DOI 10.1515/9783110416497-005 2.4 Materialität und Geschlecht Sigrid G. Köhler Einleitung Die Verknüpfung von Materialität und Geschlecht folgt einem Narrativ, das in besonderer Weise die moderne westliche Kulturgeschichte prägt und von einer binären, heterosexuell bestimmten Geschlechterordnung erzählt. Zentrale Bezugstexte stammen aus der Antike. Materie wird dort oftmals als ‚weiblich‘ und ‚passiv‘, Form respektive Geist hingegen als ‚männlich‘ und ‚aktiv‘ codiert. Problematisch ist diese Zuordnung, weil mit ihr Geschlechter- und Gesellschaftsrollen festgeschrieben und Machtrelationen etabliert werden. In den Fokus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung rückt die Engführung von Materialität und Weiblichkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Einschlägig ist Judith Butlers Studie Bodies That Matter (1993; Körper von Gewicht 1997), in der Butler eine kritische, diskursanalytisch geleitete Revision zentraler Theoriepositionen vollzieht, von der Philosophie der Antike über Positionen der Psychoanalyse bis hin zur écriture féminine. Butler geht es darum zu zeigen, wie diese Engführung durch ‚Materialisierungsprozesse‘ (Butler 1997, 32) hervorgebracht wird, das heißt durch gesellschaftliche Machtdynamiken, welche den geschlechtlichen Körper normieren und regulieren und schließlich zur Vorstellung eines heterosexuell codierten ‚biologischen Geschlechts‘ führen. Die Existenz einer vordiskursiven Materialität des Körpers wird von Butler nicht geleugnet. Im Fokus ihres Interesses stehen jedoch die diskursiven Materialisierungsprozesse. Für ihre Privilegierung eines diskursanalytischen Ansatzes ist Butler vielfach kritisiert worden (vgl. z. B. Haraway 1995 [1983−1989], 107−108), wird doch mit dem Diskurs die Sprache als zentrale ‚Materialisierungsinstanz‘ gesetzt, während andere Techniken und Praktiken der Materialisierung vernachlässigt und paradoxerweise das produktive Potenzial der Materie selbst im Sinne einer vordiskursiven Materie gar nicht in den Blick genommen werden. Für eine sprachlich dominierte Wissenschaft wie die Literaturwissenschaft hat sich Butlers Ansatz jedoch, wie sich an dem Forschungsoutput seit den 1990er Jahren zeigt, als äußert produktiv erwiesen. Bereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 31.01.20 13:18 48 | Sigrid G. Köhler De/Gendering Materie aus naturwissenschaftlicher Perspektive Butlers Ansatz steht für die radikale Unterscheidung von sex als Kategorie des biologischen Geschlechts und gender als soziokulturelle Konstruktion: eine Unterscheidung, die in letzter Konsequenz die Annahme eines vordiskursiven, biologischen Geschlechts als Effekt von Materialisierungsprozessen zurückweist (vgl. Butler 1997, 21−22). Aus dieser Perspektive sind die Naturwissenschaften und insbesondere die moderne Biologie nicht per se zuständig für die Beschreibung des ‚biologischen Geschlechts‘, sondern selbst Teil der Diskursproduktion. Dies haben auch feministische Naturwissenschaftlerinnen gezeigt. So sind anthropozentrische Beschreibungsmuster, und insbesondere solche, die auf die Kategorie Geschlecht und die mit ihr verbundenen Verhaltenscodierungen (etwa in Form von Aktiv-Passiv-Zuschreibungen) gründen, ungemein wirksam. Dies gilt auch jenseits der auf den Menschen, den menschlichen Körper und das menschliche Verhalten bezogenen Forschung, etwa in der Verhaltensforschung zu Primaten (vgl. Haraway 1995 [1983−1989], 123−159). In Sexing the Body (2000) problematisiert die Biologin Anne Fausto-Sterling ausgehend von ihrem entwicklungsbiologischen Ansatz die monokausale Bestimmung der Geschlechtermerkmale und mit ihr die binäre Aufteilung der Geschlechter. Sie plädiert stattdessen dafür, von einem geschlechtlichen Kontinuum auszugehen (Fausto-Sterling 2000, 30−31). Wenn sie darüber hinaus für die Einbeziehung soziokultureller Faktoren argumentiert, wird deutlich, dass die feministisch orientierten Naturwissenschaften die Schnittstelle von Gender- und Sex-Studies ebenfalls mitreflektieren, ohne jedoch ihre Forschung in der Kategorie gender aufgehen zu lassen. Denn von einem naturwissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet ist der Körper eine positive, empirisch beschreibbare und somit materielle Größe und das biologische Geschlecht entsprechend immer auch Angelegenheit einer kritischen Sex-Forschung (vgl. Palm 2004, 103−107). Nimmt man die naturwissenschaftliche Perspektive und mit ihr die Materialität des Körpers ernst, so führt dies unweigerlich zu der Frage nach der materiellen Produktivität des Körpers bzw. systematischer formuliert: nach der Produktivität der Materie insgesamt. Genau diese Frage steht seit der Frühen Neuzeit im Fokus der modernen Naturwissenschaften, der Physik, Chemie oder Biologie, die Materie etwa als Kraft oder Energie konzeptualisiert haben. Statische Raum-Zeit-Relationen werden damit zugunsten von Prozessualität, dynamischen Verbindungen oder energetischen Feldern verabschiedet (vgl. Köhler 2013, 37). Karen Barad plädiert mit Bezug auf die moderne Quantenphysik für ein ‚posthumanes Konzept‘ von Performativität, denn „Materie ist ein stabilisieBereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 31.01.20 13:18 2.4 Materialität und Geschlecht | 49 render und destabilisierender Prozeß schrittweiser Intraaktivität“ (Barad 2012 [2003], 40). Diese Problematisierung eines Materieverständnisses, das Materie als stoffliche Einheit und Ding denkt, hat weitreichende Konsequenzen – auch für das Gendering der Materie, denn die Stabilität von Körpergrenzen wird zur Disposition gestellt und die Frage der Handlungsmacht (agency) verschoben. Materialisierungsprozesse sind in der Konsequenz nicht mehr nur Resultat menschlichen Handelns, die Materie wird vielmehr selbst zum Agens (Barad 2012 [2003], 15; vgl. auch Haraway 1995, 92−97), so dass die Aktiv-Passiv-Zuschreibung als eine Variante der diskursgeschichtlichen Verknüpfung von Materialität und Geschlecht obsolet wird. Materialität als Aushandlungsort von agency Bilanzierend zeigt sich in dem Vergleich von geistes- und naturwissenschaftlichen Positionen, dass die Reflexion der Verknüpfung von Materialität und Geschlecht immer beides zu leisten hat: gender als Resultat eines soziokulturellen Materialisierungsprozesses und sex als biologisches Geschlecht in seiner eigenen Materialität zu reflektieren. Die Konzentration auf Materialität als zentrale Analysekategorie erlaubt es zudem, die Schnittstelle, an der sich sex und gender überlagern, als komplexen Aushandlungsort in den Blick zu nehmen, an dessen Konstitution, wie weiter unten ausgeführt wird, materielle Techniken und Praktiken (im Sinne von Medien und Apparaturen) mitwirken. Systematisch betrachtet rückt die kritische Analyse der Verknüpfung von Geschlecht und Materialität vor allem Produktionsprozesse in den Fokus, die im weitesten Sinn kosmologische Entwürfe einschließen und im engeren Sinn Akte des Hervorbringens vom künstlerischen Schaffensprozess bis hin zum (sprachlichen) Sinngebungsprozess umfassen. Im Zuge einer kritischen Analyse werden die diskursgeschichtlich tradierten Rollen- und Funktionszuweisungen der an den Prozessen beteiligten Prinzipien und Akteure zur Disposition gestellt. Mit Blick auf die geschlechtliche Codierung von (menschlichen) Schaffensprozessen bedeutet dies, die Position des (männlich gedachten) Hervorbringenden samt der sich daraus ergebenden Handlungsmacht und Subjektivität ebenso zu hinterfragen wie die Funktion und Eigenschaften der für den Schaffensprozess scheinbar notwendig zu bearbeitenden (weiblich codierten) Materie. Hinsichtlich der Literatur lassen sich diese aus einer systematischen Betrachtung gewonnenen Perspektiven als Fragen nach Autorschaft, Repräsentation und schließlich nach der Materialität von Sprache respektive von Zeichen präzisieren. Die Kritik dieser prekären Verknüpfung haben feministische Forschung und Gender Studies auf ganz unterschiedliche Weise geleistet: KennBereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 31.01.20 13:18 50 | Sigrid G. Köhler zeichnend ist neben der kritischen Analyse oftmals auch ein subversives Schreiben, das die dominanten Codierungen unterläuft, sich ihrer instrumentalisierenden Aneignung des/der (materiellen) Anderen verweigert und Gegenentwürfe projiziert. Zu denken ist etwa an die Autorinnen der écriture féminine, allen voran Hélène Cixous, Luce Irigaray und Julia Kristeva, die in vielerlei Hinsicht als ‚Diskursbegründerinnen‘ (Nieberle 2013, 50) gelten können. Ihre Texte sind durch eine sich aus spezifischen Semantiken und rhetorischen Verfahren speisende Ästhetik gekennzeichnet, welche die Grenzen zwischen kritischer Analyse und literarischem Schreiben selbst schon überschreitet. Gründungstexte zur Materie-Form-Dichotomie und ihre Folgen Die kulturgeschichtliche Position eines Gründungstextes für das Gendering von Materialität wird in der Regel Platons Timaios (4. Jh. v. u. Z.) zugeschrieben. Bezugspunkt für eine kritische Revision der antiken Philosophie sind darüber hinaus vor allem Aristoteles’ Texte, seine Metaphysik sowie seine naturphilosophischen Schriften Physik und Über die Seele (alle 4. Jh. v. u. Z.). An der Bandbreite der mit diesen Texten verbundenen Wissensgebiete (Kosmologie, Erkenntnistheorie, Naturphilosophie etc.) zeigt sich die grundlegende Bedeutung der Materie-Form-Dichotomie. Materie fungiert dabei zugleich als systematische Reflexionskategorie wie auch als Bezeichnung für eine stoffliche ‚Mitursache des Werdenden‘ (Aristoteles 1987, 47). Bei aller gebotenen Differenzierung kristallisieren sich in den Texten wiederkehrende Codierungen der Materie heraus: Sie wird als etwas Formbares oder Empfangendes, als etwas der Veränderung Unterworfenes bzw. als das, worin etwas wird, schließlich als etwas Unbestimmtes und Nicht-Wahrnehmbares gedacht. Erst im Zusammenkommen mit der Form als Bestimmendem erhält die Materie Bestand und Gestalt. Materie und Form erhalten ihre geschlechtliche Codierung in der Antike in Form von Analogisierungen: Die chora als „das Aufnehmende“ vergleicht Platon „mit der Mutter“, das formgebende Prinzip „mit dem Vater“ (Platon 1992, 81); der Stoff strebt nach Form, so ist bei Aristoteles zu lesen, wie „Weibliches nach Männlichem und Häßliches nach Schönem“ (Aristoteles 1987, 47). Wenn diese Dichotomisierung wie bei Platon als Familienmodell konzipiert wird, formuliert sie indirekt mit der Setzung einer binären Geschlechterordnung zugleich auch einen „heterosexuellen Imperativ“ (Butler 1997, 43). In der feministischen Revision der antiken Codierungen von Form und Materie zeigt sich jedoch, dass die sich auf die antike Philosophie gründende kultur- und diskursgeschichtlich so wirkmächtige Materie-Form-Dichotomie oftmals zu reduktionistisch gedacht wird, denn Materie wird weder von Platon noch von Aristoteles als ausschließlich passiv konzipiert. Bereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 31.01.20 13:18 2.4 Materialität und Geschlecht | 51 Ihr kommt zumindest latent immer auch ein produktives Potenzial, ja sogar eine eigene ‚Bewegung‘ (Platon 1992, 87) zu. Als ‚Zugrundeliegendes‘ (Aristoteles 1987, 49) ist sie zudem für Schaffensprozesse unabdingbar. Für die moderne Verknüpfung von Materialität und Geschlecht wird die philosophische Materie-Form-Dichotomie mit Erkenntnissen der Naturwissenschaften verbunden. Wesentliche Argumente liefert die sich um 1800 formierende Biologie: Ihre ‚Entdeckung‘ des ‚biologischen Geschlechts‘ trägt wesentlich zur Etablierung von Heterosexualität als ‚natürlicher‘ Gesellschaftsordnung bei (vgl. Foucault 1979 [1976]). Untersuchungsgegenstand der modernen Naturwissenschaften ist vor allem der weibliche Körper, der männliche wird tendenziell ‚vergessen‘, mit dem Effekt, dass aus der antiken Analogisierung von Materialität und Weiblichkeit eine Identifizierung und Naturalisierung wird, die sich diskursübergreifend zeigt: Weiblichkeit ist Schwäche, Zartheit, Anmut, Sinnlichkeit und natürliche ‚Fülle des Stoffes‘, Männlichkeit dagegen Verstand, Form, Bestimmtheit, Stärke etc. (vgl. Humboldt 1969 [1795]). Der Mensch wird zu einem ‚Doppelwesen‘, das vollkommene Harmonie aber nur in der Annäherung erreichen kann, da der „Geschlechtscharakter“ wie eine „Schranke“ dazwischen steht (vgl. Humboldt 1969 [1795], 321). Abweichungen von der heterosexuellen Norm werden dementsprechend pathologisiert. Eine Gegenerzählung zu dieser Naturalisierung von Materialität und Weiblichkeit ist jedoch schon im Materialismus des 18. Jahrhunderts angelegt, welcher die moderne, naturwissenschaftlich begründete Annahme, dass alle Bewegung aus der Materie kommt, in ein materialistisches Weltbild und Gesellschaftsmodell überführt (vgl. Köhler 2013, 37−39). Die Konsequenzen, die sich daraus für die Geschlechterordnung ergeben, werden allerdings erst in der Literatur gezogen. Wenn die Bewegung der Materie alles bestimmt – Körper, Geist und Seele –, dann generiert sich die Gesellschafts- und Geschlechterordnung nicht aus Kultur, Moral oder Recht, sondern aus der Materie. Und dies schließt, wie sich in den Skandalromanen des Marquis de Sade Justine oder vom Missgeschick der Tugend und Juliette oder die Vorteile des Lasters (1990−2002 [1787−1797]) zeigt, den menschlichen Geschlechtsakt ein, denn wenn menschliches Begehren als materielles Begehren verstanden wird, ist es nicht mehr an eine Geschlechterdichotomie gebunden. Produktive Materialität: Gegenentwürfe im 20. und 21. Jahrhundert Nach den antiken Texten markiert die Psychoanalyse die zweite große Scharnierstelle, der sich Gender Studies und Feminismus zuwenden. Zentrale KategoBereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 31.01.20 13:18 52 | Sigrid G. Köhler rie ist zunächst jedoch nicht die Materie, sondern das Subjekt, da die psychoanalytische Subjektkonstitution ausgehend von der männlichen (Sexual-)Entwicklung entworfen wird. Im Vergleich zu dieser erweist sich die weibliche ob des fehlenden Gliedes, so die Logik, immer schon als Abweichung bzw. als mit einem Mangel behaftet (Freud 1997). In Lacans poststrukturalistischer Fortführung der Psychoanalyse wird dieser Mangel semiotisch gewendet: Der Phallus ist der privilegierte und privilegierende Signifikant, der die Zeichenökonomie organisiert (vgl. Lacan 1975 [1966], 126−130). Mit dem männlichen ‚PhallusHaben‘ wird die Ermächtigung zur Signifikation dem männlichen Subjekt zugeschlagen; das Weibliche, insofern es der ‚Phallus ist‘, wird zum Material der Repräsentation, über dessen Darstellung sich männliche Subjektivität respektive Autorschaft generiert (vgl. Bronfen 1994 [1992]). Der psychoanalytischen Geschlechterkonstruktion zufolge lässt sich der ‚weibliche Mangel‘ also ‚materiell‘ ausmachen. Kritischer Anhaltspunkt für eine feministische Relektüre ist – neben der anfänglichen Bisexualität des Menschen (Freud) und dem prinzipiellen Fehlgehen jeglicher Selbsterkennung (Lacan) – vor allem die grundsätzliche Produktivität der Materie. Die Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé entwirft schon um 1900 eine Gegenerzählung, in der sie Reproduktion von der biologischen Zellaktivität aus denkt. Andreas-Salomé überschreitet zwar nicht das binäre Geschlechtermodell, aber das Weibliche wird bei ihr zum „Urbild des [menschlichen, SK] Geschlechts“ (Andreas-Salomé 2010 [1899], 119). Es steht am Anfang der Reproduktion, denn es ist die weibliche Zelle, welche zu Beginn „eines der fremden [männlichen, SK] Zellenkörperchen behufs besserer Ergänzung in sich hinein[saugt]“ (Andreas-Salomé 2010 [1899], 96). Feminismus und Gender Studies haben sich die Produktivität der Materialität seit den 1970er Jahren systematisch zu eigen gemacht (vgl. Köhler 2004). Eine Strategie, die vor allem der Differenzfeminismus für die Konzeptualisierung eines spezifisch weiblichen Schreibens genutzt hat, besteht darin, die weibliche Körperlichkeit als etwas zu denken, das im Akt des Schreibens im Sinne einer Materialität der Stimme oder Materialität der Sprache und der Zeichen, als Klang oder Rhythmus spürbar bleibt und deshalb zu einer spezifisch ‚weiblichen Autorschaft‘ (vgl. Rinnert 2001) führt. Die Übergänge zu einem dekonstruktiven Feminismus sind jedoch gleitend. Letzterer hat vor allem zum Ziel, die Verfahren der männlichen Repräsentationslogik zu unterlaufen, etwa indem er die Orte der Materie aufsucht, bevor sie der phallogozentristischen Repräsentationslogik einverleibt werden. Effekt dieses Verfahrens ist nicht nur die Störung und Verweigerung der männlichen Zeichenökonomie, denn in dem Moment, in dem die Materialität der männlichen Repräsentationslogik und Verdinglichung entzogen wird, wird sie in ihrer eigenen produktiven und nicht Bereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 31.01.20 13:18 2.4 Materialität und Geschlecht | 53 zuletzt ästhetischen Dimension sichtbar (vgl. Irigaray 1980 [1974]). Werden Sprechen und Schreiben schließlich insgesamt als ‚materielle (Text-)Praxis‘ begriffen (vgl. Kristeva 1978 [1974]), die unabhängig von der geschlechtlichen Codierung des Körpers immer körperlich bedingt ist und zugleich gesellschaftlichen Regulierungen im Sinne von Materialisierungen unterliegt, dann führt dies schließlich zur Überschreitung von geschlechtlich codierten Konzepten von Autorschaft und Signifikation (vgl. Köhler 2013, 43) wie auch zur Verabschiedung der Vorstellung eines souveränen, körperlosen Subjekts und Autors und in der Folge eines ebensolchen Sprechens und Schreibens. Letzteres ist zwar seit der modernen Krise des Subjekts und der Sprache im Rekurs auf eine materielle Ästhetik in Literatur und Literaturtheorie, nicht zuletzt in der poststrukturalistischen Theorie, immer wieder diskutiert worden, ohne dass jedoch systematisch die sich für die binäre Geschlechterordnung ergebenden Konsequenzen daraus gezogen worden wären (vgl. Metzler 2003). Dies bleibt das Verdienst von Feminismus und Gender Studies. Flankiert und befördert wird die Problematisierung und Überschreitung der Geschlechtercodierung von Form und Materie durch neuere, zum Teil komplementär funktionierende Forschungsansätze (vgl. Bath et al. 2005), etwa zur Intersektionalität, zur Akteurstheorie und zu den Technosciences. Schon in den 1980er Jahren ist gezeigt worden, dass Verfahren des Othering im westlichen Diskurs systematisch der Dichotomie von Materie und Form respektive Geist folgen, dass also nicht nur das Weibliche verdinglicht wird, sondern jegliche ‚Andere‘, die aufgrund von Hautfarbe, Herkunft oder Kultur als solche markiert werden (vgl. Weigel 1990 [1987]). Ausgangspunkt der Akteurstheorie ist die These, dass der Mensch nicht Urheber von Produktions- und Erkenntnisprozessen ist, sondern nur ein Akteur unter anderen, neben den Apparaturen und Dingen, die am Prozess beteiligt sind, und der Sprache und den Medien, in denen sich die Prozesse vermitteln. Aus dieser Perspektive gibt es keine privilegierten Akteure, sondern nur „materiell-semiotische Erzeugungsknoten“ (Haraway 1995 [1983−1989], 96), und auch die Techniken und Praktiken des Hervorbringens sind immer schon ‚materiell-semiotisch‘ bzw. ‚materielldiskursiv‘ zu denken. Bemerkenswerterweise rekurriert auch die jüngere und jüngste feministische Forschung immer noch auf Materialität als zentrale Kategorie (vgl. Alaimo und Hekman 2008). Dies lässt sich wissenschaftsgeschichtlich deuten, aber auch strategisch im Sinne einer gesellschaftskritisch ausgeflaggten Wissenschaftsperspektive. Materialität und damit verbunden der new materialism stellen inzwischen Konzepte dar, unter denen sich interdisziplinäre gesellschaftsund anthropozentrisch-kritisch ausgerichtete Forschungsströmungen wie EcoBereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 31.01.20 13:18 54 | Sigrid G. Köhler criticism, Technosciences, Akteurstheorie, aber auch Gender Studies und Feminismus treffen. Literaturverzeichnis Alaimo, Stracy, Susan Hekman (Hrsg.). Material Feminisms. Bloomington, IN 2008. Andreas-Salomé, Lou. „Der Mensch als Weib. Ein Bild im Umriß“ [1899]. Ideal und Askese. Aufsätze und Essays. Band 2: Philosophie. Hrsg. von Hans-Rüdiger Schwab. Taching am See 2010: 95−129. Aristoteles. Physik. Vorlesung über die Natur. Hamburg 1987. Barad, Karen. Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken. Berlin 2012 [2003]. Bath, Corinna, Yvonne Bauer, Bettina Bock von Wülfingen, Angelika Saupe und Jutta Weber (Hrsg.). Materialität denken. Studien zur technologischen Verkörperung, Hybride Artefakte und posthumane Körper. Bielefeld 2005. Bronfen, Elisabeth. Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. München 1994 [1992]. Butler, Judith. Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt am Main 1997 [1993]. Fausto-Sterling, Anne. Sexing the Body. Gender Politics and the Constructions of Sexuality. New York, NY 2000. Foucault, Michel. Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit Band 1. Frankfurt am Main 1979 [1976]. Freud, Sigmund. „Über die weibliche Sexualität“ [1931]. Sexualleben. Studienausgabe Band 5. Frankfurt am Main 1997: 273−292. Haraway, Donna. Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt am Main, New York, NY 1995 [1983−1989]. Humboldt, Wilhelm von. „Über die männliche und weibliche Form“ [1795]. Werke in fünf Bänden. Band 1: Schriften zur Anthropologie und Geschichte. Darmstadt 1969: 296−336. Irigaray, Luce. Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts. Frankfurt am Main 1980 [1974]. Köhler, Sigrid G. „De-Gendering Materiality. Zu Materialitätsdiskursen und ihrer Rhetorik – und zu materiell-semiotischen Flecken und Agenten“. Prima Materia. Beiträge zur transdisziplinären Materialitätsdebatte. Hrsg. von Sigrid G. Köhler, Jan Christian Metzler und Martina Wagner-Egelhaaf. Königstein im Taunus 2004: 117−146. Köhler, Sigrid G. „Produktivität der Materie“. Materie. Grundlagentexte zur Theoriegeschichte. Hrsg. von Sigrid G. Köhler, Hania Siebenpfeiffer und Martina Wagner-Egelhaaf. Berlin 2013: 31−46. Kristeva, Julia. Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt am Main 1978 [1974]. Lacan, Jacques. „Die Bedeutung des Phallus“ [1966]. Schriften 2. Olten 1975: 119−132. Metzler, Jan Christian. De/Formation. Autorschaft, Körper und Materialität im expressionistischen Jahrzehnt. Bielefeld 2003. Nieberle, Sigrid. Gender Studies und Literatur. Eine Einführung. Darmstadt 2013. Palm, Kerstin. „Gender – eine unbekannte Kategorie in den Naturwissenschaften?“ Gender Studies. Wissenschaftstheorien und Gesellschaftskritik. Hrsg. von Therese Frey Steffen, Caroline Rosenthal und Anke Väth. Würzburg 2004: 97−109. Platon. Timaios. Hamburg 1992. Bereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 31.01.20 13:18 2.4 Materialität und Geschlecht | 55 Rinnert, Andrea. Körper, Weiblichkeit und Autorschaft. Eine Inspektion feministischer Literaturtheorien. Königstein im Taunus 2001. Sade, Donatien Alphonse François de. Justine und Juliette. 10 Bände. München 1990−2002 [1787−1797]. Weigel, Sigrid. „Zum Verhältnis von ‚Wilden‘ und ‚Frauen‘ im Diskurs der Aufklärung“ [1987]. Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur. Reinbek bei Hamburg 1990: 118−148. Bereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 31.01.20 13:18