht notwendig gewesen. Mit diesem letzten Hinweis möchte ich nun allerdings nicht am Ende auch noch meinerseits in das logisch-gelehrte Konstruktionsfieber abrutschen, das bei diesem komplexen Thema die ältere Forschung so schwer nachvollziehbar macht. Viel wichtiger ist mir ohnehin eine andere Konsequenz: Die «Nachherstel-lungs»-Version passt problemlos zu der in der Forschung seit langem verbreiteten Idee, dass wir bei den Vorgängen um 1300 in der Innerschweiz ein ganz normales regionales Geschehen vor uns haben. Die Vorstellung vom einzigartigen «heroischen» und «demokratischen» Gründungsakt um 1300 ist längst als anachronistische Konstruktion bürgerlich-nationaler Ideologie identifiziert, die selbstverständlich nicht nur «von oben» propagiert, sondern insbesondere dank Schiller und dank unseren Schulbüchern von breiten Schichten zumindest in der Deutschschweiz mit grosser Uberzeugung getragen wurde. Sie ist als solche als durchaus geschichtswirksames Faktum und wissenschaftlich interessantes mentalitätsgeschichtliches Problem erkannt. Dennoch kann das Geschehen um 1300, also in der Zeit selber, nicht teleologisch, als zielgerichtet auf den späteren Nationalstaat hin interpretiert werden. Im Hinblick auf die «eidgenössische Frühgeschichte» würde eine neue Einschätzung der Vorgänge um 1300 gut mit der heute gültigen Meinung übereinstimmen, dass eine «eidgenössische» Politik erst nach 1350 überhaupt richtig einsetzt, unter Führung der Städte Zürich und Bern. An der Möglichkeit, dass in einzelnen innerschweizerischen Talkommunen von führenden Vertretern um 1300 eine eigenständige, bei Adeligen wie den Attinghausen deutlich gegen Hahsburg (oder auch gegen die Reichsstädte) gerichtete Politik insbesondere zur Wahrung von Reichsfreiheit (und zur Legitimierung nach innen) betrieben wurde, ändert dies nichts. Und dass man sich bei konkretem Anlass - ein solcher bestand sicher nach der Schlacht am Morgarten zur gegenseitigen Absicherung - zusammentat, ist ja ein durchaus verständlicher Vorgang, auch wenn die gemeinsamen Interessen vielleicht doch nur zum kleinen Teil auf einem abstrakten idealistischen Feld von «Unabhängigkeit» und «Freiheit» zu suchen sind. Im Ganzen würden aber auf jeden Fall die Proportionen zurechtgerückt, insofern als der sozusagen «früheidgenössische» Charakter des Geschehens am Ausgang des 13. Jahrhunderts als nur ein und nicht einmal besonders wichtiger Aspekt der zeitgenössischen regionalen politischen Votgänge zu sehen ist. Die «Normalisierung» wird noch weiter gehen als bisher. Sie macht den Weg frei, die Geschichte der Region wirklich als Regionalgeschichte und nicht vorwiegend als Vorläufer nationaler «Einheitsgeschichte» eines fiktiven «Kerns» zu sehen. Echte Regionalgeschichte nicht mehr nur im wirtschaftlich-sozialen, sondern endlich auch im politischen Bereich zu schreiben, scheint mir ein auch heute noch für Forschungen zur Innerschweiz sehr dringendes Anliegen. In diesem Sinne müssten beispielsweise die politische Bedeutung der Reichsstadt Zürich (im Hinblick auf eine versuchte Integrationspolitik) für Uri und Schwyz schon um 1300 oder etwa die tatsächlichen Vorkommnisse um das Etbe der Grafen von Rapperswil genauer untersucht werden, um nur zwei besonders naheliegende Themen zu nennen. Es gilt, kleinregionale und lokale Forschungen, die nicht auf den historiographischen Entstehungstopos zugeschnitten sind, gezielt zu fördern und im übrigen auch in älteren Darstellungen zur Kenntnis zu nehmen. Zum Abschluss Für mich sind nach all den angeführten Überlegungen keine Zweifel mehr daran möglich, dass die Fälschungsfrage auch im Falle des Bundesbriefs ernsthaft gestellt werden muss. Persönlich halte ich einen «gebrochenen» Entstehungsgang des Bundesbriefs für sehr gut möglich und jedenfalls für nicht weniger wahrscheinlich als eine Entstehung anfangs August 1291. Der grosse Wert desjenigen Schriftstückes, das im 19. und 20. Jahrhundert zur schweizerischen Nationalreliquie geworden ist und (im Gegensatz zur Entstehungszeit) eine sehr grosse geschichtliche Bedeutung für das politisch-nationale Denken und Fühlen breiter Bevölkerungsschichten erlangt hat, wird damit in keiner Weise beeinträchtigt. Und in einer solchen Sehweite eine Herabminderung der Verdienste der Vorfahren sofern man Menschen in der Innerschweiz des 13. und 14. Jahrhunderts üherhaupt als seine Vorfahren bezeichnen will oder kann zu sehen, ist schlicht nicht möglich. Meine Ausführungen verstehe ich als Anregung zum Weiterforschen. Dabei gibt es aus meiner Sicht in der Schweizergeschichte heute wesentlich wichtigere Fragen als jene um den Bun- 144 145 desbrief selber. Eine neuerliche Tinten- oder Laserdrucker-Schlacht um die «Gründung» ist nicht nötig, und mit denjenigen, die sich meiner Meinung nicht anschliessen können, werde ich weiterhin im Frieden leben. Ganz abgesehen davon, dass das Risiko für solche Zwiste unter der heutigen Historikergeneration auch bei unterschiedlichen Standpunkten sehr gering ist! Die Folgerungen für eine weitere Erforschung innerschweizerischer Verhältnisse im Spätmittelalter aus regionalgeschichtlicher Sicht sind so oder so gegeben, und ich hoffe, dass die angeführten Überlegungen wenigstens zu diesem Aspekt, also zur Förderung einer wirklichen Regionalgeschichte, etwas Nützliches beitragen. Es sollte sich endlich auch im politisch-sozialen Bereich diese regionale Geschichte von der ihr durch nationale Ideologiebedürfnisse und nationalpädagogische Geschichtsschreibung verpassten Zwangsjacke befreien können und zur Geschichte von damals lebenden Menschen werden. Anlass zu meinen Ausführungen war allerdings etwas sehr viel Bescheideneres: die fast unglaubliche Selbstverständlichkeit, mit der geglaubt wird, die Probleme um den Bundesbrief seien mit der naturwissenschaftlichen Untersuchung gelöst. Und hier möchte ich mit meinem Kommenrar einen Zweck auf jeden Fall erreichen: Die Meinung, die narurwissenschaftliche Untersuchung hätte eine endgültige Klärung gebracht, ist eindeutig falsch. Es ist fast etwas tröstlich, dass die grossen Apparaturen bisher auch nicht mehr fertiggebracht haben als die einfachen Quellenleser. - Allerdings mit dem grossen Wermuts-tropfen, dass uns schon mit einem Bruchteil des für diese Untersuchung aufgewendeten Geldes sehr gedient wäre, um endlich viel wichtigeren historischen Forschungsproblemen des eidgenössischen Mittelalters nachzugehen. Ein Beispiel zum Schluss: Um die regionale und lokale Geschichte der Innerschweiz auch im politischen Bereich noch besser zu verstehen, würde die Fortsetzung des Quellenwerks über 1353 hinaus eine hervorragende Grundlage bieten. Wer gibt uns die finanziellen Möglichkeiten, dieses Werk in Gang zu setzen? Vor allem auch dann, wenn das nicht mehr als «vaterländisch-nationale» Aufgabe begründet werden kann (und eben auch nicht mehr als Quellenwerk «zur Entstehung der Schweizerischen Eidgenossenschaft»), sondern schlicht mit dem Interesse an Kenntnis und Erhaltung des kulturellen Erbes einer vielfältigen, eigenständigen und heute mannigfach benachteiligten Region? Das Bundesbriefarchiv als Zeitmaschine Eine Betrachtung zum historischen Wissen Guy P. Marchai I Über gewisse wichtige oder zu Zeiten als wichtig empfundene Ereignisse der I Geschichte pflegen immer wieder neue historische Untersuchungen vorgelegt I zu werden. Vor allem, wenn ein rundes Jubiläum eintrifft, steigt die Zahl histo- I rischer Arbeiten und Publikationen sprunghaft an. Die Literatur zum Jubiläum I der französischen Revolution von 1789 füllte 1989 ganze Buchhandlungen, I jene zum 500. Jahrestag der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus wird es I 1992 gewiss wieder tun, und jene zum sogenannten schweizerischen Bundes- |. Jubiläum 1291-1991 wird wohl hochgerechnet auch ein Regal beanspruchen. I Auch der diesjährige Band der «Mitteilungen des Historischen Vereins des j Kantons Schwyz» wird auf dieses Regal zu stehen kommen. Und vor 50 und vor I 100 Jahren war es nicht unähnlich. Aber warum lassen sich über Ereignisse, die • längst endgültig geschehen sind und nicht mehr geändert werden können, j immer wieder neue Bücher schreiben? Ist es der stete Fortschritt der Geschichts- ' Wissenschaft? Oder ein bewusstes «corriger l'histoire»? Warum kann oder will \ man die Geschichte immer wieder neu schreiben? Alle diese Fragen münden in die eine, grundsätzliche Frage ein, was denn eigentlich historisches Wissen sei. Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich mich nicht in theoretischen und philosophischen Erörterungen ergehen, sondern mich einem Lösungsangebot nach Art des Historikers annähern, indem ich eine Geschichtsquelle analysiere. Wenn wir von Quellen reden, denken wir in der Regel an alte Pergamenturkunden und Codices, an Wirtschaftsbücher oder auch an archäologische Ausgrabungsbefunde usw. usf. Ich wähle eine Quelle, die dem Anlass zu diesem Band der «Mitteilungen» vollkommen entspricht, die Liegenschaft an der Bahnhofstrasse Nr. 20 in Schwyz nämlich, eine der aussagekräftigsten Quellen überhaupt für das, was ich hier erörtern möchte. Sie ist den Lesern wohlbekannt, und die meisten mögen auch schon dort gewesen sein: ich meine das Bundesbriefarchiv. Verhältnismässig unauffällig liegt es zwischen raumgreifenden Schulgebäuden, mehr oder weniger hübschen Wohnhäusern und postmodernen Verwaltungszentren. Dem Ankommenden öffnet sich der Blick auf das Gebäude recht überraschend.1 Erst wenn er bereit ist, sich auf diesen verhalten monumentalen Baukomplex einzulassen, wird er in den Bann einer ganz eigentümlichen Atmosphäre gezogen. Auf einer breiten, über drei Terrassenstufen hinaufführenden 1 A. Meyer, KDM Schwyz 1, Basel 1978, 246-250; J. Wiget, Das Bundesbriefarchiv in Schwyz (Schweizerische Kunstflihier Serie 39, Nr. 387), Bern 1986; M. Bamert und J. Wiget, Zum Ruhme der Väter. Schwyz in der Historienmalerei (Schwyzer Hefte 37), Schwyz 1986, 27-39. 146 147