JAN KEUPP/ROMEDIO SCHMITZ-ESSER (HG.) Neue alte Sachlichkeit Studienbuch Materialität des Mittelalters Jan Thorbecke Verlag Rechtsinstitut. Hospital und Orden von Santo Spirito in Sassia (1198-1378) (Kirchen- und Staatskirchen-recht2). Paderborn u. a. 2004, S. 77 f., sowie jetzt Johhendt, Diener (wie Anm. 25), S. 120 u. 328. 43 Vgl. dazu demnächst Andreas ZAjic/Martin Roland, Les chartes medievales ornees ä de"cor historie dans les pays d'Europe centrale, in: Moyen äge en Images. Les chartes ornees dans l'Europe romane et gothique. Journee d'Stüdes du 15 Mai 2007, Centre historique des Archives nationales, Hotel de Soubise, Paris (Sonderband der Bibliotheque de l'Ecole des Chartes). Eine Abbildung des Berichts des päpstlichen Skriptors Silvester mit der Vera Icon zwischen Petrus und Paulus findet sich bei Gerhard Wolf, Schleier und Spiegel, Traditionen des Christusbildes und die Büdkonzepte der Renaissance. München 2002, S. 380 Abb. 35. Als Beispiel einer avignonesischen Sammelindulgenz, die mit der Veronika/Vera Icon an ihrem Beginn ausgestattet ist, sei auf die Urkunde Wiener Stadt- und Landesarchiv, Hauptarchiv - Urkunden (1177-1526), Signatur 101, vom 30. September 1327 verwiesen, eine digitale Abbildung findet sich bei www.monasterium.net. 44 Zum Motiv der Vera Icon, die auch in der bildenden Kunst ab 1300 verstärkt nachzuweisen ist, vgl. jedoch ohne Bezug zu den Pilgerzeichen Wolf, Schleier (wie Anm. 43), passim. 45 Vgl. zur Verehrung des Schweißtuchs der Veronika im Spätmittelalter und dem damit verknüpften Ablass auch Nikolaus Paulus, Geschichte des Ablasses im Mittelalter, mit einer Einleitung und einer Bibliographie von Thomas Lentes, 3 Bde. Darmstadt 22000, hier Bd. 3, S. 249 f. 46 Vgl. dazu nach wie vor grundlegend ebd., Bd. 2, S. 1-55. 47 Die Häupter dürften 846 vor dem Sarazeneneinfall in Rom im Lateranpalast in Sicherheit gebracht worden sein, sind in der päpstlichen Privatkapelle, der Sancta Sanctorum, jedoch erst seit dem 11. Jahrhundert nachweisbar, vgl. Engelbert Kirschbaum, Die Gräber der Apostelfürsten. St. Peter und St. Paul in Rom. Mit einem Nachtragskapitel von Ernst Dassmann, Frankfurt a. M. 1974, S. 210f. 48 Zu bedenken ist jedoch auch, dass Pilgern im Spätmittelalter gleichsam die populärste Form der Frömmigkeit war, vgl. Schmugge, Motivstrukturen (wie Anm. 7), S. 266. 49 Die Regelungen des Lateranum IV finden sich bei Constitutiones concilii quarti Lateranensis una cum commentariis glossatorum, ed. Antonio Garcia y Gabcla (Monumenta iuris canonici A 2). Cittä del Vaticano 1981; zur Einordnung der Beschlüsse in die kirchliche Rechtsgeschichte vgl. Antonio GarcTa y Gabcia, The Fourth Lateran Council and the Canonists, in: The History of Medieval Canon Law in the Classical Period, 1140-1234. From Gratian to the Decretals of Pope Gregory LX, ed, by. Wilfried Hartmann/ Kenneth Pennington (History of medieval canon law). Washington 2008, S. 367-378. 50 Zur Ausbildung des Thesaurus ecclesiae vgl. Paulus, Geschichte (wie Anm. 45), Bd. 2, S. 141-158; zum Zusammenhang mit den Pilgerfahrten vgl. Schmugge, Motivstrukturen (wie Anm. 7), S. 271 f. 51 Vgl. dazu zusammenfassend Volker Leppin, Frömmigkeit im späten Mittelalter, in: Thomas Kaufmann/Raymund Kottje (Hrsg.), Ökumenische Kirchengeschichte, Bd. 2: Vom Hochmittelalter bis zur frühen Neuzeit. Darmstadt 2008, S. 192-215, hier S. 197-202. 52 Vgl. Scheuer, Andenken (wie Anm. 5),S. 134f.; v. Bredow-Klaus, Heilsrahmen (wie Anm. 11), S. 38 f. 53 Dieser Aspekt bleibt bei v. Bredow-Klaus, Heilsrahmen (wie Anm. 11), S. 37-39 leider unberücksichtigt. 54 Vgl. dazu v. Bredow-Klaus, Heilsrahmen (wie Anm. 11), S. 198-202, die vor allem neue Formen der Gebetsbücher und „den Einfluss nordeuropäischer Humanisten" für das Verschwinden als maßgeblich benennt. 55 Zu den Pilgerreisen als Bußfahrten vgl. Schmugge, Motivstrukturen (wie Anm. 7), S. 265 u. 270-274; ders., Anfänge (wie Anm. 19), S. 79. 56 Vgl. etwa Kurt Koster, Gottsbüren, das „hessische Wilsnack". Geschichte und Kultgeschichte einer mittelalterlichen Heiligblut-Wallfahrt im Spiegel ihrer Pilgerzeichen, in: Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Festgabe für Paul Kirn zum 70. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern. Berlin 1961, S. 198-222, hier S. 217. 57 Zum Aspekt des Prestigegewinns durch die Zurschaustellung von Pilgerzeichen vgl. Scherer, Andenken (wie Anm. 5), S. 133. 58 Vgl. dazu v. Bredow-Klaus, Heilsrahmen (wie Anm. 11), S. 37f. Kostbare Seide als Zeichen rechtmäßiger Gewalt: Das Kölner Stadtbanner MALTE PRIETZEL 1. Die Objekte Im Kölnischen Stadtmuseum werden zwei Fahnen aufbewahrt, die auf den ersten Blick wenig spektakulär aussehen, nämlich so, wie man es von zwei alten Fahnen nun einmal erwartet: verblichen und in Teilen sichtlich rekonstruiert. Lohnt sich hier überhaupt ein näherer Blick? Die besser erhaltene Fahne ist ungefähr zwei Meter hoch und anderthalb Meter breit, wobei der Schwenkel an der Oberkante nicht berücksichtigt ist. Sie be- Abb. 1 Das Kölner Stadtbanner von 1450-75, Kölnisches Stadtmuseum, lnv.-Nr.l888/ll B, Foto: © Rheinisches Bildarchiv. rba_dOl6264 -> 116 117 <- Objektdaten 1. Fahne mit dem Wappen der Stadt Köln Entstehungszeit: 1420-40; stilistisch datiert Maße: 116 cm hoch, 104 cm breit (ohne Schwenkel) Material: Seide, bemalt; restauriert und ergänzt im letzten Viertel des 19, Jh. Kölnisches Stadtmuseum, Inv.-Nr. 1888/10 B 2. Fahne mit dem Wappen der Stadt Köln Entstehungszeit: 1450-75; stilistisch datiert Maße: 204 cm hoch, 164 cm breit (ohne Schwenkel) Material: Seide, bemalt; restauriert und ergänzt im letzten Viertel des 19. Jh. Kölnisches Stadtmuseum, Inv.-Nr. 1888/11 B steht aus bemalter Seide. Beim Bemalen wurde der Seidenstoff mit Farbe getränkt und so eingefärbt. Die Seide weist also nicht nur auf der Oberfläche einen Farbbelag auf, was weitaus weniger haltbar gewesen wäre. Im Mittelalter kam es häufig vor, dass Fahnen aus bemaltem Stoff bestanden, also nicht - wie man denken könnte - aus zusammengenähten, gefärbten Stoffstücken; auch wurden Fahnen nur selten bestickt.1 Der obere Teil des Feldzeichens zeigt auf rotem Grund drei goldene Kronen. Der untere Teil ist weiß. Die Fahne zeigt also das Wappen der Stadt Köln, wie es seit ungefähr 1300 belegt ist.2 Es handelt sich mithin um eine Fahne dieser Stadt. Die Überlieferungsumstände bestätigen dies vollauf. Im Jahr 1875 entdeckte der Dombildhauer Christian Mohr bei seinen Arbeiten im Rathaus in der so genannten Mittwochsrentkammer auf dem Boden einer alten Kiste Reste von Fahnen. Einige dieser Überreste waren so zerfallen, dass sie nicht mehr zu gebrauchen waren. Andere aber restaurierte man - darunter auch die beiden hier angesprochenen Fahnen. Seitdem befinden sich diese im Kölnischen Stadtmuseum.3 Die beschriebenen Umstände der Auffindung verweisen auf grundlegende Probleme der Überlieferung von Fahnen. Das Fahnentuch besteht aus textilem Material, das nicht sonderlich widerstandsfähig ist, weder gegen massive äußere Einwirkungen wie Reißen, Schneiden oder Verbrennen noch gegen den langsamen Verfall im Lauf der Zeit, zumal infolge großer Trockenheit oder Feuchtigkeit. Insbesondere ist fast auszuschließen, dass ein Feldzeichen als Bodenfund zum Objekt für Archäologen wird. Die Chance, dass eine mittelalterliche Fahne bis heute erhalten blieb, ist also minimal. Die Kölner Fahnen stellen daher große Ausnahmefälle dar.4 Wann die Fahnen entstanden, ist aus den Überlieferungsumständen nicht zu entnehmen. Ebenso wenig lässt sich daraus ableiten, ab wann sie nicht mehr benutzt und nur noch aufbewahrt wurden. Auf beide Fragen geben auch schriftliche Quellen, soweit bisher bekannt, keine Antwort. Das schlichte Nicht-mehr-Benut- zen und Weglegen ist ohnehin ein Akt, der kaum schriftlichen Niederschlag gefunden haben dürfte. Die Herstellung einer Fahne könnte grundsätzlich in einer Rechnung vermerkt worden sein. Es ist aber ist ungewiss, ob die entsprechende Rechnung des zuständigen städtischen Amtsträgers erhalten ist. Gerade bei einer guten Überlieferung städtischer Rechnungen dürfte es enorme Arbeit bereiten, darin eine Fahne zu finden, wenn man nicht weiß, wann sie entstanden ist, und daher nicht gezielt die Rechnungen für den betreffenden Zeitraum untersuchen kann. Zudem führt eine Rechnung mit aller Wahrscheinlichkeit nur das auf, was Kosten verursacht hat, also die Material- und die Werkkosten. Falls die Art und die Menge des benötigten Stoffs angegeben ist, könnte man auf die materielle Beschaffenheit und die Größe der Fahne schließen. Die Rechnung könnte sogar vermerken, was auf der Fahne zu sehen war. Ein eindeutiger Nachweis, dass es sich bei der Fahne, welche die Rechnung erwähnt, tatsächlich um das vorliegende Stück handelt, dürfte sich jedoch nicht ergeben. So muss man zur Datierung ganz vom Befund der Fahnen ausgehen, wie es Reiner Dieckhoff tat, indem er stilistische Details der Fahnen mit der Kölner Tafelmalerei des 15. Jahrhunderts verglich.5 Tatsächlich führt die Qualität der Malerei auf dem ersten, besser erhaltenen Banner zu der Annahme, dass hier, wie es in anderen Fällen ausdrücklich belegt ist, Werkstätten guter und mitunter sogar berühmter Maler an Gegenständen gearbeitet haben, deren Bemalung man in der Tradition des 19. Jahrhunderts nicht als Kunst, sondern bestenfalls als Kunsthandwerk verstehen würde, dass sie also z. B. Fahnen oder Dekorationsstücke für Feste bemalt haben.6 Dieckhoff untersuchte die Helme, die auf dem Schwenkel jeweils abwechselnd mit dem Kölner Vollwappen dargestellt sind. Es handelt sich hierbei um Turnier- Abb. 2 Helme auf Schwenkel, Detailaufnahme des Stadtbanners von 1450-75, Kölnisches Stadtmuseum, Inv.-Nr. 1888/n B, Foto: © Raimond Spekking CC-BY-SA-3.0 (via Wikimedia Commons) -» 118 119 ir Abb. 3 Wappen auf Schwenket Detailaufnahme des Stadtbanners von 1450-75, Kölnisches Stadtmuseum, Inv.-Nr. 1888/H Br Foto: © Raimond Spekkirig CC-BY-SA-3.0 (via Wikimedia Commons) helme, die in der Art heraldischer Stücke dargestellt sind, genauer: um so genannte Bügel- oder Spangenhelme, wie sie laut Dieckhoff seit ungefähr 1450 in der Heraldik belegt sind und ungefähr seit den Jahren zwischen 1460 und 1480 in der Kölner Tafelmalerei vorkommen. Außerdem verglich Dieckhoff die Gestaltung der Kronen auf der Fahne stilistisch mit der kölnischen Malerei. Dabei kam er zu dem Schluss, dass die Fahne nach 1450 hergestellt wurde. Aus beiden Erkenntnissen folgerte er, dass diese Fahne zwischen 1450 und 1475 entstand, und zwar wohl eher am Ende dieses Zeitraums. Einen Schritt voran führt es, wenn man den Vergleich mit Tafel-, aber auch mit Buchmalerei weiterführt und nun darauf achtet, wie dort Feldzeichen überhaupt dargestellt sind. Dabei ergibt sich sehr schnell, dass die vorliegende Fahne zu einem bestimmten Typ von Feldzeichen gehörte, die hochrechteckig waren, das Wappen jener Person oder jener Stadt zeigten, deren Fahne sie waren, und überdies oft einen Schwenkel besaßen. Solche Fahnen nannte man Banner.7 Unter anderem mit solcher Terminologie befasst sich die Vexillo-logie, eine Historische Hilfs- oder auch Grundwissenschaft, die allerdings nur selten und dann meist rein antiquarisch betrieben wird.8 Wenn es darum geht, was auf der Fahne abgebildet ist, bewegt man sich selbstredend auf dem Feld der Heraldik. Der Vergleich mit Abbildungen von Bannern auf zeitgenössischen Bildern wie dem berühmten Altar der Stadtpatrone von Stephan Lochner zeigt ferner, dass das Kölner Feldzeichen insgesamt nicht lang genug ist, da es fast eine quadratische Form hat. Dazu passt, dass der untere, weiße Teil insofern zu kurz ist, als Köln Weiß Abb. 4 Krone auf dem Stadtbanner von 1450-75, Kölnisches Stadtmuseum, Inv.-Nr. 1888/11 B, Foto: e Raimond Spekking CC-BY-SA-3.0 (via Wikimedia Commons) Abb. S Stephan Lochner, Anbetung der Könige, um 1440, Altar der Kölner Stadtpatrone, Köln, Dom, Foto: akg-images/De Agostini Picture Lib./E. Lessing (heraldisch korrekt: Silber} unter einem roten Schildhaupt mit drei Kronen führt. Hier aber ist das weiße Feld sogar etwas kürzer als das rote. Es müsste fast doppelt so lang sein, damit das Banner das Kölner Wappen korrekt wiedergäbe. Zugleich entstände so deutlich ein Hochrechteck, wie es bei einem Banner üblich war. Diese Eigenart erklärt sich aus dem schlechten Zustand, in dem sich die Fahne bei ihrer Entdeckung befand. Bei ihrer Restaurierung musste viel rekonstruiert werden. Was den oberen Teil angeht, wurde die rote Farbe hinter den Kronen verstärkt, womöglich ganz erneuert - immerhin entsprach das Ergebnis im Großen und Ganzen gewiss dem ursprünglichen Zustand. Der untere Teil der Fahne wurde vollständig ergänzt, und zwar falsch, nämlich zu kurz. Er ist daher für weitere Überlegungen nur mit Vorsicht zu gebrauchen. Auf dem unteren, weißen Teil des Banners befinden sich heute Wappen, die bei der Restaurierung mit Sicherheit falsch dargestellt wurden, nämlich um 90 Grad zur Fahnenstange gedreht. Es handelt sich um Fantasie-Wappen, die schon im Mittelalter rheinischen Heiligen zugeschrieben wurden, z. B. den Heiligen Drei Königen sowie den Heiligen Gereon, Ursula, Ätherius, Quirin und Antonius. Es ist also nicht völlig auszuschließen, dass sich solche Wappen, freilich richtig herum, ursprünglich tatsächlich auf der Fahne befanden. 120 121 •e- Abb. 6 Das Kölner Stadtbanner von 1420-40, Kölnisches Stadtmuseum, Inv.-Nr. 1888/10 B, Foto: Ulrich Engert 0 ulrichengert.de Eine ganz andere Vermutung legt jedoch ein aufmerksamer Blick auf das heute noch hervorragend erhaltene Stadtbanner von 1723 nahe, denn es drängt sich der Eindruck auf, dass sich die Restauratoren in doppelter Hinsicht davon inspirieren ließen. Zum einen rinden sich an seinem Rand kleinformatige Kölner Stadtwappen, auf deren weißem Feld noch Flächen von einem dunkleren Weißton, vielleicht verstärkt von dünnen schwarzen Linien, zu erkennen sind. Man könnte meinen, hier seien Ornamente angedeutet. Tatsächlich finden sich Ornamente unterschiedlicher Form auf dem silbernen Feld des Kölner Wappens schon seit dem frühen 14. Jahrhundert.9 Zum anderen sind diese Stadtwappen ausgerechnet im Wechsel mit Wappen Kölner Heiliger abgebildet, wie sie sich ähnlich auf dem rekonstruierten weißen Feld des Banners aus dem 15. Jahrhundert befinden.10 Die Untersuchung des Materials der Fahne ist damit streng genommen an ihr Ende gelangt, doch lassen die Überlieferungsumstände weitere Schlüsse zu. In der erwähnten Kiste wurde nämlich unter anderem ein weiteres Banner gefunden, das sich in ähnlicherWeise wie das schon behandelte datieren lässt, und zwar auf die Jahre 1420 bis 1440. Auch dieses zweite, ältere Banner besteht aus bemalter Seide, hat ganz ähnliche Maße wie das soeben besprochene und zeigte ursprünglich das Kölner Wappen. Ferner ist der Schwenkel des älteren Banners wie jener des jünge- ren mit dem Kölner Wappen und mit Helmen verziert." So weitgehende Ähnlichkeiten lassen sich nur durch absichüiches Handeln erklären. Als man die jüngere Fahne herstellte, bemühte man sich also bewusst darum, dass diese der älteren oder einer gemeinsamen Vorlage möglichst weitgehend entsprach, wenn auch mit stilistischen Abweichungen. Leider erlitt das zweite Banner bei der Restaurierung dasselbe Schicksal wie das erste. Auch hier wurde der untere Teil falsch, nämlich zu kurz, rekonstruiert, die Darstellung der Wappen konnte sich ebenso allenfalls auf geringe Reste am Original stützen und die Wappen wurden zur Fahnenstange gedreht. Das Rot im oberen Teil des älteren Feldzeichens war bei seiner Auffindung verblichen und wurde bei der Restaurierung nicht wiederhergestellt. Aus den unmittelbaren materiellen Befunden, die sich bei der Untersuchung der beiden Banner ergaben, lassen sich vorsichtige Schlussfolgerungen ziehen, welche die Materialität betreffen. Beide Fahnen sind aus Seide, mithin aus einem teuren Material, und sie sind aufwendig verziert, sowohl was die Farben - gold und rot - angeht, als auch, was die Arbeitszeit betrifft, welche aufgewendet worden sein muss, obendrein die Arbeitszeit einer Malerwerkstätte, die über ein hohes künstlerisches Niveau verfügte und sich ihre Arbeit wohl teuer bezahlen ließ. Sogar die Kronen und Wappen auf dem Schwenkel wurden sorgfältig ausgeführt, obwohl sie wegen ihrer geringen Größe schon aus wenigen Metern Entfernung, vor allem wenn der Stoff sich bewegte, nicht klar zu erkennen waren. Beide Fahnen sollten also repräsentativ aussehen und zu diesem Zweck war man willens, weitaus mehr Geld für Material und Lohn auszugeben, als nötig gewesen wäre. Trotz des kostbaren Materials und der aufwändigen Gestaltung stellten diese Fahnen wie alle anderen auf Dauer allerdings keinen materiellen Wert dar. Denn der Zerfall zerstörte genau das, was den materiellen Wert der Fahne ausgemacht hatte. Einen stark beschädigten Gegenstand aus Edelmetall könnte man aufbewahrt haben, um das Gold oder Silber zu einem späteren Zeitpunkt einzuschmelzen oder ihn zu diesem Zweck zu veräußern. Bei einer Fahne gab es jedoch keinen praktischen Grund, sie zu verwahren, wenn sie ihren Zweck nicht mehr erfüllte oder unansehnlich geworden war. Warum die beiden Kölner Banner überhaupt erhalten sind, lässt sich zum Teil aus einem bloßen Zufall erklären. Offenbar vergaß man die Fahnen schlicht in der Kiste, ja man beachtete die Kiste gar nicht mehr und warf die Fahnenreste daher nicht weg, als sie völlig unbrauchbar geworden waren. Doch reicht dies allein nicht aus. Denn auffallender Weise wurden in dieser Kiste Fahnen bzw. Reste davon aufbewahrt, die zu unterschiedlichen Zeiten hergestellt worden waren, nämlich vom 15. bis ins frühe 18. Jahrhundert. Es erscheint daher nicht plausibel, dass diese Fahnen gleichzeitig ihren praktischen Nutzen verloren, dann - aus welchen Gründen auch immer - in die Kiste gelegt und vergessen wurden. Die einzig sinnvolle Erklärung für den Überlieferungszusammenhang liegt vielmehr darin, dass die Fahnen offenbar gezielt in der Kiste gesammelt wurden. Ihr materieller Wert kann dafür, wie gesagt, nicht den Ausschlag gegeben haben. Offensichtlich besaßen die Banner -> 122 123 <- aber für diejenigen, die sie aufbewahrten, einen ideellen Wert. Es ging also nicht darum, was sie waren, sondern darum, was sie bedeuteten und in welche Sinnbezüge sie die Zeitgenossen einordneten. Dabei ist angesichts der bisherigen Überlegungen nach zwei Aspekten zu fragen: Was bedeutete ihnen das Banner als solches, und warum bewahrten sie es auf? Auf beide Fragen kann der materielle Befund allein keine Antwort geben. 2. Objektzugang I: Die Signal- und Symbolfunktion mittelalterlicher Fahnen Die bisherigen Überlegungen kamen scheinbar mit jener Gabe zustande, die man gemeinhin als gesunden Menschenverstand zu bezeichnen pflegt. Tatsächlich verlangt einzig die Datierung anhand stilkritischer Vergleiche Fachwissen, dann aber hoch spezialisiertes, nämlich nicht nur hinsichtlich der Methode an sich, sondern auch ganz konkret über die Kölner Malerei des späten Mittelalters. Vieles andere schien hingegen geradezu selbstverständlich. Was Seide, was eine Fahne, was ein Wappen ist, lernt man in jungen Jahren, jedenfalls nicht erst beim Studium eines kulturwissenschaftlichen Fachs, geschweige denn durch eine Spezialisierung innerhalb dieses Fachs. Das - scheinbar - Selbstverständliche stellt jedoch hier, wie stets in den Kulturwissenschaften, eine Gefahr dar. Bedeutete Seide, eine Fahne, ein Wappen jenen Kölnern, die vor über 500 Jahren lebten, wirklich genau dasselbe wie heutigen Angehörigen der westlichen Kultur? Wäre z. B. Seide im 15. Jahrhundert - aus welchen Gründen auch immer - ein billiger Stoff gewesen, wäre die Hypothese, die Kölner Fahnen seien nicht irgendwelche, sondern besonders bedeutungsvolle Feldzeichen gewesen, um ein gewichtiges Argument ärmer. Das scheinbar Selbstverständliche ist also systematisch zu hinterfragen. Anders gesagt: Man muss sich der Grundlagen der eigenen Urteile vergewissern - und das bietet die Chance für weitergehende Erkenntnisse. Eine Fahne hatte eine praktische Funktion: Sie diente größeren Gruppen, insbesondere Truppen, zur Orientierung. Zum Beispiel sammelten sich Soldaten, wenn sich die Ordnung ihrer Einheit aufgelöst hatte, bei der Fahne. In einer Truppe, aber auch in einer Prozession ermöglichte es eine Fahne den weiter hinten Gehenden zu erkennen, wohin sich der Zug bewegte. Ferner konnte man im Kampf Kommandos übermitteln, indem die Fahne z. B. in eine bestimmte Richtung gesenkt wurde. Für diese Aufgaben ist ein Stück Stoff sehr geeignet, denn es lässt sich leicht tragen und weht auch bei schwachem Wind; notfalls kann die Fahne geschwenkt werden, so dass der gleiche Effekt entsteht. Das Wehen der Fahne wird vom menschlichen Auge - wie jede Bewegung - besonders aufmerksam wahrgenommen. Dieser Effekt kann verstärkt werden, indem man auf der Fahnenstange einen Metallgegenstand anbringt, der das Sonnenlicht reflektiert und damit, zumal wenn er bewegt wird, ebenfalls Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dies kann eine Lan- zenspitze, eine kleine Kugel oder ein Adler sein, wie er bei römischen Legionen und dann wieder im Heer Napoleons I. benutzt wurde. Da die Fahne im Kampf für einen Truppenteil eine wichtige Funktion innehatte, lag es im Interesse der Feinde, dafür zu sorgen, dass sie diese Funktion nicht mehr wahrnehmen konnte. Sie versuchten dementsprechend, sie zu erobern oder zu zerstören. Gerade deswegen schützte jede Partei ihr eigenes Feldzeichen in besonderem Maße. Das wiederum führte dazu, dass man in der Eroberung oder Zerstörung der Fahne einen desto größeren Erfolg sehen konnte, ja: einen Beleg des Sieges. Der Ausschaltung des feindlichen Feldzeichens wurde also ein symbolischer Wert beigelegt.12 Auch das Format der Fahne hat zum Teil praktische Gründe. Je größer das TUch, desto größer die Signalwirkung. Wer zu einer zu Fuß kämpfenden Truppe zählt und selbst zu Fuß in das Gefecht zieht, kann ein Feldzeichen, das zugleich sehr hoch und sehr lang ist, ohne Probleme tragen. Ein Berittener hingegen vermag eine solche Fahne nicht sicher zu halten. Ein schmales, langes Feldzeichen lässt sich für ihn besser führen. Bis ins 12. Jahrhundert hinein wurden Fahnen dieses Formats bei Reitern tatsächlich benutzt. Diese so genannten Gonfanons wurden dann durch das hochrechteckige Banner abgelöst, das sich ebenfalls recht gut tragen ließ. Anders als der Gonfanon aber gewährleistete es zusätzlich, dass komplexe Zeichen wie die Wappen, die sich im Lauf eines langen, in Details nicht mehr aufzuklärenden Prozesses im Lauf des 12. Jahrhunderts ausbreiteten, in hinreichender Größe abgebildet werden konnten.13 Im 14. Jahrhundert trat dann neben das Banner wieder ein schmales, langes Feldzeichen, das man dann Standarte nannte. Es zeigte die Devise des Fürsten, zu dessen Truppen die betreffende Einheit zählte, oder desjenigen, der sie kommandierte.14 Bei einer solchen Devise handelte es sich um eine Kombination von Zeichen, die nicht mit dem Wappen des betreffenden Adligen identisch war und die sich zunächst nicht, wie es mittlerweile bei Wappen üblich war, auf Familien bezog, sondern nur auf eine Person.15 Da die Devise nicht so komplex war wie ein Wappen, konnte man sie auf der schmalen Standarte durchaus sinnvoll anbringen. Außer der bloßen Handhabbarkeit spielten für die Form des Feldzeichens also auch kulturspezifische Zeichencodes eine Rolle, die keineswegs selbstverständlich sind. Nicht nur waren Wappen vor dem 12. Jahrhundert unbekannt, vielmehr gibt es bis zum Ende des 11. Jahrhunderts gar kein Anzeichen dafür, dass eine Fahne aufgrund dessen, was man auf ihr sah, als Fahne ihres Besitzers galt. Mitunter zeigten Fahnen zwar figürliche Darstellungen, und plausibler Weise muss man annehmen, dass die mittelalterlichen Zeitgenossen damit etwas assoziierten. Der Rabe z.B., den man am Beginn des 11. Jahrhunderts auf der Fahne Knuts des Großen gesehen haben soll, dürfte auf den Raben Odins zurückzuführen sein.16 Aber der König benutzte diesen Raben offensichtlich nicht dauerhaft als Symbol für sich. Wichtiger noch: Der Rabe stand nicht eindeutig für ihn. Erst das Wappen gewährleistete dann die eindeutige Zuordnung zum Besitzer und zugleich die Reproduzierbarkeit des Zeichens, d. h. die Möglichkeit, dieses Zeichen gleichzeitig in ein-deutigerWeise auf mehreren Gegenständen wiederzugeben. Der im 12. Jahrhundert -> 124 125 <- etablierte Zeichencode der Wappen wird mit Modifikationen nach wie vor benutzt und erscheint daher auch heute noch wie selbstverständlich. Doch im späten Mittelalter waren Fahnen auch in anderer Hinsicht Teil eines Zeichencodes, und zwar eines solchen, der primär auf dem Format des Fahnentuchs und nur sekundär auf dem darauf abgebildeten Zeichen gründete. Wie der Code der Wappen stammte dieser Code aus der adligen Elite, wurde jedoch auch von Menschen verstanden und angewandt, die nicht adlig waren. Nicht jeder Adlige führte ein Banner, sondern nur der Anführer eines Kontingents von 20 bis 25 Panzerreitem, das dann nach seinem Feldzeichen als Banner bezeichnet wurde. Der Anführer hieß dementsprechend Bannerherr und war meist ein hochrangiger oder zumindest wohlhabender Adliger. Das Banner entfaltete er jedoch während eines Kriegszugs nur unmittelbar vor einem Gefecht. Der Ursprung dieser Sitte dürfte darin gelegen haben, dass man versuchte, das kostbare und empfindliche Material zu schonen. Es drängte sich jedoch auf, die pragmatische Handlung symbolisch auszudeuten, nämlich als Zeichen für den Willen zum Kampfund für dessen unmittelbar bevorstehenden Beginn. Für den spätmittelalterlichen Adel Westeuropas drückte die Entfaltung des Banners sogar die Selbstverpflichtung aus, den Kampfplatz nur als Sieger, als Toter oder als Gefangener zu verlassen. Bis zu jenem Moment führte der Bannerherr lediglich einen so genannten Wimpel, der deutlich kleiner als ein Banner und dreieckig war; er zeigte ebenfalls sein Wappen. Auch die einzelnen Adligen, die im Heer dienten, führten einen Wimpel, und zwar mit ihrem eigenen Wappen. Durch die Wappen verwiesen Banner und Wimpel ganz allgemein auf den adligen Stand ihrer Träger und im Speziellen, wenn man das Wappen kannte, auf die jeweiligen Besitzer der Feldzeichen. Damit aber waren die Fahnen auch mit der Ehre ihrer Besitzer verbunden.17 Gegen Ende des 14. Jahrhunderts trat dann die schon erwähnte Standarte auf. Sie fungierte vor allem als Feldzeichen einer Kompanie. Wenn sie die Devise eines Adligen abbildete (und nicht diejenige des Fürsten, in dessen Dienst er stand), dann deswegen, weil dieser Adlige zum Hauptmann der Kompanie ernannt worden war oder die Kompanie selbst aufgestellt hatte. Eine kleine viereckige Fahne, der so genannte Stander, zeigte dasselbe Zeichen wie die Standarte. Der Hauptmann benutzte ihn als alltäglichen Ersatz für die Standarte, also ähnlich, wie ein Bannerherr den Wimpel führte. Auch die Angehörigen der Kompanie führten einen solchen Stander und zeigten damit ihre Zugehörigkeit zu diesem Truppenteil. Diese neueren Feldzeichen verwiesen also nicht mehr auf den adligen Stand ihrer Träger, sondern auf ihre Stellung im Heer. Damit reflektierten sie Veränderungen im Staat und im Heerwesen, die zur stärkeren Unterordnung der Adligen unter die Monarchen der westeuropäischen Monarchien geführt hatten.18 Dieser Code stammte, wie gesagt, aus dem adligen Kriegswesen Westeuropas. Bei den Fahnen von Städten spielte naheliegender Weise die Demonstration adligen Ranges keine Rolle. Doch die Einteilung in Banner und Wimpel hatten die Kommunen weitgehend übernommen. Außerdem stellten die Fahnen für sie Symbole ihrer Wehrhaftigkeit und damit ihrer Ehre dar, schon deswegen, weil auch ihre adligen Gegner dies so auffassten. Einen frühen und berühmten Beleg dafür bietet die Stadt Mailand, die 1162 nach einem erfolglosen Aufstand gegen Kaiser Friedrich I. Barbarossa in einer demütigenden Unterwerfungszeremonie nicht nur ihren Carroccio ausliefern musste, d. h. einen großen Wagen mit verstärkten Außenwänden, auf dem vor dem Kampf ein Fahnenmast errichtet wurde, sondern auch ihre Feldzeichen; bei diesen handelte es sich nicht nur um jene der gesamten Bürgerschaft, sondern auch um jene der Stadtquartiere.19 Ebenso musste die Stadt Gent 1453 nach einer gescheiterten Rebellion die Banner ihrer Gilden ihrem siegreichen Herrn, Herzog Philipp dem Guten von Burgund, übergeben.20 Diese Beispiele verweisen zugleich darauf, dass es in einer Kommune des späteren Mittelalters außer den Fahnen der Stadt auch jene einzelner Bürgergruppen gab, wobei diese Gruppen miteinander um Macht und Ansehen konkurrierten. Die Vielzahl und die Konkurrenz der Fahnen steigerten das Bewusstsein für ihren symbolischen Gehalt. Auch in Köln belegen Schriftquellen, dass es schon um 1390 acht Wimpel für das städtische Aufgebot gab, die acht Ratsherren anvertraut waren, und einige Jahre später sind Banner und Wimpel der einzelnen Gaffeln erwähnt.21 Diese letztgenannten Fahnen müssen jedoch, damit man sie unterscheiden konnte, nicht nur das Stadtwappen gezeigt haben, sondern auch ein weiteres Zeichen, das auf die jeweilige Gaffel hinwies. Da auf den beiden erhaltenen Bannern nur das Stadtwappen abgebildet ist, können sie nicht für eine Gaffel oder eine Zunft, sondern müssen für die Stadt als Ganze gestanden haben und dem gesamten städtischen Aufgebot zugeordnet gewesen sein. Sie waren daher im vollen Wortsinn Stadtbanner. Tatsächlich ist für das Jahr 1396 ein solches Banner genannt, unter dem sich insbesondere die Ratsherren sammeln sollten.22 Die Hinterfragung des scheinbar Selbstverständlichen hat also im Fall der Kölner Banner die bisherigen Überlegungen nicht nur bestätigt, sondern deutlich bekräftigt: Ein Banner war nicht irgendeine Fahne. Ihm kam unter den Feldzeichen einer Stadt der höchste Rang zu. Das könnte erklären, warum es sich dann, wenn man eine Fahne aufhob, ausgerechnet um ein Banner handelte. Aber es erklärt nicht, warum die Kölner überhaupt eine Fahne, geschweige denn diese Banner aufbewahrten. 3. Objektzugang II: Die Erhaltung als Argument Eine weitere Möglichkeit, sich daran anzunähern, was den mittelalterlichen Kölnern ihre Banner bedeuteten, besteht darin, nicht davon auszugehen, was das Banner war, sondern zu erklären, warum es erhalten ist, d. h. warum im Kölner Rathaus offenbar alte, unbrauchbare Fahnen aufbewahrt wurden. Es gilt also zu untersuchen, unter welchen Umständen Fahnen tatsächlich erhalten sind. Außergewöhnlich viele Fahnen aus dem späten Mittelalter sind In der Schweiz erhalten. Fast immer handelt es sich dabei um Trophäen, also um Feldzeichen, welche die Truppen der eidgenössischen Orte ihren Feinden im Kampf abnahmen und ^ 126 127 die dann in der jeweiligen Stadt, genauer: in der bedeutendsten Kirche der Stadt, als Trophäen aufbewahrt und zur Schau gestellt wurden. Am bekanntesten dürften die Fahnen aus der so genannten Burgunderbeute der 1470er Jahre sein.23 Diese Praxis gründet auf dem Umstand, dass es sich hier um Kommunen handelte. Als politische Gebilde, die nur aufgrund des Willens ihrer Mitglieder, nicht durch hierarchische oder biologische Bindungen bestanden, waren sie - wie alle Städte in Europa - gezwungen, diese Gemeinschaft immer wieder zu bestätigen, insbesondere durch die Berufung auf eine gemeinsame Geschichte und auf Symbole wie das Rathaus, die Stadtglocke - oder Trophäen. In der Eidgenossenschaft war die Wertschätzung von Beutefahnen besonders groß, es entstand sogar ein regelrechter Trophäenkult. Denn hier standen sich lange Zeit Kommunen kriegerisch gegenüber, die derselben symbolischen Logik gehorchten und sich daher in ihren Reaktionen und Deutungen gegenseitig verstärkten.24 In adligen Familien und in der von Adligen dominierten Kriegführung, insbesondere der westeuropäischen Monarchien, wurden kaum Trophäen gesammelt und schon gar nicht auf längere Zeit öffentlich präsentiert aufbewahrt. Dies hängt erstens sicherlich damit zusammen, dass eine Fahne bis in das 14. Jahrhundert hinein stets das Wappen eines Adligen zeigte und daher mit dessen Ehre verbunden war. Siegreiche Adlige aber dürften bestrebt gewesen sein, die Ehre des unterlegenen Standesgenossen nicht auf Dauer zu kränken, weil sie selbst ihre Ehre nicht verletzt sehen wollten und weil ihnen der Respekt vor der Ehre des Standesgleichen ihrerseits Ehre eintrug. Zweitens stellten Adlige, gerade weil mit dem Feldzeichen und dem darauf abgebildeten Wappen die Ehre seines Besitzers verknüpft war, durchaus in Kirchen Fahnen zur Schau, aber in ganz anderer Weise. Nicht eine Trophäe, sondern das Banner eines verstorbenen Adligen wurde zusammen mit seinen Waffen und Teilen seiner Rüstung, insbesondere dem Helm mit der Helmzier, oft an seinem Grabmal aufgehängt, um vom adligen Rang des dort Ruhenden zu künden. Drittens verwies die eroberte Fahne eines Adligen, der im Heer eines Königs oder Fürsten gefochten haben mochte, durch das, was man auf ihr sah, nur auf ihren ehemaligen Besitzer, nicht aber auf das Heer, in dem er gekämpft hatte, und damit nicht unmittelbar auf den Konflikt. Mit dem Feldzeichen war insofern die individuelle Erinnerung dessen verknüpft, der es erobert hatte, aber nicht diejenige eines ganzen Heeres. Viertens und vor allem aber fehlte die soziale Gruppe, die der Trophäen bedurfte, um sich mit deren Hilfe ihres Zusammenhalts in der Vergangenheit und in der Zukunft zu versichern. Die adlige oder fürstliche Familie verfügte dazu über den biologischen Zusammenhalt, auch wenn dieser stets durch soziale Praktiken aktualisiert werden musste. Die Bindung gegenüber Vasallen bestätigten die Lehnsmutung sowie in vielen Fällen das gemeinsame Leben am Hof. Das Verhältnis zu den nicht-adligen Untertanen wurde ebenfalls durch Rituale wie die Huldigung erneuert.25 Das Beispiel der Schweizer Eidgenossenschaft verweist also, zumal in Gegenüberstellung mit der adligen Praxis, mit Nachdruck darauf, dass Fahnen für mittelalterliche Kommunen eine große Bedeutung besaßen. Dies bestärkt die Vermu- tung, dass die Kölner Banner aus besonderen Gründen aufgehoben wurden. Doch die erhaltenen Fahnen in der Schweiz sind die Fahnen ehemaliger Feinde - in Köln bewahrte man die eigenen Banner auf. Beispiele dafür, dass dies andernorts auch geschah, sind rar. Eines davon stellt das Würzburger Kiliansbanner dar, das heute im Mainfränkischen Museum auf der Festung Marienberg hoch über der Stadt Würzburg aufbewahrt wird. Es handelt sich um ein sehr großes, nämlich fast fünf Meter hohes und drei Meter breites Banner, das den heiligen Kilian zeigt, den Patron des Würzburger Doms wie der ganzen Diözese. Am 8. August 1266, dem Tag des hl. Cyriakus, schlug ein Aufgebot aus dem Hochstift Würzburg, dem wahrscheinlich auch städtische Truppen der Stadt Würzburg angehörten, bei Kitzingen ein Heer unter der Führung des Grafen von Henneberg, der eine Vakanz des Bischofsstuhls zur Stärkung seiner Machtposition auszunutzen suchte. In dieser Schlacht führte das siegreiche Heer einen Carroccio mit. Wahrscheinlich handelt es sich bei jenem heute noch erhaltenen Banner um jenes, das in der Schlacht an seinem Mast wehte. Seit 1314 ist belegt, dass das Domkapitel am Jahrestag der Schlacht eine Prozession durch die Stadt veranstaltete. Einige Jahrzehnte später ist dann erwähnt, dass an diesem Tag das Banner, unter dem die Sieger in die Schlacht gezogen seien, also wohl das noch heute bewahrte Feldzeichen, im Dom aufgehängt worden sei.26 Das Würzburger Beispiel belegt wiederum auf sehr anschauliche Weise, dass einer Fahne eine große symbolische Bedeutung beigemessen werden konnte. Doch die Kölner Banner stellen mit Sicherheit keine Parallelfälle dar, denn sie können keine Symbole für einen militärischen Sieg sein. In diesem Fall wäre die Einzigartigkeit des Banners von größter Bedeutung gewesen. Es hätte sich um genau jenes Banner handeln müssen, unter dem die städtischen Truppen in die siegreiche Schlacht gezogen waren. Das ist jedoch insofern nicht plausibel, gerade weil es zwei ähnliche Banner gibt. Auszuschließen ist auch, dass es sich um zwei Banner aus zwei siegreichen Schlachten handelt, denn allenfalls ein einziger militärischer Triumph der Stadt Köln, dem man eine solche Wichtigkeit hätte zuschreiben können, ist im 15. Jahrhundert auszumachen: die Beendigung der Belagerung von Neuss 1475, zu deren Gedenken der Rat sieben Jahre später eine Prozession und eine Seelmesse stiftete.27 Doch wäre ein solches Siegessymbol nicht in einer Kiste aufbewahrt, sondern öffentlich zur Schau gestellt worden - auf Dauer in einer Kirche oder bei bestimmten Anlässen, etwa während einer Prozession. Dafür aber fehlt jeder Beleg. Das Kiliansbanner könnte jedoch in anderer Hinsicht weiterführen. Im Jahr 1266 und auch später zogen die Würzburger unter einer Fahne in den Kampf, die den Patron ihrer Kathedrale zeigte und die zumindest nach dem Sieg von 1266 tatsächlich im Dom aufbewahrt wurde. Das Banner war also in doppelter Hinsicht dasjenige des hl. Kilian: erstens, weil es ihn zeigte, und zweitens, weil es ihm gehörte und in dem ihm geweihten Dom aufbewahrt, dort vor dem Abmarsch abgeholt und dorthin nach der Rückkehr des Aufgebots zurückgebracht wurde. Durch diese Praxis fochten die Würzburger unter dem Schutz des Heiligen und in seinem Namen. Ganz ähnlich handelten die Lütticher mit dem Lambertus-Banner, das dem -> 128 129 130 131 134 135