Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich Band 70 (167. Neujahrsblatt) Peter Niederhäuser (Hg.) Alter Adel - neuer Adel? Zürcher Adel zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit 1 0 MARS 2003 0.1 on i- CHRONOS Abb. 3: Burgen - auch in zürcherischer Zeit wichtigstes Repräsentationsmittel des Adels. Die Seite aus dem Ende des 15. Jahrhunderts entstandenen Wappenbuch Gerold Edlibachs zeigt in der unteren Hälfte von links Wetzikon, Greitenberg und Kyburg. Das Amt des Landvogtes auf letzterer bildete die Krönung der Karriere städtischer Eliten. Die anderen beiden Burgen waren im Umfeld des Zürcher Verwaltungspatriziats beliebt als adlig-repräsentative Privatbesitzungen mit niedergerichtlichen Herrschaftsrechten (aus: Geschichte des Kantons Zürich 1,172). Adel zwischen Habsburg, Zürich und dem Reich Erwin Eugster «Vertilger und verdrucker des adels und aller erberkeit» - so bezeichnete die österreichische Seite im Rahmen des Alten Zürichkrieges pauschal die Eidgenossen.1 In der Herrschaft der «Bauern», welche südlich des Thurgaus anstelle des vertriebenen österreichischen Adels den Landfrieden sicherten, sah sie einen Verstoss gegen die gottgewollte Ständeordnung. Die Eidgenossen allerdings hatten nichts dagegen, als «Adelsvertilger» qualifiziert zu werden. Nur bewerteten sie den Vorgang des «Adelsverdruckens» naturgemäss anders als ihre Gegner: Für sie verschuldete der Adel seine Ablösung selbst, da er seine Herrscherpflichten vernachlässige und nicht selten tyrannisch regiere. Obwohl die Äusserungen beider Parteien grundsätzlich in erster Linie als Kriegspropaganda zu betrachten sind, die mit den tatsächlichen Verhältnissen nicht sehr viel zu tun gehabt haben muss, sind ihre Auswirkungen weit über den Alten Zürichkrieg hinaus äusserst nachhaltig gewesen: Die mit dem Konflikt entstehende eidgenössische Geschichtstradition setzte beim Motiv der Adelsvertilgung ein und begann, die eidgenössische Geschichte seit dem 13. Jahrhundert generell als Abwehr- und Befreiungskampf gegen den Erbfeind Habsburg und den von diesem geführten Adel zu deuten. Folgerichtig entsprach in diesem Geschichtsbild jedem eidgenössischen Erfolg ein «Verdrucken» des Adels. Spätestens nach 1460 soll letzterer aus dem Gebiet südlich des Rheins eliminiert und die adlige Herrschaft durch das Regime des durch Tugend geadelten «frummen edlen puren» abgelöst worden sein.2 Die moderne Geschichtsschreibung hat diese Sicht der Dinge bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts übernommen - auch für Zürich, obwohl die Stadt doch gerade im Alten Zürichkrieg nochmals mit Österreich, also dem «Adel» zusammengearbeitet hat. Mit der Verdrängung Habsburgs ab Ende des 14. Jahrhunderts und der parallel dazu einsetzenden Festigung des Zürcher Stadtstaates soll der Adel aus der Zürcher Landschaft verschwunden oder zumindest zur Bedeutungslosigkeit verurteilt worden sein. Die dekadenten Strukturen adliger Herrschaft wurden - immer nach diesem Geschichtsbild - durch ein zukunftsgerichtetes städtisches Regiment abgelöst. Und nur allzu häufig trifft man auf die Annahme, die städtische Obrigkeit sei deutlich basisorientierter, sprich «demokratischer», gewesen als die österreichische. Dieses Geschichtsbild ist aus drei Gründen sehr fragwürdig: Erstens basiert es auf einem viel zu diffusen Adelsbild. «Adel» wird hier oft unausgesprochen mit dem spätmittelalterlichen (Raub-)Ritter gleichgesetzt, quasi einem historischen Auslaufmodell, das seinerseits stellvertretend für die maroden, erstarrten und zu Wandel unfähigen Adelsstrukturen steht. Zweitens wird die Zertrümmerung und Ablösung dieser Adelsstrukturen durch die Eidgenossenschaft als linearer, seit dem 13. Jahrhundert ablaufender Prozess verstanden, dessen Weg angesichts der Adelserstarrung vorgezeichnet (wenn nicht sogar gottgewollt) war. Und drittens geht dieses Ge- 12 13 schichtsbild - oft unausgesprochen - davon aus, dass die «frummen edlen puren», oder in unserem Fall die Zürcher, tatsächlich derart «unadlige» Herrschaftsstrukturen eingeführt hätten, wie dies die Kriegspropaganda um 1445 vorgibt. Der vorliegende Artikel bemüht sich in erster Linie um Klärung dieser drei Problemfelder. Was hiess adlig im Hoch- und Spätmittelalter? Welche Bedeutung hatte der im Gebiet des heutigen Kantons Zürich ansässige oder zumindest häufig auftretende Adel vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, und wie stand er zur Eidgenossenschaft und insbesondere zur Reichsstadt Zürich? Was blieb von dieser Adelswelt, als Österreich sich nach 1460 faktisch aus den Gebieten südlich des Rheins zurückgezogen hatte? Adel im Hoch- und Spätmittelalter Wer galt im Hoch- und Spätmittelalter als adlig? Diese Fr'age ist auch heute immer noch nicht ganz schlüssig zu beantworten. Zum einen geben die Urkunden und Akten des Spätmittelalters zu dieser Frage auffallend wenig her. Die Akteure dieses Schriftguts lassen sich zwar oft als comes (Graf),noW& (Freiherr), mite (Ritter) oder Edelknecht bezeichnen. Die Bezeichnung edel ist aber ausgesprochen selten. Und als dominus (Herr) wird schon bald einmal im 14. Jahrhundert auch manch vornehmer Bürger bezeichnet. Zum andern sprechen die chronikalischen Quellen zwar deutlich häufiger vom Adel. Ob sie jedoch viel über die tatsächliche Adelswelt aussagen, ist indes fraglich. Meist sind diese Quellen tendenziös, sei es, dass sie rein normative Vorstellungen äussern (also sagen, wie es ihrer Meinung nach sein sollte), sei es, dass sie den vermeintlich «guten alten Adel» wieder heraufbeschwören oder eben gerade die Dekadenz adligen Lebens in den Vordergrund stellen wollen. Schliesslich hilft auch die Ständelehre beim Thema Adel kaum weiter. Sie postuliert die Existenz eines (abgeschlossenen?) Geburts- respektive Herrenstandes. Adel zeichnet sich nach solchen Schriften dadurch aus, dass seine Angehörigen von Geburl wegen zum Herrschen und zum Herrendasein berufen und berechtigt sind. Nur: Wer die spätmittelalterlichen Quellen durchforstet, findet zu jedem Zeitpunkt neben «alteingesessenen» Adelsgeschlechtern mindestens ebenso viele Aufsteiger. Und immer wieder verschwinden wohlbekannte Adelsgeschlechter einfach aus den Quellen ... Dieser Aufsatz basiert deshalb auf einer recht offenen Adelsdefinition: Als Adel wird im Hoch- und Spätmittelalter jene Oberschicht bezeichnet, welche sich zwar geburtsständisch einheitlich definiert, sozial und ökonomisch jedoch heterogen bleibt.3 Die Definition beinhaltet damit im wesentlichen drei Aussagen: Oberschicht: Der Adel verfügte im Mittelalter über den Hauptanteil herrschaftlicher Ressourcen - oder anders gesagt: Es war im Mittelalter zur Hauptsache der Adel, welcher die friedenswahrenden und im speziellen die gerichtsherrlichen Kompetenzen wahrnahm. Der Adel bot Schutz gegen Dienst und/oder Entgelt. Ein Adliger verdiente sich einen grossen Teil seines Lebensunterhaltes mit herrschaftlichen Tätigkeiten, wobei er im Gegensatz etwa zum modernen Beamten zumindest einen Teil seiner Herrschaftsentscheide autonom treffen konnte. Er war in der Lage, kleinere oder grössere Probleme wenn nötig auch gewaltsam zu lösen, beispielsweise über Strafen oder Krieg. Dank seiner Einnahmen aus herrschaftlicher Tätigkeit bildete der Adel als Gesamtes auch die Spitzengruppe bezüglich wirtschaftlicher Ressourcen. Geburtsstand: Nach Auffassung vieler mittelalterlicher Schreiber gehörte man kraft seiner (von Gott gewollten) Geburt oder allenfalls nach Ernennung durch eine dazu legitimierte Gewalt zum Adel. Da es keinen Staat gab, welcher den Angehörigen des Adels grundsätzlich ihren Status garantierte, musste der Adel seine Fähigkeit zu herrschen immer wieder demonstrieren. Er tendierte darum zu einem adligen Lebensstil, dessen Zweck nicht zuletzt die Abgrenzung gegenüber den Beherrschten war. Dies garantierte letztlich eine höhere Akzeptanz bei diesen und damit die bessere Durchsetzung von Herrschaftsrechten. Ein wesentliches Element adliger Legitimation war deshalb immer auch die Fähigkeit, physische Präsenz zu markieren. Sozial und ökonomisch heterogen: Der Umfang der den einzelnen Adelsfamilien zur Verfügung stehenden herrschaftlichen Mittel und damit auch der wirtschaftlichen Ressourcen war sehr unterschiedlich. Der Adel war trotz der gerade erwähnten Gemeinsamkeiten ein sozial und ökonomisch sehr heterogenes Gebilde. Zudem provozierten wirtschaftliche Veränderungen oft herrschaftliche Anpassungen, welche den einzelnen Adligen unterschiedlich gut gelangen. Der Adel war darum zu keiner Zeit ein starres Gefüge, sondern einem steten Wandel unterworfen. Und es erstaunt nicht, dass zumindest im späteren Mittelalter jene Teile des Adels, die über längere Zeiträume erfassbar sind, sich beeindruckend dynamisch und anpassungsfähig präsentierten. Die österreichische Landesherrschaft des 13. und 14. Jahrhunderts4 Wer die Geschichte des hiesigen Adels im Spätmittelalter verstehen will, muss sich zuerst einmal bewusst sein, welch einschneidenden Wandel der Hochadel (das heisst jener Adel unseres Gebietes, welcher seine Schutz- und Delegationskompetenz zur Hauptsache direkt vom Reich herleitete) im 13. und 14. Jahrhundert durchgemacht hatte. Im ganzen Deutschen Reich entstanden seit dem 11. Jahrhundert sogenannte Landesherrschaften: Adlige und geistliche Herrschaftsträger, ausnahmsweise aber auch Städte und Landgebiete lösten sich selbst faktisch aus jeder herrschaftlichen Abhängigkeit, dem Reich verblieb primär legitimatorische Funktion. Angehende Landesherren bemühten sich, in einem bestimmten Gebiet alle Herrschaftsrechte zumindest letztinstanzlich wahrzunehmen, diese territorial zu definieren und darüber hinaus zu intensivieren. Der Prozess der Entstehung von Landesherrschaften lässt sich vereinfacht als «Ausscheidungsrennen» unter einer Vielzahl von hochmittelalterlichen Herrschaftsträgern vorstellen. Am Ende dieses Rennens näherten sich die Landesherrschaften der wenigen Gewinner in ihrer Struktur und Stellung der frühneuzeitlichen, souveränen Staatlichkeit und wandelten sich im 15. Jahrhundert zu den sogenannten Territorialstaate ii. Die Verlierer gingen unter oder verschwanden in der Beamtenschicht der Landesherren. In der Ostschweiz begann dieser Prozess erst spät. Er hatte hier aber dennoch zur Hauptsache die gleichen drei Wurzeln wie andernorts. 14 15 Erstens sank die «Reichspräsenz» tendenziell seit dem «Investiturstreit» und in unserer Gegend ganz eklatant im frühen 13. Jahrhundert. Für den reichsunmittelbaren Adel war dies zugleich Risiko und Chance: Einerseits fehlte weitgehend die Konfliktregelung - und damit schlechthin der Schutz - von Seiten des Königs. Andererseits eröffnete sich aber auch die Möglichkeit, sich zu verselbständigen, seine eigene Position auszubauen und über das eigene Gefolge hinaus weitere Herrschaftsträger zu kontrollieren. Zweitens standen spätestens seit ,dem Ende des 12. Jahrhunderts alle Herrschaftsträger vor einer enormen wirtschaftlichen Umstellung. Ihre Vogteieinkünfte stagnierten, ebenso flössen die grundherrlichen Einkünfte immer weniger ergiebig. Die Bauern leisteten um 1300 kaum mehr Frondienste und verloren auch ihre übrigen persönlichen Beziehungen zum Herrn. Die Güterzersplitterung nahm in einzelnen Siedlungen für den Herrn dramatische Formen an, so dass angesichts der immer noch weitgehend fehlenden schriftlichen Verwaltung vielerorts nicht mehr klar war, welcher Bauer welchem Herrn aus welchem Grund seine Abgaben zu leisten hatte. Insbesondere der Adel verlor die Kontrolle über die landwirtschaftliche Produktionsorganisationen. Er lief Gefahr, diesbezüglich von den bäuerlichen Kommunen und im speziellen von der oberbäuerlichen Schicht ersetzt zu werden. Alle diese Entwicklungen erodierten seine wirtschaftlichen Grundlagen. Er war gezwungen, seine Einkünfte zu straffen. Darüber hinaus musste er weitere Einnahmequellen erschliessen, zumal die Kosten für einen anerkannten adligen Lebensstil im 13. Jahrhundert markant stiegen. Drittens arbeiteten die bäuerlichen und städtischen Kommunen selber auch auf eine intensivierte und flächige Ausgestaltung der Herrschaften hin. In der Ostschweiz gelang es indes bis zum Aussterben der Kyburger 1264 keinem Herrschaftsträger, ein auch nur ansatzweise geschlossenes Territorium zu bilden. Zu zersplittert und ungesichert waren die lokalen Herrschaften, zu traditionell die Mittel, welche man zur Intensivierung und Arrondierung der Herrschaftsrechte einsetzte. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts strebten dann als erste die Habsburger, die Erben auf Kyburg, nachhaltig, erfolgreich und konsequent den Aufbau einer Landesherrschaft an: Sie rangen militärisch regionale Konkurrenten nieder, strafften und verschriftlichten die Verwaltung des Kyburger Erbes und verstärkten die Kontrolle über ihre Lehensträger. Für den Vollzug dieser Aufgaben bauten sie eine Verwaltung neuen Zuschnitts auf: Eine konsequent durchgeführte Ämtereinteilung und genaue Besitzverzeichnisse («Urbare») ermöglichten immer exaktere Bestandsaufnahmen und legten die Rechtszustände der einzelnen Habsburger Besitztitel präzis fest. Das traditionelle Lehenswesen verlor zunehmend seine Bedeutung für die Beziehung zwischen Habsburg und dem kleineren Adel. Habsburg verlieh interessante Herrschaftsrechte kaum mehr auf der Basis eines Treueschwures an lokale Adlige. Wer in Habsburgs Diensten Karriere machen wollte, musste vielmehr Bildung, überdurchschnittliche militärische Mittel, Kapital oder eine für Habsburg interessante regionale Position mitbringen. Eingesetzt wurde er auf Zeit, Belohnung für diese «Anstellung» oder für eine Kapitalleistung konnte ein Pfand sein, also ein Besitztitel, den Habsburg jederzeit zurücklösen durfte. Die Nachkommen Rudolfs von Habsburg strafften ihre Einkünfte zu Beginn des 14. Jahrhunderts nochmals entscheidend, indem sie die sogenannte Steuer einführten, welche allmählich von allen Bewohnern der Landesherrschaft verlangt wurde. Der Vereinheitlichung und Straffung der Verwaltung entsprach schliesslich im Laufe des 14. Jahrhunderts auch die Entwicklung im Heerwesen. Die Landesherrschaft Ubernahm weitgehend das Kriegsmonopol und leitete eine Disziplinierung des Kriegs- und Fehdewesens in die Wege. Parallel dazu organisierte sie das Militärwesen hierarchisch durch und institutionalisierte es: Adlige, welche der Landesherrschaft gegen Entgelt Ritter und Pferde zur Verfügung stellten, wurden zu «Militärunternehmern», welche nicht mehr wegen eines Treueeides, sondern einzig wegen der Aussicht auf Verdienst in den Krieg zogen. Landadel zwischen Habsburg und Zürich Die Folgen des Wandels hin zur habsburgischen Landesherrschaft waren für den übrigen Adel gravierend. Unter dem Druck der wirtschaftlichen Veränderungen und der landesherrlichen Politik Habsburgs zerfiel die Gruppe jener Adligen, welche in den Quellen als Freiherren bezeichnet wurden. Theoretisch ebenfalls in der Lage, Landesherrschaften aufzubauen, hatte sie schon in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts die für ihre weitere standesgemässe Existenz notwendigen wirtschaftlichen Grundlagen verloren. Spätestens 1272 büsste sie auch ihre militärische Bedeutung ein. Hatten sie bisher aus Standesgründen nicht in den landesherrlichen Dienst eintreten wollen, so konnten sie dies nun auch nicht mehr. Gegen Ende des Jahrhunderts veräusserten fast alle Geschlechter ihre Besitzungen und verschwanden aus den Quellen. Nur wenige freiherrliche Geschlechter überlebten bis in das 15. Jahrhundert, entweder weil - wie im Falle der Herren von Toggenburg und Klingen - wichtige Herrschaftsrechte an der Peripherie des habsburgischen Interessengebietes lagen oder weil sie wie die Herren von Bonstetten ohne wesentlichen Statusverlust den Sprung in die österreichische Verwaltung schafften. Innerhalb des ritterlichen Adels führte die Entstehung der Landesherrschaften zu einer enormen Selektion. Wer der Gefolgschaft absinkender Freiherren angehört hatte, verschwand in der Regel mit letzteren aus den Quellen. Die übrigen Ritter stellten für den Landesherrn keine Bedrohung dar. Ihnen erschwerte auch kein entsprechendes ständisches Bewusstsein die Unterordnung unter die Habsburger, so dass sie kaum landesherrlichem Druck ausgesetzt waren. Rechtlich erfuhr die Stellung der Ritter sogar eine Verbesserung, da sie nach 1250 immer freier über ihre Güter verfügen konnten und damit einen wesentlichen Teil ihrer ursprünglichen Unfreiheit abstreiften. Wegen ihrer mangelnden juristischen Bildung waren jedoch die meisten Ritter für den landesherrlichen Verwaltungsdienst kaum geeignet. Finanziell konnten sie zu wenig bieten, um ein wertvolles habsburgiscb.es Pfand zu ergattern. Und regional verfügten sie über allzu bescheidene Beziehungen, um für den Landesherrn besonders attraktiv zu sein. Solche ritterliche Geschlechter litten stark unter der bereits erwähnten Krise der Adelseinkünfte. Waren die materiellen Grundlagen bereits vorher vergleichsweise bescheiden gewesen, so sanken diese Geschlechter gegen 1300 in Besitz und Ansehen rasch ab. Andere stagnierten. In den Quellen sind solche Geschlechter wie die Herren von Hettlingen, Liebenberg, Goldenberg zwar noch bis weit in das Spätmittelalter 16 17 hinein zu verfolgen. Politische Bedeutung kam ihnen aber inner- und ausserhalb der habsburgischen Landesherrschaft nie mehr zu. Nur eine kleine Spitzengruppe von ritteradligen Geschlechtern vermochte die Chance des landesherrlichen Dienstes zu nutzen. Sie bildete die eigentliche personelle Stütze der habsburgischen Landesherrschaft, indem sie deren Ämter verwaltete, der Herrschaft Geld lieh und dafür österreichische Pfänder erhielt. Und sie war es, welche der Herrschaft Ritter und Pferde für militärische Aktionen zur Verfügung stellte, gegen Entgelt selbstverständlich. Das Schicksal einzelner solcher Geschlechter wie der Herren von Landenberg oder der Gessler hat das Bild einer ritteradligen Spitzengruppe geprägt, welche es zu einer enormen regionalen und überregionalen Bedeutung brachte, gleichzeitig aber auch auf Gedeih und Verderb mit dem Schicksal der habsburgischen Landesherrschaft verbunden gewesen sein soll.5 Die Herren von Landenberg beispielsweise befanden sich seit spätestens 1260 in steilem Aufstieg. Hermann II. studierte in Bologna, war 1282 secretarius der Habsburger, später Marschall. Von 1282 bis 1306 ist er im Gebiet der heutigen Schweiz nicht nachzuweisen, spielte aber am österreichischen Hof eine enorme militärische und politische Rolle. Vor 1315 verdiente ein Rudolf von Landenberg als Kyburger Vogt bereits in wenigen Jahren 320 Mark Silber, was dem Jahresverdienst von 80 bis 160 Zimmerleuten entsprach. Hermann IV. schliesslich war 1331 österreichischer Hofmeister, 1330-1354 Hauptmann in den Vorlanden. Von 1352 bis 1354 erhielt er als Landvogt im Aargau und Thurgau nicht nur 7000 Gulden für seine bisherigen Dienste, sondern bezog darüber hinaus 9000 Gulden für die Bewachung Rapperswils mit 100 Helmen, 2200 Pfund für die Bewachung aller herzoglichen Burgen im Aar- und Thurgau, 960 Gulden für die Offenhaltung der nichthabsburgischen Burgen Alt-Regensberg und Greifensee mit 20 Mann, 3404 Gulden zur Weiterleitung an andere «Unternehmer». 1358-1360 war er Landmarschall. Im 14. Jahrhundert beruhte die Macht der Familie Hermanns auf drei Pfeilern: Erstens besass sie umfangreiche Eigengüter. Die grösste finanzielle und herrschaftliche Bedeutung kam dabei der ursprünglich für 600 Mark Silber als Rapperswiler Pfand erworbenen Herrschaft Greifensee und Burgen wie Alt-Landenberg, Alt-Regensberg, Bichelsee und Sonnenberg zu. Zweitens liessen sich die Landenberger ihre Dienste von Habsburg mit immer grösseren Pfändern vom Eisass bis in das Glarnerland entgelten. Drittens sicherten Heiratsbeziehungen mit den übrigen wichtigen Stützen der österreichischen Landesherrschaft und dem zürcherischen Stadtadel die regionalpolitische Spitzenposition der Landenberger ab. Die allzu einseitige Ausrichtung auf die habsburgische Landesherrschaft forderte jedoch im Falle dieses Zweiges der Landenberger ihren Preis: Nach Hermanns Tod 1361 schlitterten dessen Nachkommen in die Krise. Drei von ihnen suchten schon 1363 das zürcherische Bürgerrecht. 1364 liquidierten sie die Burg Alt-Landenberg samt Zubehör, 1369 gar die Herrschaft Greifensee und kurz darauf Elgg sowie - vorübergehend - Alt-Regensberg. Die Erben Hermanns besassen in der Folge zwar noch während eines knappen Jahrhunderts mehrere Burgen zwischen Zürichsee und Rhein. Regionale Bedeutung hatten sie jedoch spätestens nach 1376 nicht mehr. 1477 erliessen Bürgermeister und Rat von Zürich sogar Verbrauchsrichtlinien für Hug von Landenberg-Greifensee und dessen drei Töchter und griffen damit direkt in die adlige Repräsentation des Geschlechts ein. Die anderen Landenberger Zweige überstanden die Adelskrise des späten 14. Jahrhunderts indes deutlich besser als Hermanns Zweig.6 Sie diversifizierten beispielsweise ihre Heiratsbeziehungen Richtung Zürich (nach 1450 zwei Eheschliessungen mit den in dieser Zeit führenden Schwend) und Habsburg-Laufenburg oder ergänzten ihre habsburgischen Dienstverhältnisse Richtung Konstanz oder Eidgenossenschaft. Auch wenn deshalb im Alten Zürichkrieg Landenberger beiden Konfliktparteien dienten und gegeneinander antraten, war diese Diversifizierung der verwandtschaftlichen, politischen und auch wirtschaftlichen Orientierung offenbar spätestens seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts für die landadlige Spitzengruppe unabdingbar. Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts verfügte Habsburg nämlich im Ostteil seines Reiches über eine attraktive landesherrliche Alternative. Dies führte insbesondere nach 1386 zu einer Gewichtsverlagerung nach Osten. Der Landadel spürte dies nicht nur in der Auseinandersetzung mit den Appenzellem. Weil der Landesherrschaft gerade in den Vorlanden immer weniger Geld zur Finanzierung der herrschaftlichen Aufgaben zur Verfügung stand, begann sie nach etwa 1370 auch die wertvollsten österreichischen Herrschaftsrechte zu verpfänden, und löste diese in der Regel lange Zeit nicht mehr zurück. Die Vögte übten nun ihre Rechte als Pfandherren aus. Sie unterlagen so zwar einer weniger rigorosen landesherrlichen Kontrolle als vorher. Der Preis für diese Selbständigkeit war aber ein tendenziell sinkender landesherrlicher Schutz. Zudem zahlte Österreich wie erwähnt immer weniger Dienste direkt aus, sondern schlug die entsprechenden Entschädigungen einfach auf die bestehenden Pfänder. Da aber angesichts der sinkenden landesherrlichen Präsenz deren Ertragswert tendenziell und deren politischer Wert dramatisch sank, verminderte sich letztlich die Rendite der Pfänder. Bei gleichzeitig steigendem adligem Aufwand für Kriegsunternehmertum tat sich für den Landadel erneut die Schere auf zwischen Einkünften und Ausgaben - in einer Zeit, da landesherrliche und landadlige Interessen immer weniger parallel verliefen. Wer seine Dienstverhältnisse und ganz generell seine Einkommensbasis nicht nachhaltig zu diversifizieren wusste, verlor sehr schnell seinen Platz in der Spitzengruppe des regionalen Adels. Ein schönes Beispiel für einen - in der Ostschweiz allerdings letztlich misslungenen - Versuch der Diversifizierung bietet die Familie der Gessler.7 1374/77 erhielt Ritter Heinrich Gessler für 4000 Gulden die österreichische Vogtei Grüningen als Pfand. In den nächsten Jahren verbaute er 3500 Gulden in der Verstärkung der Burg und schlug für weitere Dienste, beispielsweise auch für ein nicht bar an ihn ausbezahltes landesherrliches Heiratsgeschenk, nochmals 750 Gulden auf das Pfand. Ab 1388 stand Gessler - mittlerweile einer der wichtigsten Repräsentanten Österreichs zwischen Zürichsee und Rhein - immer wieder im Gegensatz zu Zürich, weil «si mir von Zürich die sturen und nücz vorhalten» von Grüninger Untertanen, die in die Stadt abgewandert waren. Österreichische Hilfe beim Eintreiben dieser Abgaben ist nie belegt. Um 1400 eskalierten dann wohl vor dem Hintergrund der heftigen regionalen Auseinandersetzungen dieser Jahre die Probleme zwischen Gessler und Zürich, kurz darauf folgte die entscheidende politische Umorientierung der «habsburgischen» Vögte: Als Hermann Gessler 1405 Zürich 1000 Gulden «Schadenersatz» für kriegerische Verwüstungen versprechen musste, verschrieb er Zürich als Pfand die Liebenburg und die Vogtei Männedorf. Zürich garantierte im Gegenzug, keine Vogtleute Gesslers mehr aufzuneh- 18 19 men. 1406 schloss Gessler gar für 18 Jahre ein Burgrecht mit Zürich. Zürich schützte dafür Gessler aussenpolitisch und unterstützte ihn bei Aufständen oder Fluchtversuchen seiner Untertanen. Gessler ersetzte damit den Schutz Österreichs, das in der entsprechenden Urkunde mit keinem Wort erwähnt wird, sowohl nach innen als nach aussen durch denjenigen Zürichs. Als Hermann Gessler schon ein Jahr später starb und das Burgrecht erlosch, verkauften seine Erben ihre gesamten Grüninger Besitzungen für 8000 Gulden an Zürich und zogen aus der Ostschweiz weg. Die schweizerische Geschichtsschreibung tendierte bisher dazu, Adelskarrieren wie jene der Nachkommen Hermanns von Landenberg oder der Gessler als Beweis dafür anzuführen, dass der Landadel der eigentliche Verlierer im Kampf zwischen der Eidgenossenschaft und Habsburg gewesen sei. Diese Sicht ist einerseits zu sehr an der Optik der Eidgenossenschaft orientiert, andererseits zu wenig differenziert. Zum ersten: Adel war im Mittelalter zu allen Zeiten sehr mobil. Die Gessler wie insbesondere die Mehrheit der Landenberger-Zweige sind nach der .Liquidation ihrer Zürcher Besitzungen keineswegs untergegangen, sondern haben ausserhalb des Einflussbereiches der Eidgenossenschaft durchaus standesgemässe Tätigkeitsfelder gefunden. Sie ersetzten dort andere Adelsgeschlechter, so wie ihnen südlich des Rheins eine neue Elite nachfolgte. Zum zweiten: Sowohl die Gessler wie die Erben Hermanns von Landenberg schlossen vor ihrem Bedeutungsverlust respektive ihrem Wegzug ein Burgrecht mit Zürich. Gessler versprach 1406 sogar, Zürich die Burg Grüningen offenzuhalten, allenfalls selbst gegen Österreich! Der Adel zeigte sich hier also erstaunlich flexibel und hatte keine Bedenken, Schutzbeziehungen zu beiden, zu den adligen Österreichern und zu einem Mitglied der den Adel «vertilgenden und verdruckenden» Eidgenossenschaft einzugehen. Keine Spur von einem fundamentalen oder gar ideologischen Gegensatz zwischen diesen Territorialstaaten, zumindest nicht aus der Sicht des Landadels. Die Vorstellung von der adelsfeindlichen Eidgenossenschaft oder gar eines adelsvertilgenden Zürich ist also zumindest bis in das frühe 15. Jahrhundert hinein viel zu undifferenziert. Vielmehr war nicht nur der habsburgische Landadel, sondern der ostschweizerische Adel generell in der Wahl der Dienstbeziehung sehr offen. Er setzte keineswegs bedingungs- und ausnahmslos auf den Dienst in der österreichischen Landesherrschaft. Das Reich oder angehende Landesherrschaften, aber auch Zürich und die Eidgenossenschaft boten ihm jederzeit valable Alternativen. Das aufgrund spätmittelalterlicher Quellen gewonnene Bild ist diesbezüglich eindeutig. Und es ist zu vermuten, dass auch der Adel des quellenärmeren 13. Jahrhunderts ähnlich weit gestreute herrschaftliche Beziehungen eingegangen ist. Im folgenden sollen nun am Beispiel der Herren von Toggenburg nicht nur deren Balance zwischen Eigenständigkeit, Österreich, Zürich und dem Reich, sondern auch generell einige wesentliche Züge spätmittelalterlicher Adelsherrschaft in der Ostschweiz eingehender zur Sprache kommen. Die Herren von Toggenburg Die Freiherren von Toggenburg8 waren wie erwähnt eines der wenigen freien Adelsgeschlechter, welche die wirtschaftlichen Veränderungen und den landesherrlichen Druck Habsburgs im 13. Jahrhundert einigermassen heil überstanden hatten. Es gelang den Toggenburgern vielmehr, ihre Position in der Spitzengruppe des frei-herrlichen Adels formal zu wahren und ab 1209 den Grafentitel zu führen. Bei zahlreichen Gelegenheiten bewiesen sie immer wieder ihre autonome Gewaltfähigkeit, beispielsweise 1248 auf Seiten des Papstes, um 1265 für die Herren von Regensberg und 1292 für Habsburg und Winterthur. Es gelang den Toggenburgern, gewisse Vogtei-einkünfte zu straffen, über Stadtgründungen neue Einnahmen zu erschliessen und eine kleine ritterliche Gefolgschaft aufzubauen, die zwar über eine traditionelle Gefolgschaftspolitik an Toggenburg gebunden, aber militärisch sehr schlagfähig war. Im 14. Jahrhundert vollzogen die Grafen von Toggenburg dann eine erstaunliche Ausweitung ihrer Herrschaftsrechte: Ab 1313 taten sie den entscheidenden Schritt in das obere Toggenburg. 1335 verpfändeten ihnen die Grafen von Habsburg die Vogtei über den Einsiedler Hof Erlenbach. Ab 1337 oder 1338 beteiligten sich die Toggenburger erfolgreich an den Auseinandersetzungen um das Erbe Donats von Vaz und vermochten umfangreiche Besitzungen im Prättigau, in Davos, Beifort und Churwalden, Rechte im Schanfigg und Herrschaftsrechte in und um Maienfeld, weitere Ansprüche auf verschiedene kleinere Herrschaftssilze sowie vielleicht auch Rechte in den Fünf Dörfern zu sichern. Auch am Zürcher Obersee bauten die Toggenburger ihre Herrschaftsrechte weiter aus. 1343 folgte die Veipfändung respektive der Verkauf der Burg Grinau und der Höfe Tuggen und Wangen sowie weiterer Einkünfte durch die Grafen von Habsburg-Rapperswil. 1377/78 lösten die Toggenburger vom Ritter Gottfried Mülner die österreichischen Pfänder Alt- und Neu-Rapperswil, die Vogtei über Einsiedeln, das Wäggital, die mittlere March sowie Kempraten und Jona aus. Weitere Erwerbungen nördlich dieses Herrschaftsbereiches folgten. 1369 kauften die Toggenburger von den Herren von Landenberg-Greifensee die Herrschaft Greifensee. 1384 verpfändete ihnen Herzog Leopold von Österreich die Pfandschaft Kyburg samt hohem Gericht in Winterthur. Weitere Erwerbungen dienten schliesslich der Arrondierung der Rechte im unteren Toggenburg und der 1343 erworbenen Besitzungen bei Rüdberg. Die Expansion der Toggenburger basierte letztlich auf zwei miteinander eng verbundenen Pfeilern. Die Toggenburger waren zum einen spätestens seit etwa 1292 die regionalen Militärunternehmer schlechthin. Bereits 1292 unterstützten sie die Zürcher bei der Belagerung Winterthurs. 1315 verlor Friedrich IV. sein Leben bei Morgarten. Um 1325 engagierte sich Diethelm V. auf der Seite Ludwigs des Bayern gegen die päpstliche Partei und Friedrich den Schönen in Italien. 1327 stand er dann bereits wieder mit 50 Reitern im Dienste des Hauptmanns des päpstlichen Heeres. 1337 fiel er für die Stadt Zürich im Krieg gegen die Herren von Habsburg-Rapperswil. Vor 1344 kämpfte Friedrich V. auf der Seite des Bischofs von Konstanz und erlitt Verluste «von rossen oder von maidenn». 1354 verpflichtete er sich für rund ein Jahr auf der Seite Herzog Albrechts von Österreich gegen Zürich und dessen Eidgenossen. Um 1360 scheint er mit zwei Söhnen gegen die «Engländer» gezogen zu sein. Von 1386 20 21 bis 1388 beteiligte er sich mit Gefolge auf österreichischer Seite an den Kriegen gegen die Eidgenossen. Es wird hier mit aller Deutlichkeit klar: Entscheidend für die toggenburgische Parteinahme war nicht «Gesinnung» oder Gefolgschaftsverpflichtung, sondern vielmehr der «richtige» Sold. Die Solddienste waren ihrerseits untrennbar verknüpft mit dem zweiten Pfeiler des Tbggenburger Herrschaftsausbaus: Die Toggenburger bewirtschafteten ihre direkt und indirekt aus diesen Diensten stammenden finanziellen Mittel zielgerichtet und geschickt. Sie kauften immer wieder^Renten oder Zinsen, die nicht primär mit der dauerhaften Ausübung von Herrschaftsrechten verknüpft waren. In diese Kategorie fallen beispielsweise eine Gült von 100 Mark Silber auf der Zürcher Brotlaube und der Metzg, die 1367 auf fünf Jahre befristete Pflegschaft über das Hochstift Chur, jene 500 Mark, die Friedrich V. 1348 letztlich vergeblich für die Verpfändung eines Reichszolls bei Malix einsetzte, aber wohl auch die 30 Pfund, welche Kraft von Toggenburg vor 1337 dem Komtur von Bubikon geliehen hatte. Weitere,Einnahmen aus den Solddiensten setzten die Toggenburger für den Erwerb von Besitzungen von kleineren oder absteigenden Adelsgeschlechtern ein, welche ihre Rechte entweder ausdrücklich als Eigentum oder dann als Pfand abtraten, unter Bedingungen, die eine Wiederlösung praktisch ausschlossen. Wichtige solche Erwerbungen waren die Wildenburg, die Herrschaftsrechte bei Grinau und Erlenbach, die Herrschaft Greifensee sowie die Herrschaftsrechte bei Maienfeld. Schliesslich trugen die Solddienste auch massgeblich zur Erwerbung einer dritten Gruppe von Rechten bei, jener der «echten», das heisst faktisch wieder einlösbaren, primär österreichischen Pfänder. Diese Kategorie von Rechten besass über ihren finanziellen Nutzen hinaus auch einen erhöhten politischen und repräsentativen Wert. Pfänder wie die bereits erwähnte Landvogtei Kyburg (1384) oder die österreichische Herrschaft Sargans-Windegg-Freudenberg-Nidberg (1406) waren darum politisch sehr wertvoll, angesichts der bereits erwähnten sinkenden Herrschaftspräsenz Österreichs aber auch heikel. Zudem wurden auch die Toggenburger trotz ihrer vergleichsweise guten Ausgangslage gegen 1400 von der Krise der Adelseinkünfte betroffen. Zum einen begann die Rendite habsburgischer Pfänder, aber auch jene von Reichspfändern (zum Beispiel Steuern von Reichsstädten) kontinuierlich zu sinken. Zum andern wuchs besonders in der Zeit der Appenzellerkriege der Widerstand der Eigen- und Vogtleute gegen ihrer Meinung nach nicht gerechtfertigte Steuern und Abgaben. Spätestens seit dem frühen 15. Jahrhundert hing die Durchsetzung adliger Herrschaftsrechte darum zumindest im Bereich der Vogtei- und Steuerrechte ganz augenfällig vom Grundkonsens mit den betroffenen Eigen- und Vogtleuten ab. Diese waren bereit, Vogtsteuern zu bezahlen, machten ihre Zahlungen aber von der Effizienz des herrschaftlichen Schutzes abhängig. Dies galt in verstärktem Mass, wenn der Vogt- oder Steuerherr seine Rechte an einen Lehensträger oder Pfandnehmer delegiert hatte. Bezüglich effizienter Friedenswahrung waren indes Adlige ohne nahen landesherrlichen Hintergrund gegenüber den aufstrebenden Territorialstaaten klar benachteiligt. Sie pflegten kaum eine schriftliche Verwaltungsführung und verfügten darum auch höchstens in Ansätzen über schriftkundige und rechtlich geschulte Amtsleute. Dies wirkte sich letztlich günstig auf die Position der Eigen- und Vogtleute aus, insbesondere dann, wenn sie sich selbst kommunal zu organisieren vermochten. Einen für sie befriedigenden herrschaftlichen Grundkonsens konnten die Adligen darum nur erzielen, wenn sie persönlich an der Basis präsent waren und notfalls auch die Fähigkeit demonstrierten, physische Gewalt auszuüben. Angesichts dieses Drucks einer eigenständigeren Basis und vor dem Hintergrund des bereits früher beschriebenen Rückzugs Österreichs und der damit verbundenen sinkenden Rendite der Pfänder erstaunt es nicht, dass der letzte Toggenburger, Friedrich VII., seine herrschaftlichen Beziehungen um 1400 noch stärker diversifizierte als zuvor: 1400 schloss er mit Zürich ein Burgrecht ab, das über seine (vermeintlichen?) «strategischen» Dimensionen hinaus erst richtig zu verstehen ist, wenn man die erwähnten Widerstände auch in den toggenburgischen und die Entwicklungen in den sanktgallischen Herrschaften in dieser Zeit berücksichtigt. Nicht zufällig sichert der Toggenburger Zürich in jedem Fall mit seinen Burgen, Tälern und Leuten Beistand zu, während die Stadt ihm in erster Linie Hilfe verspricht, wenn Güter oder Leute widerspenstig oder abtrünnig werden. Das Bündnis entspricht damit in seiner Tendenz den vielen Burgrechten, die Zürich um 1400 mit kleineren Adligen der Region abschloss und die oft deren Verschwinden als Träger regionaler Ordnungsfunktionen einleiteten.9 1405 schritt er zwar vorerst als Lehens- und Pfandträger Österreichs auf dessen Seiten in die Appenzellerkriege ein. Bald einmal verhielt er sich trotz seiner Lehen und Pfänder neutral, was ihm lukrative Friedensdienste zwischen den Eidgenossen und Österreich ermöglichte und erst noch seine Position gegenüber den eigenen Eigen-, Vogt- und Landleuten stärkte. 1415 schreckte er dann nach der Verhängung der Reichsacht gegen Herzog Friedrich von Österreich nicht davor zurück, österreichische Besitzungen gewaltsam an sich zu reissen und sie neu als Pfänder des Reiches entgegenzunehmen. Friedrich VII. erscheint so als flexibler Friedenswahrer, ganz im Kontrast zu den wenigen chronikalischen Zeugnissen über ihn. Die Klingenberger Chronik beschreibt ihn als gewalttätigen und geldgierigen Menschen: «Er was ein unfridlich man und sinen armen lüten ain herter herr, wan er straft si an lib und guot, si wärint sin pfand oder aigen, und hatt kain erbermd über sine armen lüt, was guot antraf, wan er was daruf genaigt [...]. Also tet er den sinen grossen trang an, und hat si och in grosser maisterschafft, als sich das nach sinem tod bewisst; doch [hatt] er die sinen sunst in guotem frid und schirm vor andren lüten.»10 Vor dem gerade beschriebenen Hintergrund kann man diese Zeilen aber auch anders lesen, zumal der Chronist bekanntlich versuchte, nochmals die alten Adelstugenden heraufzubeschwören, wozu für ihn in erster Linie die Gefolgschaftstreue gehörte. Natürlich hatte Friedrich VII. gerade in letzterer Hinsicht tatsächlich arg gesündigt. Ob aber nur Geldgier hinter seiner Haltung steckte, bleibt aufgrund des Gesagten dahingestellt. Immerhin wird Friedrich VII. aber auch als Adliger beschrieben, der über eine hohe Kompetenz der Schutzgarantie verfügte und, wenn nötig, auch persönlich unter Androhung oder Einsatz von Gewalt für die Friedenswahrung sorgte. Dank Basispräsenz und Flexibilität überstand er darum die Krise um 1400 letztlich gut. 22 23 Adelsrenaissance in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts Vieles weist darauf hin, dass nach der «Krise» von 1405 in unserer Gegend nochmals eine eigentliche «Adelsrenaissance» stattgefunden hat. Deren Hintergründe sind noch kaum erforscht. Immerhin ist anzunehmen, dass der vorübergehende Einbruch der Position Österreichs nach der Reichsacht von 1415 die Stellung des Landadels eher stärkte als schwächte, da viele Adlige ihre ehemals österreichischen Pfänder und Lehen nun einfach vom Reich entgegennahmen und unter König Sigismund darüber hinaus wirksam gefördert wurden. Auch innerhalb der eidgenössischen Orte, besonders in Zürich, ist ein verstärkter Trend zum adelsorientierten Leben auszumachen. Für viel Geld erwarben 1433 die Schwarzmurer einen Wappenbrief. Götz Escher, Rudolf Stüssi und zwei Mitglieder der Familie Schwend reisten im gleichen Jahr zur Kaiserkrönung Sigmunds nach Rom und liessen sich zu Rittern schlagen. Viel stärker als im 14. Jahrhundert kam es zu Heiratsverbindungen mit dem Landadel und zur Übernahme adliger Güter und Herrschaftsrechte. Und immer häufiger war es den Angehörigen der zürcherischen Oberschicht möglich, als städtische Landvögte einen adligen Lebensstil zu pflegen. Am Beispiel der Herren von Klingenberg zeigt sich sehr schön die Freiheit, mit welcher zwischen 1415 und 1460 selbst der nach Österreich orientierte Landadel sich zwischen dem Reich und den Landesherrschaften bewegte: Die Herren von Klingenberg, bis in das frühe 13. Jahrhundert wohl primär am Reich orientiert, lehnten sich ab etwa 1330 stark an Österreich an.11 Ab 1415 sind sie im Umfeld König Sigismunds zu finden, des wichtigsten Gegners Österreichs, dessen Räte und Kanzler (1430) sie wurden. Dies hinderte sie aber nicht daran, 1419/33 die Herrschaft Hohenklingen mit Stein zur Hälfte auch als österreichisches Pfand zu erwerben. Ab 1440 verloren sie den Schutz des Reiches und traten 1447 vorübergehend in den Dienst des Grafen von Württemberg, bevor sie sich wieder stärker Österreich zuwandten. Hans von Klingenberg war spätestens seit 1450 österreichischer Rat und ab 1451 mehrmals Landrichter im Thurgau. 1455 rangierte er an vierter Stelle der Ritterschaftsliste der vorderösterreichischen Regierung. Trotzdem lebte Hans in dieser Zeit am Rande des wirtschaftlichen Bankrotts. 1457 verkaufte er Stein und Hohenklingen. 1460 eskalierte die Situation: Hans lieh Österreich im Rahmen des Thurgauerkrieges gegen die Eidgenossen 4000 Gulden. Als er angesichts seiner misslichen finanziellen Lage das Darlehen zurückforderte, zahlte der österreichische Herzog nur 1000 Gulden - aber nicht an den Klingenberger, sondern an den österreichischen Landvogt, «wann er die zu mercklichem des Herzogs notturfften haben und brachen muss», also in der Form einer Zwangsanleihe.12 Als Österreich im weiteren Verlauf des Streites die Rückzahlung des Kredites auf unbestimmte Zeit hinausschob, übertrug Hans kurzerhand einen Teil seines Guthabens an Werner von Holzhausen, einen Eidgenossen, für dessen Schuldforderungen sich unverzüglich die eidgenössische Tagsatzung einsetzte. Zudem wurde Hans, dessen Ehefrau sich schon 1458 mit ihren linksrheinischen Besitzungen unter den Schutz Schaffhausens gestellt hatte, 1461/62 Bürger der Stadt Luzern, welcher er ein Öffnungsrecht für seine Burg Hohentwiel einräumte. Sofort setzte sich nun die Tagsatzung auch für «unseren guten Freund» Hans ein. 1462 lenkte Österreich bezeichnenderweise in einen Vergleich mit dem Klingenberger ein. 24 Das Klingenberger Beispiel zeigt auch für die Zeit um 1460 nochmals mit aller Deutlichkeit: Habsburger Pfänder und Ämter waren nur bedingt Belege für eine habsburgische Parteigängerschaft. Es brauchte nur Streitigkeiten um eine beträchtliche Geldschuld, und schon wurde aus dem «österreichischen» Landadligen ein Luzerner Bürger, welcher den Eidgenossen zur Eintreibung einer Geldschuld sogar sein rechtsrheinisches Herrschaftszentrum geöffnet hätte - und dies kurz nach dem Thurgauerkrieg! Zusammenfassend ergibt sich für die Geschichte des ostschweizerischen Adels bis um 1460 also folgendes Bild: Grundsätzlich wurde es für die Adligen zwar immer schwieriger, die ihnen zustehenden Steuern und Vogteiabgaben durchzusetzen. Von einer eigentlichen Krise der Adelseinkünfte muss man wohl für die Zeit der Appenzellerkriege ab 1405 ausgehen. Alle Adligen der Region sahen sich vor diesem Hintergrund nach herrschaftlicher Rückendeckung um. Ob man diese bei Österreich, Zürich, der Eidgenossenschaft oder beim Reich suchte, war keine Frage der Ideologie oder der Gefolgschaftspflicht, sondern des konkreten Nutzens. Ob man eine solche Rückendeckung erhielt, hing in erster Linie davon ab, welchen Nutzen man seinerseits der anderen Seite zu bieten hatte. Im übrigen blieben die Adligen aber noch immer die wichtigsten Friedenswahrer der Gegend. Als Kriegsunternehmer waren sie in der Wahl ihrer Dienstherren ebenso unvoreingenommen wie bei der Annahme von Pfändern als Gegenleistung für ihre Militärdienste. Nur das Recht, selbständig Kriege zu beginnen und zu beenden, hatte man weitgehend an die Landesherrschaften verloren. Es gehörte aber weiterhin zum adligen Selbstverständnis, physische Präsenz bei den Herrschaftsleuten und damit auch wenn nötig autonome Gewaltfähigkeit zu demonstrieren. Und der grösste Teil der Niedergerichtsherrschaften unterstand weiterhin adligen Friedenswahrern. Der Adel grenzte sich weiterhin kulturell ab, einerseits Uber die erwähnte «Kultur der Gewaltfähigkeit», andererseits aber auch über die Zelebrierung besonderer Herrschaftsnähe, beispielsweise an Lehenstagen oder am Konzil von Konstanz 1415. Kirchliche Stiftungen als Zeichen adlig-religiöser Gesinnung runden das Bild ab. Die zürcherische Elite des 15. Jahrhunderts13 Die Zeit unter König Sigismund und des Alten Zürichkrieges markierte insgesamt für den Landadel wie für die städtisch-landadlige Oberschicht den Höhepunkt und das sich abzeichnende Ende der Möglichkeit, sich grundsätzlich frei zwischen Österreich, Zürich, der Eidgenossenschaft und dem Reich als herrschaftlicher Einkommensquelle, Rückendeckung und Legitimation zu bewegen und die «Parteinahmen» primär von der Konkurrenz innerhalb dieser Oberschicht und zwischen den erwähnten vier Herrschaftsinstitutionen abhängig zu machen. Ab 1450 verlor das Reich kontinuierlich an herrschaftlicher Bedeutung für unsere Region und diente primär nur noch als legitimierende Institution. Gut ein Jahrzehnt später hatte sich auch Österreich politisch weitgehend aus den Gebieten südlich des Rheins zurückgezogen. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts verliessen dann die landadligen Spitzengeschlechter endgültig die Gebiete südlich des Rheins. Der herrschaftliche Einfluss des 25 Geographisch mobiler Zürcher Adel: Das Itinerár Götz II. Mülners Die Schwarzmurer 1343-1351 Zürich 1353 Konstanz 1354-1358 Zürich 1359 Wien-Konstanz-Küsnacht 1360 Thann-Ztirich-Brugg 1361 Konstanz 1362 Salzburg J 1362 Salzburg-Nürnberg 1363 Brugg-Baden-Brugg 1366 Nürnberg 1367-1369 Zürich 1370 Wien-Laibach-Zürich 1371 Zürich-Wien 1372 Zürich-Prag 1374 Bozen 1375 Basel-Baden-Rheinfelden 1377 Klingnau-Brugg-Laibach 1379 Zürich-Prag 1380 Graz-Brugg 1381 Feldkirch 1382 Zürich-Rheinfelden Die Mülner besassen unter anderem die Herrschaftssitze Friesenburg und Friedberg, Lehen des Fraumünsters, des Reiches und Habsburgs, Verwandtschaftsbeziehungen zu den Herren von Schönenwerd, Hallwil, Schellenberg, Hünenberg, Wollerau,Trostberg, Hertenstein und anderen. Name Herrschaftliche Friedenswahrung Sonstiges Verwandt- Tätigkeit für Zürich schaftskreis Ital 1401-1425 Rat 1405-1428 Schiedsrichter (Auszug) Seckelmeister zwischen Schwend Münzpächter Fraumünster Meiss Tagsatzungsgesandter und Engelberg Escher vom Obervogt in: Luchs Erlenbach Rordorf Bulach Wetzwile Meilen Hinwil (auf Maschwanden Greifenberg) Rümlang Vogt in Hedingen Felix 1468-1491 Rat 1475-1492 Schiedsrichter 1476 Ritter Vogt von Andelfingen zwischen Töss 1477 Herr Landvogt von Kyburg und Einsiedeln von Altikon (ausserordentlich hohe 1485 Burgherr Spesen) auf Freienstein 1490 Reichsvogt Zumindest Ital und Felix Schwarzmurer führten ein in allen Belangen adliges Leben: Herrschaftliche Tätigkeiten, Friedenswahrung, Teil der wirtschaftlichen Spitzengruppe der Stadt Zürich, kulturelle und verwandtschaftliche Abgrenzung. verbleibenden Landadels reduzierte sich auf zahlreiche Gerichtsherrschaften, die von Zürich respektive der Eidgenossenschaft weiterhin meist respektiert wurden. Im Wettbewerb um prestigeträchtige zürcherische und eidgenössische Landvogteien und Militärdienste erwuchs dem Landadel jedoch eine übermächtige Konkurrenz: die eidgenössische Elite und insbesondere das zürcherische Verwaltungspatriziat. Genügt das aber für die Folgerung, dass der Adel nun auch südlich des Rheins endgültig «verdruckt und vertilgt» gewesen sei? Ein abschliessender Rückblick auf die Rolle des Adels im Rahmen der Entstehung des zürcherischen Territorialstaates ergibt eine eindeutige Antwort. Der stadtzürcherische Adel hatte schon im ganzen 13. Jahrhundert über verwandtschaftliche und lehensrechtliche Kontakte über die Stadtmauern hinaus verfügt. Ab Ende des Jahrhunderts konsolidierte eine schmale Aufsteigergruppe aus Kreisen des Rittertums und der bürgerlichen Stadtnotabilität, in deren Kreis wohl auch die Manessische Liederhandschrift entstanden ist, ihre führende Stellung in der Stadt. Gleichzeitig baute sie Herrschaftsrechte ausserhalb der Stadt aus, in der Regel Pfänder und Lehen des Reiches und Habsburgs. Beispielhaft für den Weg solcher Geschlechter ist die Karriere der Zürcher Mülner. 26 Erwachsen aus der Dienstmannschaft der Fraumünster-Äbtissin, verfügten die Mülner schon früh über weit gestreute Beziehungen zu Kyburg, Eschenbach-Schnabelburg, Regensberg, Klingen, Habsburg-Laufenburg und sogar zur Familie von König Rudolf von Habsburg. Spätestens ab 1272 betrieb eine «reicheren» Linie der Mülner eine eigentliche adlige Machtpolitik vor den Toren der Stadt, wobei ihre Herrschaft bis um 1350 nicht auf Habsburg, sondern auf Pfändern und (After-)Lehen des Reiches basierte. Ab 1357 fand eine markante Umorientierung der Mülner statt. Götz IL, noch bis 1356 im Zürcher Rat, begann österreichische Pfänder zu kaufen, zu deren Finanzierung er seine Reichsvogteien an Zürich verkaufte. Die Gründe für diesen Orientierungswandel waren vielschichtig. Ihr politischer Hintergrund beruhte auf der Brunschen Annäherung an Österreich. Wahrscheinlich sahen auch die Mülner nun grössere Aufstiegschancen im österreichischen Dienst. Götz II. bekleidete zwischen 1360 und 1379 der Reihe nach das Amt des österreichischen Vogtes in Glarus, des geschworenen herzoglichen Rates, des Kammermeisters, des Landvogtes und des Hofmeisters. Hatte er sich 1343 bis 1358 weitgehend in Zürich aufgehalten, so ist er später - ausser im Zeitraum zwischen 1367 und 1372 - nur noch sporadisch in Zürich nachzuweisen. Er hatte also nicht nur seine herrschaftliche, sondern auch seine physische Präsenz aus Zürich hinaus verlagert. Sein Sohn Götz III. schliesslich starb auf österreichischer Seite bei Sempach. Seine Güter gelangten in die Hände wohlhabender zürcherischer Geschlechter. Grössere Pfänder gingen zurück an Österreich, welches diese unverzüglich an seine Geldgeber, oft zürcherische Bürger, oder direkt an die Stadt Zürich weiterverlieh.14 Bürgerliche Gerichtsherrschaften wie jene der Mülner bildeten die Basis des frühen Ausgreifens Zürichs über die Stadtmauern hinaus. Zur eigentlichen Trägerin der zürcherischen Territorialpolitik wurde aber erst jene städtische Elite neuen Zuschnitts, welche in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts die Aufsteigergruppe des frühen 14. Jahrhunderts ablöste. Einerseits über Herrschaftsrechte und Heiratsbeziehungen mit der Landschaft und dem Landadel verbunden, andererseits mit Anschluss an bürgerliche Tätigkeiten wie Handel privilegiert und eng mit der Ratspolitik verflochten, hatten diese Stadtbürger keine Bedenken, den zur Durchsetzung ihrer Gerichtsrechte nötigen Rückhalt bei der Stadt zu suchen und die, Ausweitung des städtischen Einflusses zu forcieren. 1393 betrug die Fläche der von der Stadt beherrschten Landgebiete bereits etwa das Vierzigfache des Stadtgebietes. Bis 1439 hat sich die Grösse zürcherischer Landgebiete nochmals mehr als verzwanzigfacht. Am Schluss dieser Expansionsphase umfasste der zürcherische Herrschaftsbereich im wesentlichen das Gebiet des heutigen Kantons Zürich. Je grösser das Zürcher Herrschaftsgebiet wurde, um so stärker veränderte sich der Zuschnitt der an dieser Expansion und an der Schaffung eines Territorialstaates interessierten städtischen Elite. Hatte sich diese Spitzengruppe um 1400 noch weitgehend aus der Konstaffel rekrutiert und war wie die zünftische Spitzengruppe meist irgendwie mit dem Handel verbunden gewesen, so drängten nun neben den Konstaffeln viele ratsfähige Zünfter als Vögte oder Beamte in den Stadtdienst. Grund- und Herrschaftsbesitz kombiniert mit «Staats»-Diensten wurden zum Ideal dieser dritten Elite. Dieser Wandel beeinflusste nun seinerseits auch die zürcherische Territorialpolitik. Eine ausgesprochene Tendenz zur Verbeamtung und staatlichen Durchdringung der Herrschaften setzte ein und verstärkte die bereits angesprochene Entwicklung zur inneren Straffung des zürcherischen Territoriums. Und je stärker die so verstandene Straffung erfolgte, um so mehr wandelte sich die städtische Elite zu einem eigentlichen Verwaltungspatriziat. Von nun an bildete der Rittertitel die eigentliche Krönung einer Laufbahn, die mit dem Ein- oder Übertritt in die Konstaffel begonnen hatte und über kleinere Verwaltungsdienste und Ratsaufgaben zur Übernahme einer der grossen Landvogteien wie Kyburg führte. Das Verwaltungspatriziat wies über seine ritterlichen Exponenten bald unverkennbare Adelsmerkmale auf: Ritterschlag, kaiserlicher Wappenbrief und äusserliche Imitation des älteren Adels; annähernd monopolartige Teilhabe an der Herrschaft; Verwaltung, Diplomatie und Militärkarriere als standesgemässe Aufgaben;Trend zur geburtsständischen Abschliessung gegenüber den nicht regimentsfähigen Geschlechtern. Bürgerliche Erwerbstätigkeiten gab man auf, sobald genügend Reichtum vorhanden war. Im Sinne der eingangs formulierten Adelsdefinition hatte der spätmittelalterliche Adel im zürcherischen Territorialstaat also eindeutig überlebt, auch wenn er nun in der Wahl des Dienstherrn nicht mehr frei war. Es bestand auch nach dem Rückzug Österreichs eine - vermutlich einem noch schnelleren Wandel unterworfene - Elite, die *tlle, Kriterien adligen Lebens erfüllte: Sie beschäftigte sich primär mit Herrschafts-S^rechten, teils in eigenen niederen Gerichtsherrschaften, teils in Ober- und Landvogteien, "* die ihnen von reichsunmittelbarer Stelle delegiert wurden. Die Beauftragung erfolgte in der H'orm der Beamtung und nicht der Verpfändung. Sie entsprach damit den Verhältnissen nördlich des Rheins, wo die adligen Herrschaftsbeauftragten Vorderösterreichs auch nicht mehr über Pfänder, sondern als Beamte bestallt wurden. Die zürcherische Spitzengruppe besass die grössten Vermögen im Stadtstaat. Sie suchte den Ritterschlag, das Adelswappen, ländliche Herrschaftssitze und standesgemässe Heirat innerhalb der Elite oder mit auswärtigen Adels- und Patriziergeschlechtern. Und indem, sie sich am adligen Lebensstil orientierte, tendierte sie zur Abschliessung gegenüber der übrigen Bevölkerung. Hier liegen denn auch zwei gewichtige Unterschiede zum älteren Landadel: In der Wahl des Dienstherrn war dieser Adel ebensowenig frei wie in der kulturellen Abgrenzung gegenüber der im Verwaltungsdienst tätigen Bürgerschaft. Die städtische Obrigkeit setzte dem adligen Repräsentationsbedürfnis zumindest innerhalb der Stadtmauern immer engere Grenzen. Damit arbeitete sie aber - in Sinne der diesem Artikel zugrunde gelegten Adelsdefinition - tendenziell in die gleiche Richtung wie die sich entwickelnde eidgenössische Geschichtstradition von den «Vertilgern und Verdrucken!» des österreichischen Adels. 28 29 Anmerkungen 1 Zitiert nach Aegidius Tschudi: Chronicon Helveticum, bearb. von Bernhard Stettier, Bd. 11 (QSG, VII.ll), Basel 1996,Anm. 79,117, Anhang 1. 2 Zur Aussenpolitik der Reichsstadt Zürich im 14. und 15. Jahrhundert vgl. den übersichtlichen Artikel von Christian Sieber: Die Reichsstadt Zürich zwischen der Heitschaft Österreich und der werdenden Eidgenossenschaft, in: Geschichte des Kantons Zürich, hg. von Nikiaus Flüeler und Marianne Flüeler-Grauwiler, Bd. 1, Zürich 1995,471-498, mit Verweisen auf die neuere Literatur. 3 Vgl. Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 1, Basel 2002, 93-97, Artikel «Adel». 4 Das Kapitel ist eine Kurzfassung aus Erwin Eugster: Adel, Adelsherrschaften und landesherrlicher Staat, in: Geschichte des Kantons Zürich (wie Anm. 2), 172-208, hier besonders 184-200. 5 Ebd., 191 f. und 198. 6 Altred Zangger: Wirtschaft und Sozialstruktur auf dem Land 1350-1530, in: Geschichte des Kantons Zürich (wie Anm. 2), 390-437. 7 Eugster (wie Anm. 4), 200. 8 Im folgenden Erwin Eugster: Die Herren von Toggenburg, in: Thomas Meier und Roger Sablonier (Hg.): Wirtschaft und Herrschaft. Beiträge zur landlichen Gesellschaft in der östlichen Schweiz (1200-1800), Zürich 1999,311-342. 9 Ebd., 308 ff. 10 Die Klingenberger Chronik, hg. von Anton Henne, Gotha 1861,227. 11 Markus Bittmann: Parteigänger - Indifferente - Opponenten. Der schwäbische Adel und das Haus Habsburg, in: Franz Quarthai und Gerhard Faix (Hg.): Die Habsburger im deutschen Südwesten. Neue Forschungen zur Geschichte Vorderösterreichs, Stuttgart 2000,75-88. 12 Zitiert nach Markus Bittmann: «Wan ein fürst gelt pedarf ...». Südwestdeutsche Adlige als Finanziers von König und Landesherren, in: Friedhehn Burgart et al. (Hg.): Hochfinanz im Westen des Reiches 1150-1500 (Trierer Historische Forschungen 31),Trier 1996,307-325. 13 Erwin Eugster: Die Entwicklung zum kommunalen Territorialstaat, in: Geschichte des Kantons Zürich (wie Anm. 2), 298-335, hier 301-316. Zur stadtzürcherischen Spitzengruppe neustens Ulrich Vonrufs: Die politische Führungsgruppe Zürichs zur Zeit von Hans Waldmann (1450-1489). Struktur, politische Networks und die sozialen Beziehungstypen Verwandschaft, Freundschaft und Patron-Klient-Beziehung (Geist und Werk der Zeiten 94), Bern 2002, besonders 88 f. und Anhang, wo die Frage eines zürcherischen Adels aber nicht thematisiert wird. 14 Eugster (wie Anm. 13), 302 f. Stifter und Landesherr: Das Kloster Töss unter dem Schirm der Habsburger Martina Wehrli-Johns Unter den Nachträgen des fünften Bandes der Urkundenregesten des Staatsarchivs Zürich befindet sich ein Schriftstück des Dominikanerinnenklosters Töss, das der Forschung bisher entgangen ist.1 Es soll hier im Wortlaut mitgeteilt und zum Ausgangspunkt einiger Überlegungen zur Frage der Klostervogtei im Herrschaftsbereich der Habsburger gemacht werden. Es handelt sich um die Papierabschrift einer Beschwerde, die das Kloster im Zusammenhang mit der Abweisung einer Postulantin an den Herzog von Österreich und damaligen Inhaber der Herrschaft Kyburg richtete. Das Schriftstück enthält keine Angaben über Zeitpunkt und Ort der Abfassung. Es wurde vom Bearbeiter Peter Niederhäuser aber mit guten Gründen in die Zeit vor 1412 verlegt, weil das Kloster Töss am 27. Mai dieses Jahres von Herzog Friedrich IV. die gewünschte Bestätigung seiner Rechte und Freiheiten erhielt.2 Unmittelbarer Anlass für das Vorgehen des Konvents scheint das Ansinnen der Herrschaft Österreich j gewesen zu sein, der Schwester eines nicht weiter bekannten Mannes namens «Gasser» ! eine Pfründe im Kloster zu verschaffen. Nicht gewillt, dem herzoglichen Befehl Folge i Abb. 4: Ansicht des Klosters von Süden aus, im Hintergrund Winterthur; deutlich erkennbar das genau abgegrenzte Klosterareal (Tuschzeichnung von Jacob Hoffmann, 18. Jahrhundert; aus: Däniker-Gysin,33) 30 31