Mutters Courage Deutsch von Ursula Grützmachcr-Tabori 286 Mutters Courage Mutters Courage 2k7 Personen sohn mutter frau des hausmeisters 1. polizist: klai'ka 2. Polizist: IG! "in verschiedene stimmen deutscher offizier liebhaber kelemen ROTZGESICH1 soldat onkel julius martha J l. Szene söhn Eines Sommertages im Jahre '44, einem hervorragenden Hnitej.ihi riir den Tod, zog nieine Mutter ihr gutes Schwarzes mit dem Spitzenkragen an, das sie, wie es sich für eine Dame geziemt, zur wöchentlichen Rommerunde bei ihrer Schwester Martha zu tragen pflegte. Es war halb elf Uhr morgens, ach, diese kleinen Bemühungen um Genauigkeit, sie setzte auch ihren guten schwarzen Hut auf, den mit Wachsblumen an der Krempe, und zog ein Paar weiße Handschuhe an, die am linken Daumen geflickt waren, Gott steckt im Detail. Mutter Wachsblumen an der Krempe? söhn Korrigier mich, wenn ich was Falsches sage. mutier An Wachsblumen an der Krempe kann ich mich nicht erinnern, Pause Schwarzer Strohhut mit weißem Seidenband. söhn »Wachsblumen an der Krempe« klingt besser. mutier Ja, mein Schatz, das stimmt. söhn Da stand sie also, betrachtete sich im Spiegel mit ihren unvergleichlich blauen Augen — mutter protestiert Na, na, na, na, na, 11.1. söhn — die ihr an jenem Tag das Leben retten sollten, und gab einen Seufzer von sich, wie es ihre Gewohnheit war, mach ihn uns mal vor, diesen berühmten Seufzer. A Iiitier seufzt willig. Es gab immer Anlaß zum Seufzen — Muticr seufzt weiter. — Schulden, Masern, Treulosigkeiten, die Bronchitis einer Cousine, ein angebrannter Braten, die Abwesenheit beider Söhne. Dieses Mal jedoch hatte sie einen triftigeren Grund zum Seufzen: Man hatte ihren Mann, 288 Mutters Courage Mutters Courage 289 Mutter hört auf zu seufzen. der zugleich mein Vater war, vor kurzem verhaftet, weil er war, was er war: Jude und reformierter Marxist; ein Mann zwischen den Stühlen, könnte man sagen, den man vor sechs Wochen in ein Gefängnis gesteckt hatte, das provisorisch in einer Mädchenschule untergebracht war. Unser Faschismus (nein, der ihrige!) war der des kleinen Mannes, recht schäbig im Vergleich zum benachbarten Pomp, die grünen Hemden der einheimischen Rohlinge waren schmierig am Kragen, ihre Stiefel ungewichst, und ihre Gewehre hatten häufig Ladehemmung, wenn sie in die Nak-ken ihrer Opfer gerammt wurden. mutter Usicky zum Beispiel trug zwei verschiedene Stiefel, einen braunen und einen schwarzen, als er deinen Vater mit einem Tritt die Treppe hinunterbeförderte. söhn Nachdem sie geseufzt und sich eine Haarsträhne aus den Augen gepustet hatte - eine andere ihrer Angewohnheiten -, packte meine Mutter ihre Handtasche mit den üblichen Utensilien: ihren Schlüsseln, einem Taschentuch, einem Pomade-stift, einem Foto ihrer beiden Söhne im Exil, das die beiden grinsend unter einem Mandelbäumchen in einem Londoner Hinterhof zeigte, eine Postkarte von ihrem Mann aus dem Gefängnis, auf der er um frische Unterwäsche und die >Pen-secs< von Pascal bat, zehn Pengö für den Fall, daß sie im Romme verlieren sollte, und einen Apfel für den Notfall. Mutter Einen Apfel, ich, mit meinen schlechten Zähnen? söhn Korrigier mich, wenn ich was Falsches sage. Mutter Es waren wohl eher Pflaumen: Hie waren süß in jenem Jahr. söhn Dann ging sie still durch die Hintertür hinaus, um den Csibotniks aus dem Wege zu gehen, einer fischgesichtigen Nazifamilie, die auf Regierungsbeschluß drei der vier Zimmer unserer Wohnung besetzt hielt, inklusive des Jungenzimmers im hinteren Teil, wo ich an die pummelige Frau eines Saxophonisten meine Unschuld verloren hatte. »Menschen dieser Sorte«, hatte Csibotnik bei seiner Ankunft erklärt, als er und seine Fischbrut plump um Kisten und Koffer herum- standen, »verdienen solchen Luxus nicht.« Er meinte damit die Geräumigkeit der Wohnung, nicht meine Einführung in das Manncstum. Seine Frau zeigte manchmal, obwohl sie glaubte, daß Juden mit Vorliebe das Blut von Christenbabies trinken, kleine Zeichen von Nächstenliebe und stellte ein Töpfchen Gänseschmalz oder ein paar Äpfel vor die Tür meiner Mutter. Mutter Pflaumen. Em Klarier ist zu hören. Was ist das? söhn Eine bescheidene musikalische Einlage. Das Klavier, jetzt lauter, spielt ein Kunstlied. mutter Ah! söhn Das Klavier, das im konfiszierten Teil der Wohnung verblieben war, wurde von den Csibotniks als Lager für Lebcns-mittelkonserven benutzt - meiner Mutter hatte es, solange ich denken kann, gedient, um Liebe und Hoffnung auszudrük-ken. Korrigier mich, wenn ich was Falsches sage, Mutter, aber in all den Jahren, die wir zusammenlebten, lerntest du nur zögernd eine einzige Melodie spielen, eine deutsche, als letztes erinnere ich mich an eine Ein-Finger-Übung in der Dämmerung. Ein-Vinger-Übung ist zu hören, und die Mutter singt dazu. Wenn es Aufregungen gab, zum Beispiel wenn ich Scharlach hatte oder dein Mann halberfroren von Kriegsschauplätzen nach Hause kam, dann hast du manchmal diese deutsche Melodie gesungen, ohne Begleitung - -Mutter singt. - - und meine Hand gehalten oder die seine, bis du eines Tages, ich glaube, es war der Tag, als du den gelben Stern auf die Brust deines guten schwarzen Mantels heftetest, für immer damit aufhörtest. Mutter hört auf zu singen. Als sie hinaustrat in die Sonne auf den offenen Gang, der den Hof des Mietshauses umschloß, war sie sich der Augen bewußt, die sie geschützt hinter Vorhängen anstarrten und immer noch ihre amtlich verordnete Verwandlung von der 290 Mutten Courage »lieben Nachbarin« in die »Saujüdin« mit Neugier verfolgten. Die einzige, die ihrem Haß in Worten freien Lauf ließ, war die Frau des Hausmeisters, eine froschäugige Person, die aus der Düsternis ihrer Pfortnerloge modische Beschimpfungen herausquakte wie »Kommunistenhure« oder »Judensau«. Die Reaktion meiner Mutter beschränkte sich auf einen semitischen Seufzer, als wollte sie sagen: »Nun ja, was hast du denn erwartet?« oder »Das ist der Lauf der Welt!« Verwünschungen folgten ihr auf die Straße wie üble Dünste — frau dbs hausmeisters »Ju-dcil-sau!« Hin schwaches, aber anhaltendes Echo sühn--und lösten sich in der Sonne auf. Sie blieb einen Augenblick stehen, um den Sommer auf ihrem Gesicht zu spüren, und ging dann weiter, vorbei am Lebensinittelhändler, der ihr nicht länger mehr durch das Fenster zuwinkte, am Friseur, wo ich meinen ersten fachmännischen Haarschnitt verpaßt bekommen hatte, und am Tuchladen, der jetzt verrammelt war, denn auch sein Besitzer war kürzlich verhaftet worden. Als sie den Rasenflecken am Cafe Baross überquerte, in dem ich einst Jünglingstränen in den Samtschoß meiner ersten Liebe vergossen hatte, folgten ihr zwei Polizisten, die ihr der Friseur nachgeschickt hatte. »Tabori?« sagte einer von ihnen unter Weglassung der Anrede, als wolle er damit seine Autorität bekunden. mutier Ja. 1. Polizist Folgen Sie uns unauffällig. muttbb mit ungespieltem Erstaunen Ist was passiert? 2. polizist Sie sind verhattet. Mutter Ja aber - warum? i. polizist Ja aber-warum? Sie werden deportiert. söhn »Jetzt?« fragte meine Mutter und drückte damit die Absurdität aller Verhaftungen aus, insbesondere dieser hier, an einem sonnigen Tage, auf dem Wege zu einem wöchentlichen Rommespiel, i. Polizist Ja, jetzt. MUTTER zu sich Na ja, was hast du denn erwartet? sohn So waren sie damals in meiner Heimatstadt: Juden und Mutters Courage 291 Nicht-Juden einer wie der andere, Menschen, die ihr Verhängnis mit Gleichmut hinnahmen; für Entsetzen oder Empörung war kein Platz, nicht nach so vielen sonnigen Tagen des Schreckens, i. Polizist Das ist der Lauf der Welt. sohn So standen die drei einen Moment lang in der Sonne und vermieden es, sich anzusehen. Klapka und Iglodi, die beiden Polizisten, waren in den Siebzigern, kürzlich wieder eingezogen aus dem Ruhestand, denn ihr Faschismus (nein, der uns-rige!) litt unter Personalmangel und war unruhig geworden, weil es mehr Juden, Kommunisten, Liberale, Schwule und »andere Kriminelle« gab als Polizisten. Diese beiden hätte man nie in den Polizeidienst zurückbeordern sollen. Klapka hatte Asthma und Iglodi die Gicht; außerdem waren sie nie sehr gute Polizisten gewesen: Klapka hatte mehrere leichte Festnahmen verpatzt, und Iglodi hatte sich beim Durchwalken einer halbwüchsigen Kommunistin den Daumen gebrochen, was ihn zur Spottfigur seiner Einheit machte. Sie keuchten, rochen nach Mottenkugeln und waren ausstaffiert wie Gesetzeshüter der Jahrhundertwende, mit Melone, schweren Spazierstöcken und geschwungenen Schnurrbarte!), die wie der des alten Kaisers zu feinen Spitzen hochgezwirbelt waren. So standen sie einige Sekunden lang, ohne ein Wort zu sagen. Schließlich sah sich meine Mutter nach dem Polizeiwagen um, aber es war keiner zu sehen: Klapka und Iglodi, von meiner Mutter ganz zu schweigen, waren zu unbedeutend für solchen Luxus, also eskortierten sie sie zur Straßenbahnhaltestelle, zur Nummer sechs, die sie zum Westbahnhof bringen sollte, wo schon einige zwanzig Viehwagen an einen Zug angehängt worden waren, um viertausend Deportierte unterzubringen. Am Himmel kein Wölkchen. Mutter Ach ja, das Wetter. söhn Die Straßenbahn war überfüllt, und niemand stieg aus. Die Polizisten, unschlüssig, wie sie sich gleichzeitig unauffällig und energisch verhalten sollten, starrten die Schaffnerin an, die lässig in der Tür lehnte. »Zurücktreten!« sagte Klapka, 292 Mutters Courage Mutters Courage 29.1 nicht sehr laut. »Zurücktreten wohin?« fragte die Schaffnerin und rührte sich nicht, bis meine Mutter mit ihren unvergleichlich blauen Augen zu ihr aufsah. Daraufhin schubste die Schaffnerin die Fahrgäste mit ihren Hüften zusammen, bis sich eine Lücke auftat, und half meiner Mutter das Trittbrett hinauf. Sic preßte sich zwischen die wie in einem senkrechten Massengrab steif ineinander verkeilte Menge. Klapka, der nach Luft schnappte, ahnte Unheil. Iglödi, der den Spott seiner Kollegen nie verwunden hatte, beschoß, alle Anweisungen, sich unauffällig zu verhalten, in den Wind zu schlagen, fummelte in seinen Taschen herum und holte Handschellen hervor, sein Identitätszeichen sozusagen, und sagte nach einer Weile: »Staatspolizei«, aber die Schaffnerin hatte schon abgeläutet, und die Straßenbahn setzte sich in Bewegung. Iglödi rasselte mit den Handschellen, setzte einen schweren Fuß auf das Trittbrett und prallte gegen einen Laternenmast; Klapka, der hinter der Straßenbahn hertrabte, streckte das gebogene Ende seines Stockes aus, meine Mutter, die es nie fertigbrachte, eine hilfreiche Hand zu versagen, packte den Stock; die Straßenbahn beschleunigte die Fahrt; Klapkas Hut flog davon, er ließ den Stock fahren und rief, keuchend vor Asthma, wie ein schmachtender ältlicher Liebhaber ihr nach: i. Polizist Warten Sie an der nächsten Station! söhn Den Stock des Polizisten hoch in die Luft haltend, drehte meine Mutter sich ratsuchend zu den Leuten um. Die saßen steif, gleichgültig, tückisch, wandten die Augen ab, schielten auf den Boden oder sahen durch sie hindurch, als sei sie aus Glas; die Worte »Staatspolizei« hatten sie zu einer Art Aussätzigen gemacht. Es stimmt, niemand versuchte, sie von der Straßenbahn zu stoßen, aber sie war eine Unreire geworden oder, was schlimmer war, unsichtbar. Nur die Schaffnerin rührte sich endlich und reichte ihr, ohne eine Anweisung abzuwarten, eine Fahrkarte und sagte träge: »Hüvösvölgy«, so hieß die Endstation, und meiner Mutter wurde klar, daß ihr soeben eine Gratis-Einladung zur Flucht überreicht worden war: Statt an der nächsten Haltestelle auf ihre bejahrten Verfolger zu warten, war es ihr überlassen, weiterzufahren und unterzutauchen. Aber wie taucht man unter im Alter von sechzig, wenn man eine Dame im guten Schwarzen ist, mit einem guten schwarzen Hut mit Wachsblumen an der Krempe, und wo? In den Hügeln? Unter einer Brücke? Bei ihrer Schwester, wo sie, schnell ausfindig gemacht, noch mehr Unschuldige hineinziehen würde? Ein Großteil der Familie war schon in alle Winde zerstreut oder deportiert; einige, wie Cousine Clara und ihr zuckerkrankes Kind, waren schon in Rauch aufgegangen über Polen. Meine Mutter hatte es aufgegeben, ihre arischen Freunde um Hilfe anzugehen; seit der Festnahme ihres Mannes hatten sie in ihren Augen aufgehört, Freunde zu sein, sie waren unrein geworden, Komplizen der Greueltat an jenem Dienstagmorgen, als man ihrem Mann den Arm auf dem Rücken verrenkte - die goldgefaßte Brille hing ihm an einem Ohr herunter-, ihn aus dem Schlafzimmer führte, wo ich geboren wurde, und die Treppe hinunterstieß. »Kein Grund zur Sorge«, sagte er nur, eine sowohl heroische wie törichte Bemerkung. Mutter Das war nicht alles, was er gesagt hat. söhn Korrigier mich, wenn ich was Falsches sage. Mutter Er sagte noch Ein länger Ausruf» Elsa - a - a---!« söhn Elsa-a-a—? Mutter Nein. Wieeiti Kind. Pause söhn Peinlich, was? Mutter Mir nicht. söhn Die Schaffnerin pfiff einen Schlager, während sie sich den Weg durch die Leiber bahnte. Man hört die Schaffnerin eine Melodie pfeifen. Meine Mutter stand da, die Fahrkarte in der einen Hand, den , Stock in der anderen, wie gelähmt durch das, was ihr Mann die Inkompetenz des Guten genannt hätte. Ein Abenteuer war durchzustehen, das List und Stärke erfordern würde, aber meine Mutter hatte noch nie ein Abenteuer gehabt, abgesehen von dem einen mit ihrem »güldenen Liebhaber«, wie sie den Kavallerieleutnant nannte, der sie Jahre vor ihrer Hochzeit, nach einem Tanz, auf das Augenlid geküßt hatte. 294 Mutten Coutage Mutters Courage 295 Mutter Und auf den Mund. sohn Oh. Mutter Auf den offenen Mund. söhn Ihr Leben lang, schon als Kind, war sie eine Mutter gewesen-ach ja, mit welchem Heiligenschein Kinder ihre Eltern umgeben! -, die dafür sorgte, daß die Wohnung warm, der Kaffee stark, der Braten zart, die Jungen anständig angezogen waren, aber diese Fertigkeiten hatten wenig Wert hier, wo sie ein Lenin hätte sein müssen oder besser noch ihr Idol Douglas Fairbanks, der sich als >Dicb von Bagdad« von Dach zu Dach schwingen und mit einer Horde von Ganoven fechten konnte. Und so sagte sie an der nächsten Haltestelle zu den stumpf vor sich hinstarrenden Mitfahrern »Bis bald« und stieg aus, um unter der Normaluhr, dem Treffpunkt der Liebespaare, auf die Polizisten zu warten. Sie kamen mit der nächsten Straßenbahn, im sicheren Glauben, daß sie untergetaucht sei. »Das war sehr gescheit von Ihnen«, sagte Klapka und legte ihr Handschellen an. »Sagen Sie«, fragte meine Mutter-die Beachtung, die sie unter der Normaluhr fanden, war ihr peinlich - »wohin bringen Sie mich eigentlich?« 1. Polizist Nach Auschwitz. mutter Wohin? 2. Polizist ein Witz Zur jüdischen Bäckerei. MUTTER Oll. 2. Szene Geräusch entweichenden Lokomotirendampfes söhn Unter dem riesigen gläsernen Dom des Westbahnhots, unter einem Geflecht von Sonnenstrahlen, wie man es sonst in Kathedralen sieht, wurde meine Mutter einem hysterischen Massenballett übergeben, dessen Choreograph, ein deutscher Offizier, ganz unangebracht in einem Sessel aus Plüsch saß, ein Buch las und dem Stümpertum seiner Vasallen kein Auge gönnte: Grünhemden, Polizisten, Geheimpolizi- sten und Eisenbahner versuchten verzweifelt, den Exodus zu organisieren. Die Deportierten, die man - wie meine Mutter-aus irgendeiner gesegneten banalen Verrichtung gerissen hatte, fanden sich in einen kakophonischen Alptraum versetzt, von dem sie seit geraumer Zeit heimgesucht worden waren. Im Hintergrund ein Wirrwarr von zusammenhanglosen, lauter werdenden Stimmen Da war zum Beispiel der Schächtcr mit noch blutigem Messer; eine Gruppe von Schulmädchen in Turnhosen und Spikes, die man aus einer Sportstunde geholt hatte; ein junger Mann im Schlafanzug, den Mund mit Zahnpasta gerändert; vier oder fünf Patienten in den verschlossenen Anzügen einer Irrenanstalt; ein Rabbiner mit Butterbrot und ohne Schuhe. Nachdem sie den ersten Schock überwunden hatten, brachten sie ihre Peiniger mit Bitten und Fragen zur Verzweiflung, die verrückt klangen, weil sie so normal waren. Die Ordner rannten auf dem Bahnsteig hin und her und versuchten, die Menge in eine ordentliche Reihe zu schieben, zu stoßen und zu treten, um sie dann in die Viehwagen pressen zu können, deren Seitenplanken schon heruntergelassen waren. stimmen Ach bitte, dürfte ich wohl mal telefonieren, um meiner Frau Bescheid zu sagen? Kommt nicht in Frage. Wo könnte ich wohl Tee kriegen für die Thermosflasche? Keine Ahnung. Wissen Sie, wie lange es ungefähr dauert, bis wir da sind? Nein. Ach, hätten Sie bitte einen Bleistift? Immer einer nach dem anderen, ihr Ratten. Würden Sie wohl so nett sein und diesen Brief an den Oberrabbiner von New York einstecken? Leck mich. Gibt es einen Speisewagen im Zug? Nicht so laut, du Hundsfott. Könnten Sie mir bitte Ihren Hut leihen, damit ich beten kann? Jemand schreit. Schnauze! Schnauze! Schnauze! 29f> Mutters Courage Mutters Courage Jemand schreit. Ich bin kein Jude! Die Stimmen schwellen an zu einem schrillen Crescendo von Schreien, Brüllen, Bellen, vermischt mit dem hysterischen »Schnauze! Schnauze! Schnauze!«. Dann ist ein Schuß zu hören. im 11 [ si Min oi ii/ii h Ruhe! Sfi7/c söhn Da war doch dieser kinnlose Wunderknabe von einem Grünhemd tatsächlich ausgerastet und schrie von einem Gepäckwagen herunter: »Schnauze! Schnauze! Schnauze!« und feuerte einen Schuß in die Luft ab. Der deutsche Offizier, der ein Taschentuch auseinandergefaltet hatte, schneuzte sich die Nase, stand auf und sagte nicht sehr laut: Ruhe! was wie ein Windstoß durch die Menge ging und sie verstummen ließ. Stille MUTTER Eine schöne lyrische Anmerkung, mein Schatz. söhn Machst du dich lustig über mich? mutier Aber nein. Nur - na ja, ich habe dir eine Geschichte erzählt, jetzt erzählst du eine Geschichte, wie können zwei (icschichten gleich sein5 söhn Dann erzähl du sie. Murmelndes Gehet im Hintergrund Vcrsuch's. muttf.r Schon als Kind hast du die I )inge, ich nieine das Leben, zu Geschichten gemacht. Dafür habe ich dich immer bewundert. Wie kann ein Mensch, besonders aber ein Kind, sein Leben leben und gleichzeitig eine (beschichte daraus machen? Dafür habe ich dich immer bewundert. Ich kann dir meine Geschichte nicht erzählen. Was ich dir zuliebe behalten hatte, damit du eine Geschichte daraus machen kannst, habe ich inzwischen vergessen. Mehr als dich von Zeit zu Zeit korrigieren kann ich nicht, wenn du das willst. Denn du neigst zu Übertreibungen und Schönfärbereien, mein Schatz, und nur weniges war so schön, wie du es heute hinstellst. Ich kann zum Beispiel wenig über Sonnenstrahlen in Kathedralen sagen. Ich stand einfach da, schaute mich nach bekannten Gesichtern um, hielt mich still für mich und hoffte, daß mein gutes Betragen angenehm auffallen und vielleicht zu meiner Freilassung führen würde, eine ganz dumme Hoffnung. söhn »Wenn du ein braves kleines Mädchen bist, wird schon alles gut werden«, war die goldene Regel ihres Lebens, eine etwa so realistische Regel wie das Gebet des kleinen alten Mannes, der in Ermangelung eines Hutes seinen Kopf mit seiner von Altersflecken besprenkelten Hand bedeckte. Meine Mutter versuchte, ihn nicht zu beachten. Aber dann wurde sie auf etwas anderes aufmerksam, einen Zug, der -zwei Gleise weiter - mit Ferienreisenden auf seine Abfahrt wartete. Dort herrschte ein anderes, vertrauteres Chaos. Gepäckträger mit hochaufgetürmten Karren, gefolgt von mißtrauischen Vätern, die sich rücksichtslos ihren Weg in überfüllte Abteile bahnten; aufgeregte Mütter, die sich den Kopf zerbrachen, ob der Gashahn abgedreht war; Kinder mit Segelbooten und Strandbällen und Stoffpuppen, die von ihren Eltern angeschrien oder mit Maulschellen bedacht wurden. »Partir c'est mourir im peu«, das waren die einzigen Franzö-sischkenntnisse meiner Mutter. Sie versank in Träumereien: Ferienbilder aus alten Tagen tauchten vor ihr auf, und es war ihr, als sehe sie ihren Mann mit seiner kecken Kreissäge, die Zigarre schräg im Mund, wie er versuchte, seine Reise-untauglichkeit damit zu überspielen, daß er Gepäckträger anblaffte, lässig umherschlenderte, sogleich das Gepäck aus den Augen verlor und die Familie zu einem für Geistliche reservierten Wagen führte; sie sah die beiden Jungen in ihren Ma-trosenanzügen, die - plötzlich verschwunden - gleich darauf in einem Erste-Klasse-Abteil aufgespürt wurden, wo sie phantastische Geschichten von großen Abenteuern austauschten; und sie sah all die langen Sommer am See mit sich schälenden Nasen, mückenverseuchten Abendessen im Garten, Nachmittagsspaziergängen und Liebe auf sandigem Laken. Dann, von einer Minute zur anderen, so schien es, fand sie sich plötzlich in einem Viehwagen wieder, wie die Zeit fliegt, mein Schatz, zusammengepfercht mit zweihundert Mitreisenden, ihre Füße schwebten halb in der Luft, und nachdem die Seitenbretter hochgezogen und verriegelt worden waren, war es stockdunkel, bis auf einen Streifen Sonnenlicht, der durch zwei lose Planken hereinfiel. Geräusch eines anfahrenden und Fahrt aufnehmenden Zuges 298 Mutten Courage Mutter Was ist das? söhn Geräuschkulisse aus dem Archiv. Mutter Es war dunkel im Viehwagen. Sühn Ja, aber Streifen von Sonnenlicht zwischen den losen Brettern beleuchteten einige menschliche Teile, als seien die Deportierten schon zerstückelt: einen Hut, eine Hand, eine Hakennase, ein nasses Augenpaar, flatterndes Haar, Teile verschiedener Menschen wie zu einem einzigen verstümmelten Riesen vereint. Als der Zug in einen gleichmäßigen Trott verfallen war und eine Landbrise die faulige Luft erfrischte, ging das ziemlich einheitliche Atmen über in unterschiedliche Atemzüge. »Ist erst mal der Schnupfen da, ist auch der Husten ziemlich nah«, witzelte jemand und wurde mit einem Kichern belohnt, das die Atmosphäre eines Kinderzimmers zur Nachtzeit heraufbeschwor, verstohlene Kinderwitze unter Bettdecken, während oben vielleicht die Erwachsenen tanzen. Ein Märchen, und niemand würde vorm Backen im Ofen gerettet werden; außer der einen. stimmen fröhlich Würde derjenige, dem der Ellenbogen in meinem Solarplexus gehört, denselben bitte entfernen? He-he-hc! Würde die Dame, auf deren Fuß ich stehe, ihre Identität preisgeben und ihr Mißfallen ausdrücken? Hi-hi-hi! Was dagegen, wenn ich rauche? ja! Ha-ha-ha! Nehmen Sie die Hand von meiner Hüfte, junger Mann! Nicht SIE! Ho-ho-ho! Li« Bariton sin<>t. - Ach, ich hab sie ja nur auf die Schulter geküßt... Ein feiner Gott bist du! Wo warst du heute morgen um elf, als man mir die Brille zerschlug? Aus zu einem Bummel? Ein Nickerchen machen? Na schön. Mutters Courage 299 ich bin fertig mit dir, mein Junge! Tu mir einen Gefallen und erwähl dir ein anderes Volk das nächste Mal! söhn Meine Mutter, die nicht beten wollte, hatte sich inzwischen ein wenig entspannt. Die Dunkelheit um sie her nahm Gestalt an, die zerstückelten Einzelheiten machten sich bemerkbar, links von ihr roch jemand nach Bohnerwachs, ein anderer hatte drahtiges Haar, ein dritter trug verblichenes Drillichzeug, ein vierter ein durchgeschwitztes Hemd. Aber wo waren die Kinder? - Bis dahin war es meiner Mutter gewesen, als stünde sie auf dem Grund von modrigem Wasser, noch so eine armselige Metapher; jetzt waren Knöpfe, Knöchel, Ohrläppchen. Schienbeine um sie herum. Und dann wand sich zu ihrem Erstaunen eine Hand an ihrem guten Schwarzen empor... Mutter Kommt jetzt, was du die Liebesgeschichte nennst? söhn Ja, jetzt kommt, was ich die Liebesgeschichte nenne. Mutter Schämst du dich nicht, so was zu erzählen? söhn Doch, und deshalb erzähle ich es. Mutter Aber ich bin deine Mutter. söhn Eines Nachts, wenn ich kurz abschweifen darf- ich muß zehn oder elf gewesen sein, wir verbrachten den Sommer am Wörther See und teilten zu dritt ein Zimmer -, wurde ich geweckt von dem. was man höflich als »Urszene« umschreiben könnte, du und dein Mann, ihr kopuliertet. Mutter schlägt ihrem Sohn ins Gesicht. Jetzt hast du mich das erste Mal geschlagen. Mutter Wie kannst du in aller Öffentlichkeit so unanständig daherreden ? RÖHN Stimmt es oder stimmt es nicht, daß in der Dunkelheit des Viehwagens eine Hand sich in dein gutes Schwarzes hineinwand? mutteh Hast du was dagegen, wenn ich einen Moment hinausgehe? söhn Nein. Man hört das Schließen einer Tür. Diese Hand wand sich, wie ich schon sagte, an ihrem guten Schwarzen empor und machte schüchtern halt, bevor sie ihre 300 Mutters Gotwage linke Brust umspannte. Zur gleichen Zeit legte sich ein Kinn auf ihre Schulter und verweilte dort. Sic errötete und rückte ein paar Zentimeter vor, aber die Hand, deren Arm sie von hinten her einschloß, umfaßte fest ihre Brust und zog sie zurück. Zu dieser I [and gehörte ein Körper, der sich demütig an ihren lehnte. Als sie einen letzten Versuch machte, sich zu befreien, wisperte eine Stimme in ihr C )hr. LiEBHABüK Bitte. Es wird das letzte Mal sein. söhn Die Hand gab ihre Brust frei, um ihre Achtung zu bekunden, wartete und legte sich dann wieder darüber, zwei Finger liebkosten ihre Brustwarze. »Naja, so ist das Leben«, hätte meine Mutter beinahe gesagt; sie sagte nichts, weil die Hand auf kindliche Weise flehte und mehr um Hilfe zu bitten als auf Eroberung aus zu sein schien. Meine Mutter konnte sich nicht erinnern, wann das letzte Mal an ihren Brustwarzen gespielt worden war, sie war beinahe sechzig an jenem Tag, und Sex war ihr eine unangenehme Pflicht gewesen, die sie mit anderen kindischen Dingen abgelegt hatte. Einen Moment dachte sie an ihren Mann, der im Gefängnis schmachtete! Was würde er dazu sagen? Über solche Dinge hatten sie nie geredet; Er war prüde; einmal hatte er einem Cousin, der in Gegenwart meiner Mutter das Wort »Tcstikel« benutzte, die Tür gewiesen. Das letzte Mal, daß er ihr Lust bereitet hatte, war, glaube ich, vor acht Jahren gewesen, in einein Badeort in Kärnten, auf der quietschenden Matratze eines weißen Hotels inmitten von Tannen. Ich sage: Glaube ich, denn Söhne neigen wohl zu seltsam romantischen Vorstellungen vom Geschlechtsleben ihrer Eltern, wenigstens behauptet das MEIN Sohn. Sie hatte es gern, glaube ich, ihren Mann in sich zu spüren, und wie er sie »Meine kleine Elsie« nannte; sein kahler Schädel vergrub sich im Kissen, wenn er kam, glaube ich,/es hatte niemals einen anderen Mann in ihrem Leben gegeben, glaube ich. und jetzt im Viehwagen drängte sich der Körper, der zu dieser zarten, aber unbekannten Hand gehörte, an ihr Hinterteil, suchte Einlaß und Erlösung. Niemand hatte meine Mutter je im Stehen geliebt, von hinten, nicht einmal ihr Mann, glaube ich. Sie war sich nicht ganz sicher im Viehwagen auf Mutters Cour.ige 301 dem Weg nach Auschwitz, wie es zu bewerkstelligen wäre, wenn überhaupt, durch ihr gutes Schwarzes hindurch; und doch nahmen die beiden Körper den rollenden Rhythmus des Zuges auf, auch ih r Atem war schnell geworden; von oberhalb des Kinns, das auf ihrer Schulter ruhte, kamen anerkennende Seufzer und wieder die Beschwörung: »Es ist das letzte Mal.« Da beugte sie die Knie und öffnete ihre knochigen Hinterbacken dem warmen Schwall, der ihr gutes Schwarzes befleckte. Der kleine Rabbi betete noch immer. Nach einer Weile gab die Hand ihre Brust frei. Arm und Kinn trennten sich von ihr, ihr Haar wurde mit einem Kuß gesegnet, und der Körper hinter ihr schlängelte sich davon. 3. Szene söhn Sie hat nie erfahren, wer ihr Liebhaber war. Das Geräusch einer sich leise öffnenden Tür Als sie nahe der Grenze anhielten, am »Tor zum Tode«, wie man so schön sagt, um in einen deutschen Viehwagen umzusteigen, der viel sauberer war als ihr eigener, war meine Mutter überrascht von der Kraft der Sonne. MUTTliH Ich dachte, es wäre längst Nacht geworden. In der Verne Hundegebell söhn Aber nein, es war immer noch Tag, und die Reisenden, viertausendeinunddreißig an der Zahl, plumpsten aus ihrem Gefängnis in den trägen Nachmittag. Der Zug war auf einem Nebengleis in einem goldenen Feld abgestellt worden. Bauern luden Heu auf, ein Rferdcwagen wirbelte den Staub eines Feldweges auf; niemand beachtete die Reisenden anfiel einem barfüßigen Kind hinter einem Busch, das am Daumen lutschte. Die Landschaft war ohne Schrecken, das Wetter schön, die Arbeit ging gut voran, ein Vogel flog von einem Baum auf, es würde ein friedlicher Abend werden, und die Verdammten zogen vorüber wie Darsteller, die ins falsche Theaterstück geraten waren. Freilich, ein unsichtbarer Hund bellte hysterisch; er muß angekettet gewesen sein, metalli- 302 Mutters Courage Mutters Courage .503 sehes Scheppern begleitete das Hellen, und dieses Bellen, sagt meine Mutter, war den ganzen restlichen Nachmittag zu hören. »Laßt mich frei«, sagte der Hund. Miiiik Gut beobachtet, mein Schatz. söhn Eine Zeitlang geschah nichts, und niemand sprach. Dann trat ein junger Mann, gekrümmt, als hätte er in die Hose gemacht, nach vorn, um ein paar Mohnblumen zu pflücken, und wurde niedergeschossen. Er fiel zu Boden und starb schnell, nur seine Finger bewegten sich zögernd wie die eines Säuglings, der nach der Brust tastet. Jetzt ist der Schuß zu hören. Meine Mutter hatte nie erlebt, wie ein Mann erschossen wurde; es genügte, um absolute Disziplin wiederherzustellen, eine klare Sache, nichts mehr von der Hysterie, die am Westbahnhof geherrscht hatte, aus der Gegend der Lokomotive kam ein ruhiger Befehl, die Deportierten setzten sich gehorsam in Bewegung, ihre Schritte knirschten auf dem Schotter, vorbei an demselben deutschen Offizier, der zur Abfahrtszeit in dem Plüschsessel gesessen hatte. Er beobachtete, mit dem Rücken zu den Reisenden, das Beladen des Heuwagens; drei Grünhemden umringten ihn, verblüfft durch sein Interesse am Heu. »Schnell, schnell!« brüllte einer von ihnen, um seine Tüchtigkeit zu demonstrieren, der Deutsche hob eine behandschuhte Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen, als sei ihm daran gelegen, den Frieden des Nachmittags nicht zu stören. Die Deportierten gingen um die Lokomotive herum, über die Schienen hinweg, am deutschen Zug vorbei und wie durch eigenen Antrieb, so schien es, weiter zum Feldweg - mehr Klatschmohn auf beiden Seiten -, bis sie zu einem großen, rechteckigen Gebäude mit einem hohen Schornstein kamen. Dieses Gebäude, eine verlassene Ziegelei, war fehl am Platze und ruinierte - selbst eine halbe Ruine -die Landschaft; Unkraut und Ziegenköttel überall, leere Fensterhöhlen starrten hinunter auf den offenen, fußballfeldgro-ßen Hof, wo ein angeketteter Hund bellte. Dieser Hof glich einer Bühne, die in der Hitze des Tages von den drei Grünhemden eingerichtet wurde. Ein Tisch und ein Sessel wurden von ihnen in die Mitte gestellt, darauf ein Stapel Akten und ein Gummistempel. Dann warteten sie unruhig, einer von ihnen drohte dem Hund und trat ihn schließlich, aber der Hund bellte weiter. Schließlich machte der deutsche Offizier seinen Auftritt, er kaute etwas, schlenderte zum Tisch, setzte sich aber nicht sogleich. Sein Publikum war überall, spähte hinunter durch die zerbrochenen Fensterscheiben der Fabrik: Die Deportierten, die ihre Runden durch die leeren Lagerräume und Brennereien gedreht hatten, vorbei an verfallenden Regalen und Öfen, hatten sich schließlich an den Fenstern versammelt und verweilten dort, starrten hinunter in den Hof, warteten in den Kulissen sozusagen, denn in ihren Eingewei-den spürten sie, daß sie nicht mehr lange Zuschauer bleiben und früher oder später ihren eigenen Auftritt haben würden, ach ja, nichts geht darüber, eine Metapher so weit zu dehnen, bis sie reißt. Der Deutsche ließ sich nieder und zog seine Handschuhe aus. Seine Hände waren ungewöhnlich weiß. Er nahm eine Akte, einer der Grünhemden wollte ihm etwas erläutern, wurde zum Schweigen gebracht, der Offizier begann zu lesen; die Zuschauer wußten, er las über sie. Gelegentlich sah er auf, als versuche er. ein Gesicht mit einem Namen zu verbinden, aber wie wollte man eine Frau Kraus oder einen Herrn Altschul unter einigen viertausend Gesichtern ausmachen, die bloße Kleckse hinter Ruß und Spinnweben waren? Und doch fühlten sich viele, wenn er aufsah, persönlich angesehen und traten vom Fenster zurück. muttlh Scharf beobachtet, mein Schatz. sühn Es muß ungefähr drei Uhr nachmittags gewesen sein. Meine Mutter, die nicht leicht zu unterhalten war, begann, sich zu langweilen, und hatte gleichzeitig ein schlechtes Gewissen, wie kann man es wagen, sich vor den Toren der Hölle zu langweilen? Sie begann, herumzuspazieren in der Hoffnung, eine Rommerunde auf die Beine zu stellen oder wenigstens ein Stück Papier zu ergattern, um die Zeit totzuschlagen und ihrem Mann ein paar erklärende Zeilen zu schreiben. Sonderbarerweise machte sie sich keine Sorgen, wie es sonst ihre Art war, wenn sie »weg von zu Hause« war - da hätten 304 Mutters Courage Mutters Courage 305 wir ein nettes kleines psychologisches Detail -, ich meine, normalerweise liebte sie es nicht, weg zu sein, in Ferien zum Beispiel, denn sie hatte Angst, daß ihre Welt und die Menschen, die Gegenstände, die Kümmernisse darin, ohne ihre ordnende Hand nicht überdauern würden. Was um Gottes willen würde in ihrer Abwesenheit mit Cornelius geschehen oder mit den Socken von Cornelius oder mit Claras Bronchitis oder dem Staub auf den Fenstersimsen? Aber durch ihre Festnahme war sie sozusagen zum Opfer geworden und somit befreit von den täglichen Verpflichtungen. Zum Beispiel hatte sie immer ein wenig Gewissensbisse, am hellichten Tag Karten zu spielen, ebenso wie sie sich nie den I UXUS einer Tasse Kaffee oder eines Kinobesuchs gestattete, ehe sie nicht ihr Bestes getan hatte, um ihre kleine Welt vor Ungemach zu bewahren. Aber jetzt, als sie in der zerfallenden Fabrik umherging und schließlich ins Erdgeschoß hinunterstieg, ein Entschluß, der ihr das Leben retten sollte, dachte sie, das Recht auf die Frivolität eines kleinen Kartenspiels stünde ihr zu. Unten waren mehr Menschen, sie standen in dicht geschlossenen Reihen an den Fenstern und hielten den Hof im Auge. Sie drängte sich durch sie hindurch, Entschuldigungen murmelnd wie ein verspäteter Theaterbesucher, und fand sich am ehemaligen Personaleingang wieder, einem verlassenen Korridor mit nichts darin als verblichenen Sicherheitsanweisungen an einer Wand. Sie las sie in Ermangelung anderer Ablenkungen: Rauchen verboten. Spucken verboten, Aufruhr verboten, bis ein Schatten darüberfiel und sie, als sie sich umdrehte, mit Alfredo Kelemen zusammenstieß. kelemen Herr im Himmel! Ist das Frau Täbori, die ich vor mir sehe? Ich traue meinen Augen nicht. söhn Dieser Kelemen war einer von Vaters Schatten, ein prominentes Mitglied des allseits bekannten Täbori-Mitleids-clubs und wie alle anderen Mitglieder nicht nur mit Mißerfolg geschlagen, sondern dazu noch völlig unbegabt. »Was erlauben sich diese Nichtsnutze, auf deinen besten Teppich zu aschen?« fragte Schwester Martha völlig zu Recht. Mit den Schuldgefühlen des Liberalen beladen, hatte mein Vater die Laufbahn des Barmherzigen eingeschlagen; im Laufe der Jahre, lange nach seinen marxistischen Gewißheiten, sammelte er eine Schar von Nebbichen um sich, deren Anspruch auf Nächstenliebe eben darin begründet lag, daß sie ihrer unwürdig waren, niemand hätte sie je beachtet, und das war genug für meinen Vater, ihnen mit dem unfehlbaren Instinkt des professionellen Samariters die Stange zu halten. Eines Sonntags, auf einem Spaziergang, als er sich vernichtend über die Exzesse der »Art nouveau< ausließ (er schätzte klare Linien), fragte ich ihn, warum er seine Zeit mit diesen Schmarotzern vergeude, und er sagte: »Nur die Ungeliebten verdienen Liebe.« Kelemen war der Schlimmste der ganzen Gesellschaft: ein kleiner, fetter, glotzäugiger Trottel mit ständig kreisender kalter Zigarre im zahnlosen Mund. Seine Fürze stanken, bevor man sie hörte. Er bezeichnete sich selbst als Künstler-Wissenschaftler, als nichts Geringeres als einen Renaissance-Menschen, aber es wurde nie deutlich, wo genau seine mangelnden Talente lagen. Eine Zeitlang verhökerte er Medaillons reicher und berühmter Persönlichkeiten, die selber diese Scheußlichkeiten nie kauften; er wies sich außerdem als Hypnotiseur aus, aber nie gelang es ihm, jemanden in Trance zu versetzen, nicht einmal meine schlafsüchtige Großmutter; einmal erzählte er uns, daß er den schwarzen Gürtel des Karatenleisters trüge, und bot als Beweis seinen »eisenharten Bauch« zum Schlag dar; als ich, damals ein schmächtiger Zwölfjähriger, darauf boxte, fiel er um wie ein Kegel. Als er meine Mutter erkannte, wurde er bleich vor Schreck. kelemen Frau Táboru Großer Gott! Ich traue meinen Augen nicht! Was machen Sie denn hier? muttek Was glauben Sic denn, Ferien vielleicht? kelemen Aber Sie sollten gar nicht hier sein! MUTTER gutmütig Das stimmt, ich sollte nicht hier sein, niemand sollte hier sein. kelemen hysterisch Nein, nein, nein! Was gehen Sie die anderen an! Aber Sie, Frau Tábori, die Frau des Cornelius Tábori, was tun Sie hier in dieser beschissenen Umgebung? Sehen Sie sich doch um! Ist das vielleicht ein Aufenthaltsort für eine 306 Mutters Courage Mutters Courage 31 »7 Dame mit unvergleichlich blauen Augen! Dreck! Barbarei! Widerliche hygienische Verhältnisse! Die Lebensmittelversorgung unter aller Sau! Wie konnten Sie es zulassen, auf diese Weise behandelt zu werden? Was erfrechen die sich? Was ist in sie gefahren, die Frau eines so bedeutenden Humanisten in diesen Schweinestall zu pferchen? Mutti.r Wie ich es zulassen konnte? Was soll das heißen, Kele-men, wie ich es zulassen konnte? Kolemen Das ist Wahnsinn! Sie müssen sofort hingehen und Protest einlegen! In unmißverständlicher Weise! Bestehen Sie darauf, sofort freigelassen und nach Hause geschickt zu werden, mit einer schriftlichen Entschuldigung! mutier Kelemen, nun hören Sie mal... kelemen unterbricht sie Genug der Ausflüchte! Gehen Sie hinaus auf den Hof und sagen Sie diesem deutschen Offizier, was genug ist, ist genug! Kein Katzbuckeln mehr! Ihre Geduld ist erschöpft! Machen Sie ihn zur Schnecke! mutier Aber, Kelemen... söhn Seine Naivität begann meiner Mutter auf die Nerven zu gehen, bis sie erkannte, daß in seinen Augen der Wahnsinn flackerte. Mit seinem gar nicht so eisenharten Bauch gab er ihr kleine schnelle Schubse auf die Glastür zu, die sich zur Sonne öffnete. »Sagen Sie ihm«, schrie er, »die ganze Geschichte ist ein Irrtum, sagen Sie ihm, er soll Sie freilassen, gnädige Frau, oder er wird in Sibirien enden!« Er hatte schon die Tür geöffnet, stieß sie hinaus, schloß die Tür hinter ihr und stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen, um ihr die Umkehr unmöglich zu machend Da stand sie nun am Rande des Hofes, einen grausam weiten Weg vom Tisch und dem Sessel in der Mitte entfernt, sie konnte die Augen der Viertausend auf sich fühlen, sie war ganz allein in der Sonne, sie hatte sich nie einsamer gefühlt, da ging sie los in ihrem guten Schwarzen und ihrem guten schwarzen Hut mit Wachsblumen an der Krempe, ihren weißen Handschuhen mit dem geflickten linken Daumen, und preßte ihre Handtasche mit dem Apfel an sich. mutter Pflaumen, mein Schatz. 4. Szene söhn Ich habe einiges an Mut erlebt in diesem Krieg, ich denke da zum Beispiel an die Putzfrau aus Paddington, die nach dem ersten Angriff von V 2-Bombern hinter einem Kellerfenster verschüttet war, vier Stockwerke von Trümmern und Schutt quetschten sie langsam zu Tode, ihre eine freie Hand, das einzige, was sie bewegen konnte, schlängelte sich durchs Fenster, als wir versuchten, sie freizuschaufeln. »Immer mit der Ruhe, Jungs, ich habe diese verflixte Bude mein Lebtag lang hochgehalten«, sagte sie immer wieder bis zur Dämmerung, als die verflixte Bude schließlich zusammensank und sie unter sich begrub, ihre Finger wanden sich wie ein Wurm im Todeskampf. - Oder zum Beispiel Wachtmeister Kaufmann, kein sehr passender Name für einen Helden, der den Ärmelkanal zweimal wöchentlich überquerte, um an der normannischen Küste Proben deutschen Betons zu sammeln; er wurde erwischt und buchstäblich bei lebendigem Leibe gehäutet und weigerte sich dennoch, seinen Peinigern irgend etwas zu sagen außer: »Sie verschwenden Ihre Zeit, Gentlemen.« Seine tapferste Zeit kam nach der Befreiung, wieder daheim in East Grinsted, wo er sich siebenundsiebzig Hauttransplantationen unterzog, bis er aussah wie ein vergammelter Truthahn. »Morgen wollen sie mir«, sagte er zu mir, bevor er starb, »meine Oberlippe durch ein Stück After ersetzen. So was sollte einem Hegelianer nicht zustoßen.« (Dies war eines seiner mehr verhüllten Witzchen, das auf Marxens Wunsch anspielte, Hegel auf den Kopfzu stellen.) Diese beiden kommen mir gerade in den Sinn, viele andere sind mir entfallen, doch muß ich meiner Mutter Courage preisen, als sie aus der Sicherheit der Nummern heraustrat, sich der Anonymität entzog, einer von viertausend, vier Millionen, vierzig Millionen warmer Körper zu sein, wir alle zählen die Toten nicht mehr, obwohl sie die Erde sprengen. Zwischen ihnen hatte sie sich sicher gefühlt; an sie konnte sie sich klammern in letzter Solidarität, auch wenn man sie ins Feuer führen würde.»Als sie auf den Tisch und den Sessel zuging, wo die drei Grünhemden .51 )K Mutters Courage Mutters Courage 3(1« noch immer um den Deutschen herumscharwenzelten, die Rücken ihr zugewandt - der Hund bellte noch immer, die Sonne brannte noch immer -, war ihr zumute, als habe sie die Banalität des Lebens hinter sich gelassen und watschele enten-füßig auf ein unfaßbares Strafgericht zu, das jetzt zum ersten Mal so greifbar und stinkend war wie der Ziegendreck unter ihren Schuhen. Achttausendundsechzig Augen folgten ihrem Gang und verurteilten ihn, wie sie meinte; sie hatte sie verlassen, auch wenn Kelemen sie hinausgestoßen hatte, und war zur Verräterin geworden; jeder, der diese Toten überlebt, ist ein Verräter. Sie kam sich nackt vor, und ich sehe sie vor mir, wie sie nackt über den Hof ging, diese Nacktheit wird zum Maß ihres Mutes. Wer je hat meine Mutter in all ihrer Nacktheit gesehen? Nicht einmal ihr Mann, der es vorzog, sie im Dunkeln zu lieben. Und ich. ich habe sie nur ein einziges Mal nackt gesehen, als ich geboren wurde, und da waren meine Augen zu. Sie war schon mitten auf dem Hof, als der Deutsche sie durch die Grünhemden hindurch sich nähern sah. Ihre Augen vereinigten sich auf wundersame Weise. Es stimmt, meine Mutter hätte sich am liebsten verkrochen, unsichtbar gemacht, aber jetzt war der einzige sichere Platz auf der Welt seine Augen. Ihr Kopf war leer; sie hatte keine Ahnung, wie sie ihre Unverfrorenheit erklären sollte. Die Grünhemden hatten gemerkt, daß der Blick des Deutschen in der Ferne hängengeblieben war. Sie drehten sich um. Der j Kleinste von ihnen, dem der Schnurrbart wie Rotz unter der Nase hing, begann zu bellen: »Verdammte Judenhexe, was hast du hier draußen zu suchen?« Meine Mutter wußte nicht mehr, wie sie stehenbleiben sollte. »Entschuldigen Sie, mein Herr«, sagte sie zu dem Deutschen. »Verpiß dich!« schrie Rotzgesicht. »Moment mal«, unterbrach ihn der Deutsche, aber auch das Grünhemd konnte nun nicht mehr einhalten: Sein ganzes Leben lang hatte er Frauen wie meine Mutter anbrüllen und sein eigener Herr sein wollen, aber den ganzen Tag hatte er Befehle dieses I )eutschen ausführen müssen, der I nach Lavendel roch und niemals seine Stimme hob. Jetzt hat-ten beide genug voneinander, und in diesem Tauziehen witterte meine Mutter ihre Rettung. Rotzgesicht Verpiß dich hier, du Sau, oder ich blas dir die Rübe ab! deutscher offizier Einen Moment bitte. Wenn hier jemand schreit, bin ich das. rotzgbsicht 1 >ie hat hier nichts zu suchen. deutscher offizier Das entscheide ich. Zur Mutier mit betonter Höflichkeit Was kann ich für Sie tun? söhn Wie durch ein unsichtbares Band miteinander verbunden, hatten sich ihre Augen keinen Moment voneinander gelöst. Mutter aufs Geratewohl Ich sollte gar nicht hier sein. Die Grünhemden kichern. deutscher offizier höflich Was meinen Sie damit, Sie sollten nicht hier sein? mutter Ich habe einen Schutzpaß vom Roten Kreuz. deutscher offizier Ach wirklich? söhn Die Grünhemden prusteten vor Lachen, Rotzgesicht schlug sich an den Kopf, um anzudeuten, wie pleniplem meine Mutter war, es hatte ein paar Pässe gegeben, die vor einem Monat ausgestellt worden waren und die die Gestapo anerkannte, aber sogleich waren die Untergrundfälscher aktiv geworden, und am Ende der ersten Woche waren einige vierzigtausend dieser Pässe im Umlauf und machten so die Originalausweise wertlos. Rotzgesicht lacht Der ist gut! deutscher offizier Was gibt's da zu lachen? Das Gelächter erstirbt. Wenn die Dame einen echten Paß hat, hätte man sie nicht festnehmen dürfen. mutter mit mädchenhafter Stimme Das meine ich auch, mein Herr - rotzgesicht Diese Pässe! Sind doch alle gefälscht! deutscher oi-fizier Das werden wir gleich wissen. Könnteich ihn bitte mal sehen? mutter wie ein zwölfjähriges Mädchen Ich habe ihn leider nicht bei mir. söhn Rotzgesicht wieherte los, machte einen triumphierenden Luftsprung und schlug sich dabei auf die Knie wie eine Hitlerkarikatur. 310 MuttiTs Courage Mutters Courage 311 deutscher OEEiziER scharf Lassen Sic das! Stille Aber wenn Sie einen Paß haben, gnädige Frau, müssen Sie ihn immer bei sich tragen. MUTTER Ich weiß. Es tut mir auch sehr leid, aber es war nicht zu ändern. deutscher offizier Was meinen Sie damit, es war nicht zu ändern ? Rotzgesicht sarkastisch Ja, was meinen Sie damit, es war nicht 7ii andern? Mutter Es ist nämlich so: Mein Mann und ich haben einen Paß zusammen, mein Mann ist im Gefängnis, noch so ein Mißverständnis, aber lassen wir das jetzt, jedenfalls hat er den Paß bei sich, ich selbst gehe kaum aus, ich würde das gar nicht wagen ohne Paß, aber heute morgen hat meine Schwester Martha angerufen, sie fühlte sich nicht wohl, sie ist Epileptikerin, sie bat mich, zu ihr zu kommen auf ein kleines Romme-Spiel, ich konnte einlach nicht nein sagen, ich meine, wer überläßt schon seine einzige Schwester bei einein Anfall sich selbst, ohne den Trost eines kleinen Rommespiels, des einzigen, was ihr ein wenig guttut. Rotzgesicht unterbricht Das kann ja jeder sagen. deutscher offizier verliert die Geduld Diese Dame ist nicht irgendjemand. Niemand ist irgendjemand. Jeder ist irgendwer, verstanden? Rotzgesicht eingeschüchtert Jawohl, verstanden. söhn Und dann kam dieser Deutsche um den Tisch herum und starrte meiner Mutter in die Augen wie durch ein Schlüsselloch. deutscher oi i i/li r Sagen Sie die Wahrheit? mutter Ja. deutscher offizier Wissen Sic, was mit Ihnen geschieht, falls Sie gelogen haben sollten? söhn Ja, sagte sie und blickte ihm wie durch dasselbe Schlüsselloch fest in die Augen; es gab jetzt nichts als diese zwei Augenpaare, und ihr Blick, der von einem uralten Schmerz verhangen war, schien ihm zu signalisieren: Nun, mein Sohn, was kannst du mir tun? Mir die Brüste abschneiden? Mich aufknüpfen, den Vögeln zum Fraß? Mich lebendig verbrennen? Was kannst du mir antun, das schlimmer wäre als mein nackter Gang über diesen Hof? deutscher offizier Gut. Setzt die Dame in den Zug - sie soll zurückfahren in die Stadt. Und sorgt dafür, daß sie was Warmes zu essen kriegt. söhn Er konnte die Dankbarkeit in ihren Augen nicht ertragen und wandte sich schnell ab. mutter Ja, das stimmt. 5. Szene söhn Neben der Lokomotive des Viehwagens stand ein ganz gewöhnlicher Zug. Man brachte sie in ein Erste-Klasse-Ab-teil. Im Augenblick, als man sie allein ließ, begannen ihre Beine zu zittern, und sie machte sich ihr Höschen naß, wagte aber nicht, auf die Toilette zu gehen. Sie lehnte den Kopf an das Spitzcndeckchen, das auf dem Kopfteil ihres roten Plüschsitzes lag. Ihr gegenüber hing die Fotografie eines Badeortes. Sie betrachtete das weiße Hotel inmitten eines Meeres von Tannen. »Ach«, dachte sie, »so kann das Leben auch sein.« Ihre letzte Liebesnacht auf der quietschenden Matratze kam ihr in den Sinn. »Wer hat das Recht, sich in einem weißen Hotel zu lieben, während Hunde an der Kette liegen!« Diese verdammten Juden wie meine Mutter hören niemals auf zu moralisieren. Zehn Jahre später, unter dem Mandel-bäumchen in einem Londoner Hinterhof, brachte sie all dies zu Papier. Ihre Rechtschreibung war nie die beste gewesen, ich hielt sie immer für liebenswert, wenn auch ein bißchen einfältig, und doch war sie Gedanken wie den folgenden fähig: mutter wie zu sich seihst Wenn man einmal in der Hölle war, und die ist ja immer gleich nebenan, dieser Ort der Nacktheit, wo man auf die Gnade anderer angewiesen ist, na ja, in dieser Hölle kümmert man sich einen Dreck um Lockenwickler, nasse Höschen und Versöhnung mit dem Feind. Mein ganzes 312 Mutters Courám' Mutters Courage 313 Leben waren mir solche Versöhnungen wichtig erschienen -je verhaßter der Feind, desto besser. Viele hatte ich nie, kaum welche, wer hätte schon ein Interesse daran haben sollen, mich zu hassen oder mir weh zu tun, aber ich träumte immer vom Handschlag oder der Umarmung mit demjenigen, den ich verachtete. - Zum Teufel mit all dem. I [fite dich davor, deinem Feind in die Augen zu sehen, mein Schatz, es könnte sein, daß du aufhörst, ihn zu hassen, und somit die Toten verrätst. Jetzt bin ich ein böses kleines Mädchen. Früher war ich ein braves kleines Mädchen, immer bereit, den Bedürftigen beizustehen, meinem Vater zum Beispiel, den man aus Ischl und anderen Badeorten hinausgeschmissen hatte; obwohl er ein großartiger Vater und Arzt war, konnte er nicht der Versuchung widerstehen, seine weiblichen Patienten zu verfuhren, wenn sie wie Hühnchen auf dem Untersuchungsstuhl lagen. Heute zum Beispiel könnte ich meinem Vater helfen: Ich würde ihm die Fußnägel schneiden, und dieser deutsche Offizier mit den aufrichtigen blauen Augen war wie ein Vater zu mir oder wie ein Sohn, da ist ja kein Unterschied, und doch hasse ich ihn dafür, daß ich ihn lieben muß, was ich ja tue. Schließlich haben er und seine Brüder meinen Cornelius verbrannt und meine Martha und achtzig andere von meinem Fleisch und Blut. Das kann ich ihnen nie verzeihen, oder Gott soll mich auf der Stelle erschlagen. Und das nächste Mal, ach, bis dahin, hoffe ich, bin ich tot und aller Gewissensqualen ledig, aber das nächste Mal werde ich ihre deutschen Fressen mit einem Hammer einschlagen. Ich bin eine schwache und dumme Frau, die Angst hat vor dem kleinsten Wehwehchen und die zu jedem gut sein sollte. Hüte dich vor den schwachen und dummen Frauen, mein Schatz. Haben sie einmal den Respekt vor den Wehwehchen und den Lockenwicklern oder dem Bedürfnis, gut zu sein, überwunden, dann werden sie zu heiligen Monstern. Als ich so dasaß in meinem feuchten Höschen, da wäre ich gern eine Hexe gewesen. Ach, mein Lieber, woher nehme ich solche Gedanken? söhn Die Tür des Abteils wurde aufgerissen, und herein kam wieder ein Feind, ein deutscher Soldat, sehr jung, warum 1 schicken sie diese Kinder in den Krieg, und er brachte meiner Mutter eine Kohlsuppe und ein Stück Graubrot. Er setzte sich in die Ecke an der Tür und sah ihr beim Essen zu. Kleine Wurststücke schwammen in der Fettbrühe. »Deutsche Küche«, dachte meine Mutter und aß das Gebräu. Sie hatte sie erst halb ausgelöffelt, als sie sah, wie der andere Zug, der Viehwagen, sich in Richtung Auschwitz in Bewegung setzte. Sie konnte die Deportierten nicht sehen, aber sie wußte, sie waren da, alle ihre Kinder, und sie sah schuldbewußt weg, sagte ihnen still Lebewohl und fügte kleine Ermahnungen hinzu, wie eine Mutter das tut. Mutter Gebt acht auf euch, ja? Schlaft genug und geht an die frische Luft. Und nicht vom Wasserhahn trinken! Und langsam essen! Und vergeßt nicht zu schreiben, Kinder, und wenn's nur Postkarten sind. söhn Sagen Sie mal einem Toten, er soll eine Postkarte schreiben! Sie war verrückt in dem Moment, total verrückt! Und dann kamen ihr die Tränen, wie ihr der Urin gekommen war, und füllten ihre unvergleichlich blauen Augen und machten sie blind, bevor sie in die deutsche Suppe fielen, ach ja, diese verdammte jüdische Sentimentalität; statt kühl und sachlich zu bleiben, wie es einer Dame geziemt, dachte sie an die vier-tausendunddreißig Todgeweihten und versprühte in der Trauer um ihre sogenannten Kinder ihre Säfte über das saubere deutsche Abteil, aber was hat das für einen Sinn, wem ist mit Trauer geholfen, außer den Schleiernlachern, na schön, ich sag dir, wem geholfen ist, denen, die nicht trauern, nämlich den Mördern, das ist mal klar, denn eins sage ich dir, mein Schatz, Mord beginnt dort, wo Trauer dir nicht mehr das Höschen näßt oder die Augen. SOLDAT Schmeckt Ihnen die Suppe nicht? mutter Oh, doch, doch. söhn Und doch würgte sie daran herum, bis sie schließlich einnickte. Als sie aufwachte, sah sie ihren Retter vor sich, den Offizier, er saß ihr gegenüber und rieb eine Pflaume glatt, eine von ihren. i»eutscher oiTiziER Verzeihen Sie, daß ich an Ihrer Tasche war, aber ich hatte Hunger. Mutten Courage Mutters Courage 315 Mutter Bedienen Sie sich. söhn Ohne den Hof sah er anders ans, irgendwie kleiner, normaler. Er hatte seine Mütze abgenommen und den kahlen Schädel enthüllt. deutscher offizier Wissen Sie, die Kohlsuppe hat Wurststücke drin, das haben Sie doch bemerkt? Ich bin nämlich Vegetarier. Merkwürdig, aber die Vorstellung, totes Fleisch zu essen, widerstrebt mir. Mutter Was Sie nicht sagen. deutscher Offizier Es fing an in Hamburg nach einer Feuersbrunst, kennen Sie Hamburg? Ich war in einem Restaurant, und man brachte mir ein Steak mit kunstvoll arrangierter Beilage, als ich plötzlich erkannte, was es wirklich war, nämlich ein Stück von einem Kalb, das einst auf einer Wiese gegrast hatte, und das Kalb schien mich anzuglotzen. Wie kann jemand so tief sinken, sagte ich mir, ein Kalb zu schlachten, es in Stücke zu hacken und zu essen? Mutter Na ja, so kann man es auch sehen. deutscher offizier Natürlich, man sollte noch weitergehen. Eine Pflaume zum Beispiel, empfindet sie Schmerzen, wenn man sie ißt? mutteh Ach, das glaube ich nicht. deutscher Offizier Sie sind sehr gütig. Aber irgendwo habe ich gelesen, daß Lilien, wenn sie Stimmen hätten, schreien würden, wenn man sie bricht. Manchmal höre ich alle Lilien auf dem Feld schreien und die Kohlköpfe auch. Wie weit muß man gehen, um ein Gerechter vor Gott zu werden? Mutter Ein was? deutscher offizier In meinem Heimatdorf gab es einen Priester. Er war nicht sehr erfolgreich. Seine Gemeinde schrumpfte zusehends. An manchen Sonntagen lümmelten sich nicht mehr als fünf Menschen auf den Kirchenbänken, zu Tode gelangweilt von seinen Predigten. Des Nachts aber, wenn er keinen Schlaf fand, tröstete er sich: Jesus liebt die Versager, denn er war selber einer, wie es sich gehört für einen Gott, die Verkündigung der Liebe ist ein Aufschrei gegen Eitelkeiten und Erfolge, jede Reliijon basiert auf Mißer- folgen, oder besser gesagt, da Mißerfolge zum Leben gehören, muß man sie sanktionieren. Was mir am Christentuni gefallt und natürlich auch am Judentum, ist der Realitätssinn, der Mißerfolge, will sagen, Sünden, toleriert und den Menschen in seiner Schwäche annimmt, den Angstschweiß in einem Garten etwa, vor einer Festnahme. Was sonst bleibt uns als diese Schwäche, es gelingt uns ja nicht einmal, eines der berühmten Gebote zu befolgen, und das ist doch gar nicht so schwierig, oder? Ich meine, was ist so schwierig, der Versuchung zu morden zu widerstehen? Finden Sie nicht auch? mutter Oja. deutscher offizier Dann eines Tages - die Pflaume schmeckt wirklich köstlich - passierte etwas Schreckliches im Dorf, der Tuchhändler, ein Jude, wurde gepackt, nicht etwa von Rowdies, sondern von fünf getreuen Kirchgängern, mit Wanderstöcken zu Tode geprügelt und hastig auf den Rieselfeldern verscharrt, nur seine Witwe durfte dabeisein, aber im darauffolgenden Sonntag wurde das Grab offen gefunden, und die Leiche war verschwunden. In derselben Nacht spuckte der Schornstein des Priesters Rauchwolken aus. was deshalb bemerkenswert war, weil die Haushälterin Ausgang hatte und der Priester - er hatte sehr weiße Hände - nicht kochen konnte, der Mensch war nicht fallig, niedrige Arbeiten zu verrichten. An jenem Sonntag, es war Maria Himmelfahrt, war die Kirche ziemlich voll; ein Dutzend kleine Mädchen sollte die Kommunion empfangen. Sie trugen weiße Spitzenkleider, die nicht lange weiß blieben: Sobald sie sein Blut und seinen Leib empfangen hatten, übergaben sie sich und spuckten nicht Brot und Wein über sich, sondern das, was ihnen gereicht worden war, nämlich echte Fleischbrok-ken und einen Schwall echtes Blut. Anstatt der Transsubstan-tiationspredigt brüllte der Priester in die Gemeinde: »Wenn ihr von Gott essen wollt, dann sollt ihr, so wahr Gott lebt, auch sein Fleisch essen und sein Blut trinken, das echte, das echte!« Eine schreckliche Geschichte, nicht wahr? mutter Ja. söhn Es wurde unmerklich Nacht: Das Licht verweilte und .116 Mutters Courage Mutters Courage .117 wollte der Dunkelheit nicht weichen. Als die ersten Lichter der Stadt in Sicht kamen, steckte der Deutsche endlich die Pflaume in den Mund. deutscher Offizier mir rollern Mund Wenn wir angekommen sind, muß ich Sie der Polizei übergeben, damit man Ihren P.ili überprüft, und dann wird man Sie wieder deportieren, und ich glaube nicht, daß ich Sie ein zweites Mal retten kann. Vorher jedoch muß ich noch einmal zur Toilette gehen. mutier verlegen Viel Glück. deutscher offizier »Pflaumen versagen nie«, wie Paulus sagen würde. So wie die Dinge stehen, werde ich wohl ein Weilchen auf der Toilette bleiben. mutter Ach ja? deutscher offizier Sollte ich nicht zurück sein, bevor wir angekommen sind, dann machen Sie sich davon, Christus liegt mir im Darm, wenn Sie den Ausdruck gestatten. söhn Sie hat ihn nie wiedergesehen, obwohl sie volle fünf Minuten auf dem Westbahnhof wartete, nachdem der Zug gehalten hatte. Niemand beachtete sie, da nahm sie die Straßenbahn und fuhr zu ihrer Schwester Martha. »Wo warst du?« rief Schwester Martha. Statt einer Antwort bat meine Mutter um eine Tasse Kaifcc. »Es ist zehn Uhr«, bellte der Mann von Schwester Martha von seinem Bett her und kam dann in seinem gestreiften Schlafanzug ins Wohnzimmer. Onkel Julius war versessen aufs Kartenspiel und Choleriker dazu. Onkel julius Was soll das heißen, erst so spät abends hier aufzukreuzen? Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich nicht dich, sondern Samu Österreicher eingeladen. Sohn Meine Mutter hatte sich schon niedergelassen und zum ersten Mal an diesem Tag ihren guten schwarzen I lut und die Handschuhe abgelegt. Martha Wo warst du den ganzen Tag? Mutter Das werde ich dir erzählen... Onkel Julius Einen Dreck wirst du! Geschichten habe ich schon genug gehört von dir und deinem verrückten Sohn George, der sich in die Emigration nach London geschwindelt hat, wo er jetzt fette Lügen über BBC verbreitet und Jungfrauen umlegt. Martha Nein, nein, irgend etwas ist mit ihr geschehen, aber Julius, mein lieber Ehemann, dem Tragischen im Leben wenig zugeneigt, was kann man auch von einem Bankier erwarten mit einem Magen voller blutender Geschwüre, war schon am Tisch, wischte die Krümel weg, schnitt eine Zigarre in zwei Hälften, steckte den einen Stumpen in die Spitze und zündete ihn an. onkel Julius Und jetzt zur Sache, meine Damen, gebt Karten. söhn Sie spielten einige Stunden lang Romme. Um Mitternacht, als sie eine Pause machten und einen kalten Imbiß mit Tee zu sich nahmen, hatte meine Mutter zwei Pengö fünfunddreißig gewonnen, sie hatte allen Grund, zufrieden zu sein. linde