Roger Säblonier Gründungszeit ohne Eidgenossen Politik und Gesellschaft in der Innerschweiz um 1300 2008 hier+jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte, Baden l63 1291 und Herrschaftsbewahrung Eine unscheinbare Pergamenturkunde von Anfang August 1291 ist das in der Schweizer Geschichte bekannteste mittelalterliche Dokument: Der lateinisch verfasste Bundesbrief der Waldstätte Uri, Schwyz und Nidwaiden, seit 1936 als Nationalreliquie im Bundesbriefmuseum zu Schwyz aufbewahrt, in feierlich nachgemachter Abschrift noch in den Jahren um 1950 in zahlreichen Schweizer Schulstuben und Postbüros an die Wand gehängt, wurde nach 1891 zur Gründungsurkunde der Eidgenossenschaft.452 Der Bundesbrief erlangte im öffentlichen Gebrauch in der Zeit nach dem Staatsjubiläum von 1891 eine grosse Bedeutung bei der Verfestigung und Popularisierung nationalschweizerischer Ideologeme von eidgenössischer Solidarität, freiheitlich-demokratischer Verfassung und staatlicher Unabhängigkeit. Das ideologische, kulturelle und politisch-ideelle Gewicht, das er für die Nation Schweiz erhielt, hat sich übertragen auf die Vorstellungen von seiner Bedeutung für die Zeit um 1300 und die Entstehungsgeschichte der Schweiz, mit den entsprechenden Überlagerungen und Überhöhungen. Die moderne Beachtung des Bundesbriefs kontrastiert stark mit der Bedeutung, die diesem Dokument früher zugemessen wurde. Das Schriftstück besitzt eine äusserst merkwürdige Biografie: Chronikalisch vielleicht um 1530 erstmals genannt, ist ein sicherer Beleg für die Existenz erst in einer Archivregistratur in Schwyz 1724 vorhanden.453 Interessanterweise war der Brief auch Aegidius Tschudi nicht bekannt,454 es sei denn, er habe ihn für eine Fälschung mit unpassendem Inhalt gehalten. Unpassend, weil Aegidius Tschudi in seiner Darstellung das entscheidende Befreiungsgeschehen ins Jahr 1307455 verlegt hat, zudem offenbar davon ausging, dass die «Orte» sich schon viel früher verbündet harten. Die eigentliche Entdeckung des Bundesbriefs erfolgte erst kurz vor 1759 durch den ehrgeizigen Basler Gelehrten Gleser. Er erhoffte sich von dieser vaterländischen Tat - vergeblich - die Aufnahme in die Helvetische Gesellschaft.456 Daneben existiert in Stans eine deutsche Übersetzung. Diese sogenannte Nidwaldner Fassung457 wird aufgrund des Schriftcharakters - meines Erachtens unsicher - auf die Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert datiert. Auf das im Bundesbriefmuseum zu Schwyz liegende lateinische Original wurde im ganzen Spätmittelalter nie, aber eigentlich auch nachher bis Ende des 18. Jahrhunderts fast gar nicht Bezug genommen. Die Einordnung dieses wichtigen Schriftstücks ist also schwierig. Dies umso mehr, als ausgerechnet der bedeutende schwyzerische Geschichtsschreiber Joseph Thomas Fassbind (1755-1824) Ende des 18. Jahrhunderts in seiner Schwyzer Geschichte schrieb, es handle sich um ein «seltsames Dokument», weshalb er sich eine «Anmerkung» erlaube: Es «scheint mir dieses monument in vil stücken seiner i64 1291 und Herrschaftsbewahrung 165 autenticitet halber verdächtig ... ».458 Eine solche Kritik steht in seiner Darstellung ziemlich einzigartig da und ist darum recht gewichtig. Die Fragen um Inhalt, Überlieferung und Bedeutung des Bundesbriefs detaillierter anzugehen, ist unumgänglich. DER Bundesbrief: Zum Inhalt Der Inhalt des Bundesbriefs von 1291 ist, mit Distanz besehen, wenig spektakulär. Neben einem allgemeinen Hilfsversprechen, Regelungen für den Streitfall und der Bestätigung dafür, dass das Richteramt von Einheimischen besetzt und nicht gekauft werden soll, sind mehrfach die ständischen Ungleichheiten angeführt und die Gehorsamspflichten bekräftigt. Ein zweiter, grösserer Teil gilt - wie auch im Bund von 1315 - Bestimmungen über die innere Ordnung. Sie könnten als strafrechtliche Bestimmungen bezeichnet werden, nämlich zum Vorgehen bei Totschlag, Raub, Brandstiftung, Ungehorsam und Fehdeführung. Ein Teil der Urkunde beruft sich auf ältere Abmachungen (antiquam confederationis formam), während am Schluss die ewige Gültigkeit (in perpetuum) angeführt ist. Letzteres steht formelhaft dafür, dass die Dauer offenbar nicht wie sonst üblich bei solchen Bündnissen beschränkt sein soll. Von Freiheit, Widerstand und Gründung ist in der Urkunde nicht die Rede. Wie seit langem erkannt, bietet der Inhalt eigentlich eine Gerichts- beziehungsweise Landfriedensordnung.459 Das Bündnis wurde vielfach als Abwehrbund der Kommunen gegen den «gemeinsamen Feind» Habsburg interpretiert; zum immer wieder bemühten Widerstand gegen die habsburgischen Landesherren beziehungsweise gegen «Österreich» finden sich aber keine direkten Hinweise. Es handelt sich in erster Linie um eine Vereinbarung der Führungsgruppen zur inneren Friedenssicherung.460 Dazu kommt der gegen innen und aussen wichtige Aspekt der Legitimierung als Garanten des Landfriedens, zugleich jener einer gewissen gegenseitigen Kontrolle, wie es später für alle eidgenössischen Bünde gilt. Als Landfriedensbündnis steht der Brief von 1291 nicht alleine da. Die Landfriedensbewegung, die vom Königtum und von den Städten ausging, war zu dieser Zeit ein zunehmend bestimmendes politisches Element im Reichsverband. Der Bundesbrief nennt weder Personen noch Handlungsorte. Der Bundesschluss erfolgt zwischen den homines vallis Uranie, der universitär vallis de Switz und der conmunitas [!] hominum Intramontanorum Vallis Inferioris. Die Bundespartner werden in der deutschen Übersetzung der Nidwaldner Fassung aus dem ^.Jahrhundert aufgeführt als die gemeine [!] des tals ze Ure, die gemeinde der litten des tals ze Swytz und die gemeinde der lüten inrent den bergen des undren tals. Dass hier in den Talschaften nicht das versammelte Volk aktiv geworden ist, liegt allerdings schon am Charakter des Vorgangs beziehungsweise im Wesen der zeitgenössischen Bundesbrief 1291 Die Vertragspartner sind Personenverbände, nicht parastaatliche kommunal organisierte Territorien. : Noverint igirur universi quod homines vallis Uranie universitasque vallis de Switz ac conmunitas hominum Intramontanorum Vallis Inferioris j Es mögen also alle wissen, dass die homines aus dem Tal Uri und die universitas im i Tal Schwyz und die conmunitas der Leute zwischen den Bergen im unteren Tal Wer und was mit den drei verschiedenen Bezeichnungen homines, universitas und conmunitas jeweils gemeint ist, ist schwer zu sagen. Die deutsche Übersetzung aus dem beginnenden 15. Jahrhundert spricht bei allen von gemein(d)en, wahrend im Brief von 1315 von eidgenozen und lendern die Rede ist. Im Brief von 1291 sind offenbar noch ausschliesslich herrschaftlich und/oder kirchlich bestimmte Personenverbände gemeint. i66 1291 und Herrschaftsbewahrung 167 Urkundenschriftlichkeit. Die heimliche Beschwörung auf dem Rütli durch die «Drei Eidgenossen», die erst im 16. Jahrhundert mit Namen und Vornamen genannt werden, ist eine viel spätere Zutat.461 Nicht im Bundesbrief enthalten, aber immerhin aus anderen Quellen bekannt sind Namen von zeitgenössischen Angehörigen der örtlichen Führungsgruppen, wie etwa die Attinghausen aus Uri oder die Ab Iberg aus Schwyz. Was unter den universitates, communitates, homines («Eigenleute»?) und den «Tälern» wirklich zu verstehen ist, geht aus dem Text selbst nicht hervor und bleibt in der Schwebe. Die spätere Nidwaldner Fassung übersetzt generell mit gemeinde und interessanterweise nicht mit land, wie im Original ja auch die landlüt nicht vorkommen - beides sicher vorhandene Begriffe, schon im Bund von 1315 etwa eidgenossen und lender. Der Übersetzer war vielleicht ratlos, oder eher: Er wusste, dass nicht das ihm aus seiner Gegenwart vertraute «Land» Unterwaiden gemeint war. Die Bündnispartner von 1291 als territorial klar umrissene und institutionell fest gefügte «Länder» zu sehen, ist falsch. Dies würde dem zeitgenössischen schwachen Stand der institutionellen Verfestigung nicht gerecht. In allen Gebieten ist die politische Integration ins «Land» beziehungsweise die Partizipation breiterer Bevölkerungsschichten in den Quellen gänzlich unklar und, wie ohne weiteres angenommen werden darf, noch sehr bescheiden.162 Der Abschluss einer solchen Vereinbarung war ein politisches Anliegen bestimmter Führungsgruppen. Nur diese waren auch dazu legitimiert, weil sie - theoretisch - das nötige politische Gewicht zum Vollzug besassen, was eine zwingende Voraussetzung für das gegenseitige Vertrauen bei der Vertragsschliessung war. Sehr deutlich sind die vor7 handenen Kollektive nicht als Territorien, sondern noch als Personenverbände, eben als «Eidgenossen» im Wortsinn, konstituiert.463 Dass in Bezug auf Strafrechtsbestimmungen von conjurati (die zemengesworenen nach der Übersetzung) und conspirati (in der Übersetzung die mitgesworenen) die Rede ist, entspricht diesem Zustand. Die Nennung beider Begriffe zur gleichen Zeit ist allerdings seltsam, es sei denn, dahinter stehe eine feinere Differenzierung bezüglich der Mitwirkung von institutionell dazu Berechtigten (etwa adligen Herren wie vielleicht den Attinghausen) und anderen. Die Existenz von sogenannten conjurationes, Schwurverbänden, zur Ordnungs- und Machtbewahrung ist aus zeitgenössischen städtischen Gesellschaften gut bekannt. Vor allem aber erscheinen die genannten Kollektivitäten (noch) als herrschaftlich bestimmte Verbände. Sonst würden nicht Gerichtszugehörigkeit und Gehorsam eine zentrale Rolle spielen. Das gilt, obschon zu dieser Zeit in den Tälern im Nutzungsbereich selbstverständlich nachbarschaftliche, genossenschaftliche und sogar schon schwache tal- und dorfgemeindliche Elemente vorhanden waren. Inhaltlich ist im Bundesbrief der Nachweis autonomen kommunalen Handels nicht wichtiger als der Aspekt eines Akts der Herrschaftssicherung in unsicherer Zeit. Viel eher steht sogar Letzteres im Vordergrund. Entsprechend läge, es sind ja keine Personen namentlich genannt, eine Erstellung des Briefs durch (oder für) eine herrschaftliche Gewalt, allenfalls durch den Reichsvogt - oder wenigstens mit dessen Mitwirkung - durchaus im Bereich des Möglichen. Der Bund demnach als Akt der Herrschaftssicherung: Die Sicherung von Friede und Ordnung, Anliegen aller Führungsgruppen zu allen Zeiten, könnte für 1291, unmittelbar nach dem Tod König Rudolfs von Habsburg, des obersten Friedensgaranten, auch in der Innerschweiz ein nachvollziehbares Bedürfnis gewesen sein. Das ergäbe eine einigermassen plausible Vorstellung darüber, warum der Bundesbrief gerade 1291 entstand. Aber damit ist nicht schon alles über den Bundesbrief gesagt. Mit Bezug sowohl auf den Inhalt als auch noch viel mehr auf die Überlieferung stehen zu viele ernsthafte Fragen offen, um sich mit einer solchen eher abstrakten Erklärung zufriedenzugeben.'164 Diese ist für 1291 ausserdem einseitig aus eidgenössischer Optik konzipiert. Der Bundesbrief erschiene, so gesehen, zwar nicht mehr als Staatsgründungsakt, aber eben doch als Zeugnis eines früheidgenössischen Verfassungsvorganges, der in eine Reihe mit den späteren Bünden zwischen eidgenössischen «Orten» gehören würde. Er wäre also ex post und sozusagen von den späteren Bündnissen im Gefüge «Eidgenossenschaft» aus gesehen doch wieder als singulärer Gründungsakt im Sinn einer staatsrechtlich gemeinten Handlung zu verstehen. Sind jedoch nicht gerade rund um den Bundesbrief ganz andere Zusammenhänge zu berücksichtigen? Diese Frage stellt sich ganz entschieden. Offene Fragen Eine neue Beurteilung des Bundesbriefs hat zunächst an grundsätzliche Schriftlich-keitsüberlegungen anzuknüpfen. Für wen war denn in einer weitgehend schriftlosen Gesellschaft ein solches Schriftstück überhaupt bestimmt? Sicher nicht für das «Volk», sondern für diejenigen, die ebenfalls über die Kulturtechnik Schrift verfügten. Der Brief ist ohnehin so verfasst, wie wenn tatsächliche Verhältnisse an Ort und Stelle gar nicht interessiert hätten. Spielten diese überhaupt eine Rolle, oder waren sie einfach nicht näher bekannt, oder wurde, wie so oft, einfach aus einer Vorlage abgeschrieben? Und schliesslich: Wem gegenüber und in welchem Handlungskontext musste die Friedensfähigkeit schriftlich bewiesen werden? Und was sollte damit erreicht werden? Dazu kommen einige wesentliche offene Fragen zu Inhalt und Überlieferung des Briefs. Auf sie ist im Folgenden detaillierter einzugehen. Zum einen handelt es sich um eine Textkompilation mit mindestens zwei stark unterschiedlichen Teilen.465 Die explizite Anspielung auf ein älteres Bündnis ist zeitlich und örtlich und in Bezug auf die Beteiligten schwierig zu lokalisieren.466 Der verwendete Terminus confoederatio bezieht sich dem Sinn nach auf i68 1291 und Herrschaftsbewahrung 169 eine Fehdeschlichtung; es kann sich dabei um blosse Teile früherer Vereinbarungen gehandelt haben. Und an einem solchen älteren Bündnis müssen nicht ausschliesslich ländlich-bäuerliche Schwurgenossen beteiligt gewesen sein.467 Wichtige Teile des Bundesbriefs, die strafrechtlichen Bestimmungen, könnten übrigens ebenso gut auf eine Stadtsatzung verweisen, wenn nicht auf königliche Landfrieden. Vorbilder wie bis anhin nur im kommunalen Süden zu suchen, führt offenbar nicht weiter, obschon Anklänge an im benachbarten Süden übliche Formulierungen vorhanden sind (so mit dem Begriff pacta).'6" Zum anderen sind weder Orte noch Personen genannt. Das ist für eine Urkunde dieser Art möglich, jedoch merkwürdig. Noch seltsamer ist die Tatsache, dass das - verlorene! - Siegel von Schwyz zuvorderst gehangen haben soll, während im Text Uri zuerst genannt ist. Zudem könnte das überlieferte Nidwaldner beziehungsweise Stanser Siegel später dazugekommen sein, und zwar in Form eines in der Siegelumschrift um «das obere Tal» zu «Unterwaiden» im Sinn des späteren Landessiegels ergänzten Exemplars.'"' Im Übrigen ist der Schreiber weder identifizier- noch lokalisierbar, und für viele Merkmale der - gekonnten, durch die sehr zahlreichen Abkürzungen auffallenden - Schrift sind bis heute keine signifikanten Parallelen in der Region oder in der Nachbarschaft nachgewiesen worden. Ausserdem ist das Latein des Briefs doch ziemlich verworren und macht fast den Eindruck, einiges könnte aus dem Deutschen rückübersetzt worden sein. Und die uralte Frage, warum einzig in Schwyz ein Original hegt, ist ebenfalls nicht beantwortet. Diese Merkwürdigkeiten lassen es als sehr unwahrscheinlich erscheinen, dass der Brief einen wirklichen Vertragsabschluss zu einem bestimmten Zeitpunkt darstellt. Schliesslich steht auch die textoriginale Datierung auf incipiente mense augusto, also die zeitgenössische Datumsformulierung «Anfang des Monats August» (daraus ist dann im 19. Jahrhundert der 1.August geworden), ziemlich einzigartig da. Denkbar wäre, dass ein erst später mit Siegeln versehener Entwurf eines Textes vorliegt, der als Bestandteil eines Verhandlungsdossiers gedacht war. Eher noch handelt es sich um ein Rechtfertigungsstück mit vorwiegend symbolischer Bedeutung. Haben wir eine Nachherstellung oder schlichtweg eine Fälschung vor uns? Vollends skeptisch machen die Überlieferungsprobleme. Die lateinische Fassung ist, wie erwähnt, nur in Schwyz überliefert, und die einzige alte deutsche Übersetzung - sie wird dem 15. Jahrhundert zugewiesen - stammt aus Nidwal-den. Für solch einseitige Überlieferungslagen lassen sich Parallelen und Erklärungen finden;4'0 bei einem scheinbar so wichtigen Dokument sind dies trotzdem ungewöhnliche Gegebenheiten. Auf die äusserst merkwürdige Biografie des Briefs wurde schon eingangs hingewiesen. Bekannt und traditionsbildend war das ganze Spätmittelalter hindurch, wenn überhaupt, der Bund von 1315, der sogenannte Morgartenbrief.471 Im Morgartenbrief ist der Bund von 1291 nicht einmal indirekt erwähnt, wiederum eine ganz seltsame Tatsache, nachdem doch gerade der 1291er-Brief seinerseits auf ein älteres Abkommen Bezug nimmt. Inhaltlich hat der i29ier-Brief für die späteren Bünde kaum als Vorbild gedient. Diese lehnten sich im Fall von Luzern (1332) an den Bund von 1315,472 spätere ganz stark an den Zürcher Bund von 1351 an.473 Offenbar war auch die nidwaldische Übersetzung nicht oder jedenfalls nicht breiter bekannt. Sie ist in einem Streit zwischen Nidwaiden und Obwalden 1616 erwähnt,474 wurde damals von den Eidgenossen aber offensichtlich als ungültig, wenn nicht als Fälschung betrachtet. Und eine weitere Lücke: Von Oktober 1291 ist ein Bündnis auf drei Jahre zwischen Zürich, Uri und Schwyz überliefert. Auch da taucht entgegen aller Usanz die Vereinbarung von August 1291 nicht auf. Und warum war im Oktober 1291 Nidwaiden oder Unterwaiden nicht dabei, wenn doch bereits ein waldstättisches Bündnis bestanden haben soll? Das ist schwer zu verstehen; allerdings ist heute aufgrund der 14C-Datierung wahrscheinlich, dass die Zürcher Überlieferung dieses letztgenannten Bündnisses aus dem ausgehenden 14. Jahrhundert stammt, ein wahrscheinlich vorhandener früherer Text demnach nicht im genauen Detail bekannt ist.475 Was ist an der überlieferten Fassung des Bundesbriefs «authentisch», um nochmals Fassbind zu zitieren? Es kann sich beim Bundesbrief grundsätzlich ohne weiteres um ein Dokument handeln, das erst nachträglich, im weiteren 14. Jahrhundert, entstanden ist; das im Urkundentext genannte Datum spricht nicht dagegen. Die Vermutung, das wertvolle Stück könnte allenfalls sogar erst im fälschungsreichen 17. Jahrhundert hergestellt worden sein, wurde ebenfalls schon geäussert. Der Verdacht, dass es sich beim vorliegenden Text in irgendeiner Form um eine Fälschung beziehungsweise Verfälschung oder Nachherstellung handeln könnte, muss ausdiskutiert werden. Fälschung und Nachherstellung Gegen eine Fälschung in wesentlich späterer Zeit, also etwa im 17. Jahrhundert, spricht die "C-Analyse.476 Danach liegt die grösste Wahrscheinlichkeit für das Alter des vorliegenden Pergaments zwischen 1260 und 1312; eine zweite, kleinere Wahrscheinlichkeit ergibt sich für die i38oer-Jahre. Ohne dieses technische Resultat überschätzen zu wollen, wird damit eine Jahrhunderte später anzusetzende Fälschung eher unwahrscheinlich. Im Übrigen zeigt das Pergament keine sichtbaren Spuren der Wiederverwendung, es handelt sich also offensichtlich nicht um ein Palimpsest. Immerhin; Die 14C-Probe kann nicht nachweisen, zu welchem Zeitpunkt das Pergament tatsächlich beschrieben worden ist. Dass für die Herstellung einer Urkunde ein leer gebliebenes Stück von einem älteren Pergamentdokument abgeschnitten wurde - ein an sich ohne weiteres verständliches Vorgehen -, kommt vor. Man könnte ja annehmen, dass das Dokument erst im Zuge 170 1291 und Herrschaftsbewahrung 171 der Erstellung eines Archivregisters nach 1720 in Schwyz hergestellt worden ist, um ein bestimmtes Geschichtsbild zu stützen. Eine solche Vermutung überzeugt jedoch kaum, obschon nicht alle Zweifel an einer viel früheren Entstehungszeit definitiv ausgeräumt werden können. Die Möglichkeit einer nachträglichen Herstellung dieses Dokuments im Zeitraum bis 1320/1330, mit der Rückdatierung auf 1291, ist dagegen sehr wohl gegeben und hat viel für sich. Das Vorliegen einer solchen Nachherstellung würde nicht wenige der Ungereimtheiten, nicht zuletzt den generellen Charakter dieser Textkompilation, besser verständlich machen. Wann, wo und mit welchen Zielen und unter welchen Umständen der auf 1291 datierte Brief nachträglich hergestellt worden sein könnte, ist nach politischen Umständen abzuwägen und nur mit Indizien näher zu bestimmen. Zu den politischen Umständen gehört zentral die Frage, wie und warum denn überhaupt die homines vallis Uranie, die universitas vallis de Switz und die conmunitas hominum Intramontanorum vallis inferioris (heute eben als Unter- oder Nidwaiden verstanden) zusammengekommen sind - besonders dann, wenn doch feststeht, dass nicht die gemeinsame Abwehr gegen Habsburg das einigende Motiv ist. Wie immer bleiben bei Indizienverfahren verschiedene Möglichkeiten offen, angesichts der dünnen zeitgenössischen Überlieferung erst recht. Alle Argumentationen in diesem Problemfeld laufen Gefahr, mit übermässig angestrengter Suche und entsprechend getrübter Optik eigentlich Unerklärliches doch noch aufhellen zu wollen. Trotzdem soll im Folgenden eine teilweise Klärung versucht werden. Die Unbestimmtheiten einfach so stehen zu lassen, wäre unbefriedigend, umso mehr, als eine nähere Auseinandersetzung mit dem Bundesbrief doch wesentliche Dinge zum Vorschein bringen kann. Erst 130g entstanden? Unter verschiedenen Möglichkeiten hat die Vermutung, dass der Brief in der uns vorliegenden Fassung im Jahr 1309 entstanden ist, am meisten für sich. Massgeblich verantwortlich dafür könnten verschiedene Ereignisse in diesem politischen Schlüsseljahr sein. Unter anderem die vom neu gewählten König Heinrich VII. in Gang gebrachten Entwicklungen in der Reichsverfassung: Graf Werner von Homberg bezeichnet sich, wie schon erwähnt, 1309 als «Pfleger des römischen Reichs». Dieser Titel beruht auf der nicht explizit überlieferten, indirekt aber plausibel erkennbaren Errichtung einer königlichen Landvogtei Waldstätte durch den neu gewählten König Heinrich VII.4'7 Der Homberger war (Mit-)Erbe der Herrschaft Rapperswil im inneren Gebiet und gerade deshalb für diese Funktion als Pfleger beziehungsweise Reichsvogt der Waldstätte prädestiniert. 1309 urkundet er zusammen mit den landlüten von Schwyz, um die Sicherheit auf dem Vierwaldstättersee, wo offenbar Streitigkeiten mit dem habsburgischen Luzern entstanden waren, zu gewährleisten; Ausstellungsort der Urkunde ist Stans. Gemeinsam wirkten die Waldstätte und der Homberger - gegenüber der Stadt Zürich - auch im sogenannten Rachefeldzug der Habsburger nach der Ermordung König Albrechts im Umfeld der Belagerung der Schnabelburg 1309.4"1 Graf Werner von Homberg kam in dieser Phase des Geschehens eine wichtige politische Gestaltungsrolle zu. Das muss unter anderem mit dem 1309 erfolgten Tod der Gräfin Elisabeth von Rapperswil, seiner Mutter, und Streitigkeiten um das Erbe Rapperswil mit den habsburg-laufenburgischen Verwandten in Rapperswil, seinem Stiefvater Rudolf und dessen Sohn Johannes, zusammenhängen.47' Es wäre angesichts dieser politischen Auseinandersetzungen von 1309 verständlich, dass die Waldstätte ihre Friedensfähigkeit - und damit ihre Verlässlichkeit als Vertragspartner - mit einer Landfriedensvereinbarung unter Beweis stellen mussten. Dies nicht nur der Stadt Zürich gegenüber, sondern vor allem auch für die königliche Kanzlei. Der erste Bundesbrief passt in seiner vorliegenden Form jedenfalls viel besser zu 1309 als zu 1291, will man überhaupt annehmen, dass bestimmte politische Umstände zu seiner Erstellung führten und nicht einfach eine gelehrte Schreibübung vorliegt."0 Nebst der Schaffung der königlichen Landvogtei und dem Tod der Elisabeth von Rapperswil haben noch andere Ereignisse zum unruhigen Charakter der Jahre 1308/09 beigetragen. So der Mord an König Albrecht 1308,*' der Wiederausbruch von Grenzkonflikten am Surenen und im Einsiedler Gebiet, in besonderem Mass wohl auch der für 1309 belegte «Seekrieg» zwischen dem habsburgischen Luzern und Gruppen von Talleuten aus Urseren. An diesem waren zumindest Urner ebenfalls beteiligt. Die drei Waldstätte mussten am 11. November 1309 in Schwyz (die Datierung auf 1309 ist allerdings umstritten und ganz unsicher) ihre Bereitschaft zu Verhandlungen mit der Stadt Luzern beziehungsweise mit Habsburg erklären.482 Im Seekrieg um 1309 kann es nur um Zölle und den freien Zugang zum Gotthardtransit gegangen sein, allenfalls um die Sicherheit von Händlern und Transportgütern. Eine Nachherstellung unter den politischen Umständen des Jahres 1309 erscheint als durchaus wahrscheinlich. Damit könnte man sich zufriedengeben -wenn nicht die Frage wäre, warum denn der Brief auf 1291 zurückdatiert worden ist. Ein bekanntes Argument liegt auf der Hand: Der Tod Rudolfs von Habsburg Mitte Juli 1291 war wohl eines der wenigen Daten, das mit Sicherheit tradiert worden ist. Von Rudolf hatte man in Schwyz schon (vor) 1282 - wie anderenorts - und in etwas anderer Form wiederum 1291 ein Richterprivileg erhalten,483 also die Zusicherung der Bestimmung eigener Richter. Von diesem Privileg findet sich im Bundesbrief ja eine konkrete Spur. Dass 1309 gegenüber dem neu gewählten, landesfremden König Heinrich VII. auf Sonderrechte aus habsburgischer Zeit hingewiesen werden sollte oder musste, wäre ein durchaus nachvollziehbares Motiv. Zudem bestand, wie schon erwähnt, zwischen Zürich, Uri und Schwyz - 172 1291 und Herrschaftsbewahrung Erst 1309 entstanden? 173 ohne Unterwaiden - ein Hilfsbündnis von Oktober 1291. Und im Herbst 1291 hatten auch die Gräfin Elisabeth und ihre Bürger von Rapperswil mit der Stadt Zürich einen Beistandsvertrag auf drei Jahre geschlossen."4 Elisabeth spricht darin ausdrücklich die Absenz eines gewählten Königs an, offenbar mit ein Grund für den Bündnisabschluss. Für eine Rückdatierung auf 1291 waren also markante Ereignisse gegeben. Eine Rückdatierung auf 1291 könnte immerhin einen noch ganz anderen Grund als die Verknüpfung mit den genannten Ereignissen gehabt haben, nämlich das Bestehen einer nicht überlieferten, aber in Teilen abgeschriebenen Vorlage von 1291. Das tritt nicht so offen zutage und wäre weder ungewöhnlich noch sonderlich interessant, wenn dadurch nicht noch eine weitere Spur überraschende neue Perspektiven eröffnen würde. Ausgangspunkt dafür ist der kompilatorische Charakter des Bundesbriefs. Dieser weist mit Bestimmtheit darauf hin, dass es Vorlagen gegeben hat. Ein direkter Hinweis darauf ist schliesslich die explizite Erwähnung der antiqua confoederationis forma, nach der in der bisherigen Forschung vergeblich gefahndet worden ist. Es ist möglich, dass eine Vorlage oder eine der Vorlagen des überlieferten Textes um 1291 entstanden und früh verloren gegangen ist und dass die Nachherstellung von 1309 vielleicht auch Änderungen gegenüber dieser frühen Vorlage vornimmt. Bei der Nachherstellung von 1309 könnte also eine Vorlage von 1291 benutzt und angepasst worden sein. Diese Möglichkeit ist in keiner Weise spekulativer als alle anderen Vorschläge, die das im Text des Bundesbriefs erwähnte ältere Bündnis zu enträtseln versuchen. Waren in der Vorlage andere Bündnispartner beteiligt, und wurden sogar die Bezeichnungen für die Talschaften einfach abgeschrieben? Anzuknüpfen für eine solche Vermutung ist mit dem Ausdruck conmunitas homi-num Intramontanorum vallis inferioris im Bundesbrief. Er wird mehr schlecht als recht Nidwaiden oder dem noch gar nicht existierenden Unterwaiden185 zugewiesen. Was ist damit wirklich gemeint? Die Nidwaldner Übersetzung mit der wörtlichen Umsetzung als die gemeinde der lüten inrentden bergen des Undren Tals verrät in dieser Hinsicht noch immer eine gewisse Unsicherheit, würde man dort doch viel eher «Unterwaiden» erwarten. Und die Tatsache, dass an der Urkunde ein Siegel mit einer um Obwalden ergänzten Umschrift hängt, macht ebenfalls stutzig; Siegel sind häufig umgehängt, ersetzt oder gar gefälscht worden. Könnte mit der genannten lateinischen Bezeichnung nicht genauso gut Urseren gemeint sein? Urseren, das wie die Leventina gelegentlich in solchen Verträgen auftaucht486 und auf das sich die Bezeichnung «unteres» oder «hinteres» Tal, ebenfalls der Ausdruck «Intramontani»,'8' ohne weiteres beziehen könnte? Übrigens gibt es sogenannte Waldleute auch in verschiedenen anderen Gegenden. Unsicherheiten 1291 Bündnis der Stadt Zürich mit Uri und Schwyz von 1291 Het ouch dehein herre ein man der sin ist in dcwedcrm teile, der I sol ime dienon in der gwonheit als vor [zu] des chünges zitcn ; Hat ein Herrschaftsinhaber einen Eigenmann im einen oder anderen Gebiet, so soll der ihm i weiterhin, wie gewohnt, Dienst tun (d.h. Abgaben leisten) wie zuvor, zu des Königs Zeiten Im auf drei Jahre geschlossenen Bündnis sichern sich die Stadt Zürich einerseits, Uri und Schwyz andererseits unter anderem gegenseitige Hilfe auch militärischer Art gegen allfällige Angreifer zu. Die obige Bestimmung, die ganz am Anfang steht, ist Ausdruck allgemeiner Befürchtungen über die Bedrohung des Landfriedens und der herkömmlichen Herrschafts- beziehungsweise Gerichtsordnung nach dem Tod von König Rudolf von Habsburg. 174 1291 und Herrschaftsbewahrung i 175 Urseren und Nidwaiden Der Einbezug von Urseren wäre zumindest für eine Vorlage von 1291 ohne weiteres plausibel. Die Bezeichnung conmunitas hominum Intramontanorum vattis inferioris ist, gesetzt diesen Fall, 1309 aus der Vorlage übernommen worden. Für die Entstehung eines - verlorenen - Vorbündnisses von 1291 unter Einbezug von Urseren gibt es zwei gute Argumente: Sicher hatten die Unruhen in der Leventina 1285 bis 1291, bei denen gentes de Alamania, also «Leute aus alemannischem [das heisst deutschsprachigem Nachbar-] Gebiet», nachweislich mitmachten, Friedensbedürfnisse auch nördlich des Gotthards geweckt.4*11 Mit Uri, Schwyz und Urseren wären zudem drei Täler involviert, in denen der ehemalige Rapperswiler Einfluss offenliegt. Hier konnte der Homberger später also die königliche Vogtei ganz direkt auf sein umstrittenes Erbe zurückführen. Urseren, grundherrlich zum Kloster Disentis gehörend, war spätestens seit staufischer Zeit als Reichslehen - das Habsburger Urbar spricht von einer «freien Vogtei» - in den Händen der Inhaber der Herrschaft Rapperswil; diese kamen nach 1220 wohl aus der Familie der Herren von Vaz. Schon 1283 hatte König Rudolf das Tal beziehungsweise die Vogteirechte im Tal eingezogen oder einen solchen Einzug zumindest beansprucht. Dies geschah vorerst eher im Sinn der Zurückgewinnung von Reichsgut, obschon im später aufgezeichneten habsburgischen Urbar die Verzeichnung habsburgisches Hausgut meint. Im Urbar ist des Weiteren vermerkt, dass die Einkünfte aus Bussen dieser Talleute so gering seien, dass deren Aufschreiben sich gar nicht lohne und sie besser gleich dem Ammann überlassen würden.*89 Dieser Hintergrund würde plausibel erklären, warum sich die führenden Leute in der Talschaft Urseren 1291 mit Urnern und Schwyzern - als ehemaligen Rapperswiler Herrschaftsangehörigen - nach dem Tod König Rudolfs zu einem ordnungsbewahrenden Bündnis zusammengetan haben könnten. Ging es nicht nur in einer allfälligen Vorlage von 1291, sondern auch 1309 immer noch um Urseren - oder jetzt eben um kollektive Verbände im heutigen Unterwaiden? Das ist schwieriger zu beurteilen. Die landlütvon Underwalden im Bündnis von 1315 müssen mit den Intramontani von 1291/1309 nicht identisch sein. Die sehr seltsame Tatsache, dass im sogenannten Morgartenbrief von 1315 die Vereinbarung von 1291/1309 nicht erwähnt wird, wäre dann recht einfach zu erklären: Die Bündnispartner waren eben nicht die gleichen. Zum politischen Zusammenhang mit Urseren würde ferner die Tatsache passen, dass Werner von Homberg 1311 bestrebt war, eine eigentliche Alpenvogtei sogar unter Einschluss der Leventina zu bilden.490 Leute aus Urseren standen 1309 im «Seekrieg» mit der Stadt Luzern, und Uri trat dabei offensichtlich als politischer Garant für die Schlichtung dieser Fehde auf.49' Liesse sich so für 1309 einerseits noch an die Mitwirkung von Urseren denken, so würden andererseits die bekannten Auseinandersetzungen um den See- beziehungsweise Gotthardweg um Vjog"2 ebenso gut einen Einstieg von Nidwaiden erklären. Die für Unterwaiden überlieferten, König Heinrich VII. zugeschriebenen Reichsprivilegien von 1309 könnten damit zu tun haben, und zwar als Bestätigung der Handlungsfähigkeit, unabhängig vom Umstand, dass diese Privilegien möglicherweise erst später verschrifflicht und zurückdatiert wurden.4'3 Der innere Zusammenhang der Bündnisaktion von 1309 mit gewaltsamen Konflikten auf dem Transportweg und mit drohendem Ungemach von Seiten des habsburgischen Luzern würde auch eine andere Merkwürdigkeit besser nachvollziehbar machen: Erstaunlicherweise wird schon im Bundesbrief von 1291/1309, wie später bis hin zum Stanser Verkommnis von 1481,494 immer wieder - man möchte fast schon sagen typisch schweizerisch-föderalistisch - die Kostenfrage495 für die gegenseitige militärische Hilfestellung geregelt. Interessanterweise besteht in den Jahren 1314-1316 eine sehr ähnliche politische Konstellation in Bezug auf den Gotthardweg wie 1309, diesmal sicher unter Beteiligung von Leuten aus «Unterwaiden». Ob einstmals Urseren dabei war, und das auch noch 1309, lässt sich letztlich nicht mit Sicherheit sagen. Der ursprüngliche Bezug auf Urseren würde immerhin am einfachsten erklären, warum der Bundesbrief - auch in seiner Nachherstellung - bis ins 17. Jahrhundert nicht mehr auftaucht. Möglich wäre sogar, dass die ganz selbstverständliche Identifikation der Intramontani des Bundesbriefs mit den Unterwaldnern im 17. und 18. Jahrhundert eine aufgrund des Geschichtsbildes verständliche Überlagerung darstellt; das Siegel ist vielleicht erst viel später an die 1 Urkunde gekommen. Die lantlüt von Unterwaiden im Bundesbrief von 1315 brau- 1 chen, wie schon erwähnt, mit den Intramontani von 1291/1309 nicht identisch zu sein. Dies umso weniger, als vermutlich Reichspflegerrechte des Hombergers - die Gemeinsamkeit von 1315 beruht auf der königlichen Landvogtei des Hombergers -Ansprüche ebenfalls in Unterwaiden umfassten.496 Auch unter diesem Aspekt ist ein wechselnder Bezug auf Urseren oder Nidwaiden beziehungsweise Unterwaiden durchaus möglich. Auf eine in den Bündnissen eingearbeitete verlorene Vorlage oder Teilvor-* läge von 1291 - oder eine noch ältere - weist noch ein anderes Indiz indirekt hin: 1 Der Bündnisbrief Zürichs mit Uri und Schwyz von Oktober 1291 ist in der vorlie- genden Fassung nach dem 14C-Befund möglicherweise erst nach 1370497 entstanden. Hat man auch in diesem Fall ein älteres Bündnis ersetzt und zurückdatiert? Wurden in allen i2gier-Briefen bei einer Neuausfertigung ursprüngliche Bündnispartner weggestrichen oder ersetzt, also der Inhalt aktualisiert? Das könnte bedeuten, dass im 1291er-Vorläufer des 1309 neu hergestellten ersten Bundes-l briefs die Gräfin von Rapperswil mit dabei war und ihr Tod 1309 einen der wichti- i geren Gründe für eine Neuherstellung darstellte. Immerhin ist ein grundsätzlich ! analoges Vorgehen der Korrektur, wie erwähnt, für 1454 belegt.498 Damals blieb im neu ausgestellten Luzerner Bund das Jahr 1332 stehen, stillschweigend verschwand aber der Vorbehalt der Rechte der österreichischen Herrschaft, eine doch sehr 176 1291 und Herrschaftsbewahrung 177 wesentliche Aktualisierung aufgrund veränderter Zeitumstände. Sowohl beim Zürcher Vertrag von 1291 wie beim Bundesbrief ist denkbar, dass an den Vorläufern beziehungsweise vorangegangenen Bündnissen auch die Herrschaft Rapperswil beteiligt gewesen war. Und schliesslich darf auch die mögliche Rolle der Stadt Zürich als Mitinitiantin für den nach meiner Ansicht um 1309 entstandenen Brief «von 1291» nicht unterschätzt werden. Ordnungswahrung als Herrschaftsbewahrung Was kann am Ende als Resultat der nichteidgenössischen Sicht auf die «Gründungs-urkunde» von 1291 festgehalten werden? Trotz allen Fragezeichen und Alternativen lässt sich letztlich ein kohärentes Bild entwerfen. Der Bundesbrief stellt einen Beweis für die Anstrengungen zur Herrschaftsbewahrung dar. Er kann nicht länger als Zeugnis eines frühen autonomen, antiherrschaftlichen politischen Gestaltungswillens der ländlichen Kommunen und ihrer Führungsgruppen verstanden werden. Sein Text ist etappenweise entstanden, teilweise vielleicht schon 1291 als Reaktion auf die Unruhen südlich des Gotthards und auf die unsichere königslose Zeit, in einer frühen Fassung möglicherweise unter Einbezug von Urseren statt Nidwaiden oder Unterwaiden. Die uns vorliegende Kompilation datiert vermutlich von 1309. Sie ist sehr plausibel mit den unruhigen Zeitläuften zu verbinden. Evident ist ihr Zusammenhang mit der Schaffung einer königlichen Landvogtei durch den neu gewählten König HeinrichVII. zu Gunsten des Grafen Werner von Homberg. Der Schaffung eines königlichen Landfriedensbezirks, der sich auf die Vogteiansprüche des Hombergers aus dem Rapperswiler Erbe abstützte, kommt also erhebliche Bedeutung zu. Musste der Homberger nachweisen, dass er fähig und gewillt war, in seinem Gebiet Frieden zu stiften beziehungsweise den Landfrieden aufrechtzuerhalten, und diente der Bundesbrief diesem Nachweis? Das Zusammenwirken der doch sehr ungleichen Talschaften erklärt sich demnach aus dem adelsherrschaftlichen Substrat und wird sozusagen von aussen herbeigeführt. Mit Blick auf die Herrschaft Rapperswil ist nicht auszuschliessen, dass hier bereits - nur schwach fassbare - staufische Bemühungen vor 1250 um die Errichtung einer Reichsvogtei in diesem Gebiet eine Rolle gespielt haben. Dabei ist zum einen an das Reichslehen Urseren zu denken. Aus meiner Sicht hängen damit zum anderen die - schlecht überlieferte - sogenannte Urner Reichsfreiheit von 1231 und das Schwyzer Privileg Friedrichs II. von 1240 aufs Engste zusammen. Beide sind mit grosser Wahrscheinlichkeit als Kriegsdienstentschädigungen entstanden, Ergebnis der mit der Reichsfreiheit zugestandenen Erhebung von Reichssteuern, und zwar für einen bestimmten Herrschaftsträger, den Inhaber von Rapperswil.4'" In jedem Fall waren die Abhängigkeiten von der Bundesbrief1291 Bundesbriefe sichern die rechte Ordnung. i Ita lamcn quod quilibet homo iuxta sui nominis conditionem domina suo convenienter : subessc tcncatur et servire ; So jedoch, dass jeder Mensch (auch als Abhängiger, Eigenmann übersetzbar) gemäss seiner i Zugehörigkeit seinem Herrn nach Gewohnheit untergeben bleibt und (ihm) Dienste leisten i muss Der Bundesbrief von 1291 enthält neben den Zusicherungen gegenseitigen Beistands und strafrechtlichen Bestimmungen im Sinn einer Landfriedensordnung an mehreren Stellen auch explizite Bekräftigungen der herrschenden Ordnung, die den Gehorsam gegenüber den Herren einschliessen. 178 i29i und Herrschaftsbewahrung Politik des einheimischen Adels und von dessen Stellung zu Landesherrschaft und Königtum von erheblicher Bedeutung für die spezifische innerschweizerische Entwicklung. Mit der späteren Eigendynamik führte diese spezifische Situation zu einem Prozess, der letztlich in eine erhöhte politische Selbständigkeit der kommunalen «Länder» mündete. Das aber war um 1300 nicht vorhersehbar und auch gar nicht intendiert. Zu diesem Zeitpunkt schlossen sich nicht prästaatliche Territorien mit kommunalen Autonomieansprüchen zusammen, sondern Personen verbände, deren Führungsgruppen ihre innere Vorrangstellung legitimieren und halten wollten. Ihr Ziel war die Friedenssicherung durch Herrschaftssicherung. Wie schon erwähnt, war dazu das eidliche Eingehen gegenseitiger Verpflichtungen unter wechselnden Personenkreisen durch «Einungen» ein geeignetes, zeitgenössisch durchaus bekanntes Mittel. Dass auf der Ebene des konkreten politischen Alltags, zusammen mit den Bindungen in herrschaftlich bestimmten Personenverbänden, bei der Verteilung von Macht und Ressourcenzugängen familiäre sowie persönliche Netzwerke und Abhängigkeiten ebenfalls eine wichtige Rolle spielten, ist ohne weiteres anzunehmen, obschon dies in den Quellen nicht zum Vorschein kommt. Von ländlichen Kommunen im Sinn politisch autonomer Talgemeinden mit institutionell definierter Beteiligung aller Talbewohner am politischen beziehungsweise verfassungsmässigen Wandlungsprozess kann noch nicht gesprochen werden. Entsprechende, erst schwach und am ehesten noch in Schwyz fassbare kommunale Institutionen sind herrschaftsgebunden. Das zeigt sich gerade am Gewicht der herrschaftsbezogenen Gerichtsverfassung im Bundesbrief. Solche politischen, institutionell gefestigten und autonomen Kommunen im alpinen Gebiet, wie sie auch anderenorts zu belegen sind,500 stellen in der Innerschweiz nicht den Anfang, sondern das Resultat eines langen, jeweils regionsspezifischen und wechselhaften Veränderungsprozesses dar. Der Bund «von 1291» gehört in den Zusammenhang regionaler Landfriedensbemühungen und besass herrschafts-bewahrenden Charakter - erst spätere Ideologiebedürfnisse haben ihn ex post zu einem Vorfahren und Vorbild der im 15. Jahrhundert als politische Instrumente wirkenden eidgenössischen Bünde zwischen eigenständigen «Orten» gemacht. Er entstand unter aktuellen politischen Umständen, zumindest in der überlieferten Fassung vermutlich 1309, und seine regionale Basis war die Zugehörigkeit der Talschaften zur ehemaligen Herrschaft Rapperswil beziehungsweise zur hombergischen Reichsvogtei. Er geriet gewissermassen in Vergessenheit und blieb gegenüber den - späteren - traditionsbildenden Wirkungen des Bündnisses von 1315 eine blosse Episode.