Der Geschichtsfreund Mitteilungen des Historischen Vereins der fünf Orte Luzern, Uri, Schwyz, Unterwaiden ob und nid dem Wald und Zug 147. Band 1994 KOMMISSIONSVERLAG JOSEF VON MATT, STANS Die Grafen von Rapperswil: Kontroversen, neue Perspektiven und ein Ausblick auf die «Gründungszeit» der Eidgenossenschaft um 1300 Roger Sablonier, Zürich «Ein letztes Wort über den ersten Graf Rudolf von Rapperswil» - diesen ganz und gar unmissverständlichen Titel gab vor nunmehr über hundert Jahren der Zürcher Gelehrte Heinrich Zeller-Werdmüller einem kleinen Artikel, mit dem er die damals heftig und kontrovers geführte Diskussion um Herkunft und Genealogie der Grafen von Rapperswil abschliessen wollte. Trotzdem (und glücklicherweise) sind die Grafen von Rapperswil und ihre Herrschaft am oberen Zürichsee, im Glatttal und in Uri seither immer wieder Gegenstand des allgemeinen historischen Interesses gewesen. Neben den erfreulichen lokalhistorischen Aktivitäten mag dies auch damit zu tun haben, dass die imposante Burg und die nostalgieträchtige Kleinstadt fast so etwas wie einen Inbegriff von romantischem Mittelalter vermitteln. Auch für die mit wissenschaftlicher Zielsetzung arbeitende Landesgeschichte blieb und bleibt das Thema wichtig, ja aus der hier vertretenen adels- und regionalgeschichtlichen Sicht sogar ausgesprochen spannend.1 Zeller-Werdmüller verteidigte im genannten Artikel mit Gift und Galle seine Genealogen-Autorität gegen den Studenten Emil Krüger.2 Dieser war auf die originelle und damals offenbar für etablierte Zeitgenossen ungehörige Idee gekommen, einer der nach 1230 auftretenden Rapperswiler Grafen könnte zwar eine Rapperswiler Mutter, aber einen Vater aus dem Hause Vaz gehabt haben. Die daraus entstandene Krüger-Zeller'sche Tintenschlacht gilt als Muster eines echten Genealogenstreits mit all seinen kuriosen und gelehrteneitlen Seiten. Das durchaus ernsthafte genealogische Problem ist jedoch bis heute ungelöst, und wahrscheinlich haben gerade Abgekürzt zitierte Quellen: ChSangallense: Chartularium Sangallense, Bde. 3-5, bearb, von Otto P. Clavadetscher, St. Gallen 1983-1988. - UBZürich: Urkundenbuch der Stadt und Landschaft Zürich, 13 Bde., Zürich 1888-1957. - QW: Quellenwerk zur Entstehung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Abt. I: Urkunden, 3 Bde., Aarau 1933-1964; Abt. II: Urbare, 4 Bde., Aarau 1941-1957, 1 Für die Einladung, anlässlich der Jubiläums-Jahresversammlung des Historischen Vereins der Fünf Orte am 5. September 1993 in Pfäffikpn SZ über dieses Thema zu sprechen, möchte ich an dieser Stelle nochmals danken. Der Vortragstext wurde für den Druck umstrukturiert, stellenweise erweitert sowie mit den nötigsten Nachweisen versehen. Dem Anlass entsprechend haben die Ausführungen eher allgemeinen Charakter. 2 Siehe Ernst Diener, Grafen von Rapperswil, in: Genealogisches Handbuch zur Schweizer Geschichte, Bd. 1, Zürich 1900, S. 64-67, mit den Literaturverweisen zu dieser Kontroverse. 5 die alten Kontroversen dazu geführt, dass es zu einer modernen monographischen Bearbeitung der Rapperswiler bisher nicht gekommen ist. Lokal- und regionalgeschichtliche Arbeiten über das Gebiet des oberen Zürichsees blieben meist beim Bekannten, sind aber wegen der Orts- und Detailkenntnis trotzdem vielfach unentbehrlich.3 In Zusammenhang mit der sogenannten «Gründungsgeschichte» der Eidgenossenschaft rückte immer wieder der im Laufe des 13. Jahrhunderts an Wet-tingen übergegangene Rapperswiler Besitz in Uri ins Blickfeld.4 Neuere Adelsmonographien gibt es für Habsburg-Laufenburg und Homberg, also für die Erben der Rapperswiler Grafen nach 1283 und nach 1309, dem Todesjahr des letzten Grafen Rudolf beziehungsweise der letzten Gräfin Elisabeth von Rapperswil.5 Aus jüngster Zeit liegen informative Arbeiten zum Thema der Beziehungen zwischen Rapperswil, Schwyz und Uri und zur Geschichte der Burg Neu-Rapperswil vor.6 Um das letzte Wort wie damals für Zeller-Werdmüller kann es hier selbstverständlich nicht gehen. Die Auswertung der zum Thema Rapperswil vorhandenen Literatur zeigt allerdings rasch, dass die undiskutabel gesicherten Kenntnisse im Grunde recht schmal sind, vieles am scheinbar Bekannten dagegen bei näherem Hinsehen zwar nicht unplausibel ist, trotzdem aber grosse Probleme aufgibt. Letztlich sind nicht etwa nur im Bereich der Genealogie wichtige Fragen ungelöst. Die Gründe dafür sind bestimmt zum Teil in der schlechten Quellenlage zu suchen.7 Nun lassen sich zwar Quellenarmut und ausgeprägte inhaltliche Dürftigkeit des 3 Nunmehr ausführlich verzeichnet in: Geschichte des Schlosses Rapperswil, Hrsg. Ortsgemeinde Rapperswil, Rapperswil 1993. Zusätzlich etwa: Martin Ochsner, Altendorf und die Landschaft March, in: Mitteilungen des Historischen Vereins des Kantons Schwyz 39 (1933), S. 3-102, und 40 (1934), S. 3-149. 4 So bei Paul Kläui, Bildung und Auflösung der Grundherrschaft im Lande Uri, in: Historisches Neujahrsblatt [Uri] 12/13 (1957/58), S. 40-89 (auch in: Paul Kläui, Ausgewählte Schriften, [Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich 43.1] Zürich 1964, S. 76-117); Peter Hubler, Adel und führende Familien Uris im 13./14. Jahrhundert, Diss. Zürich, Bern 1973, S. 14-17, 20f.; neuerdings sehr ausführlich in Hans Stadler-Planzer, Geschichte des Landes Uri, Bd. 1, Von den Anfängen bis zur Neuzeit, Schattdorf 1993; Hans Stadler-Planzer, Das Haus Rapperswil und die Beziehungen zwischen Uri und Schwyz im 13./14. Jh., Der Adel als Klammer der jungen Eidgenossenschaft, in: Mitteilungen des Historischen Vereins des Kantons Schwyz 83 (1991), S. 63-91. 5 Christoph H. Brunner, Zur Geschichte der Grafen von Habsburg-Laufenburg, Diss. Zürich, Samedan 1969 (dort die älteren Arbeiten zum Thema, u.a. von Bruno Meyer); Jürg Schneider, Die Grafen von Homberg, Diss. Zürich, in: Argovia 89 (1977), S. 5-310. 6 Stadler, Haus Rapperswil (wie Anm. 4; für anregende, schon 1990 mit Hans Stadler geführte Diskussionen zum Thema danke ich); Silvia Clavadetscher, Das mittelalterliche Schloss Rapperswil und seine Bewohner, in; Geschichte des Schlosses Rapperswil (wie Anm. 3), S. 21-80 (Silvia Clavadetscher hat mir freundlicherweise für den Vortrag Einsicht in ihr Manuskript gewährt); die Ausführungen von Bernhard Anderes zur Baugeschichte (vgl. auch Bernhard Anderes, Die Kunstdenkmäler des Kantons St. Gallen, Bd. 4: Der Seebezirk, [Kunstdenkmäler der Schweiz 53] Basel 1966, S. 222(.) und von Alois Stadler zu Schlossvogtei und Stadtverwaltung ebenfalls in Geschichte des Schlosses Rapperswil (wie Anm. 3). 7 Direkt genannt, fast ausschliesslich als Zeugen oder Siegler, sind weltliche Herren von Rapperswil in der urkundlichen Überlieferung vor 1200 in ungefährer Zählung zehnmal, von 1201-1233 (ohne Zeugenleistungen im kaiserlichen Gefolge) elfmal, von 1234-1255 (ohne Heinrich Wandeiber) fünfzehnmal, von 1256-1262 zwanzigmal und von 1263-1283 nur gerade achtmal. Diese Quellengrundlage ist auch im Vergleich zu Kyburg oder Eschenbach sehr schmal. schriftlich überhaupt Vorhandenen für die Zeit vor 1280 nicht beheben. Eine erneute Beschäftigung mit den an sich seit langem vollständig bekannten schriftlichen Quellen8 zum Thema Rapperswil lohnt sich aber trotzdem und führt unter neuen Fragestellungen zu einer wesentlichen Erweiterung der Perspektiven und Kenntnisse. Für die derzeitige Forschungslage ist entscheidend, dass heute die Forschungsinteressen im Hinblick auf den Adel weit über die genealogischen, rechts- und ereignisgeschichtlichen Fragen hinausgehen und neue Problemfelder zum Beispiel in der Verbindung von Herrschafts- und Sozialgeschichte erschlossen worden sind.9 Neue Resultate der Adelsforschung und der heute erreichte Standard der Überlieferungskritik bieten völlig neuartige Auswertungs- und Deutungsmöglichkeiten, die es auch im regionalen Rahmen anzuwenden gilt. Ebenso wichtig sind die veränderten Zielsetzungen und damit Fragestellungen der Landesgeschichte. Deren Hauptbeschäftigung für die Zeit nach 1250 muss es heute sein, die Geschichte der Region definitiv aus der - zumindest im Hinblick auf politische Vorgänge - immer noch alles überlagernden Umklammerung durch die «eidgenössische Gründungsgeschichte» zu lösen und als tatsächlich an Ort und Stelle stattfindende «regionale Geschichte» zu erforschen.10 Gerade das Thema Rapperswil erweist sich dafür als besonders gut geeignet. Mein Ziel ist es, mit einer neuen Perspektive zu einer weiteren Beschäftigung mit dem Thema anzuregen. 8 Die Urkunden sind nunmehr vollständig zusammengestellt und kompetent ediert in der von Otto P. Clavadetscher besorgten Neuedition des Sanktgaller Urkundenbuches; im folgenden zitiert als ChSangallense mit Band und Urkundennummer. Zahlreiche Quellenstücke auch im Urkunden-buch der Stadt und Landschaft Zürich (zitiert als UBZürich mit Band und Urkundennummer) und im Quellenwerk zur Entstehung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (zitiert QW I oder II mit Band und Urkundennummer). Ferner: Christian Kuchimeister, Nüwe Casus Monasterii Sancti Galli, hg. von Gerold Meyer von Knonau, (Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte 18; St. gallische Geschichtsquellen) St. Gallen 1881 (wichtige Kommentare); viele Angaben auch in: Das Habsburgische Urbar, hg. von Rudolf Maag, Bd. 1, (Quellen zur Schweizer Geschichte 14) Basel 1894. Besonders nützlich sind die Kommentare »von Bernhard Stettier zu den Angaben von Aegidius Tschudi: Aegidius Tschudi, Chronicon Helveticum, Teil 3, bearb. von Bernhard Stettier, (Quellen zur Schweizer Geschichte Neue Folge I, VII/3) Basel 1980. 9 Zum regionalen Adel vgl. Erwin Eugster, Adlige Territorialpolitik in der Ostschweiz, Kirchliche Stiftungen im Spannungsfeld früher landesherrlicher Verdrängungspolitik, Diss. Zürich, Zürich 1991; interessant zum Hochmittelalter auch August Bickel, Zofingen von der Urzeit bis ins Mittelalter, (Veröffentlichungen zur Zofinger Geschichte 1) Aarau 1992, besonders S. 222ff.; dazu Roger Sablonier, Adel im Wandel, Eine Untersuchung zur sozialen Situation des ostschweizerischen Adels um 1300, (Veröffentlichungen des Max-Planck-Institutes für Geschichte 66) Göttingen 1979, und als damalige Pionierleistung Paul Kläui, Hochmittelalterliche Adelsherrschaften im Zürichgau, (Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich 40/2) Zürich 1960. Zur internationalen Adelsforschung etwa die Forschungsberichte von Leopold Genicot in der Revue d'histoire eccle-siastique, zuletzt 88 (1993), S. 172-201; sehr breiter Literaturüberblick bei Karl-Heinz Spiess, Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters, (Beihefte Vierteljahresschriftfür Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 111) Stuttgart 1993. 10 So auch eines der Ziele meines Versuchs, die Geschichte der regionalen Gesellschaft darzustellen: Roger Sablonier, Innerschweizer Gesellschaft im 14. Jahrhundert, in: Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft, Jubiläumsschrift 700 Jahre Eidgenossenschaft, Hrsg. Historischer Verein der Fünf Orte, Bd. 2, Ölten 1990, S. 9-233. 6 7 Wer auf einem landesgeschichtlichen Gebiet, das sich mit der traditionellen politischen «Gründungsgeschichte» rund um Bundesbrief, Befreiungstradition und Morgarten nicht nur unter zeitlichem Aspekt berührt, Entdeckungsfahrten unternehmen will, wird dies heute am besten unbelastet durch die älteren Diskussionen um urschweizerische Verfassungs- und Institutionengeschichte tun. Mit der Absicht, neue Wege zu gehen, ist allerdings in keiner Weise Geringschätzung für das bisher Erarbeitete verbunden. In den folgenden Ausführungen wird im ersten Abschnitt («Alte Kontroversen») die wichtige ältere Forschung, soweit sie Grundlagen gelegt hat, kurz zusammengefasst, allerdings eingeschränkt auf das zentrale Problem Genealogie. Unter den Stichworten «Familie», «Herrschaft» und «Politische Bedeutung» folgen anschliessend Fakten, Hinweise und Überlegungen zum Rapperswiler Problem, die aufgrund des heutigen Standes der Erforschung adelsgeschichtlicher Probleme - also grundsätzlich auf dem jüngsten Stand des Irrtums -eine neue Perspektive ergeben. ALTE KONTROVERSEN In der vorhandenen Literatur zur Geschichte der Grafen von Rapperswil ist letztlich so ziemlich alles, was früher bei einem solchen Thema überhaupt diskutiert werden konnte, kontrovers beurteilt worden: sowohl die Stammfolge wie auch der Burgenbesitz, die Umstände der Klostergründungen in Wettingen und Wurmsbach wie die Entstehung einer eigenen ritterlichen Dienstmannschaft, letztlich ganz allgemein die Herrschaftsgeschichte wie auch deren politische Bedeutung. Eindeutig einen Kernpunkt der Kontroversen bilden aber die Probleme der Genealogie, und nur darauf soll hier - reduziert auf einiges Grundsätzliche - näher eingegangen werden. Als Ausgangspunkt kann die Darstellung der Rapperswiler Genealogie von Ernst Diener im Genealogischen Handbuch zur Schweizer Geschichte dienen. Sie ist im nebenstehenden Schema vereinfacht wiedergegeben.11 Dieses Schema bietet ein durchaus einleuchtendes Bild. Dahinter steht jedoch eine lange Reihe von Annahmen und Ermessensentscheiden, wie es wohl bei jeder Genealogie von Nobiles des 12./13. Jahrhunderts wegen der verzweifelt dürftigen Quellenangaben nicht anders möglich ist. Trotzdem ist nicht darüber hinwegzusehen, dass dieses scheinbar einfache Bild für die Rapperswiler in Tat und Wahrheit sowohl grundsätzlich wie in zahlreichen Details sehr problematisch ist. Hauptpunkt der Unklarheiten war von jeher die Frage, wieviele verschiedene Rudolfe eigentlich auf Burg Rapperswil gewirkt haben, beziehungsweise das Pro- 11 Nach Diener, Rapperswil (wie Anm. 2), Tafel xi. Das Schema dient hier nur zur ersten Orientierung; es kann aus inhaltlichen und methodischen Gründen nicht mehr als zutreffend gelten. Das nachfolgend diskutierte neue Modell lässt sich leider nicht auf einfache Weise grafisch darstellen. Herren und Grafen von Rapperswil: Vereinfachte Stammtafel (Quelle: Genealogisches Handbuch zur Schweizer Geschichte, Bd. 1) Rudolf III. 1210-fnach 1223 Rudolf I. (IV.) 1229-1262 comes 1233 Rudolf II. 1177-tnach 1192 Heinrich II. «Wandelber» > Anna von Homberg später Mönch in Wettingen Ulrich von Greifenberg 1223 Tochter N.N. (t vor 1241) >N.N. > Mechthild von Neifen Anna 1248-1253 VlNCENTIUS 1259 Elisabeth 1261-tl309 Rudolf II. (V.) 1262/63-1283 «ultimus» Heinrich I. 1177-tnach 1189 Heinrich Kanoniker in Konstanz 1213-1243 Adelheid 1213 <*> Walter III. von Vaz Rudolf von Vaz 1229 «nepos et heres» °° Ludwig von =o Rudolf von Homberg Habsburg-Laufenburg 11289 i |1315 1 Werner von Johann von Homberg- Habsburg-Laufen- Rapperswil burg-Rapperswil blem, woher jener oder jene Rudolfe kommen, die nach 1229 in den Quellen auftreten. Den 1233 erstmals als «comes», als Graf urkundenden Rudolf sieht Diener als Sohn eines bis 1223 belegten Rudolf, jedenfalls wie Zeller-Werdmüller als Agnaten, also als Abkömmling in männlicher Folge der früheren Rapperswiler, der dann bis 1262 aktiv gewesen wäre, und dies als einziger Rapperswiler weltlichen Standes. Krüger dagegen meinte, in der Zeit nach 1229 sei ein kognatisch, also über eine weibliche Abfolge verwandter Rudolf von Vaz (nach ihm: durch Adoption) zum Erben gemacht worden und dann nach 1250 allein unter dem Namen «von Rap-perswil» aufgetreten. Neben andern Hinweisen stützt sich diese «Vazer These» auf die Tatsache, dass in einer auf 1229 datierten Urkunde12 der ausstellende Rudolf von Rapperswil als ersten Zeugen einen Rudolf von Vaz «nepos meus et heres» nennt. Von allen wird dieser Rudolf von Vaz als Sohn einer mit Walter von Vaz verheirateten Adelheid von Rapperswil - deren Herkunft allerdings nicht explizit belegt ist— identifiziert. Die Literatur folgte im allgemeinen eher Diener (und damit Zeller-Werdmüller) und lehnte die «Vazer Theorie» ab. So beispielsweise Paul Kläui, der seinerseits die Rapperswiler auf eine Grossgruppe der Herren von Uster-Hinwil des 11, Jahrhunderts zurückführte, und neuerdings Hans Stadler, der die Versionen von Diener und Kläui diskussionslos verwendet und im urnerischen Besitz der Rapperswiler Kontinuitäten bis auf das frühmittelalterliche alemannische Herzogtum zurück vermutet.13 Muraro kam in seiner Vazer Monographie (und später auch im Genealogischen Handbuch zur Schweizergeschichte) zum Schluss, dass nichts für einen solchen Eintritt eines Vazers in das Rapperswiler Erbe spreche.14 Insbesondere die wichtige Beobachtung, dass der Rapperswiler immer das gleiche Siegel verwendet, bewog Clavadetscher im Kommentar zum Chartularium Sangallense, von 1210 bis 1262 die Existenz nur eines einzigen Rudolf anzunehmen.15 Die unbestrittene Tatsache, dass noch 1262/63 Mechthild, die Witwe des 1262 verstorbenen Rudolf, einen Sohn zur Welt brachte, den nachgeborenen und letzten Rudolf, der 1267 als «puer» erwähnt und bis 1283 genannt wird, steht dieser Annahme trotz der Altersverhältnisse grundsätzlich nicht entgegen. Es gibt jedoch auch andere Ansichten: Im Historisch-biographischen Lexikon hatte seinerzeit Schnellmann die «Vazer Theorie» in abgewandelter Form übernommen.16 Später brachte Boner neue Argumente für seine Uberzeugung bei, dass bis 1255 von einem älteren Rudolf auszugehen wäre, dessen Erbe dann tatsächlich der schon 1229 genannte Vazer (bis zum Tode 1262) angetreten hätte.17 Bei der Beschäftigung mit anderen adelsgeschichtlichen Problemen in der Region bin ich selber ebenfalls auf die Merkwürdigkeiten der Rapperswiler Genealogie gestossen, und ich hielt einen Bruch in der Stammfolge um etwa 1230 für wahrscheinlich.18 Davon ausgehend legte Eugster in seiner umfangreichen Untersuchung der landesherrlichen und adligen Kirchen- und Klosterpolitik 1991 eine neue und überraschende Version vor; Er zeigte auf der Basis späterer Gütertradierungen und Beziehungsgeflechte überzeugend auf, dass bereits um 1200 ein genealogischer Bruch eingetreten sein muss. Die «von Rapperswil» des 12. Jahrhunderts können sich also höchstens kognatisch ins 13. Jahrhundert - für das Eugster sich dann ohne weitere Diskussion der Version von Boner anschliesst - fortgesetzt haben.19 Lässt sich das Problem überhaupt lösen, und sind diese genealogischen Fragen tatsächlich wichtig? Angesichts der dünnen Überlieferung für die Zeit vor 1250 ist es generell ein hoffnungsloses Unterfangen, genealogische Fragen in allen Punkten schlüssig und eindeutig beantworten zu wollen; das gilt, wie schon erwähnt, nicht nur für die Rapperswiler Grafen. Es deshalb einfach dabei bewenden zu lassen, ist trotzdem nicht möglich. Für die Klärung der Herrschaftsgeschichte ist in der Tat nicht gleichgültig, ob wir wirklich mit einer (agnatischen) Stammfolge der Rapperswiler rechnen können. Brüche in dieser Abfolge sind ja nicht einfach nur «generative Unfälle» beziehungsweise «biologisches Pech», sondern Ausdruck politischer und sozialer Veränderungen im gesamten Umfeld und demnach von hoher Relevanz für die Herrschaftsgeschichte. Alle bisher vorgeschlagenen Lösungen haben Argumente für sich, schliessen sich aber gegenseitig aus und vermögen im Grunde nicht zu überzeugen. Gerade das macht die Situation unbefriedigend, nicht bloss in Details, sondern ganz grundsätzlich. 12 ChSangallense 3, 1171. 13 Kläui, Adelsherrschaften (wie Anm. 9); Stadler, Haus Rapperswil (wie Anm. 4), besonders S. 63f., und Stadler, Uri (wie Anm. 4), z.B. S. 107ff. 14 Siehe Jürg L. Muraro, Untersuchungen zur Geschichte der Freiherren von Vaz, Diss. Zürich, in: Jahresbericht der Historisch-antiquarischen Gesellschaft von Graubünden 100 (1970), Chur 1972, besonders S. 15. Albert Bodmer/Jürg L. Muraro, Freiherren von Vaz, in: Genealogisches Handbuch zur Schweizer Geschichte, Bd. 4, Chur/Freiburg 1980, S. 255-277. 15 ChSangallense 3 und 4, Register und Anmerkungen. 16 Historisch-biographisches Lexikon der Schweiz (HBLS), Bd. 5, Neuenburg 1929, S. 5J6f. (Rapperswil, Vögte und Grafen von). 17 Georg Boner, Zur Genealogie der Einsiedler Kastvögte, der Herren und Grafen von Rapperswil, im 13. Jahrhundert, in: Festschrift Gottfried Boesch, Schwyz 1980, S. 57-84. 18 Vgl. Roger Sablonier, Kyburgische Herrschaftsbildung im 13. Jahrhundert, in: Die Grafen von Ky-burg, (Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie des Mittelalters 8) Olten/Freiburg i. Br. 1981, S. 39-52, besonders S. 40 und Anm. 20. Der von mir in Adel im Wandel (wie Anm. 9), S. 25 Anm. 27, früher vermutete Zusammenhang mit Herren «von Güttingen» lässt sich nicht konkret genug wahrscheinlich machen. Meine Mitarbeiterin Franziska Hälg-Steffen hat mir bei der detaillierten Klärung besitz- und familiengeschichtlicher Probleme wertvolle Hilfe geleistet. 19 Eugster, Territorialpolitik (wie Anm. 9), besonders S. 230-255. Auf seine detaillierten und grundlegenden Ausführungen zu allen Verwandtschafts-Problemen in diesem Zusammenhang wird im folgenden nicht im Detail verwiesen. 10 11 DIE «FAMILIE» DER HERREN VON RAPPERSWIL: GIBT ES SIE ÜBERHAUPT? Die unbefriedigende Bilanz der bisherigen genealogischen Bemühungen kann nicht durch wesentlich neues Quellenmaterial verbessert werden. Sind aber alle Möglichkeiten einer Auswertung bereits ausgeschöpft? In der Tat lassen sich aus der Sicht der neueren allgemeinen Adels- und Regionalforschung in grundsätzlichen Punkten neue methodische Überlegungen ins Spiel bringen. Zum ersten: Die Identifizierung von Mitgliedern eines bestimmten Adelsgeschlechts im Sinne einer agnatischen, das heisst männlichen Stammfolge stellt, so ist heute klar, auch noch im 13. Jahrhundert ein wesentlich komplexeres Problem dar als früher angenommen. Burgnamen, «Familiennamen» und Herkunftsbezeichnungen können rasch wechseln und brauchen innerhalb von Familien keineswegs übereinzustimmen. Unter der gleichen Bezeichnung müssen sich nicht selbstverständlich Agnaten verbergen, nicht einmal Kognaten, sondern es handelt sich allenfalls nur um Ansprecher auf dieselben Güter. Umgekehrt ist es noch um 1250 geradezu unwahrscheinlich, unter einer einzigen Bezeichnung alle Vertreter eines bestimmten Geschlechtes auch wirklich erfassen zu können, zumindest auf dem nicht besonders hervorgehobenen sozialen Niveau des älteren Regionaladels. Zum zweiten ist unbedingt die Güter- beziehungsweise Besitzgeschichte mitein-zubeziehen, wenn die Familienverhältnisse geklärt werden sollen. Auch hier haben allgemeine, aus dem heutigen Forschungsstand abzuleitende Überlegungen einschneidende Konsequenzen: Gängige Vorstellungen über Kontinuität des Adelsbesitzes, auch über die Linearität von adligen Erbvorgängen finden an den beobachtbaren Phänomenen keine Stütze, ganz im Gegenteil. Zwar wissen wir aufgrund der dürftigen schriftlichen Überlieferung nur wenig über die Verhältnisse im regionalen Adel des 12. Jahrhunderts. Die wenigen verfügbaren Angaben und der Vergleich weisen aber darauf hin, dass sich der Adelsbesitz zu allen Zeiten massiv im Wandel befunden hat. Die adlige Besitzlandschaft ist von raschen Verschiebungen und starken Brüchen geprägt. Erbvorgänge laufen keineswegs immer linear (im Sinne des blossen Zersplitterns von familiärem Grossbesitz) ab, und «Erbe» bedeutet nicht einfach die selbstverständliche Übertragung von Besitz, sondern zunächst nur die Verfügung über (oft erst mühsam) durchzusetzende Ansprüche. Die Besitzverschiebungen sind jedenfalls nicht einseitig innerfamiliär, also der Stammfolge entlang definiert, sondern sie sind wesentlich abhängig von den Entwicklungen der herrschaftlichen Rahmenbedingungen. Zusätzlich spielen Zu- und Abwanderung, überhaupt die grosse räumliche Mobilität solcher Geschlechter mit ihren zahlreichen Ablegern, Verwandten, «Freunden» und Gefolgsleuten eine grosse Rolle. Die Erfassung eigentlicher Beziehungsnetze kann in diesem Punkt sehr aufschlussreich sein. Beziehungsnetze, «Umfelder», ergeben sich aus dem gemeinsamen Auftreten und aus Berührungspunkten in bestimmten personalen und sachlichen Zusammenhängen, wie sie aus Urkunden direkt oder indirekt belegt sind. Auf diesem allgemeinen Hintergrund ist nun auch das Beispiel Rapperswil neu zu beurteilen. Die älteren Rekonstruktionsversuche zur Familiengeschichte der Rapperswiler gingen ohne Ausnahme von traditionellen, stark an den Bedürfnissen und Modellen von Genealogen orientierten Denkmustem über das soziale Schicksal adliger «Familien» aus. Sie beruhen insbesondere auf der Vorstellung, bei diesem regionalen Adel hätten wir zu allen Zeiten Familien im Sinne von «Dynastengeschlechtern» mit klar definierten Erb-Abfolgen vor uns, wobei der «Familien-Name», in unserem Beispiel also «von Rapperswil», sozusagen ein dynastisches Bewusstsein der Agnatenfolge spiegle. Sind es nicht gerade solche Denkmuster, die den Blick auf die tatsächlichen Vorgänge im Falle der Herren von Rapperswil verstellen beziehungsweise die notwendigerweise stark hypothetische Rekonstruktion dieser Vorgänge entscheidend behindern? Die angeführten allgemeinen Überlegungen sowohl zur Benennungsproblematik wie zur Besitzmobilität erlauben es, sich davon zu lösen. In diesem Sinne grundsätzliches Umdenken führt zu einem zunächst überraschenden Vorschlag: Statt für die Rapperswiler auf allen möglichen Wegen und Umwegen eine Agnatenfolge zu konstruieren, wäre es mindestens ebenso plausibel, in der Abfolge der verschiedenen «Rudolfe» von Rapperswil mehrere genealogische «Brüche» anzunehmen - um 1200, vor 1230, möglicherweise auch um 1255 oder 1258. Unter der Bezeichnung «von Rapperswil» könnten mehrmals ganz verschiedene Leute mit nur teilweise gemeinsamer Herkunft auftreten. Die Möglichkeit, dass dabei kognatische Verwandtschaften beziehungsweise Erbvorgänge eine Rolle spielen, ist nicht auszuschliessen, allerdings nicht notwendigerweise vorgegeben. Es ist durchaus denkbar, dass Angehörige verschiedener «Geschlechter» sich zur gleichen Zeit als Konkurrenten oder Streitparteien nach Rapperswil nennen, und schon im voraus ist zu erwarten, dass hier Güter nicht etwa nur auf friedlichen Wegen familiärer Solidaritäten tradiert worden sind. Neben Erbvorgängen könnten dabei auch politisch verursachte Besitzwechsel durch staufische Einflussnahme, in Konkurrenz mit Kyburg und in Auseinandersetzungen mit geistlichen Herrschaftsträgern (St. Gallen, Einsiedeln, Fraumünster) grosses Gewicht haben. Symptomatisch für die Situation ist die Tatsache, dass fast alle Güter, die im Zusammenhang mit Rapperswil in den Quellen auftauchen,'offensichtlich stark umstritten sind. Die generellen Erkenntnisse zu Namen und Besitz haben eine wichtige weitere Konsequenz: Eine ansatzweise Klärung ist nur aus der Kenntnis eines umfassenden adligen Beziehungsnetzes möglich, unter Berücksichtigung einer breiten mit Rapperswil verknüpften Adelsgruppe von Nobiles, also Hochfreien, und von ritterlichem Dienst- und Stadtadel. Verknüpfung bedeutet dabei nicht bloss biologische Verwandtschaft, sondern kann auch Konkurrenten, Gefolgsleute oder Gütertradie-rungspartner umfassen. Verwandte verhalten sich übrigens nicht a priori solidarisch - nirgends wird so erbittert um Besitz gestritten wie in der Verwandtschaft. Und beim Ritteradel in diesem Umfeld braucht es sich nicht bloss um untergeordnete ministeriale Gefolgsleute zu handeln; denkbar ist auch, dass durch Heiraten oder gar durch Usurpation sozial aufsteigende «milites» zu bedeutenden Gütern und Rechten aus ehemaligem Rapperswiler Besitz gelangt sind. Wie solche Beziehungsnetze aussehen können, ist aus einzelnen Quellen oft nur andeutungsweise und mehrdeutig, im Vergleich durch das gesamte regionale Urkundenmaterial hindurch dennoch recht klar und nachvollziehbar zu fassen. 12 13 Diesem neuen «Modell» soll im folgenden etwas genauer nachgegangen werden. Beweisbar im strikten Sinne ist eine solche Version nicht, wie ja auch im traditionellen Bild die Existenz einer Agnatenfolge nicht eigentlich bewiesen werden konnte. Vereinfachend soll im folgenden zwischen «Alt-Rapperswilern» aus der Zeit vor 1200, «Mittel-Rapperswilern» der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts bis in die Jahre um 1260 und «Neu-Rapperswilern», die vielleicht schon ab 1230, sicher aber ab den 1250er Jahren auftreten, unterschieden werden. Bekanntlich hat nach 1283, nach dem Tode des letzten Rudolf von Rapperswil, die überlebende Erbin Elisabeth von Rapperswil (tot 1309) den Rest der Herrschaft durch ihre aufeinanderfolgenden Ehen Ludwig von Homberg (gestorben 1289) und Rudolf von Habsburg-Laufenburg (gestorben 1315) zugebracht, von denen dann die hombergischen und habsburg-laufenburgischen Erben Rapperswils im 14. Jahrhundert ausgingen. Ein erster genealogischer Bruch ist, wie Eugster gezeigt hat, schon um 1200 anzusetzen. Zu dieser frühen Zeit besteht, so lässt sich aus der bruchstückhaften Uberlieferung folgern, ein enger Zusammenhang mit Nobiles-Geschlechtern, die sich nach Weisslingen, Hinwil, Hombrechtikon und Wädenswil nennen.20 Vielleicht setzten sich unter diesen Bezeichnungen einzelne «Alt-Rapperswiler» (also Rapperswiler aus der Zeit vor 1200) fort, und möglicherweise gehört hierhin sogar noch der 1210 und 1212 in Urkunden erwähnte Rudolf von Rapperswil sowie ein weiterer Heinrich, der nur als Kleriker in Konstanz belegt ist.21 Die ab 1213 genannten Rapperswiler (die Brüder Rudolf, Heinrich und Ulrich) scheinen allerdings deutlich einem andern Umfeld zu entstammen. Nach wie vor als wahrscheinlich erscheint mir ein weiterer Bruch in der Zeit um 1230. Hier hängt vieles davon ab, auf welche Weise man sich das erstmalige Auftreten des Grafentitels bei Rudolf in einer Urkunde von 1233 erklären will.22 Ist es die Herkunft, allenfalls vonseiten einer Mutter aus gräflichem Geschlecht? Gegenüber Die Indizien können hier nicht im Detail ausgebreitet werden. Vgl. auch Eugster, Territorialpolitik (wie Anm. 9), passim und besonders S. 230-255; zum dort nicht diskutierten Hombrechtikon ist auf Gisela von Hombrechtikon (nach dem Liber Heremi in UBZürich 13, 358b) um 1200 hinzuweisen (vgl. dazu die meines Erachtens falsche Korrektur von Kläui zu Tschudi ebd., Anm. 4); zu beachten ist, dass Konrad «von Huntbrun» im Regest QW 1/1, 195 von 1194(?) falsch für im Original «von Hombrechtikon» transkribiert ist; vgl. auch unten Anm. 62. Der Zusammenhang von Hinwil, Greifenberg und später Ürikon, Bernegg u.a. mit Hombrechtikon und Hinwil ist durch zahlreiche Indizien gegeben. Die Urkunden von 1210/12 (ChSangallense 3,987/988/993) zum Rümlanger Zehnten sind vielleicht ■in späteren Auseinandersetzungen in derselben Sache nachträglich «hergestellt» worden (der Rapperswiler als «feodetarius» des Kyburgers ist jedenfalls nur ein Anspruch). Die belegten Zeugenleistungen für Friedrich II. von 1212 (ChSangallense 3, 994-996) sind merkwürdig, weil dieser schon vor dem 9.12.1212 als König bezeichnet ist; vgl. die Bemerkungen von Clavadetscher ebd. zu Nummer 999. In der vom Geschäft her (scheinbar?) ganz nebensächlichen Urkunde ChSangallense 3, 1222, zur Bestätigung einer früheren Güterübergabe an Rüti. Die auffällige Formel «dei gratia comes de» (anstelle des älteren «advocatus de/in») kommt auch in einer Engelberger Urkunde von 1240 vor (ChSangallense 3, 1283; hier übrigens merkwürdigerweise ein Rudolf von Rapperswil zugleich als Aussteller wie als erster Zeuge), sonst aber - Irrtum vorbehalten - nur noch in der nicht datierten Fraumünster-Urkunde ChSangallense 3,1687. einer blossen Usurpation dürfte eine Berufung auf staufische Verleihung - durch Friedrich II. oder seinen Sohn Heinrich (VII.) - noch eher wahrscheinlich sein. Denn in der gleichen Urkunde betont Graf Rudolf seine «nunmehr erhöhte» Stellung und dass er den Besitz der «civitas» Rapperswil nun stärker gesichert und nach besserem Recht («firmius et iure pociori») behaupte. Ob der selbe Rudolf auch schon vorher in Rapperswil aufgetreten ist oder ob er sich erst jetzt neu als Inhaber der Herrschaft Rapperswil bezeichnet, ist schwer zu beurteilen. Ebensowenig steht fest, ob nachfolgend genannte Rudolfe mit ihm identisch sind oder ob hier (speziell nach 1240) nicht wieder andere Leute wie beispielsweise Angehörige der Alt-Rapperswiler Erben - und hier insbesondere solche aus dem «Hause» Wädenswil - unter der Bezeichnung «von Rapperswil» auftreten, möglicherweise sogar zur gleichen Zeit.23 Bedeutet der Hinweis von 1233 auf seine gefestigte Stellung das Erreichen der Volljährigkeit, den Tod des Vorgängers, die Heirat mit einer Erbtochter oder gar die gleichzeitige Einsetzung in eine Reichsvogtei (in Uri oder Urseren24)? Jedenfalls deutet diese Formulierung auf eine entscheidende Veränderung hin. Interessant ist ja auch die Tatsache, dass dieser gräfliche Rudolf (mindestens nach 1230) nicht zusammen mit seinem - vermeintlichen oder tatsächlichen - Bruder, Heinrich Wandeiber, dem Stifter von Wettingen, belegt ist. Im übrigen fällt auf, dass der oder die Rudolfe von Rapperswil in der Zeit von 1233 bis 1257 zur Hauptsache als Siegelgeber und praktisch kaum als Handelnde in den Quellen auftreten.25 Mit diesen Merkwürdigkeiten hängt unmittelbar das Problem zusammen, ob nicht wenigstens einer dieser Rudolfe ein Vazer gewesen sein könnte. Besondere Beziehungen der Rapperswiler zu den Herren von Vaz sind unzweifelhaft vorhanden; die Indizien dafür sind so zahlreich, dass eine blosse Zurückführung auf die (mögliche, aber oft zirkelschlüssig begründete und jedenfalls nicht belegbare) Heirat einer Rapperswiler Tochter mit einem Vazer kaum alles erklärt.26 Denkbar und sogar in hohem Masse wahrscheinlich scheint mir eine bisher noch nicht diskutierte andere Möglichkeit: Schon die mit grosser Regelmässigkeit in den Jahren 1213 bis 23 Die ungewöhnliche Bezeichnung eines «heres» 1229 könnte auf ein hohes Alter des Ausstellers hinweisen; besteht ein Zusammenhang mit der von Eugster, Territorialpolitik (wie Anm. 9), S. 284-286, überzeugend auf die Jahre um 1230 fixierten ersten Stiftung von Bollingen? u Vgl. zu Urseren den Kommentar zu QW 1/1, 409 und 1397. 25 Unverdächtige Präsenzbelege gibt es meines Erachtens nur sehr selten; signifikant für eine sehr lückenhafte Präsenz auch die Beobachtung, dass sie bei wichtigen Geschäften (wie etwa der Schlichtung der Fehden in Uri 1258) nicht auftreten. Wer verfügte über das (oder die gleichartigen) Siegel des Grafen (möglicherweise der Rapperswiler Pleban? oder die Gemahlin?); vgl. dazu die Bemerkungen von Oswald Redlich, Die Privaturkunden des Mittelalters, München und Berlin 1911, S. 114 (u.a. über Verwendung des gleichen Siegels durch Brüder und Verwandte); ein Fall von Siegelidentität Vater-Sohn auch bei Vaz: vgl. Bodmer/Muraro (wie Anm. 14), S. 265. 26 Indizien u.a.: die Bezeichnung des Rudolf von Vaz 1229 als «nepos» und v.a. als «heres»; die Präsenz eines Vazers 1233 als Zeuge; die (späte) Verwendung der gleichen Helmzierde (Diener, Rapperswil [wie Anm. 2], S. 65); das Auftreten des Walter von Vaz 1267 als Vormund (und als Siegler) für den nachgeborenen Rudolf (ChSangallense 4,1781); die Beziehung von Vazern zu Söldnern aus dem (Rapperswiler) Raum Schwyz, belegt in der Fehde mit St. Gallen 1262 und schon 1249, nach Kuchimeister (wie Anm. 8), S. 30 und 59 mit Anm. 56 und 99. 14 15 1220 im Gefolge Kaiser Friedrichs II. auftretenden Rapperswiler, unter denen übrigens Heinrich 1216 bereits einmal als «comes» bezeichnet wird, könnten Vazer sein. Sie sind möglicherweise durch Friedrich II. oder dessen Sohn Heinrich (VII.) mit staufischer Hilfe (oder Nachhilfe in einem Erbfall) zu ihren Rapperswiler Gütern beziehungsweise Ansprüchen gekommen.27 Dass staufische Güterzuweisungen für den Besitz der Rapperswiler nach 1230 mit grosser Wahrscheinlichkeit eine erhebliche Rolle spielten, zeigt sich vor allem daran, dass zu Rapperswil an verschiedenen Orten Güter aus der Lenzburger Erbmasse beziehungsweise aus dem an Pfalzgraf Otto gekommenen Erbteil gehören, unter anderem auch solche, die mit Kyburg umstritten waren.28 Nicht bloss nebenbei ist auch noch auf eine problematische Uberlieferung aus der Zeit vor 1230 hinzuweisen: Für die sogenannte Marchenstreiturkunde von 1217, in der ja ein Rudolf von Rapperswil (als Kreuzfahrer) ebenfalls an prominenter Stelle genannt ist, ist meines Erachtens mit grosser Wahrscheinlichkeit eine erst spätere (vielleicht gegen Ende des 13. Jahrhunderts erfolgte) Herstellung anzunehmen.29 Zur Verwandtengruppe auf Nobiles-Ebene gehören in der Zeit um 1230/50 sicher die Strättlingen, dann wohl auch (Nobiles? und) Ritter von Schwanden und von Windegg.30 Eine schon von Tschudi angenommene Verwandtschaft (oder an- 27 Vielleicht liegt hier auch die Erklärung für die offensichtlich nahe Beziehung Vaz-Strättlingen (Indiz: die Zeugenleistung in einer Urkunde von 1216: Bündner Urkundenbuch, bearb. von Elisabeth Meyer-Marthaler und Franz Perret, Bd. 2, Chur 1973, 593). Der noch 1258 auftretende Rudolf von Strättlingen (wie möglicherweise auch ein ab Mitte der 1250er Jahre belegte Rudolf von Wädens-wil) ist der Sohn einer Tochter des Heinrich Wandeiber; vgl. ChSangallense 3, 1590 (von 1258) und dazu UBZürich 2, 760 (1249) und ChSangallense 3, 2022 (1278). Bisher nicht beachtet wurde ein möglicher Hinweis durch die nahe Beziehung Rapperswil-Ritter von Bernegg, waren doch die mit der später an Bubikon gegangenen Bernegger Burg Ringwil verknüpften Rechte von Veringerscher Herkunft (und die Mutter des ab 1194/1206 belegten Rudolf [IL] von Vaz war eine Gräfin Wille-birg von Veringen). 28 Vgl. dazu besonders ChSangallense 4, 2087, wo 1282 Rudolf von Rapperswil über Otto Pfalzgraf von Burgund an Agnes von Meran gelangte lenzburgische Güter in Amden und Kerenzerberg von dieser als Lehen ausweist. Wahrscheinlich existieren auch Rapperswiler Ansprüche aus Lenzburger Erbe über Glarus (eventuell ist von hier aus auch ein Zusammenhang mit den «von Schwanden» gegeben; vgl. die Hinweise bei Sablonier, Kyburgische Herrschaftsbildung [wie Anm. 18], besonders S. 42 und Anm. 17, 18). Zum Lenzburger Erbe allgemein vgl. Herbert Weis, Die Grafen von Lenzburg in ihren Beziehungen zum Reich und zur adligen Umwelt, Diss. Freiburg i.Br. 1959, ungedrucktes Masch. Ms., besonders S. 206-225. Mit Lenzburger Erbe oder mit der merkwürdigen Geschichte um die vom Papst bewilligte, offenbar aber nicht vollzogene Heirat der Rapperswilerin Anna, Tochter Rudolfs und (formell geschiedene) Gemahlin Hartmanns von Kyburg, mit Hartmann von Froburg (1253) dürfte auch der Froburger Hof in Schwyz zu tun haben; vgl. Bickel, Zofingen (wie Anm. 9), S. 232, und Eugster, Territorialpolitik (wie Anm. 9), S. 220-223; dazu auch QW 1/1,1092/1253/1345. 29 QW 1/1, 252 ( zahlreiche Indizien für eine spätere Herstellung, u.a. die angeführten Bürgen und Zeugen); die Datierung 1217 könnte mit den in der Rütemer Urkunde UBZürich 1, 382 (von 1217-18) überlieferten Gütergeschäften zu tun haben. Wäre nicht überhaupt die frühe Marchen-streit-Überlieferung einer Uberprüfung wert? 30 Zu Strättlingen vgl. oben Anm. 27. Windegg: Entsprechende Hinweise aus Gütertradierungen und Zeugenlisten sind vorhanden; unter der Bezeichnung von Windegg treten ab 1229 offensichtlich dere Beziehung) der in glarnerischen Zusammenhängen auftretenden Herren von Schwanden zu den sich nach (einem bernischen?) «Schwanden» nennenden Äbten von Einsiedeln ist weder sicher nachzuweisen noch definitiv zu verneinen. Für die Auseinandersetzungen gegen Ende des Jahrhunderts, bei denen auch Parteiungen innerhalb des Klosters (oder mindestens Streitigkeiten - wohl um Stiftungen - zwischen Abt und Konvent) von Bedeutung waren, könnte dies wichtig gewesen sein. Interessanterweise weisen Indizien auch auf nähere Beziehungen zu den Attinghausen (darauf werde ich zurückkommen). Es ist zudem nicht ausgeschlossen, dass aus dem selben Adelskreis auch die später in Obwalden erfolgreichen «von Hun-wil» stammen, deren ursprüngliche Zugehörigkeit zu den Nobiles durchaus möglich ist.31 Sehr charakteristisch ist auch das Auftreten einer ganzen Reihe von mit Zürich verknüpften Rittergeschlechtern in diesem Umfeld.32 Fazit zu den «Mittel-Rapperswilern»: Trotz weiter bestehenden Unklarheiten ist davon auszugehen, dass ab 1213, wahrscheinlich auch noch nach 1230 Herren von Rapperswil verschiedener Herkunft vorhanden sind, darunter auch Herren von Vaz. In den 1250er Jahren muss nun nochmals ein Wechsel, also vielleicht ein dritter genealogischer «Bruch», eingetreten sein. Zumindest halte ich für wahrscheinlich, dass zur gleichen Zeit Rudolfe von Rapperswil verschiedener Herkunft beziehungsweise Zugehörigkeit auftreten, nunmehr sicher auch die «Neu-Rapperswi-ler». Wie Boner den Tod eines alten Grafen Rudolf auf 1255 anzusetzen, ist wegen der unsicheren Überlieferung relativ riskant. Zu den Indizien eines Bruches gehören aber Beobachtungen wie etwa jene, dass sich Rudolf von Rapperswil 1257 in doch ganz ungewöhnlicher Weise durch die Angabe des Todestages seines Vaters (Sankt Konrad, also 26. November) identifiziert, sich also durch diese Zuweisung wohl von einem andern Rudolf oder von einer andern «Linie» abheben muss oder eine bewusste Anknüpfung an die «Mittel-Rapperswiler» vornimmt.33 Ahnlichen Zwecken dürfte übrigens auch die bereits erwähnte, im vorhandenen Material ebenfalls sehr ungewöhnliche Bezeichnung des Rudolf von Vaz als «nepos» und «heres» in einer Urkunde von 1229 dienen. Hier kommt dazu, dass diese Urkunde möglicherweise im Kloster Rüti erst später hergestellt worden ist - eventuell, um in den späteren Auseinandersetzungen um die Kirche Bollingen zu beweisen, dass dieser Rudolf (damals von Vaz, später von Rapperswil?) mit dieser Schenkung ebenfalls einverstanden war? verschiedene «Geschlechter» auf, darunter wahrscheinlich auch Angehörige der zum Rapperswiler Umfeld gehörigen Nobiles-Gruppe; eine genauere Klärung wäre von grossem Interesse. - Zu «Schwanden»: Die Möglichkeit der Bezeichnung nach einem Ausstattungsgut (im Wädenswiler Bereich?) bleibt offen. Eine Klärung hätte von UBZürich 2, 505 und den dort auftretenden Brüdern Ulrich und Heinrich «de Hunwilere» auszugehen. Weitere Indizien auf einen Zusammenhang Hinwil-Hunwil (!) sind vorhanden. Insbesondere die Biber, von Glarus, Brühund u.a. ChSangallense 3,1562; die hier urkundlich erwähnte Angst vor Kinderlosigkeit (ebenso wie ChSangallense 3, 1653, von 1261, die explizite Zuschreibung von Gütern an die Tochter) deuten auf die Existenz von Erbanwärtern, die (wem?) unerwünscht waren. 16 17 f Für die Jahre um 1250 haben zweifellos Auseinandersetzungen mit Kyburg eine wichtige Rolle gespielt.34 Noch entschiedener in die Richtung heftiger Auseinandersetzungen unter verschiedenen an Rapperswiler Gütern beteiligten Erb- oder Besitz-Ansprechern weisen auch die merkwürdigen Vorgänge um die 1259 erfolgte Stiftung des Zisterzienserinnenklosters Wurmsbach.35 Sie würden sich ebenfalls am besten daraus erklären, dass mit den gleichzeitigen - von Wurmsbach heftig bekämpften - Übertragungen an das von Rüti kontrollierte, jedenfalls ältere Klösterchen Bollingen wiederum Ansprüche von verschiedenen Seiten und umstrittenes Erbe im Spiele waren. Warum sich Wurmsbach letztlich gegen Bollingen durchsetzte, ist so wenig definitiv geklärt wie ein allfälliger, spurenweise durchaus vermutbarer Zusammenhang mit der Gründung des schwyzerischen Klosters Steinen. Von besonderer Wichtigkeit für die Neu-Rapperswiler scheint auch in den 1250er und frühen 1260er Jahren die (einvernehmliche oder konfliktive?) Beziehung zu den nach Wädenswil benannten Herren gewesen zu sein. Unzweifelhaft gab es zwischen Wädenswil und Rapperswil Besitz gemeinsamen Ursprungs im Einsiedler Einflussbereich, wie er durch eine Heirat zustandegekommen sein könnte; vielleicht ging dieser Besitz aber auch, wenigstens dem Anspruch nach, in die Zeit um 1200 zurück.36 Gräfin Elisabeth bezeichnet 1290 den (oder: einen) Rudolf von Wädenswil als ihren «neven».37 Der präzise Inhalt von zeitgenössischen Verwandtschaftsbezeichnungen ist zwar schwierig einzuschätzen; wahrscheinlich hat dies aber dennoch eine weiter zurückreichende Bedeutung. Ist sie die Tochter eines Wädenswilers, der sich zeitweise (und bei bestimmten Auftritten) als «von Rapperswil» bezeichnete, und einer «Mittel-Rapperswiler» Mutter? Das müsste Siehe dazu Sablonier, Kyburgische Herrschaftsbildung (wie Anm. 18), besonders S. 42f. Vgl. dazu Eugster, Territorialpolitik (wie Anm. 9), S. 283-290. Für Bollingen vgl. ChSangallense 3, 1171/1471/1472/1520/1531/1621/1634/1635/1647 und ChSangallense 4, 1786, für Wurmsbach ChSangallense 3,1619/1620/1635/1647 und ChSangallense 4, 1786/1824/1934/2091. Im übrigen ist die Mechthild von Hinwil, die 1267 (ChSangallense 4, 1786) als Nonne zu Bollingen auftritt, wohl in Zusammenhang zu bringen mit der 1263 genannten Mechthild von Wagen (= Greifenberg) und als vermutliche Nobiles-Erbin auch mit Ürikon (zum gleichen Kreis gehört auch die Berchta Rü-merin). Zu Wurmsbach: Maria Beatrix Oertig, Wurmsbach, in: Helvetia Sacra III/3, Bern 1982, S. 960-981; Hans Rudolf Sennhauser, Wurmsbach, Zur Baugeschichte der Klosterkirche, Ergebnisse der Ausgrabungen und der Beobachtungen am Bau 1965, in; Zisterzienserbauten in der Schweiz, Bd. 1, Frauenklöster, Zürich 1990, S. 317-338; Irmgard Grüninger, Wurmsbach, Das Kloster Mariazell, Archäologische Untersuchungen im Zusammenhang mit der Restaurierung der Klostergebäude, in: Zisterzienserbauten (wie oben), S. 339-346. Ferdinand Elsener, Zisterzienserwirtschaft, Wüstung und Stadterweiterung am Beispiel Rapperswil, in: Stadtverfassung, Verfassungsstaat, Pressepolitik, Festschrift für Eberhard Naujok, Sigmaringen 1980, S. 47-71. Vgl. dazu etwa die Auseinandersetzung zwischen Bach und Wollerau um 1290 in ChSangallense 4, 2248; ursprünglich zusammenhängender Besitz geht wohl auch aus ChSangallense 3, 1283 (Rapperswil in Finstersee, dazu auch UBZürich 6, 2253 von 1293) und UBZürich 4,1440 (Wädenswil in Hütten und Umgebung, dazu UBZürich 5, 1789 und 1968; 6, 2121; 7, 2648 und 2737; 9, 3408; 11, 4290 usw.) hervor; offensichtliche Berührungspunkte auch bei Meilen (ChSangallense 3, 1474 und 1600, dazu auch UBZürich 7, 2484 und dort zahlreiche weitere); zu untersuchen wären auch die Übereinstimmungen Wädenswil-Hombrechtikon. ChSangallense 4,2248. näher geprüft werden.38 Auch die Tatsache, dass die für die Region wichtigen Herren von Hünenberg im später schwyzerisch-zugerisch-luzermschen Gebiet zu einem grossen Anteil am Wädenswiler Erbe gekommen sind, könnte so unter Umständen mit der Rapperswiler Geschichte eng verknüpft sein.39 Was die Zeit nach 1260 angeht, ist zwar die weitere genealogische Abfolge eini-germassen gesichert; gleichwohl bleiben auch da viele Fragen offen, die ebenfalls die «Familiengeschichte» tangieren. Warum heiratete die 1261 erstmals erwähnte spätere Erbtochter Elisabeth einen Homberger? Angesichts der Tatsache, dass der Stifter von Wettingen, Heinrich Wandeiber von Rapperswil, mit einer Hombergerin verheiratet war und in Uri über später umstrittene Homberger Güter verfügte40, ist das kaum zufällig. Woher kamen die grossen Schulden, die Elisabeth von Rapperswil nach 1284 immer wieder geltend machte? Waren hier alte Rechnungen aus der Wettinger Stiftung, aus dem Burgenbau oder aus einem Herrschaftskauf ihres Vaters zu begleichen? Warum trat 1283, nach dem Tode des letzten Rudolf von Rapperswil, nicht ein Wädenswiler oder ein anderer verwandter Nobilis das Rapperswiler Erbe an? Warum ging die Burg Wädenswil41 an die Johanniter zu Bubikon, wie übrigens auch die Bernegger und Werdegger Güter in Ringwil42, und warum erfolgte um 130043 die Verpfändung der Herrschaft Greifensee an die Landenberger, auch das übrigens mit Sicherheit die Regelung eines viel älteren Konflikts unter landesherrlichem österreichischem Druck? Wann wurde Alt-Rapperswil bei Altendorf tatsächlich verlassen, ja, gilt es überhaupt noch viel stärker zwischen Alt- und Neu-Rapperswil zu unterscheiden? Diese und wichtige andere Fragen zur Rapperswiler «Familiengeschichte» nach 1250 sind auch jetzt noch nicht befriedigend beantwortet. Die Aufzählung zeigt aber, dass überraschend viele anstehende Fragen zum Wandel des regionalen politi- 38 Eine Klärung hätte die Strättlingen (und Bäbingen [= von Sumiswald?], siehe oben Anm. 27), aber auch die auffälligen Beziehungen Wädenswil-Wolhusen und allenfalls den in Urner Sachen auftretenden Rudolf von Thun miteinzubeziehen. Allerdings ist meines Erachtens die Wädenswiler Genealogie bisher - grundsätzlich immer noch auf dem Stand von Friedrich Hegi, Freie von Wediswil, in: Genealogisches Handbuch zur Schweizer Geschichte, Bd. 1, Zürich 1900, S. 290-318 - ungenügend geklärt; interessanterweise ist um 1250 auch eine engere Beziehung Strättlingen-Wädenswil wahrscheinlich, und dazu würden auch weitere «Berner» (wie z.B. die von Thun mit dem Einsiedler Abt Konrad «von Thun» 1213-1233, die Vögte von Brienz u.a.) gehören. Gibt es allenfalls einen älteren, bis Anfang der 1250er Jahre lebenden Rudolf von Wädenswil und nicht nur den nach Hegi als einziger Rudolf von 1233 bis 1300/1302 belegten, der seinerseits mit einer ersten Anna («von Bürglen» = Tochter des Heinrich Wandeiber?) verheiratet gewesen wäre? Zu Wädenswil sind die zahlreichen Arbeiten von Peter Ziegler beizuziehen (etwa: Burgruine Wädenswil, 2. erw. Auflage, Wädenswil 1986). 39 Zu Hünenberg vgl. Sablonier, Innerschweizer Gesellschaft (wie Anm. 10), S. 23-29 (dort der Verweis auf weitere Arbeiten, insbesondere von Eleonore M. Staub und Peter Hoppe). Es gibt hier mehrere auffällige Berührungspunkte, etwa mit dem Besitz in Arth, in Merenschwand, im Zimmerberg-Gebiet usw. 40 Vgl. dazu ChSangallense 3,1146V1303, auch 1590. 41 UBZürich 5, 1999 (und Folge-Konflikte bis nach 1300). 42 UBZürich 5,1650/1818/1882 (Abreissen des «burcstal»)/1890. 43 ChSangallense 5, 2496 und UBZürich 7,2534. 18 19 sehen und herrschaftlichen Gefüges mit den jahrzehntelangen Auseinandersetzungen, die man fast als «Rapperswiler Handel» bezeichnen könnte, einen gemeinsamen Nenner besitzen. Der Weg zu einem besseren Verständnis führt über eine Klärung dieser bisher nicht beachteten Zusammenhänge. Bei allem ist klar, dass Elisabeth nach 1283, nach dem Tode des letzten Rudolf von Rapperswil, nur noch mit Duldung der Landesherrschaft wenigstens einen Teil ihrer - sicher eher bescheidenen - Herrschaft halten konnte. In den Jahren bis zu ihrem Tode 1309 und sogar bis zum Tode ihres zweiten Gatten Rudolf von Habsburg-Laufenburg 1315 musste wiederum eine ganze Reihe von Konflikten geregelt werden, die vermutlich meistens mit den unerledigten und komplizierten Erbvorgängen im «Hause» Rapperswil zu tun hatten. Das gilt insbesondere für die auffälligen Restitutionen von Lehensgütern durch ehemalige Rapperswiler Gefolgsleute.44 Dabei ist es offensichtlich so, dass die Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen bis weit in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts zurückreichten. Was ergibt sich zusammenfassend aus all diesen Überlegungen und Hinweisen? Es scheint mir klar, dass die Geschichte dieser Rapperswiler letztlich gar keine dynastische Familiengeschichte darstellt. Man wird definitiv nicht mehr von einer agnatisch geschlossenen Rapperswiler Dynastie ausgehen können. Die Indizien dafür sind gewichtig genug und, das muss immer wieder in Rechnung gestellt werden, oft überzeugender als jene für andere Versionen. Unter der Bezeichnung «von Rapperswil» tauchen Angehörige einer ganzen Gruppe von Geschlechtern auf, die auf Rapperswil oder Teile dieser Herrschaft Ansprüche erhoben. Entsprechend weist die Abfolge der Herren von Rapperswil mehrere Brüche auf. Der genaue genealogische Zusammenhang zwischen Alt-, Mittel- und Neu-Rapperswilern ist nicht endgültig geklärt, vielleicht auch gar nicht definitiv klärbar. Nach 1200 bestanden mindestens von zwei Seiten her konkurrierende Ansprüche, von denen die eine am ehesten mit Wädenswil (und damit wohl mit Nachfahren der Alt-Rapperswil er im Sinne der Rapperswiler vor 1200), die andere mit den Herren von Vaz in Verbindung zu bringen ist. Diese allgemeine Feststellung scheint mir ausser Zweifel zu stehen, auch wenn es schwer gelingen wird, darüber hinauszukommen. Sicher ist eine weitere Klärung nicht möglich, wenn nur vom Namen «Rapperswil» ausgegangen wird; es müssen dazu vielmehr ganze Gruppen von Adelsgeschlechtern beziehungsweise Namen sowohl aus dem Nobiles- wie dem Milites-Umfeld gleichzeitig einbezogen werden. Solche Transaktionen (bzw. rechtliche Regelungen wohl älterer Auseinandersetzungen) sind für die Ritter-«Geschlechter» von Brütten, Kaltbrunn, Ürikon, Windegg, Hombrechtikon usw. zu belegen. Die 1288 belegten offenen Streitigkeiten zwischen Einsiedeln und dem Schultheissen Dietrich von Winterthur (QW 1/1, 1569) gehören wohl (Beziehung zu Windegg?) in diesen gleichen Zusammenhang. DIE HERRSCHAFT DER GRAFEN: DIE GESCHICHTE EINES MISSERFOLGS? Mit den neuen Perspektiven zur Familiengeschichte sind nun auch neue Voraussetzungen für, die Klärung der Herrschaftsgeschichte - einiges davon ist ja auch schon angesprochen worden - der Herren von Rapperswil gegeben. Vorerst ist aber das gängige Bild kurz zusammenzufassen. Was die Vorstellungen über deren Herkunft und vor allem auch über den frühen Besitz angeht, so sind sie seit den bahnbrechenden Arbeiten von Paul Kläui von einem bestimmten modellhaften Bild geprägt: Die Rapperswiler wären als Fortsetzung der Herren von Uster und Hinwil zu sehen und Teil jener grossen Zürich -gauischen Verwandtschaftsgruppe des 11./12. Jahrhunderts, die Nellenburger und Winterthurer Grafengüter zur Hauptsache im Glattal, im Zürcher Oberland und im oberen Zürichseegebiet erbte. Auch über die Entwicklung seit dem 12. Jahrhundert besteht im allgemeinen Einigkeit: Offenbar hatten die Herren von Rapperswil in grossem Massstab Vogteirechte über Güter und Personen des Klosters Einsiedeln inne. Auf dieser und auf der ererbten Grundlage errichteten sie nach 1150 eine umfangreiche Adelsherrschaft mit dem nach 1230 neu angelegten Zentrum Neu-Rapperswil. Die Grafenwürde, bei Rudolf 1233 erstmals nachweisbar, scheint ihre hervorragende Stellung in der Region zu belegen. Schon bald nach der Stiftung von Wettingen (um 1227) durch Heinrich Wandeiber setzte allerdings bereits in den 1240er Jahren eine Stagnation ein. Befördert durch die Kinderlosigkeit und den frühen Tod des letzten Rudolf 1283 führte diese unter Elisabeth von Rapperswil nach 1284 zu rasch aufeinanderfolgenden Verkäufen wichtiger Herrschaftsteile und mündete damit in einen rapiden Niedergang. Die hombergischen und nach ihrem Verschwinden (nach 1320) die habsburgisch-laufenburgischen Erben fielen schliesslich der Begehrlichkeit der Habsburg-Österreicher zum Opfer, die nach 1350 den Rest der Herrschaft erwarben.45 45 Siehe zur Frühzeit Kläui, Adelsherrschaften (wie Anm. 9). Aus der schriftlichen Überlieferung ist der Güter- und Rechtebesitz geographisch (ohne chronologische Stufung) etwa folgendermassen zu umschreiben: Vogteirechte über Einsiedler Güter und Abhängige ausserhalb (und teilweise innerhalb) des Etzels; Besitz, Güter und Rechte in Arth; im Ägerital und bei Finstersee, Neuheim, Ebertswil; bei Weesen, Amden und Kerenzerberg, Benken; in Alt- und Neu-Rapperswil; am Obersee (inkl. bei Wollerau, Bäch, Pfäffikon, Altendorf, Wägital, Wangen, Schübelbach, Galgenen, Tug-gen, Bollingen, Busskirch); am Zürichseeufer (Stäfa, Erlenbach, Küsnacht, Männedorf, Richterswil, Ufenau); im Limmattal (Engstringen usw.); im Glattal (Dübendorf, Hegnau, Volketswil, Zimikon) und in der «Herrschaft» Greifensee (mit Gütern in Maur, Fällanden, Schwerzenbach, Uster, Werri-kon usw.); im Zürcher Oberland (Illnau, Irgenhausen, Kempten, Ringwil, Rickenbach bei Wald, Oberdürnten); in Uri; und schliesslich verstreut in Brütten, Dagmersellen, Ehrendingen, Meren-schwand, Rümlang, Tänikon usw. Unter dem gesamten Besitz darf man sich nicht etwa sachlich und flächenmässig geschlossene «Gebiete» vorstellen; es handelt sich um ein Konglomerat von bunt gestreuten Rechten, Gütern und Ansprüchen ganz verschiedener Art und Bedeutung, entgegen den von Karten geförderten falschen Vorstellungen (in UBZürich 4; Hektor Ammann/Karl Schib, Historischer Atlas der Schweiz, 2. Auflage, Aarau 1958, Blatt 23; Paul Kläui, Die Karte als Hilfsmittel der historischen Forschung, in: Kläui, Ausgewählte Schriften [wie Anm. 4], S. 53-55). 20 21 1 i '4 Dieses einfache und eingängige Bild der Rapperswiler Herrschaftsgeschichte bleibt bei näherem Hinsehen allerdings sehr an der Oberfläche, vor allem für das 13. Jahrhundert. Nicht nur aus der neuen familiengeschichtlichen Perspektive ergeben sich zahlreiche Probleme. Auch die politisch-soziale Bedeutung und Entwicklung der Herrschaft Rapperswil ist kaum konkret erforscht. Das hat viel damit zu tun, dass dies früher für die Zeit der «Anfänge» eidgenössischer Geschichte kaum Interesse fand. Aber: Adelsherrschaften als politisch-soziale Organisationsgebilde, bestehend aus sachlich und territorial nicht geschlossenem Besitz von (hauptsächlich) grundherrlichen und vogteirechtlichen Rechten in den Händen des hochfreien und gräflichen Adels, stellen eine beherrschende politische Strukturkonfiguration des 13. und 14. Jahrhunderts dar, auch in nachmals eidgenössischen Gebieten. Ihre Entwicklung gehört zu den zentralen politischen Prozessen des 13. Jahrhunderts, und ihr beschleunigter Wandel unter dem Druck eines landesherrlich geprägten Konzentrations- und Konsolidierungsprozesses gerade um 1300 war für die regionale Geschichte von allergrösster Bedeutung.46 Eine Neubearbeitung der Rapperswiler Herrschaftsgeschichte hat also neben den neuen familiengeschichtlichen auch diese weitergefassten Kriterien des politisch-sozialen Wandels zu berücksichtigen und, was ebenfalls sehr stark ins Gewicht fällt, veränderten Methoden des Zugangs zu schriftlichen Quellen dieser Zeit Rechnung zu tragen. Die unvermeidlichen Konsequenzen aus diesen drei Forderungen sollen im folgenden grundsätzlich und anhand von einigen Beispielen diskutiert werden, selbstverständlich ohne den Anspruch, alle Fragen beantworten zu können. Zunächst ist auf das schon bei der Familiengeschichte Gesagte zurückzukommen. Die neuere Adelsforschung hat - wie schon erwähnt - ergeben, dass für die soziale Entwicklung des Adels das (unter anderem von Paul Kläui vertretene, der älteren Genealogie verhaftete) Modell der Herleitung des regionalen Adels aus der Ausfächerung weniger, grosser Adelsfamilien des 11. Jahrhunderts die Vorgänge nur in Ausnahmefällen richtig fassen kann. Dieses «Auffächerungsmodell» ist in gewissem Sinne ein Modell der Kontinuität beziehungsweise der familienorientierten Linearität der Gütertradierung und verdeckt den starken inneren Wandel im Adel im Laufe des 12. Jahrhunderts. Dieser Wandel ist in den zahlreichen Besitzkonflikten wenigstens bruchstückweise zu verfolgen. Wenn auf die Häufigkeit der Konflikte verwiesen wird, dann soll damit nicht etwa gesagt werden, dass Güter nicht auch auf friedliche und solidarische Weise die Hand wechseln konnten; die vorhandene Überlieferung begünstigt bekanntlich die konfliktiven Seiten des Prozesses und führt so zu einer optischen Verzerrung. Trotzdem kann nicht bezweifelt werden, dass im Normalfall Adelsherrschaften zu allen Zeiten rasch wandelbare Konglomerate von Besitz und Rechten ganz verschiedener Herkunft und Qualität bildeten, zudem unsere Quellen für die Frühzeit vor allem Ansprüche und nicht tatsächlichen Besitz überliefern. Neubildung ist ein ebenso kontinuierlicher Prozess wie die Auflösung; beides läuft zu allen Zeiten 46 Dazu Sablonier, Adel im Wandel (wie Anm. 9), besonders S. 210-223. 22 parallel, während die kontinuierliche, sozusagen der biologischen Kontinuität entlanglaufende Tradierung von Gütern nicht im voraus gegeben und auch sehr häufig stark umstritten ist. Die Entwicklung im Adel kann also nicht - als sozusagen rein biologisch-familiäres Geschehen - losgelöst von den allgemeinen politischen und wirtschaftlichsozialen Entwicklungen verstanden werden. Und entgegen einer aus ideologiegeschichtlichen Gründen verständlichen Tendenz der älteren schweizerischen Historiographie, den «Adel» als Einheit den «Bauern» gegenüberzustellen, muss dieser Adel als ein äusserst differenziertes soziales Gebilde gesehen werden, innerhalb dessen wie in jeder Führungsgruppe ein ständiges Auf und Ab und grosse soziale Konkurrenz herrschte. Gerade für die politisch-soziale Konkurrenz innerhalb des Adels sind die allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen von grossem Gewicht. Wiederum stellt sich die nicht einfache Aufgabe, solche allgemeinen Erkenntnisse auch beim Beispiel Rapperswil einzubringen. Immerhin sind im Hinblick auf die politischen Rahmenbedingungen und ihren Wandel konkrete Elemente für eine Neubeurteilung vorhanden: Nebst der offensichtlichen territorialpolitischen Konkurrenz zu den Grafen von Kyburg ist, wie schon mehrmals erwähnt, sicher an den Einfluss (territorialer) staufischer Politik zu denken, wobei Güter, Prestige und regionaler Machteinfluss auch im Dienste von allgemeiner kaiserlicher Politik (etwa in Italien) zu gewinnen waren. Es ist angesichts der grossen geographischen Mobilität dieser Adligen und der weiten Streuung solcher Adelsbesitze und -ansprüche ohnehin fragwürdig, sich die Rapperswiler sozusagen als «einheimisches» Geschlecht - wie dies sogar Kläui ausgeprägt tut - vorzustellen. Unter dem Gesichtspunkt des Wandels in den politischen Rahmenbedingungen rücken auch etwa die Kirchenstiftungen und frommen Schenkungen des Adels in ein ganz neues Licht. Die allgemeine Tatsache, dass dabei individuelle Frömmigkeit, familien- oder besser gruppenbezogenes Heilsbedürfnis, sozial bedingte und teilweise auch sozialdemonstrativ notwendige («standesgemässe») Sorge um das Seelenheil und das Wohl der Kirchen, aber auch handfeste politische Interessen und Machtverschiebungen fast untrennbar ineinander übergreifen, ist unbestritten. Sie muss auch für die Stiftungstätigkeit von Rapperswilern im Falle von Wettingen und Wurmsbach miteinbezogen werden. Politische Motive der Schenkungstätigkeit im 13. Jahrhundert sind von Eugster bei allen regionalen Klöstern insbesondere in der Form der politischen Massnahme gegen allfällige Konkurrenten wie den Landesherren überzeugend nachgewiesen worden.47 Nicht in Widerspruch, sondern als Ergänzung dazu darf immerhin nicht übersehen werden, dass in Besitzkonflikten und Erbfehden die Kirche (und dabei unter anderem deren Stützung durch die bischöfliche Gerichtsbarkeit) eine echte Konfliktlösungsinstanz darstellen konnte - als legitimierter Garant einer ausgehandelten oder erzwungenen Lösung unter zerstrittenen «Erben». Dies wenigstens so lange, als nicht die Landesherrschaft die dazu nötige Macht beziehungsweise die entsprechenden Durchsetzungsinstrumente besass. 47 Eugster, Territorialpolitik (wie Anm. 9), passim. 23 Zudem muss für die Einschätzung der politisch-herrschaftlichen Stellung innerhalb der Region die Beziehung zu den anderen regionalen Herrschaftsträgern (und deren Umfeld) genauer erfasst werden. So etwa die Beziehung zu den Herren von Schnabelburg oder die Frage nach dem Verhältnis zu den Toggenburgern, zu deren Johanniterstiftung in Bubikon auch Rapperswiler beigetragen haben, obschon sie in der schriftlichen Uberlieferung zur Auseinandersetzung um die Gründung nicht genannt sind.48 Offen ist auch die Bedeutung des 1259 genannten «Castrum» (beziehungsweise der «munitio») in Wagen, und bisher gänzlich im Dunkel liegt die Antwort auf die Frage einer Auseinandersetzung mit den Herren von Bonstetten (= frühe Schnabelburger?) im Albisgebiet und vor allem um die Burgen Uster und Wetzikon (beziehungsweise eben «Rappoldskirch»). Besonders wichtig scheint mir ferner die präzisere Erfassung des Verhältnisses zur Äbtissin beziehungsweise Stadtherrin und zum Rat in Zürich und zu einzelnen Stadtzürcher Ritter- und Bürgergeschlechtern. In der Frage der politisch-sozialen Bedeutung der Rapperswiler Herrschaft ist das bisher Bekannte für das 13. Jahrhundert vor allem unter dem Aspekt der Territorialisierung zu ergänzen. Der Ausbau territorialer Elemente, Kernpunkt jeder zukunftsträchtigen Entwicklung adliger Herrschaft im 13. Jahrhundert, wurde besonders erfolgreich von der habsburgisch-österreichischen Landesherrschaft nach 1280 betrieben, gleichzeitig aber auch etwa von den Froburgern, den Kyburgera und sogar von den Regensbergern und Eschenbachern angestrebt. Dabei ging es zum einen um die äusserliche Verfestigung der Herrschaft im Sinne der Behauptung und Absicherung des Besitzes. Zum andern und viel wichtiger war der innere Ausbau: Stadtgründung, Burgenbau, der Aufbau einer eigenen ritterlichen Dienstmannschaft gingen voran und wurden schon bald gefolgt von Ansätzen zur Einrichtung von verwaltungsähnlichen Institutionen - so die Organisation von Amts-»Bezirken», die Einsetzung von Amtsleuten, die Durchsetzung eines landesherrlichen Steuerwesens ausgehend von Vogtsteuern, die Erstellung von Urbarien und anderen Güterverzeichnissen, und so weiter.49 All dies sind entscheidende Elemente einer «Modernisierung», welche im regionalen Adel zu scharfer sozialer Konkurrenz führte und in der letztlich die Habsburger - und in der Region bis zu einem hohen Grade die Toggenburger50 - eindeutig die Sieger blieben. In allen diesen Punkten ist auch für die Herrschaft der in Alt- und Neu-Rap-perswil sitzenden Herren «von Rapperswil» eine gründliche neue Auseinandersetzung mit dem vorhandenen Quellenmateria] lohnend. Zunächst in bezug auf die Burgen: Die Errichtung der Burg Neu-Rapperswil ist zeitlich schwer einzuordnen; gesichert ist die merkwürdige Tatsache, dass die Burg bis zu Elisabeth nach 1284 von den Rapperswilern selber ganz schlecht genutzt 48 Dazu jetzt Bruno Schmid, Der kirchenrechtliche Streit um die Gründung des Johanniterhauses Bubikon, in: Jahrheft der Ritterhausgesellschaft Bubikon 56 (1992), 1993, S. 13-33. 45 Am Beispiel Kyburg diskutiert bei Sablonier, Kyburgische Herrschaftsbildung (wie Anm. 18). 50 Dazu Otto P. Clavadetscher, Aufstieg, Machtbereich und Bedeutung der Grafen von Toggenburg, in: Die Stadt Uznach und die Grafen von Toggenburg, Uznach 1978, S. 9-36. 24 worden ist.51 Eine verlässliche archäologische Datierung und baugeschichtliche Analyse für die Frühzeit liegt bisher nicht vor, und die historiographisch überlieferte Gründungslegende von Neu-Rapperswil gibt keine präzisen zeitlichen Anhaltspunkte.52 Aber es ist kaum denkbar, dass der spätestens nach 1220 anzusetzende Bau des Städtchens ohne die Burg oder zumindest ohne die Existenz eines entsprechenden Anspruches des Stadterbauers vonstatten gegangen wäre. Es sei denn, ein erst nach 1250 erfolgter neuer Burgenbau wäre gerade als Konkurrenzbau oder als Anspruch auch auf die Stadt (in Abwesenheit des ehemaligen Stadtherren?) erfolgt.'Oder gehörten die Stadt und die neue Burg bis in die Jahre um 1260 nicht denselben Herren von Rapperswil?53 Über das Leben auf der Burg ist auch für die Zeit um 1300 nur aus allgemeinen Vergleichen eine Vorstellung möglich. «Wie der Grafenkinder Jugendjahre sich gestalteten, bleibt zu vermuten. Auf dem weiten Hof des stattlichen Schlosses mögen sich die Knaben im ritterlichen Spiel getummelt haben. Man griff zur Angelrute, wanderte mit der Mutter nach Wurmsbach zum Grabe des Onkels Vinzenz, fuhr über den See zur alten Rapperswile. Und strich an langen Winterabenden der Nord um des Palas Mauern, wird Frau Elisabeth am Herdfeuer den aufhorchenden Junkerlein und Dämchen erzählt haben vom Burgbau auf Endingen, des Grossvaters Palästina-Fahrt, dessen Kriegszüge ins Thurgau und ins Eisass, von den frommen Stiftungen der mütterlichen Ahnen,...» - so sah das 1933 Martin Ochsner.54 Meinetwegen! Aber als so kleinbürgerlich-burgenromantisch wird man sich dieses Familienleben kaum vorstellen dürfen. Im übrigen ist nicht einmal sicher, ja eher völlig unwahrscheinlich, dass die Grafen längere Zeit auf «ihrer» Burg zugebracht haben. Der Grund für die Neuanlage beim heutigen Rapperswil gegenüber von Alt-Rapperswil liegt möglicherweise beim höheren Repräsentationsanspruch, aber 51 Siehe dazu Clavadetscher, Das mittelalterliche Schloss (wie Anm. 6), besonders S. 24ff., 51-59; die Tatsache, dass offenbar erst 1258 (ChSangallense 3, 1594, in einer "Urkunde der Zürcher Äbtissin) und 1259 (ausgerechnet bei der Stiftung von Wurmsbach, Empfängerausfertigung) auf Burg Neu-Rapperswil (die dann 1284 - vgl. ChSangallense 4,2132 - erstmals explizit als «neu» genannt ist) ge-urkundet wird, bleibt erklärungsbedürftig. 1233 ist nur von der «civitas Raprehswiler» die Rede, was eine Stadtburg einschliessen könnte. 52 Siehe die ausführliche Diskussion sowohl der (leider bisher dünnen) archäologischen Befunde wie der Gründungslegenden bei Clavadetscher, Das mittelalterliche Schloss (wie Anm. 6), passim. Zu Alt-Rapperswil siehe Josef Kessler-Mächler, Archäologische Grabungen in der St. Johann-Kapelle in Altendorf SZ, in: Nachrichten des Schweizerischen Burgenvereins 45 (1972), S. 450-456; Linus Birchler, Die Kunstdenkmäler des Kantons Schwyz, Bd. 1: Einsiedeln, Höfe und March, (Die Kunstdenkmäler der Schweiz 1) Basel 1927, S. 348-356. 53 Es ist immerhin darauf hinzuweisen, dass mit der vom Stifter von Wurmsbach 1259 erwähnten einstigen «munitio» (ChSangallense 3,1619) auch Burg und Stadt Neu-Rapperswil gemeint sein könnten. Teilweise als rechtstopographische Zuweisungen gemeinte Ortsbezeichnungen sind nicht zu eng geographisch-siedlungsmässig zu interpretieren. Der als Stifter auftretende Rudolf von Rapperswil urkundete vielleicht aus der Ferne und scheint jedenfalls viel weniger eng mit Rapperswil verbunden, als man traditionellerweise meint. Ist die Wurmsbacher Stiftungsurkunde allenfalls erst etwas später hergestellt worden? Oder umgekehrt die Bollinger Bestätigungsurkunde von 1259? 54 Ochsner, Altendorf (wie Anm. 3), S. 64; siehe Clavadetscher, Das mittelalterliche Schloss (wie Anm. 6), S. 62-73. 25 sicher nicht bloss dort. Es ging wohl um die Sicherung ererbter oder beanspruchter Güter auf der rechten Seeseite. Für die Stadt und die Burg ist ausserdem wahrscheinlich, dass die günstige Lage für den Weg zu den Bündnerpässen eine wichtige Rolle spielte. Sehr konkrete Hinweise darauf, dass dieser wichtige Handelsweg -unter anderem wegen der Aussicht auf Zolleinnahmen - für die Rapperswiler Herrschaft von Bedeutung war, liefern unter anderem Urkunden von 1232 und 1261. Im übrigen hat die Vermutung, dass auch das Städtchen Walenstadt als ursprüngliche Rapperswiler Gründung zu sehen wäre, einiges für sich.55 Für die Burgen (und den Stadtkern) muss die archäologische Forschung intensiviert werden. Sie könnte immerhin die verschiedenen Zeitschichten von Erstellung und Benützung wesentlich präziser erfassen als bisher, desgleichen wichtige Auskünfte geben zum sozialen Niveau der Bewohner.56 Von besonderem Interesse sind in dieser Beziehung die Burgen rund um Alt-Rapperswil bei Altendorf, aber auch die Rapperswiler Altstadt selber. Stadtgründung und Burgenbau waren Versuche der Inhaber von Rapperswil, in der allgemeinen landesherrlichen Ausbaubewegung mitzuhalten. Wichtig dafür sind auch die (allerdings weniger gut erforschten) Ansätze zum Aufbau einer eigenen Dienstmannschaft, zu der etwa Ritter von Rambach, Galgenen, Au, Müle-nen, Ürikon, Windegg, Kaltbrunn und so weiter, aber auch städtische Ammänner gehörten. Deutlich sind dabei ebenfalls mehrere Gruppen unterscheidbar. Als Beispiele: Zur selben Gruppe wie die Herren von Ürikon, die um 1269 unter anderem auf der Rapperswiler Burg Greifenberg bei Bäretswil sassen und die vielleicht mit Nobiles (von Hinwil?) aus dem Rapperswiler Umfeld direkt verwandt waren, zählten jene Leute, die sich nach Wagen57 und nach Hombrechtikon nannten, ferner einige der im selben Zusammenhang auftretenden Stadtzürcher wie vor allem die Rümer. Zu den (wohl verschiedenen) Herren von Windegg gehört ebenfalls eine abgrenzbare Gruppe, während Ritter von Bernegg und von Werdegg offenbar nach 1270 im grossen Umkreis der Landenberger aufgegangen sind, die Werdegger übrigens auffällig stark mit Elisabeth von Rapperswil zu tun haben -und so weiter. Beim Ganzen sind die Beziehungen zahlreicher Leute aus dieser Umgebung in die Stadt Zürich hinein und zu Stadtzürcher Rittergeschlechtern -besonders etwa zu den Biber, Beggenhoven, Wisso, Rümer, Glarus, Brühund58 und ChSangallense 3, 1222 von 1233 bestätigt die Existenz von «census vectigalis et thelonei» in Rapperswil; ChSangallense 3,1653, nennt 1261 Einkünfte «de naulo» in Urikon; nach ChSangallense 3, 1216 wird 1232 Pfäfers Zollfreiheit bei Weesen und Mur (bei Schanis) zugesichert. Für Hinweise auf Walenstadt danke ich Alfred Häberle. Siehe dazu ebenfalls Clavadetscher, Das mittelalterliche Schloss (wie Anm. 6), S. 38-47 und besonders S. 62-73. Die Absichten von Werner Meyer, archäologische Forschungen in Altendorf zu intensivieren, sind sehr zu begrüssen. Zu Greifenberg/Wagen/Ürikon vgl. ChSangallense 3, 1824; für die Verbindung von Ürikon mit «Alt-Rapperswiler» Gütern und Rechten (der «Hinwil» und «Hombrechtikon», offenbar auch in Alt-Rapperswil selber) gibt es zahlreiche Indizien. Die zürcherischen Brühund und ihre jahrzehntelange Fehde mit den Dominikanerinnen im Oeten-bach (dazu schon ChSangallense 3, 1669 von 1261 und 3,1705 von 1263) wären hier von besonde- anderen - von grossem Interesse. Ansätze zur Ausbildung einer Ämterverfassung sind ebenfalls fassbar, insbesondere durch das Auftreten von herrschaftlichen Am-männern. Was allerdings die konkrete herrschaftsorganisatorische Ausgestaltung angeht, so gibt dazu das verfügbare schriftliche Quellenmaterial kaum irgendwelche Auskünfte, ebensowenig über die praktische Herrschaftsausübung an Ort und Stelle. Unter dem Aspekt der Territorialisierung kommen also tatsächlich viele bisher vernachlässigte Elemente der Rapperswiler Herrschaftsgeschichte besser ins Blickfeld, obschon die Rapperswiler Bestrebungen um Herrschaftsausbau mit der ungleich stärkeren landesherrlichen Politik letztlich nicht erfolgreich konkurrieren konnten. Ein dritter und letzter Punkt, der für eine Neubearbeitung dieser Herrschaftsgeschichte von grosser Bedeutung ist, liegt nun auf einer anderen, nämlich auf der generellen methodischen Ebene des Umgangs mit der schriftlichen Überlieferung. Weil diese Kriterien bisher in der lokal- und regionalgeschichtlichen Arbeit noch zu wenig berücksichtigt worden sind, soll hier darüber mehr als üblich auch aus allgemeiner Sicht informiert werden. Unsere Kenntnisse stützen sich zur Hauptsache auf Urkunden. Diese Urkunden vermitteln aber ein nur sehr punktuelles, zudem einseitiges Bild des Geschehens; in bezug auf Herrschaftsgeschichte und Besitz geben sie ja nicht einfach (beziehungsweise nur in einem ganz bestimmten Sinne) «objektive» Tatsachen wieder. Ihre Auswertung hat sehr verschiedene quellenkritische Gesichtspunkte miteinzubeziehen. Zunächst stellt sich die Frage nach dem Umfang des Erhaltenen: Es steht fest, dass der grösste Teil - Schätzungen59 gehen für die Ostschweiz bis zu 90 Prozent - der zeitgenössischen Schriftstücke zumindest des 13. Jahrhunderts verlorengegangen ist. Aber mindestens ebenso wichtig sind Überlegungen zur Tatsache, dass auch das Erhaltene in der Regel nicht etwa bloss zufällig erhalten ist, der Charakter des Erhaltenen also sehr viel sorgfältiger als bisher bedacht werden muss. Das Erhaltene aus dem 13. Jahrhundert ist in einer Zeit des rasch voranschreitenden Prozesses der Verschriftlichung, also der rasch zunehmenden Verwendung von Schrift im sozialen Handeln, entstanden. Dieser Prozess bedeutet eine Veränderung der Normen in den sozialen Beziehungen, ist im gesellschaftlichen Rahmen verankert und nicht einfach mit vermehrter Bildung und Schreibfähigkeit des weltlichen Adels zu erklären. Die Frage, wer wann was wie wozu geschrieben hat, stellt sich gerade in dieser Zeit bei jedem einzelnen Schriftstück von neuem. Das abgesehen davon, dass gleichzeitig immer auch das, was bei einer beurkundeten Handlung alles nicht aufgeschrieben worden ist, eine intensive Überlegung wert ist. Längst nicht alles, was zu einem bestimmten Vorgang gehört, wurde verschrifdicht; in einer immer noch weitgehend durch Mündlichkeit geprägten Gesellschaft kommen nur ganz bestimmte Dinge beziehungsweise Denkformen und formalisierte Ele- rem Interesse; in dieses Umfeld gehören auch die (übrigens mit den Attinghausen gegen 1300 kognatisch Verwandten) an Rapperswiler Sachen ganz auffällig beteiligten Nobiles «von Kempten». So die Ansicht von Otto R Clavadetscher (mit Dank für den mündlichen Hinweis!). 26 27 mente von Handlungen zur schriftlichen Niederlegung. Auch Urkunden erzählen in diesem Sinne Geschichte und sind nicht einfach - wie das eine traditionelle Arbeitsweise immer noch will - zwar bruchstückhafte, aber objektive Informationen über rechtliche oder gar gesellschaftliche Vorgänge. Zu diesen grundsätzlichen Punkten kommen nun auch noch spezifische Vorbehalte: Schriftstücke sind, und das ist für das 13. Jahrhundert erst recht zu beachten, nur unter bestimmten Gesichtspunkten und an bestimmten Orten aufbewahrt worden. Damit eng verknüpft ist die Tatsache, dass, zum zweiten, Schriftstücke als Dokumente (nicht nur als Inhaltsträger, sondern eben als objekthafte Zeichen) zu bestimmten Zwecken gebraucht wurden. Und drittens wurden sie auf bestimmte Weise hergestellt, unter ganz bestimmten Umständen, und von einer bestimmten «Partei». In dieser Hinsicht wird man mit dem Fälschungsverdacht - sofern unter Fälschung die Nachahmung von rechtlichen Schriftstücken in betrügerischer Absicht verstanden wird - sehr vorsichtig umgehen müssen, Dagegen hat zweifellos die «Nach-Herstellung» von Schriftlichkeit, also eben die nachträgliche Herstellung von als formal korrekt empfundenem Schriftgut in jenem Zeitpunkt, da für das soziale Handeln auch tatsächlich Schriftstücke gebraucht wurden oder da im weitesten Sinne ein Bedüfnis nach schriftlicher Traditionsbildung entstand, eine sehr viel grössere Bedeutung gehabt als früher angenommen. Bekanntlich sind zahlreiche mittelalterliche Stiftungs- und Gründungsurkunden in diesem Sinne als Nach-Herstellungen entstanden.60 Massive Konsequenzen aus diesen methodischen Überlegungen sind für die Interpretation des zur Rapperswiler Herrschaftsgeschichte vorhandenen Urkunden-Materials unvermeidlich. Weder muss dies einen Anfall von gelehrtem Konstruktionsfieber auslösen, noch müssen deshalb plausible Thesen und Vermutungen, seien sie neu oder alt, einer fundamentalistischen Quellenskepsis geopfert werden! Die offenen Fragen sind im Gegenteil eine Chance, die Probleme im einzelnen neu auszudiskutieren und die Spielräume einer Rekonstruktion - eben der Entdeckungsreise - besser zu nutzen. Eine entsprechende Diskussion der überlieferten Quellen soll hier auf zwei Beispiele beschränkt werden: Das erste Beispiel betrifft eine 1286 beurkundete Schenkung der Ritter Truchsess von Hombrechti-kon an das Kloster Einsiedeln, weil daran gezeigt werden kann, wie scheinbar völlig harmlose und «nebensächliche» Vorgänge plötzlich in anderem Licht erscheinen, wenn sie auf ihren überlieferungsgeschichtlichen Hintergrund hin befragt werden. Als zweites Beispiel wähle ich eines aus, das mir besonders brisant scheint: die Stiftung der Zisterze Wettingen durch einen Rapperswiler beziehungsweise die dabei vorgenommene Übertragung von Rapperswiler Gütern in Uri. Zum ersten Beispiel: 1286 bestätigte Ritter Konrad der Truchsess von Hom-brechtikon die umfangreiche Schenkung61, die sein Vater dem Kloster Einsiedeln unter anderem in der Gegend des Etzels gemacht hatte. Im Liber Heremi findet sich 60 Probleme in dieser Hinsicht stellt sogar der Bundesbrief von 1291; vgl. Roger Sablonier, Der Bundesbrief von 1291: eine Fälschung? Perspektiven einer ungewohnten Diskussion, in: Mitteilungen des Historischen Vereins des Kantons Schwyz 85 (1993), S. 13-25. 61 UBZürich 5, 1959. 28 ein entsprechender Eintrag, und Paul Kläui weist die nunmehr bestätigte erste Schenkung den Jahren nach 1267 zu. Alles klar? Keineswegs. Bei genauerem Hinsehen steht dahinter eine wesentlich komplexere Geschichte, der übrigens vielleicht eine grosse Bedeutung für den sogenannten Marchenstreit in dieser Zeit zukommt.62 Erstens weisen zentrale Lage und Umfang dieses Besitzes entschieden über eine bloss ministeriale Kleinherrschaft hinaus. Die Behauptung, zweitens, die Schenkung sei schon durch den Vater erfolgt, weckt zusätzlich Verdacht. Sie belegt jedenfalls nicht, dass wir in diesen Truchsessen - die auch in der Folge als Rapperswiler und Zürcher Bürger belegt sind - die rechtmässigen Besitzer dieser Güter vor uns haben, sondern dass Konrad von Ansprüchen Abstand nehmen muss. Bei der Urkunde von 1286 handelt es sich, wie letztlich sehr oft bei als Schenkungen, Tauschaktionen oder sogar Verkäufen beurkundeten Geschäften, offensichtlich um eine Konfliktregelung; sie läuft parallel zu der auch sonst in dieser Zeit belegbaren Restituierung von Lehens- und anderen Gütern an Einsiedeln. Es ist 1261 explizit belegt, dass Rudolf von Rapperswil Güter zu Lehen ausgegeben hatte, die ihm offenbar gar nicht unbestritten zustanden.63 Die Spuren (bezeichnenderweise im schriftlichen Material, das ja einen inneren Überlieferungszusammenhang besitzt) führen aber bedeutend weiter zurück: Handelt es sich um - für das Kloster sehr zentral gelegene - Alt-Rapperswiler Güter, die schon zu Beginn des 13. Jahrhunderts grundsätzlich ans Kloster gegangen waren, sei es durch Schenkung oder Konfiskation?64 Güter, für die aber spätere Rapperswiler (um 1259/60?) die Rechtmässigkeit des Überganges ans Kloster faktisch bestritten und die sie deshalb auch als Lehen an ihre Gefolgsleute ausgaben? Solche Vorgänge könnten zahlreiche Merkmale der 62 Vgl. QWII/3, Traditionsnotizen Einsiedeln, S. 366 Zeile 8 mit Anm. 7 und S. 378 Zeilen 5-9. Dazu die oben in Anm. 20 gemachten Bemerkungen zu Hombrechtikon um 1200; auf frühere Zusammenhänge verweist auch das völlig ungewöhnliche Geschäft eines «Priesterkonvents» zu Hombrechtikon von 1217 (UBZürich 1, 382); möglicherweise hat dies alles auch mit den nach ChSangallense 3, 977 und 979 für 1207/08 belegten Auseinandersetzungen um die Kirche (Alt- ?)Rappers-wil (und ihren «presbyter», dem ein «crimen adulterii et incestus» vorgeworfen wird) zu tun. Interessant für die Vorgänge nach 1260 und die möglichen Zusammenhänge mit dem Marchenstreit auch die Berührungspunkte mit der Gütergeschichte der (Rapperswiler) Bruchi; vgl. Sablonier, Innerschweizer Gesellschaft (wie Anm. 10), S. 41 und Anm. 173ff. Einzubeziehen wären auch die in l Anm. 44 genannten Transaktionen, die Fragen um die Windegger und die Fehden im Gastergebiet j u.a. um 1302. Zu letzteren im weiteren Rahmen auch Susanne Summermatter, Aspekte der Bezie- I hungen zwischen Glarus und Schwyz, in: Mitteilungen des Historischen Vereins des Kantons i Schwyz 83 (1991), S. 125-142. 63 So in ChSangallense 3, 1669, für den Hof Witellikon im Jahre 1261 (Oetenbacher Absicherung ge-gen Ansprüche der Brühund; dabei eine unrechte Rapperswiler Lehensvergabe an die Nobiles von Wädenswil und Matzingen genannt!); das in dieser Form selten explizit überlieferte Phänomen, dass j auch umstrittene Güter gerade zur Behauptung durch den Nehmer - zu Lehen ausgegeben worden I sind, muss viel häufiger gewesen sein. Geradezu spektakulär in dieser Hinsicht die 1230 erfolgte ! Ausstattung der Margaretha von Savoyen durch den Kyburger mit umstrittenen Ansprüchen und I Gütern; vgl. Eugster, Territorialpolitik (wie Anm. 9), besonders S. 46f. 64 Interessanterweise wird die Geschichte um die Einsiedler Lehensrückforderungen im klösterlichen j Urbar von 1331 verzeichnet (QW II/2, S. 85-87), offensichtlich auch hier als «Parteien»-Darstel-j lung zu den Vorgängen nach 1283 und zum habsburgischen Zugriff. Auseinandersetzungen im Einsiedler und Oberseegebiet zu Ende des 13. Jahrhunderts erklären, und sie sind nur dann erfassbar, wenn die wohl häufige Nach-Her-stellung einer schriftlichen Tradition mit in Rechnung gestellt wird. Das Beispiel Hombrechtikon zeigt, wie komplex und zugleich ausserordentlich spannend die Dinge werden können, wenn einmal ganz entschieden neue Massstäbe der Quellenkritik angelegt werden. Es handelt sich nicht um den einzigen Fall, bei dem spurenweise solche Vorgänge fassbar werden. Generell dürfte es eine beliebte Strategie gewesen sein, umstrittene Güter als Reichslehen oder als Lehen von grossen Klöstern auszugeben, um sie einer Regelung zu entziehen und damit zugleich am Prestige einer solchen beanspruchten Verleihung teilzuhaben.65 Besitz im heutigen Sinne musste damals ohnehin faktisch besessen und nicht einfach rechtlich behauptet werden. Die in den Urkunden auftretenden Besitzstücke bieten, weil es dabei fast immer (oft auch implizit) um Konfliktregelungen geht, grundsätzlich nur Hinweise auf Ansprüche und damit oft nur ein Scheinbild des tatsächlich verfügbaren Besitzes. In der Tat gibt es fast keine Rapperswiler Urkunden vor 1280, die gänzlich problemlos wären. Es schiene mir insbesondere lohnend, alle Urkunden, die von den Rapperswilern oder für die Rapperswiler in Angelegenheiten des Klosters Rüti - und hier auffallend oft als Empfängerausfertigungen - ausgestellt worden sind, einmal genauer auf eine spätere Nach-Herstellung hin zu überprüfen (zum Beispiel in den 1260er oder 1290er Jahren, eventuell gar 1309).66 Auf noch ganz andere «Ideen» führt das zweite Beispiel: Heinrich Wandeiber von Rapperswil gilt bekanntlich als der Stifter der Zisterze Wettingen. Nach einer Grundausstattung um 1227 - die von Tschudi aus nicht recht ersichtlichen Gründen auf 1241 verlegt wurde - sollen ständig und teilweise auch nach Streitigkeiten weiterhin Rapperswiler Güter in Uri an Wettingen gegangen sein, zuletzt 1290 mit einem grossen Verkauf der Elisabeth von Rapperswil.67 Die schwierig zu durch- 65 Interessant auch das 1283 (!) erstellte Lehensverzeichnis der Herren von Hünenberg (QW H/2, S. 304-306), das Lehen möglichst wenig auf Habsburg selber, oft aber auf (verschwindende) Nobiles zurückführt. 66 Zumindest für die auf 1238 datierte deutsche Fassung der sog. Ferracher Öffnung (UBZürich 2,516, und ChSangallense 3, 1268*) besteht kein Zweifel mehr an einer späteren Nach-Herstellung (so auch Clavadetscher; vgl. auch ChSangallense 4, 2427 sein Hinweis auf eine auffällige Serie von gleichzeitigen Rütemer Urkunden). Eine massive «Nach-Herstellungs-Aktion» im Rahmen der Auseinandersetzungen mit Bubikon, St. Gallen und Einsiedeln (im Hinblick auf den Zugriff der bischöflich-konstanzischen und habsburgischen Gerichtsbarkeit) wäre plausibel. Im übrigen wären die auffälligen Häufungen von Transaktionen einmal genau auf ihre zeitliche Korrelation mit genealogischen Vorgängen im «Hause» (Neu-)Rapperswil zu überprüfen. Die Fragen um die praktischen Auswirkungen der Erbprobleme nach dem Tod von Elisabeth (vgl. dazu auch Bruno Meyer, Habsburg-Laufenburg und Habsburg-Österreich, in: Zeitschrift für Schweizerische Geschichte 28 [1948], S. 310-343, besonders S. 338f.) sind nicht befriedigend gelöst. 67 Urkunden zum Wettinger Besitz in Uri chronologisch von 1227 bis zum Verkauf durch Elisabeth von Rapperswil von 1290 (ChSangallense 4, 2237): vor allem ChSangallense 3,1146:'71303, QW 1/1, 468/506/513//575, ChSangallense 3, 1403, QW 1/1, 587/641/1437, QW 1/1, 688/981/1516/1622; dazu bis 1311: QW 1/1, 1695, QW 1/2, 64/81/85/87/101/102/151/160/216/270/272/280/576 usw. Von Interesse sind auch ChSangallense 3,1590 (Strättlinger Erbe von Heinrich Wandeibers Schwester, 1258) und 3, 1699 (die Witwe Mechthild des Grafen Rudolf hat dem Abt von Wettingen eine hohe Summe zur Verfügung gestellt). schauenden Vorgänge um die Stiftung sind schon mehrmals dargestellt worden, neuerdings von Eugster und Stadler mit allen nötigen Details. In bezug auf Rapperswiler Herrschaftsgeschichte ist das Problem scheinbar gelöst, indem Paul Kläui die mehrfachen Überschreibungen und offensichtlichen Unklarheiten beim Besitz-Übergang einer Rapperswiler Erbteilung vor 1227 und dem entsprechend unterschiedlichen Handeln verschiedener Zweige im Hause Rapperswil zugeschrieben hat.68 Die vorhandenen Schilderungen beziehungsweise Erklärungen dieser Stiftungsvorgänge lassen aber bei näherem Hinsehen zu viele Unklarheiten stehen. Unstimmigkeiten in den Übertragungen in Uri, die wiederholt ergänzt, erneuert oder bestritten wurden, lassen sich einfach nicht auf den Nenner einer Rapperswiler Erbteilung bringen.69 Mir scheint letztlich eine völlig andere Erklärungsspur um vieles einfacher und aussichtsreicher: Wettingen hat offensichtlich grosse Mühe gehabt, seine von Rapperswilern erworbenen Ansprüche in Uri auch tatsächlich an Ort und Stelle geltend zu machen, und alles deutet darauf hin, dass dies mindestens vor 1290/1300 nur punktuell gelang. Den frühen normativen Wettinger Quellen darf in dieser Hinsicht nicht zu viel Gewicht beigemessen werden, und dass das Kloster schon im 13. Jahrhundert seine Ansprüche immer wieder zu verteidigen suchte, bedeutet noch nicht, dass das Kloster diese Rechte auch an Ort und Stelle tatsächlich ausüben konnte. Vielleicht war sogar noch der 1359 erfolgte Verkauf der Wettinger Rechte an die Talschaft (zumindest teilweise) nur eine Form, um einen bereits sehr alten Konflikt endlich zu regeln. Wer war der Widerpart Wettingens in Uri? Nach meiner Meinung ist durchaus wahrscheinlich, dass die Attinghausen - möglicherweise zusammen mit führenden Talleuten - einen grossen Teil dieses «Rapperswiler Erbes» ebenfalls beansprucht haben.70 Solche Ansprüche bestanden vielleicht wegen direkter Verwandtschaft oder (wahrscheinlicher) auf dem Umweg über eine Beziehung zu Homberg und Froburg. Oder ging es gar ganz einfach um den Anspruch auf ehemals lenzburgi-sche Güter, deren «Besitz» vielleicht auch für die Rapperswiler in erster Linie einen Anspruch und weniger die effektive Heri^chafts-Ausübung bedeutete? Auch das ist durchaus möglich. Eine definitive Klärung steht aus; dazu beitragen aber könnte Ausführlich dargestellt von Kläui, Ausgewählte Schriften (wie Anm. 4), S. 83f., 92-95; Hubler, Adel (wie Anm. 4), S. 14-17; Eugster, Territorialpolitik (wie Anm. 9), S. 177-225 (im Gesamtzusammenhang der Stiftung Wettingens; mit Diskussion der älteren Literatur, u.a. Fritz Wernli, Beiträge zur Geschichte des Klosters Wettingen, Diss. Zürich, Kaltbrunn 1948, besonders S. 64-66, 86f. zum Urner Stiftungsgut); Stadler, Haus Rapperswil (wie Anm. 4), S. 66f.; Stadler, Uri (wie Anm. 4), besonders S. 116-125. Das Ganze müsste auch überlieferungsgeschichtlich (Wettinger Aufzeichnungen, Tschudi) angegangen werden. Allein schon die Tatsache, dass Rudolf von Rapperswil in den fortdauernden Regelungen um die Vergabungen des Heinrich Wandeiber ausser im Kleinen Wettinger Urbar zu 1240 (nach ChSangallense 3, 1277) nicht auftaucht (auch nicht z.B. 1258 bei der Regelung des Strättlinger Erbes nach ChSangallense 3, 1590), ist merkwürdig genug. Einzubeziehen wäre auch sonstiger Nobiles-Besitz in Uri. Vgl. dazu meine Darstellung der Attinghausen in Sablonier, Innerschweizer Gesellschaft (wie Anm. 10), S. 16-23. 30 31 beispielsweise eine Beschäftigung mit den seltsamen Besitzverschiebungen zugunsten Wettingens im ehemaligen Wädenswiler (das heisst eben «Alt-Rapperswiler») Einflussgebiet auf dem Zimmerberg und andernorts. Ging es hier um Kompensationen? Gehört gar der Übergang der Burg Wädenswil an die Johanniter zu Bubikon in diesen Zusammenhang? Im Argument der hohen Verschuldung, das Elisabeth von Rapperswil nach 1284 als schon fast stereotype Begründung für ihre Güterverkäufe anführt, könnte ein Hinweis auf diese alten ungeregelten Schulden gegenüber Wettingen vorliegen - vielleicht auch auf damit zusammenhängende Schulden bei anderen Gläubigern, etwa Stadtzürcher Rittern. Die Beschäftigung mit der Überlieferung zum «Fall» Wettingen ergibt jedenfalls, dass nicht nur die offensichtlichen Widersprüche und Unklarheiten mit dem Charakter dieser Schriftlichkeit zu tun haben, sondern auf diese Weise auch sehr viel mehr Zusammengehöriges zum Vorschein kommt, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Ganz generell sind also die Überlegungen zu Überlieferungsmerkmalen und Verschriftlichung neben den familien- und sozialgeschichtlichen Aspekten von elementarer Bedeutung für eine Neubeurteilung der gesamten Vorgänge um Rapperswil. Für die Rapperswiler Herrschaftsgeschichte ist, so soll zusammenfassend noch einmal betont werden, mit den obigen Ausführungen erst eine neue Perspektive entworfen - zahlreiche interessante Detailprobleme sind noch nicht gelöst und würden eine intensive Bemühung lohnen. Grundsätzliche Folgerungen für das historische Bild der Rapperswiler Herrschaft im 13. Jahrhundert sind aber bereits jetzt klar: Als Basis (und als fortdauernde Realität) der Herrschaft Rapperswil eine ererbte Grossherrschaft mit Schwerpunkt im Zürcher Oberland/Glattal anzunehmen, ist fragwürdig und schafft Missverständnisse, sogar noch dann, wenn man berücksichtigt, dass längst nicht aller hochmittelalterliche Besitz schriftlich belegt werden kann. Was hier in den Händen verschiedener Rapperswiler im 13. Jahrhundert auftaucht, besteht aus den verschiedensten Besitzsplittern und aus Ansprüchen von Leuten ganz verschiedener Herkunft - Leuten auch, die wie Herren vazischer Herkunft temporär oder definitiv zugewandert sein könnten. Sicher kann die Herrschaftsdurchsetzung der verschiedenen Rapperswiler im Vergleich nicht gerade intensiv gewesen sein. Burg Neu-Rapperswil spielt als Herrschafts- und Verwaltungsmittelpunkt für die Grafen selber (mindestens bis 1284) offenbar nur eine geringe Rolle. Fast der gesamte bekannte Besitz war im 13. Jahrhundert, wie schon erwähnt, massiv umstritten, und diese Konflikte sind wohl nicht nur auf komplizierte familieninterne Erbvorgänge zurückzuführen. Es ist wahrscheinlich, dass Konfiskationen beziehungsweise Ansprüche im Zusammenhang mit um 1200/1206 belegten Konflikten mit dem Kloster Einsiedeln eine wichtige Rolle spielten.71 Die damalige Absetzung des Abtes mit Rapperswiler Herkunft dürfte - mit ihren Begleiterscheinungen in bezug auf die Stellung der Familie insgesamt - spätere Schwierigkeiten wesentlich mitbestimmt haben. Zur Absetzung des Abtes Ulrich I. vgl. Odilo Ringholz, Geschichte des fürstlichen Benediktinerstiftes U.L.F. von Einsiedeln, Bd. 1, Einsiedeln 1904, S. 84. Sehr wahrscheinlich ist zudem, wie schon erwähnt, für die Herren auf Rapperswil die Übergabe oder Beanspruchung von staufischen Besitzansprüchen aus dem Lenzburger Erbe mindestens in der Walenseegegend sowie möglicherweise in Gla-rus, in Schwyz und in Uri von grosser Bedeutung gewesen. Die grosse Nähe zum Staufer Friedrich II. ist jedenfalls offensichtlich, ebenso eine gewisse Konkurrenzsituation zu Kyburg. Nach 1250 scheinen «Alt-Rapperswiler» Erben wieder aktiver und wenigstens vorübergehend konkret auf den Plan getreten zu sein. Die teilweise weit zurückreichenden Erb- und Gütertradierungsstreitigkeiten um Rapperswiler Güter und Rechte konnten erst mit der Zeit geregelt werden, und erst mit habsburgischer Hilfe beziehungsweise Nachhilfe. Diese Konflikte sind es vor allem, die in den überlieferten Urkunden - für uns stark bruchstückhaft - erscheinen, und zwar auch später. In diesem Sinne geben die Urkunden gar nicht eigentlich den Besitz, sondern in erster Linie die umstrittenen Ansprüche wieder. Aber hinter den Bruchstücken werden Zusammenhänge sichtbar, zu denen sehr viel mehr Ereignisse der regionalen Geschichte gehören, als bisher angenommen wurde. Die Verhältnisse weisen nun interessanterweise in eine Richtung, die auch einen literarisch-historiographischen Niederschlag in der sogenannten «Schlossgrün-dungs-Legende» von Neu-Rapperswil gefunden haben könnte. Das soll hier doch auch noch kurz dargestellt werden.72 In ihrer ursprünglichen Form führt diese Legende die Gründung von Neu-Rapperswil auf den Ratschlag eines treuen Dienstmannes zurück, der dem nach langer Abwesenheit zurückgekehrten Grafen zunächst die Seitensprünge beziehungsweise die Untreue seiner Gattin ausplaudern wollte, ihm dann aber mit Blick über den See erfolgreich die Errichtung eines neuen Herrschafts-Mittelpunktes auf dem Endinger Horn vorschlug. Burgengründungssagen für die sogenannten Stammsitze sind keine Seltenheit, und das Bild des treuen Dieners ist literarisch geprägt, wie auch die spätere Ausschmückung mit einer Hirschsage.73 Mit konkreten Ereignissen und Personen lässt sich nichts verbinden - das wäre angesichts von Entstehungsumständen und Funktion solcher Überlieferungen auch eine falsche Erwartung. Dennoch steckt darin vielleicht ein fernes Echo von tatsächlichen Vorgängen: Dass die Rapperswiler Herren sehr häufig abwesend waren, einmal - wohl mit Barbarossa - auf dem Kreuzzug, sicher aber auch im Gefolge Friedrichs IL, ist zweifellos richtig; diese Tradition setzte auch der Homberger Erbe durch seine Italienfahrt im Dienste Heinrichs VII. fort. Der häufigen Abwesenheit dürfte eine mangelhafte Herrschaftsdurchsetzung an Ort und Stelle entsprochen haben. Das ist ebenso plausibel wie der vielleicht erst später von städtischen Chronisten umgedeutete Vorwurf der ungetreuen Handlungen der Ausführliche Diskussion der Schlossgründungslegenden (mit negativem Befund) bei Clavadetscher, Das mittelalterliche Schloss (wie Anm. 6), S. 29-38. Zur Einschätzung der Fassung aus der sog. Klingenberger Chronik siehe auch Rudolf Gamper, Die Zürcher Stadtchroniken und ihre Ausbreitung in die Ostschweiz, Diss. Zürich, (Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich 52.2) Zürich 1984, besonders S. 107-119; ferner Robert Höhn, Studien zu den Kurzerzählungen in schweizerischen Chroniken des 14.-16. Jahrhunderts, Diss. Zürich 1982 (Manuskript), besonders S. 91-93 (Gründungssage Habsburg) und S. 107-113 (Rapperswil). 32 33 Gattin; dieser könnte ursprünglich etwas anderes gemeint haben, nämlich die Gü-terversplitterung in den Händen von Erbinnen oder die Ausgabe von Lehen aus dem umstrittenen Erbgut an Dienstleute. So gesehen, würde auch die Schlossgründungslegende durchaus zum allgemeinen Bild passen. Wie auch immer die Bedeutung der literarisch-historiographischen Uberlieferung einzuschätzen ist, über die Entwicklung der Rapperswiler Herrschaft als Ganzes kann kein Zweifel bestehen. Bei allem ist offensichtlich, dass sich die Herrschaft Rapperswil nicht nur im scheinbar ererbten Besitz, sondern ganz generell mit ihren Ansprüchen auf die Dauer nicht durchsetzen konnte. Eine bereits alte Erkenntnis erhält dadurch noch mehr Gewicht: Zentraler Herrschaftsbestandteil der Inhaber von Rapperswil blieben die Vogteirechte über Einsiedler Güter und Abhängige, und der Niedergang nach 1260 hat entscheidend damit zu tun, dass diese Rechte gegenüber der österreichischen Landesherrschaft offenbar nicht selbständig (oder nur sehr teilweise) behauptet werden konnten. Der endgültige «Zerfall» der Rapperswiler Herrschaft entspricht einem massiven Zugriff der Landesherrschaft, die dabei auch alte Gütertradierungsstreite und konkurrierende Ansprüche regelte. In diesem Licht sind übrigens auch die bekannten Abmachungen der Elisabeth von Rapperswil von 1291 mit der Stadt Zürich zu sehen: Wie bei dem auf drei Jahre befristeten Abkommen vom 16. Oktober 1291 mit den Waldstätten versuchte die Reichsstadt - oder besser: nicht eigentlich «die Stadt», sondern die reichsstädtische Führungsgruppe mit solchen Bündnissen ihr politisches Einflussgebiet zu sichern und schwächere Partner wie die Rapperswiler Gräfin zu integrieren, im konkreten Falle von 1291 auch zur Rückendeckung in der laufenden Fehde gegen Habsburg.74 Die fortgesetzten Auseinandersetzungen um Rapperswil und Rapperswiler Güter, die man in (anachronistischer, aber treffender) Anlehnung an spätere eidgenössische «Händel» fast als Rapperswiler Handel bezeichnen könnte, reichen nicht nur weit in staufische Zeit zurück, sondern ziehen sich unter wechselnden Bedingungen über Jahrzehnte hinweg bis weit ins 14. Jahrhundert hinein. Wer auch immer als Rapperswiler Graf aufgetreten sein mag, und wessen Tochter auch immer die Gräfin Elisabeth war: Es handelt sich letztlich um die wechselvolle Geschichte einer erfolglosen Herrschaftsbildung. Die Rapperswiler gehören im Prozess des regionalen Herrschaftswandels zu den Verlierern, wie übrigens auch in grösserem Rahmen die Kyburger und zahlreiche andere regionale Adelsgeschlechter wie die Regensberger und Eschenbacher, die sich nicht wie die Bonstetten und Klingen in den Dienst der Landesherrschaft begeben haben. Damit ist aber auch schon die Frage nach dem politischen Umfeld gestellt, in dem sich diese Rapperswiler Geschichte abspielte. ZUR POLITISCHEN BEDEUTUNG: RAPPERSWIL UND DIE EIDGENÖSSISCHE «GRÜNDUNGSGESCHICHTE» Es gab also keine Dynastie der Grafen von Rapperswil im landläufigen Sinne -unter diesem Namen tauchen mehrmals Leute verschiedener Herkunft auf. Und die Besitzgeschichte dieser Rapperswiler ist jene einer erfolglosen Herrschaftsbildung. Das hat selbstverständlich wesentliche Konsequenzen für die Einschätzung der politischen Bedeutung der Herrschaft Rapperswil. Diese politische Bedeutung wäre auf sehr verschiedenen Ebenen anzugehen. Wie schon oben erwähnt, ist die Rapperswiler Herrschaftsgeschichte zur Hauptsache in den Zusammenhang der regionalen Entwicklung des Adels im 13. Jahrhundert unter Bedingungen einer rasch sich konsolidierenden habsburgischen Landesherrschaft zu stellen. Auf die Verknüpfung mit der staufischen Politik wie auch auf das Problem der Beziehungen zu der sich verselbständigenden Stadt Zürich ist ebenfalls schon hingewiesen worden. So gesehen, ist der Zusammenhang mit der sogenannten «Gründungsgeschichte», also mit den Vorgängen bei der Entstehung der Eidgenossenschaft, nur eines unter vielen möglichen Themen, in zeitlicher Hinsicht eher auf den Schluss bezogen, und für die zeitgenössische Gesamtentwicklung sicher nicht einmal der wichtigste Aspekt. Er mag hier aber besonders interessieren, und darum sollen dazu einige Hinweise gegeben werden. Nach all dem bereits Gesagten wird es nicht ganz überraschend sein, dass auch bei diesem (im Verhältnis zu anderen historischen Vorgängen viel zu) viel und scheinbar zu Ende diskutierten Thema die Vorgänge rund um Rapperswil gewisse neue Perspektiven aufscheinen lassen. Eine «Klammer der jungen Eidgenossenschaft» - so bezeichnet Hans Stadler den Adel beziehungsweise die Herrschaft Rapperswil und die Reichsvogtei Werners von Homberg, des Sohnes der Elisabeth von Rapperswil, in einem 1991 erschienen Aufsatz75 zu den historischen Beziehungen zwischen Schwyz und Uri. Mir scheint das durchaus zutreffend, mindestens so. weit, als damit die Verfassungsformen gemeint sind. Die Idee ist nicht völlig neu, und schon Hans Conrad Peyer hat die Waldstätte nach dem Verschwinden des Hombergers als verfassungsmässiges Relikt im Sinne einer Reichsvogtei ohne Reichsvogt gesehen.76 Die sozusagen von aussen gegebene verfassungsmässige Definition ist für das gemeinsame Auftreten der Waldstätte sicher mindestens so bedeutend gewesen wie ein anderweitig bestehender innerer Zusammenhalt. Der von Peyer gewiesene Weg ist konsequent weiterzugehen. Es lohnt sich, viel konkreter und über allfällige Verfassungsformen hinaus danach zu fragen, wo denn eigentlich diese «Klammer» liegen soll. Verstreute und dünne Hinweise auf einige persönliche Bindungen von Schwyzer und Urner «Bauern», wie sie seit langem i 75 Stadler, Haus Rapperswil (wie Anm. 4), Untertitel, ,. „ ,, ,___, , _,,„., ,. „ , ,r , , . , , , , „, . ! 76 Hans Conrad Peyer, Die Entstehung der Eidgenossenschaft, in: Handbuch der Schweizeree- » ChSangallense 4, 2285 und QW 1/1, 1689; d,e Schnft der be.den Urkunden nach QW 1/1, S. 789, j schich ßd , ^ , ^ & m{ ^ CoJd p Verfassungsgeschichte der alten Schweiz, Anm. 23, identisch. , Zürich 1978, S. 15. 34 35 bekannt sind, beantworten die berechtigte Frage wohl nicht, warum die Führungsgruppen der Talkommunen Uri und Schwyz am Ende des 13. Jahrhunderts gemeinsam politisch zu agieren beginnen. Annahmen über eine weitgehende Kontinuität adligen Besitzes in Uri seit dem frühen Mittelalter und über eine durchgehende Feudalisierung der Region im 12./13. Jahrhundert - als Voraussetzung eines allgemeinen urschweizerischen, antifeudalen beziehungsweise volksgebundenen Widerstandes nach 1290 - halte ich für verfehlt.77 Mit einer merkwürdigen Wendung in der Argumentation in bezug auf die Stellung solcher Adligen wie Rapperswil oder Attinghausen zu meinen, diese hätten sozusagen den Willen des schwyzerischen und urnerischen «Volkes» verkörpert beziehungsweise der innerschweizerische Adel wäre als Anführer einer «freiheitlichen Volksbewegung» zu sehen, macht mir noch mehr Mühe.78 Es steht ja zumindest bei den frühen Attinghausen nicht einmal fest, dass sie sich zur Hauptsache im Lande selber und nicht eher in Zürich oder im Süden aufgehalten haben. Eine «Politik» der Waldstätte beziehungsweise «der» Schwyzer und Urner, so wie sie in einem traditionellen Sinne von der nationalgeschichtlichen Historiographie aus der Uberlieferung herausgelesen worden ist, ist in dieser Zeit Sache der Herrschaftsträger und Führungsgruppen, nicht jene eines staatstragenden Staatsvolkes wie in einer modernen Demokratie. Klassisches Beispiel dafür ist die sogenannte Reichsfreiheit, die nicht Freiheitsrechte des Volkes meint, sondern die Führungsgruppen in der Ausübung von Herrschaftsrechten legitimiert. Nebenbei bemerkt bedeutet dies nicht, dass die «gewöhnlichen Leute» keinen Einfluss auf die Machtverhältnisse im Lande selber gehabt hätten - nur interessierte man sich eher im zürcherischen Rat als im Schächental beispielsweise für die Legitimierung politischen Handelns durch die Reichsfreiheit. Allerdings soll damit nicht etwa bestritten werden, dass die innere Friedenswahrung ein zentrales Ziel darstellte; genausowenig wie die Tatsache, dass glücklicherweise im Laufe der Geschichte nicht nur gehorsame und ordnungsliebende Untertanen etwas Zukunftsweisendes bewirkt haben! Dennoch sind die Hintergründe für die regionalen politischen Prozesse und Ereignisse in der Zeit um 1300 auch noch in weit konkreteren Vorgängen innerhalb der Führungsgruppen, in einem weiteren Sinne im Rahmen des zu dieser Zeit ausgeprägten Herrschaftswandels zu suchen. In dieser Hinsicht sind nun die Entwicklungen in der Herrschaft Rapperswil von besonderer Bedeutung. Sie verbinden sich ganz unmittelbar mit einem für die zeitgenössische politische Situation entschei-. denden Prozess: Ohne Zweifel hat sich die österreichische Landesherrschaft in dieser Zeit erheblich verdichtet und verfestigt. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Politik der Verdrängung alter Nobiles beziehungsweise deren Assimilation; dazu 77 Siehe meine ausführliche Auseinandersetzung mit diesem Problem in Sablonier, Innerschweizer Gesellschaft (wie Anm. 10), besonders S. 214-223, 232f. 78 Diese Grundvorstellung, die eine (schon sehr alte, beispielsweise bei Tschudi ausgesprochen zeit-und situationsgebundene) prämissenhafte Vorstellung vom helvetisch-urdemokratischen Charakter der alten Schweizer bis in den Adel hinein verlängert, betrachte ich als Bestandteil eines typischen schweizergeschichtlichen Politfolklorismus. 36 I gehörte auch die Durchsetzung beziehungsweise Okkupation alter Ansprüche und I die Lösung alter Konflikte innerhalb des regionalen Adels. Als landesherrliches f. Machtstreben bedeutete dies zugleich landesherrliche Friedenswahrung; davon 1 bedrängt waren - entgegen landläufiger Meinung - nicht in erster Linie die «Eid- J genossen», sondern vielmehr die regionalen Konkurrenten des Landesherren aus l dem Adel. S Diese politische Interessenlage könnte in direktem Zusammenhang mit dem :i «Rapperswiler Handel» für Entwicklungen der Jahre um 1290 mitverantwortlich ; sein - denn dass Urner und Schwyzer Führungsgruppen nach 1290 zu gemeinsa- j men politischen Aktionen schritten, bleibt ja tatsächlich erklärungsbedürftig. Die 1 schlichte Tatsache der gemeinsamen Kontakte nach Zürich hin erklärt wohl einiges, i aber nicht alles an den offensichtlichen Gemeinsamkeiten in den politischen Inter-essen der örtlichen Führungsgruppen. In Uri könnten die Attinghausen mit Recht ! Angst vor einem habsburgischen Zugriff gehabt haben, vielleicht besonders wegen ! der Okkupation von alten Rapperswiler Gütern, bei denen sie Wettingen den Be- I sitzzugang verwehrten. Was Schwyz angeht, so ist mindestens für Teile der einheimischen Schwyzer Führungsgruppen, also der Ab Iberg, Stauffacher und anderen, i ohne weiteres denkbar, dass sie an einer verstärkten Präsenz der Landesherrschaft I (und auch ihrer landesadligen Träger) nicht interessiert sein konnten - umso mehr, I ■ als diese Präsenz mindestens vor 1290 mit einem verstärkten zürcherischen Aus- l greifen, das seinerseits mit den engen Zürcher Kontakten zu Einsiedeln zu tun hatte, ! parallel lief. Noch mehr als grundsätzliche politische Optionen müssen auch hier !J ganz konkrete Interessenlagen im Zusammenhang mit den umstrittenen An-Sprüchen auf Alt-Rapperswiler beziehungsweise Wädenswiler Erbe und der offen- I bar missliebigen Gründung des Klosters Steinen (die wohl auch zum ganzen \ «Handel» gehört) eine wichtige Rolle gespielt haben.79 Sollten die obwaldischen II Hunwil tatsächlich mit den Alt-Rapperswiler Erben, vielleicht den Nobiles von ! Hinwil (und wahrscheinlich Wädenswil-Wolhusen), zusammenzubringen sein, i dann wäre auch hier ein völlig unerwarteter Anknüpfungspunkt an das Rappers-I wiler Erbe gegeben, weil dann wiederum Ansprüche aus alten Fehden und Erb-1 Streitigkeiten im Hintergrund stehen würden. j Die gleichen Zusammenhänge bilden nun auch für die Geschehnisse um 1314/16 einen der möglichen Hintergründe, und das ist deshalb besonders interessant, weil :j es ja in der traditionellen «Befreiungsgeschichte» so oder so schon immer schwie- ' rig war, die Ereignisse rund um den Bundesbrief von 1291 mit der Lage um 1315 ! plausibel zu verbinden.80 Für eine Erfassung von entsprechenden Besitzzusammenhängen könnte von den konkret vorhandenen Spuren nach 1330 ausgegangen werden; vgl. dazu Urkundenregesten des Staatsarchivs des Kantons Zürich 1336-1369, bearb. von Dieter Brupbacher und Erwin Eugster, Zürich 1987, z.B. die Nummern 119, 171, 255, 405, 548, 616, 633, 640, 692 usw. Für die Zeit von 1292 bis 1308 existieren keine gesicherten urkundlichen Nachrichten über gemeinsame Aktionen der Waldstätte, und die historiographische Tradition, hinter der ohne Zweifel (frei kombinierte und mit literarischen Topoi durchsetzte) Elemente realen Geschehens stehen, ist zeitlich nicht fixiert. Ich halte es tatsächlich für wahrscheinlich, dass das (in seiner politischen und militärischen Bedeutung81 manchmal krass überschätzte) Geschehen am Morgarten mit Ansprüchen von Habsburg-Österreich auf das Rapperswiler Erbe zu tun hat, und zwar in erster Linie im Hinblick auf die Vogtei über Einsiedler Leute und Güter, möglicherweise aber auch aufgrund von Streitigkeiten um den Lehensbesitz ehemaliger Rapperswiler Gefolgsleute wie der Herren von Windegg und Ürikon. Die heute allgemein akzeptierte Erklärung, dass Leopold wegen der Vorkommnisse im Marchenstreit, insbesondere wegen des Klosterbruchs von 1314, eine Strafaktion gegen die Schwyzer unternahm, enthält sicher Zutreffendes, muss aber in jedem Falle präzisiert werden und deckt wahrscheinlich nur einen Teil der Wirklichkeit ab. Leopold ging es 1315 zweifellos um die persönliche Demonstration von Macht-aber zielte das auf die «unabhängigkeitsbewussten» oder «widerborstigen» Schwyzer (letzteres kann aus der nach literarischen Grundsätzen gestalteten chronikalischen Tradition tatsächlich herausgelesen werden)? Oder wollte er im Thronstreit seines Bruders Friedrich mit dem bayrischen Widersacher Ludwig diesem die Einflussmöglichkeiten in der Region versperren? Nicht in Widerspruch zu gängigen Annahmen, aber in der grundsätzlichen Sicht doch mit wesentlich anderer Akzentsetzung scheint mir für die habsburgische Machtdemonstration ein anderes Element wirksam: nämlich die Absicht und vielleicht Notwendigkeit, konkurrierenden Ansprüchen auf die Einsiedler Vogtei - und solche Vogteien sind für den Aufbau habsburgischer Landesherrschaft überall konstitutiv82 - zu begegnen. Gleichzeitig war damit den langen Wirren und immer wieder umstrittenen Ansprüchen in Sachen Rapperswiler und Wädenswiler Erbe ein Ende zu setzen. Die Beendigung der Adelsfehden lag durchaus im Sinne der landesherrlichen Friedenswahrung, und diese bedeutete das wohl wichtigste, als politischer Anspruch durchaus ambivalente Machtelement der Landesherrschaft. In solcher Sicht wäre doch eine gewisse Zurückhaltung angebracht gegenüber der immer noch verbreiteten Vorstellung, Leopold habe militärisch das Dorf Schwyz oder im Marchenstreit umstrittene Weidegebiete besetzen oder gar «zurückerobern» wollen. Für die Zeit selber scheint mir viel eher wahrscheinlich, dass Leopold auf dem Weg nach Einsiedeln überfallen worden ist. Das schliesst nicht aus, dass der einheimische Dienstadel (etwa die Landenberger) gerne für einen ein- 81 Sehr ausführlich (und verbittert rechthaberisch) Bruno Meyer, Die Schlacht am Morgarten, Verlauf der Schlacht und Absichten der Parteien, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 16 (1966), S. 129-179; neuer: Peter Blickle, Friede und Verfassung, Voraussetzungen und Folgen der Eidgenossenschaft von 1291, in: Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft jubiläumsschrift 700 Jahre Eidgenossenschaft, Hrsg. Historischer Verein der Fünf Orte, Bd. 1, Ölten 1990, S. 44-50. Für den Marchenstreit vgl. Paul J. Brändli, Mittelalterliche Grenzstreitigkeiten im Alpenraum, in: Mitteilungen des Historischen Vereins des Kantons Schwyz 78 (1986), S. 18-188, hier S. 71-81; auch Sablonier, Innerschweizer Gesellschaft (wie Anm. 10), S. 149-152. 82 Heinrich Koller, Die politische Grundhaltung der Habsburger und der Südwesten des Reichs, in: Die Eidgenossen und ihre Nachbarn im Deutschen Reich des Mittelalters, Hrsg. Peter Rück, Marburg an der Lahn 1991, S. 37-59, hier S. 45-47 (österreichische Beispiele), S. 56f. (Situation in der Eidgenossenschaft). träglichen Fehde-Raubzug - und der erpresserische Zug durch «feindliches» Land ist in solcher Fehdeführung üblich - zur Verfügung stand, vielleicht auch tatsäch-1 lieh Schäden aus dem Marchenstreit oder aus früheren Fehden im March-Gaster-1 Gebiet zu rächen waren. Nach dem Klosterbruch die Existenz einer landesherr-J liehen Schutzgewalt auch bewaffnet den Konkurrenten in der Region vor Augen zu I führen, gehörte wohl ebenfalls zu den wichtigeren Motiven. Dass aber der Landes-I herr gewissermassen Schwyzer «Bauern» persönlich dafür bestrafen wollte, dass sie l 1314 ins Kloster eingedrungen waren, scheint doch eher unwahrscheinlich. I Was wollte Leopold in Einsiedeln? Es ist in hohem Masse wahrscheinlich, dass I in der ganzen Auseinandersetzung unerledigte Forderungen des Klosters Einsie-1 dein gegen Ansprecher von Rapperswiler Erbe eine wichtige Rolle spielten, und 1 dass er hier regelnd eingreifen wollte. Darauf verweist die Geschichte der Herren I von Ürikon: In sehr auffälliger Weise liquidiert Albrecht von Ürikon nach Morls garten 1315 den Rest seines Besitzes ans Kloster83 - es handelt sich offensichtlich | um die letzte Phase einer Konfliktregelung, in die ein Üriker als Vermittler zwi-I sehen Konvent und Abt in Einsiedeln schon 1314 eingebunden war. War auch hier 1 umstrittenes Alt-Rapperswiler Erbgut im Spiel? Die Ritter von Ürikon, deren Zu-I sammenhang mit Hombrechtikon (und Hinwil) ziemlich klar ist, sassen nämlich I 1269 auf der Rapperswiler Burg Greifenberg. In ähnliche Verknüpfungen hinein I verweist die Geschichte der Herren von Windegg; sicher ist es kein Zufall, dass die I Schwyzer mit Gertrud von Windegg, Tochter des Hermann von Landenberg und i offenbar «Heiratsinstrument» gegenüber dem Windegger, nach dem Tode ihres i Mannes (bei Morgarten?) 1316/1317 separat Frieden schliessen.84 I Im Hintergrund dieser Auseinandersetzungen und vielleicht verbunden damit I «lauert» allerdings noch eine ganz besonders spannende Spur: Kommt als Konkur-;l rent der Habsburger nicht auch Werner von Homberg, der Rapperswiler Erbe, in -I Frage? Die Rolle Werners von Homberg im Umfeld von Morgarten ist umstritten :j und wird aus den vorhandenen schriftlichen Quellen nie restlos zu klären sein. Im I allgemeinen gilt er zu dieser Zeit als habsburgischer Parteigänger85 (wenn nicht so-gar als deren Anführer am Morgarten). Auch hier sind die Argumente sehr schwer l gegeneinander abzuwägen. Dass aber die entgegengesetzte Möglichkeit gar nie '> richtig ausdiskutiert worden ist, hat viel weniger mit klaren Belegen als mit der Tat-Ii sache zu tun, dass eine solche These völlig quer zu allen gängigen Ansichten über ] den Schwyzer «Freiheitskampf» lag. j Werner von Homberg war 1315 nach dem Tode seines Stiefvaters Rudolf von ■\ Habsburg-Laufenburg am ehesten in der Lage und nach seiner Heirat mit Maria i von Ottingen (der Witwe seines Stiefvaters) - sein Stiefbruder Johann von Habs- ; burg-Laufenburg-Rapperswil war erst 1318 volljährig - am direktesten daran UBZürich 9, 3389; zu 1314 vgl. QW 1/2, 728 und 1091/1166a. QW 1/2, 245 (Heiratssache von 1300), 833 (Friedensschluss, unter nachträglichem Einbezug der «eitgenosse von Ure und von Underwalden») und 899. Das auch die umsichtig diskutierte Meinung von Schneider, Homberg (wie Anm. 5), besonders S. 142-156. 38 i •A 39 I interessiert, in der Innerschweiz - auch gegen den Österreich-Habsburger - seine \ eigenen Herrschaftsambitionen zu verwirklichen. Auch war es ihm ohne weiteres f möglich, für seine Zwecke Schwyzer als Söldner zu mobilisieren, umso eher, als ja ] vielleicht auch einzelne Vertreter der Schwyzer Führung wie die Stauffacher (unter i anderem wegen ihrer Auseinandersetzung mit Steinen) lieber den Homberger zum j Schutzherren hatten. Hat sich der Homberger vorübergehend gegen den Habs- ( burger gewandt? i Wie auch immer: So oder so müssen die Ereignisse von 1314/16 in dieser Gegend ) und dabei unter anderem am Morgarten auch als Folge von Auseinandersetzungen \ im einheimischen Adel und um landesherrlich beanspruchte Vogteirechte - also im S weitesten Sinne als Folge des «Rapperswiler Handels» - gesehen werden. Bei nähe- I rem Hinsehen ist dies ebenso wahrscheinlich wie alle anderen Erklärungen. Warum Morgarten ursprünglich, mindestens im Weissen Buch, gar nicht zur Befreiungs- I tradition gehörte, dafür könnten Gründe auch hier liegen. Vielleicht wusste man \ über die Zeitgenossen hinaus noch lange, dass dem Morgartengeschehen eigentlich f eine adelsinterne Auseinandersetzung zugrundelag und dass ein Teil der Schwyzer I sich gegen den einen ihrer rechten Herren, gegen den Habsburger, führen Hessen, { das Geschehen also gleichzeitig als Erhebung gegen den rechten Herrn gelten musste. Das konnte für die Befreiungstradition, deren Ziel die Rechtfertigung eid- |j genössischer Eigenstaatlichkeit war, nicht geeignet sein. Politisch war ja auch in der Zeit um 1315 selber die landesherrliche Friedenswahrung immer noch der weit ; bedeutendere Faktor als die entsprechenden Anstrengungen der innerschweizeri- ; sehen Eidgenossen. Noch eine andere chronikalische «Legende», dass nämlich die Hünenberger die ! Eidgenossen vor Morgarten gewarnt hätten86, könnte so einen - später konstruier- i ten - historischen Sinn bekommen: Die Hünenberger hatten zur Hauptsache die Herren von Wädenswil beerbt, leisteten einem Einbezug in österreichische Dienste vorerst erfolgreich Widerstand, und möglicherweise sind sie auch gegen den habs- \ burgischen Willen zu ihren Besitzungen in Arth, also im hombergischen Pfand- | gebiet, gekommen. Dass den Hombergern in Arth und mit der Vogtei über Einsie- \ dein (im inneren Gebiet, offenbar) von allem Anfang an bloss habsburgische Pfänder zugestanden haben sollen87, ist nicht wahrscheinlich; das könnte zunächst ! einen blossen Anspruch auf die Qualifizierung als Pfand von habsburgischer Seite j her bedeutet haben, wie auch der habsburgische «Besitz» im habsburgischen Urbar in Arth mindestens grundsätzlich eher einen Anspruch als die tatsächliche Verfügungsgewalt wiedergibt. Zu einer solchen Sicht der Ereignisse rund um Morgarten würde auch passen, dass der Bundesbrief von 1291 möglicherweise erst später, viel- \ leicht nach dem Bund von Brunnen von 1315, hergestellt worden ist - allenfalls i 13 1 688, im Hinblick auf die Privilegienbestätigung durch Ludwig den Bayern? Auch der andere Eckpunkt dieser Zeit, der Bundvonl315, könnte so schliesslich eine andere Konnotation als bisher erhalten: eben als Akt der inneren Friedenssicherung, in Abwesenheit des eigentlichen Herren, des Hombergers, und als gegenseitige Einbindung in gemeinsame Friedensverhandlungen mit Habsburg. Diese bisher nicht diskutierten Spuren zu den im 19. Jahrhundert zum nationalen Unabhängigkeitskampf umgedeuteten Ereignissen am Morgarten müssen wohl noch wesentlich verbreitert werden. Aber nach den obigen Ausführungen ist kaum mehr in Frage zu stellen, dass die Entwicklungen der Herrschaft Rapperswil auch für die sogenannte eidgenössische Gründungsgeschichte von eminenter Bedeutung sind - ohne damit in Frage stellen zu wollen, dass bei diesem Geschehen (wie immer) sehr verschiedene Dinge zusammengekommen sein können. Wichtiger ist mir ohnehin eine allgemeine Feststellung: Die neue Perspektive auch für die zeitgenössischen politischen Vorgänge in der Region, die sich aus dem «Rapperswiler Handel» ergibt, ist noch längst nicht vollständig ausgeschöpft. Ausdrücklich sei nochmals darauf hingewiesen, dass der Zusammenhang mit der Gründungsgeschichte unter den zahlreichen Bereichen, in denen die politische Bedeutung der Herrschaft Rapperswil neu beurteilt werden müsste, nur eines der möglichen Beispiele, und aus meiner Sicht nicht einmal das wichtigste, darstellt. Neben zahlreichen anderen politischen Aspekten scheint mir das massive Vordringen des Einflusses der Stadt Zürich in diese Region89 ein entscheidender, bisher viel zu wenig genau erforschter Punkt. Auch dieser Vorgang ist im übrigen engstens mit dem Schicksal der Herrschaft Rapperswil und auch mit dem politischen Weg der Talkommunen Schwyz und Uri verknüpft. Gerade solche Spuren machen das Thema Rapperswil noch spannender und faszinierender, als es schon bisher gewesen ist. ZUM SCHLUSS Welche Resultate sollen zum Schluss festgehalten werden? Was die Herren von Rapperswil direkt angeht, so wird kaum mehr hinter die Feststellung zurückzugehen sein, dass wir hier im 13. Jahrhundert weder eine Dynastie noch eine weit zurückreichende adlige Grossherrschaft vor uns haben. Das Problem könnte sich ähnlich auch für viele andere Adels-Geschlechter der Region stellen. Bedeutender Siehe die Diskussion der Justinger-Überlieferung bei Meyer, Schlacht am Morgarten (wie Anm. 81), besonders S. 159. Vgl. QW1/2, 802; 1/3,141; Schneider, Homberg (wie Anm. 5), 148f.; sicher ist auch Besitzübergang via Kyburg und Habsburg-Laufenburg möglich. Auf Unklarheiten mit den alten Ansprüchen deutet auch die Rolle der Herren von Sax; vgl. QW 1/2, 105a von 1295. Siehe den oben Anm. 60 zitierten Aufsatz zum Bundesbrief. Im Windegger Brief von 1316 (QW 1/2, 833) gingen interessanterweise die «eitgenossen» zuerst vergessen. Hinweise dazu bei Otto Sigg, «Alte Liebi und Fründschaft» ?, Zum Verhältnis von Zürich und Schwyz von 1291 bis in das frühe 15. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Historischen Vereins des Kantons Schwyz 83 (1991), S. 13-24. Auch bei Sablonier, Innerschweizer Gesellschaft (wie Anm. 10), S. 152. 40 41 ist ein Resultat auf allgemeiner Ebene: Eine Neubeurteilung der Adelsprobleme in der ganzen Region, die vor allem auch die sogenannten Innerschweizer Geschlechter wie die Eschenbacher und andere miteinbezieht, ist notwendig. Dabei ist künftig undenkbar, nur von einzelnen Adelsgeschlechtern auszugehen; vielmehr sind ganze Gruppen gemeinsam zu erfassen - besonders dringlich etwa die «Albis-Reusstal»-Gruppe mit Eschenbach zuvorderst, von grösstem Interesse dabei auch etwa die Schnabelburg-Bonstetten-Gruppe und im oberen Glattal die Fragen um die «zugewanderten» und zusammengehörigen Nobiles von Kempten, Matzingen und Wetzikon(-Bonstetten). So kämen nicht nur die tatsächlichen Veränderungen und Verschiebungen im regionalen politischen Kräftefeld von 1170 bis 1250 besser ins Blickfeld. Neue Erkenntnisse wären auch über die offensichtlichen politischen Parteiungen im Adel im ausgehenden 13. Jahrhundert - etwa mit der «Österreicher Gruppe» um Bonstetten - und im Vorfeld des Königsmordes von 1308 zu gewinnen. Endlich könnte damit auch diepolitische Geschichte jener, die aus späterer Sicht als Verlierer galten, geschrieben werden. Aus adelsgeschichtlicher Sicht erscheint die Geschichte der Rapperswiler zudem als Paradebeispiel für den zeitgenössischen Wandel im Adel. Auf der Ebene der regionalen politischen Entwicklung ist die Tatsache wichtig, dass im Rapperswiler Gebiet wie an vielen Orten der Innerschweiz die Adelsherrschaft eine wenig stabile, erst spät in Gang gebrachte Ausprägung erfahren hatte, späte Feudalisierungs-versuche also gescheitert waren. Letztlich hatten kleinregionale Adelsgeschlechter gegenüber Österreich keine Chance. Der überall im Gang befindliche Herrschaftswandel verlief hier besonders rasch und dramatisch. Gleichzeitig sind aber die Rapperswiler Geschichten auch ein Schlüssel zu einer besseren Kenntnis anderer politischer Kräfte in diesem Raum zu dieser Zeit -anderer Kräfte als die sonst stark in den Vordergrund gehobenen eidgenössischen beziehungsweise kommunalen Interessen und Führungsgruppen. Das führt zurück zum besonderen Aspekt «Gründungsgeschichte»: Diese anderen Kräfte sind weitaus wichtiger als früher angenommen - und daraus ergibt sich die Forderung nach einem entscheidenden, in der Schweizergeschichte noch immer nicht überall vollzogenen Perspektivenwandel im Hinblick auf die Zeit um 1300. Denn damit ist für die eidgenössische Gründungsgeschichte tatsächlich nicht bloss ein ergänzender Aspekt - manches widerspricht ja auch gar nicht dem bisher Bekannten -, sondern vielmehr eine neue Perspektive gewonnen. Zwar ist heute das Bild von der Entstehung der Eidgenossenschaft zu dieser Zeit nicht mehr so häufig von jenen anachronistischen Vorstellungen über das Streben nach Demokratie und Freiheit eines «einigen Volkes» geprägt, wie es als Ideal im 19. Jahrhundert entworfen beziehungsweise literarischen Quellen (Schiller und Johannes von Müller!) nachgestaltet worden ist, zu einer Zeit also, als damit für demokratische und freiheitlich-rechtsstaatliche Formen staatlicher Organisation im modernen Sinne geworben werden konnte und musste. Dass solche Vorstellungen kein Erklärungs-Modell für die Vorgänge der Zeit um 1300 abgeben, mindert deren Bedeutung für die nationale Integration im 19. und 20. Jahrhundert keineswegs - diese Bemerkung muss wohl auch heute noch immer gleich hinzugefügt werden, um nicht unnötig staatsideologische Empfindlichkeiten zu provozieren. Ohne Zweifel haben my- thisierte Herkunftsvorstellungen im schweizerischen Geschichtsverständnis eine wichtige Rolle gespielt. Das ist weder moralisch zu verurteilen noch einer rationa- t len Kritik zugänglich; problematisch wird es nur dann, wenn diese Denkweisen zur Verschleierung ganz platter nationalistischer und militaristischer Ideologien dienen, wie sie auch dem schweizerischen Nationalismus nicht immer fremd waren. Un- 1 terdessen ist es möglich geworden, sich davon entschieden zu lösen, ohne gleich die I Existenzberechtigung einer modernen Schweizergeschichte - oder gar der Schweiz ä selber - in Frage zu stellen. \ Mit wissenschaftlicher Zielsetzung und Methode betriebene Geschichtsfor- \ schung ist sicher nicht die einzige existierende und aus meiner Sicht selbstver- ! ständlich auch nicht etwa die einzige mögliche Form der Beschäftigung mit Schwei- I zergeschichte. Dennoch hat sie für die Vorgänge um 1300 auch dem Bewusstsein breiterer geschichtsinteressierter Kreise viele neue Aspekte nähergebracht, zum I Beispiel in der Beurteilung des Bundesbriefs als - in erster Linie - Instrument der I Landfriedenssicherung und nicht als «Staatsgründungsakt». Vor allem wichtig ist ! aber auch die Erkenntnis, dass die Entstehung der Eidgenossenschaft bis um 1500 1 einen langwierigen Prozess darstellt, bei dem die Vorgänge in der Innerschweiz um I 1300 wahrscheinlich doch nur einen Aspekt unter vielen darstellen, und dass die \ moderne Schweiz sicher auch noch ganz andere Wurzeln hat. I Vielfach wird solchen neuen Sehweisen vorgeworfen, dass sie vorwiegend als j blosse Antigründungsgeschichte daherkommen, also gewissermassen nur Negativ- I folien zum hergebrachten, oft mit starken patriotischen Emotionen verbundenen I Denkmuster produzieren. Dass dem nicht so zu sein braucht, beweist gerade die j erneute Beschäftigung mit den Rapperswilern. Tatsächlich erlaubt diese, sogar für 3 die Innerschweiz selber im zeitgenössischen politischen Prozess noch andere poli- j tische Kräfte zu erkennen als nur die Eidgenossen. Hier - unter anderem - kann also I angesetzt werden, wenn der Wandel um 1300 nicht sozusagen von oben her und I zielgerichtet auf eine spätere Entwicklung hin, sondern aus den zeitgenössischen I Verhältnissen an Ort und Stelle heraus erklärt werden soll. Dabei erhalten die Er- j eignisse der Zeit um 1300 auch den ihnen zustehenden Platz, als Episoden in einem ! wie immer langwierigen geschichtlichen Prozess, die nur durch eine spätere Tradi- f tion ein völlig überproportionales Gewicht (nicht zuletzt auch in der historischen ? Forschung) erhalten haben. Sie werden dadurch in keiner Weise weniger interessant und eindrücklich als andere geschichtliche Vorgänge, i Mit anderen Worten: Das Beispiel Rapperswil zeigt auf, wie der Wandel um 1300 I auch für die Innerschweiz, den später als «Kern» aufgefassten Teil der künftigen 5 Eidgenossenschaft, nicht länger einseitig als kommunale «Befreiung» (im Sinne \ einer antifeudalen Reaktion) gesehen und untersucht werden kann. Mindestens j ebenso wichtig ist der Gesichtspunkt des Herrschaftswandels, des Strukturwandels I von adliger Herrschaft und der damit verbundenen Auseinandersetzungen seit dem I beginnenden 13. Jahrhundert, also eines völlig normalen Prozesses der Herr- I Schaftsveränderung. Selbstverständlich sind in diesem Prozess regionalspezifische I Komponenten vorhanden. Aber auch da erweisen sich gerade die landesherrliche ;! Friedenswahrung und der politisch-soziale Wandel im Adel von sehr konkreter I Bedeutung. Erst auf diese Weise kann die längst fällige «Normalisierung» der 42 43 Kenntnisse über die Vorgänge um die Wende zum 14. Jahrhundert definitiv gelingen. Nicht eine aus späterer Sicht zum Volksbefreiungsgeschehen stilisierte Vorstellung von politischer Wende, auch nicht das in nuce vorgeformte Resultat eines idealistischen Hangs zum Kommunalismus, wie es jüngst implizit durch Peter Blickle wieder ins Zentrum gerückt worden ist90, stellt die Basis für das Verständnis der regionalen Geschichte dar. Es ist gerade umgekehrt: Der völlig normale, im Strukturellen mit anderen Regionen durchaus vergleichbare Ablauf der regionalen Geschichte bietet die Basis dafür, die sogenannte Gründungsgeschichte in den richtigen Proportionen und im richtigen Licht zu sehen. Das ist für die Geschichte der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in der Innerschweiz zu dieser Zeit längst erkannt91 - muss aber endlich auch im politisch-herrschaftsgeschichtlichen Bereich anerkannt werden. Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Roger Sablonier, Historisches Seminar der Universität Zürich, Künstlergasse 16, 8006 Zürich 90 So auch in Blickle, Friede und Verfassung (wie Anm. 81). 91 Zum Wirtschaftlichen vgl. etwa den Forschungsrückblick in Sablonier, Innerschweizer Gesellschaft (wie Anm. 10), S. 133-137. 44 Die Sieben Heiligen Schläfer - ein bisher unveröffentlichtes Schulspiel des Luzerner Jesuiten Franz Regis Krauer Viktor Weibel, Schwyz Ich widme diese Veröffentlichung meinem Freund Paul Kamer zu seinem 75. Geburtstag, den er in diesem Jahr begehen kann, und Professor Stefan Sonderegger, meinem Lehrer und Förderer im Wissenschaftlichen, zu seiner Emeritierung ebenfalls in diesem Jahr. EINLEITUNG Vor etwa zwei Jahren bekam ich von Peter Müggler in Schwyz ein Konvolut Handschriften aus dem 18. Jahrhundert geschenkt. Es umfasst vier verschiedene Texte, alle von derselben Hand. Die Schriftstücke lagen wohl seit dem 19. Jahrhundert im Haus Holdener auf der Metzghofstatt in Schwyz. Auf welchem Weg sie in dieses Haus gelangten, lässt sich nicht mehr sagen. Allerdings stammen aus dem Hause zwei bedeutende Staatsmänner des letzten Jahrhunderts, nämlich die zwei gleichnamigen Fridolin Holdener (1803-1849 und 1829-1904).1 Zwei der Dokumente sind mit der Jahreszahl 1771 sowie der Ortsangabe Luzern versehen. Die Texte enthalten erstens ein Singspiel mit dem Titel «Die kranke Fastnacht», zweitens das umfangreiche Fragment eines «Vaterländischen Schauspiels» um die Schlacht am Morgarten, drittens «Ein kleines Hirtengedicht» zum Anlass eines Namensfestes und viertens das Spiel «Die sieben Heil. Schläfer». Das Heiligenspiel wurde gemäss Angaben am Schluss des Textes «aufgeführt von den Schülern der vierten Klasse. Zu Luzern im Aprill 1771. Mit Erlaubnis der Obern». Dieses Stück zog mich in seinen Bann, erkannte ich doch, dass ein grosser Teil des Spiels in Mundart geschrieben war - eine Seltenheit für diese frühe Zeit. Ermuntert durch Walter Haas, dem ich an dieser Stelle herzlich für seine ersten Anstösse und Hinweise danke, machte ich mich an die genaue Lektüre und Aufarbeitung des Stückes. Ich stellte dessen Sprache und Herkunft an der 11. Arbeitstagung alemannischer Dialektologen im Herbst 1993 vor und damit auch zur Historisch-biographisches Lexikon der Schweiz 4,275. 45