öffentliche Meinung in der Geschichte Österreichs Herausgegeben von Erich Zöllner" österreichischer Bundesverlag, Wien Kurt Paupie Was versteht man unter dem Begriff „öffentliche Meinung"? Kaum je wird bezweifelt, daß in der Öffentlichkeit einer Gesellschaft oder einer ihrer Schichten dominierende Auffassungen und Urteile für Entscheidungen in den Bereichen etwa der Politik und der Wirtschaft grüßte, ja ausschlaggebende Bedeutung beanspruchen können. Da stellen sich sogleich manche Fragen ein. Handeln Politiker in der Regel mehr unter dem Druck dieser „öffentlichen Meinung", oder sind eher sie es, die mit Hilfe der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel — durch den Einsatz von Presse, Rundfunk, Fernsehen, Film, durch Agitatoren und Kommentatoren — diese Meinung erst produzieren, oder zumindest, wie man heute gerne zu sagen pflegt, „manipulieren", das heißt, in eine erwünschte Richtung zu orientieren vermögen? Der einzelne mag dann und wann den reißenden Strom der Masse lenken, er wird ihm noch weit öfter erliegen, was in Zelten des Masscnwahncs, den wohl jede Epoche — freilich jede in anderen Formen — erlebt, tragische Ausmaße annehmen kann. Generationen kämpften aber auch um „Meinungsfreiheit" auf verschiedenen Ebenen; die Pressefreiheit gehört dazu, die Lehr- und Lernfreiheit, .die Freiheit des Bekenntnisses, die der Kunst. Das Phänomen der öffentlichen Meinung aller Zeiten stellt fraglos einen legitimen Gegenstand historischer Forschung dar. Hier sei exemplarisch nur der Wiener Historiker Wilhelm Bauer genannt, vielen bekannt durch seine „Einführung in das Studium der Geschichte"; er publizierte im Jahre 1930 auch ein Werk „Die öffentliche Meinung in der Weltgeschichte", das eine groß angelegte Überschau von den Reichen des alten Orients bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bietet, aber auch Ausführungen von grundsätzlicher Bedeutung, wie „Masse und Meinung" oder „Die Technik der Meinungsbeeinflussung", enthält. Das Institut für Österreichkunde gab diesem Sammelband einen engeren, österreichischen Rahmen. Er Ist freilich noch weit genug, umfaßt er doch sowohl eine Begriffsbestimmung der öffentlichen Meinung, wie Ausführungen über die Meinungsbildung seit dem Mittelalter bis zu einer Analyse der Funktionen von Presse, Rundfunk und Fernsehen in der Zweiten Republik, das heißt, bis zur Gegenwart. Als Autoren der Beiträge dieses Bandes treten nidit nur Historiker auf, sondern auch namhafte Vertreter der Zeitungswissenschaft und erfahrene Praktiker, die führende Stellungen in Presse und Rundfunk einnehmen. Ihnen allen sei herzlichst gedankt. Erich Zöllner Jedermann kennt den Begriff „öffentliche Meinung", ihn zu definieren ist bisher jedoch nur Versuch geblieben. „Der Begriff" entspricht „einer Wirklichkeit", doch „die Begriffsbestimmungen haben diese Wirklichkeit noch nicht getroffen" i). Versuche, vorhandene Ansichten zu gruppieren und eine allgemeingültige Formel zu prägen, finden sich in Philosophie, Historie, Politologie, Soziologie, Sozialpsychologie und Publizistik. Wird das Auftreten des Ausdrucks und seine jeweilige Begriffsprägung durch die Zeiten hin vetfolgt, so zeigt sidi für die „Öffentliche Meinung" eine bemerkenswerte Beziehung und Abhängigkeit von Wandlungen der gesellschaftlichen Auffassungen und Herrschaftsverhältnisse. Die Entdeckung des Phänomens „Öffentliche Meinung" ist, nach Wilhelm Bauer 2) grundsätzlich in städtischen Kulturkreisen zu suchen. Demnach wäre alles, was in historischen Bereichen an Hinweisen über die Existenz der öffentlichen Meinung aufgezeigt wurde, in Relation zur Stadtgeschichte zu bringen. Tatsächlich ist dies so. Die Städte als Zentralisationspunkt der Macht, der Verwaltung, der Organisation, mit ihren unübersehbaren Menschenmassen, entwickeln als Instrument der Führung die Öffentliche Meinung. Die Entwicklung der städtischen Kulturen der Stadtstaaten des alten Griechenlands z. B. bewirkt, daß das Problem einer Vielheit, die zum politischen Geschehen Stellung nimmt, in den Mittelpunkt des Interesses rückt und in der Position des Bürgers in der „Polls" Ausdruck findet. Das Modell des öffentlichen Lebens in Griechenland, wie es zum Teil auch in der literarischen Selbstdeutung der Griechen stilisiert überliefert ist, beweist jedenfalls, wie sehr eine Öffentliche Meinung bewußt geworden und zur politischen Wirksamkeit gelangt war. Je nach Zustand der Staatsform und des Gemeinwesens ist die Beeinflussung mehr oder weniger wirksam, planvoll oder deutlich. Aber vorhanden ist sie immer: in den Philippiken des Demosthenes^) wie vielfach in der griechischen Komödie. Bei Hesiod 4) wird das „Gerede" der Öffentlichen Meinung gleichgesetzt und als eine Gottesstimme bezeichnet. In der Odyssee läßt Homer6) Nestor sagen, „das Urteil des Volkes richtet über das Betragen der Fürsten". Fernerhin wird in der Antike die „Göttlichkeit der Volkesstimme" dann erwähnt, wenn große geschichtliche Ereignisse angeführt werden. Versteht man die Formulierungen als Versuch einer Begriffsbildung, so zeigt sich, daß man die Wünsche des Volkswillens, denen die Regierungen in ihren Zielsetzungen folgen, ebenso als öffentliche Meinung verstanden hat wie als Kritik oder Zustimmung des Beherrschten zur Herrschaft. Man könnte dann von einer Prägekraft eines kollektiven Bewußtseins sprechen, das als existente Kraft von machthabenden Persönlichkeiten bezeichnet wird, ohne daß deshalb tatsächlich auf Kurt Paupie, Dr. phil., o. Prof. der Zeitungswissenschaft und Vorstand des Institutes Für Publizistik der Universität Wien. 6 Kurt Paupie Was versteht man unter dem Begriff „Öffentliche Meinung"? 7 Bewußtseinsverhältnisse im Volk Bedacht genommen worden wäre. Später in der „römischen Antike" gibt es Stimmen, die dem Begriff „opinio publica" jeglichen politischen Gehalt absprechen. Möglicherweise deshalb, weil dem Volk in Rom wenig Gelegenheit gegeben wurde, seine politischen Kräfte dauerhaft zu aktivieren. Kritisch wird die „Öffentliche Meinung" betrachtet: Quintilian 6) spricht von „fama" und „rumores"; nach Vergil7) ist die „fama" ein Ungeheuer, Schnelligkeit ist ihr Element, und sie gewinnt Kräfte im Lauf ihrer zeitlichen Verbreitung. Ovid*) spricht in den „Metamorphosen" von der Leichtgläubigkeit, dem übereilten Irrtum, der grundlosen Freude, dem plötzlichen Aufruhr, von Flüsterstimmen unbestimmter Herkunft, vom Schrecken volkreicher Städte. Es sind Ansätze zu einer Begriffsformulierung zu dem, was wir heute als „Öffentliche Meinung im weiteren Sinne" bezeichnen würden: die während eines gewissen Zeitraumes in der Bevölkerung eines bestimmten Gebietes spontan entstehenden Ansichten über Personen, Ereignisse oder Zustände. Dem Mittelalter verdanken wir die heute immer noch mundgerechte Form des Hesiodschen „Volkesstimme — Gottesstimme". Der englische Gelehrte und Freund Karl des Großen, Alkuin®), formulierte in einem Brief an den Kaiser „Vox populi, vox dei". Dies bringt zum Ausdruck, wie sehr die frühmittelalterliche Gesellschaft auf den Grundfesten metaphysischer Fundamente ruhte. Tatsächlich war im frühen Mittelalter das Volk allein in der Lage, als Werkzeug und Vollbringer einer übernatürlichen Ordnung dem Herrscher den Rechtstitel seiner Macht zu verleihen. Eine andere Formel lautet: „quod omnis tangit, ab omnibus approbetur". Sie zeigt, wie sehr Recht, Sitte sowie staatliche und gesellschaftliche Einrichtungen jener Zeit mit einer in den Grenzen dieses Zeitalters bewußten Öffentlichen Meinung eine Einheit bildeten, die sich kaum in Bestandteile auflösen läßt. Im mittelalterlichen Ordo des Staates und der Kirche ging vieles seinen vorbestimmten Gang, das Denken schien in der Regel gelenkt und geordnet, erst die chaotischen Ausbrüche veröffentlichter Meinungen schon im Investiturstreit, später besonders in den Bauernkriegen, oder der Durchbruch eines völlig neuartigen Meinens in der Reformation, haben Europas Gesicht umgestaltet: das öffentliche Meinen der folgenden Jahrhunderte konnte von den absolutistisch regierenden Fürsten nicht mehr unterdrückt werden. Vorerst aber stand der Begriff ,opinio' in keinem hohen Ansehen. Ganz im Sinne der wiedergeborenen römischen Antike zerlegt MacbiaveUi10) den Begriff in drei einzelne: in „Ruf", „Stimme" und „Meinung". Er erklärt, daß das Volk sich an das hält, was die „öffentliche Stimme" und der „Ruf" von .einem' sagen, soferne es ,ihn' nicht durch bekannte Taten kennt oder durch die „Meinung", die es von ,ihm' hat. MacbiaveUi war nahe daran, den Begriff der „Öffentlichen Meinung" zu formulieren. Daß er statt „publica voce" nie den Ausdruck „publica opinione" gebraucht hat, besagt wenig, wie ja überhaupt das Wort „Öffentliche Meinung" nur durch die geschichtlichen Umstände, unter denen es laut geworden ist, und nicht durch seinen eigenen Vorstellungsinhalt zu Bedeutung gelangte. Aber erst die Zeit der Aufklärung, die amerikanische Unabhängigkeit und die Französische Revolution schufen den modernen Begriff „Öffentliche Meinung". Zur Zeit der Enzyklopädisten wird der Begriff in die Politik eingeführt. Rousseau ü) war es, der etwa um die Mitte des 18. Jahrhunderts den Begriff „opinion publique" geprägt hat. Im „Contrat Social" schließt er den drei Gesetzesarten eine vierte an: diese macht die wahre Verfassung des Staates aus, sie ist es, die ein Volk im Geist seiner Institution bewahrt und unmerklich die Macht der Gewohnheit durch jene der Autorität ersetzt. Seit Rousseau wird unterschieden zwischen einer auf Sitte und Vernunft sich gründenden Öffentlichen Meinung und einer „unvernünftigen" und willkürlichen Meinung. Es bedurfte aber erst eines Politikers, der den Ausdruck „opinion publique" in das öffentliche Bewußtsein zu tragen vermochte. Jacques Necker n) ist es, der in seinen Schriften „opinion publique" zum politischen Schlagwort werden ließ, indem er ausdrücklich Wesen und Bedeutung als Faktor der Staatskunst erörterte. Er war es auch, der als entscheidende Grundlage der öffentlichen Meinung die neu gewachsene Bourgeoisie angab, für deren finanzielle und geistige Macht er bedeutsame Entwicklungen voraussah. Die höchstmögliche Wirksamkeit und Nützlichkeit könnte die öffentliche Meinung in der konstitutionellen Monarchie entfalten, wobei ihre Hauptaufgabe als Schutz gegen Mißbrauch politischer Aktivität bestehen sollte. Necker ist es schließlich zu verdanken, daß sich erstmals die Wissenschaften, die Staatswissenschaften, mit dem Begriff befaßten: denn hier war man besonders bemüht, Methoden zu entwickeln, um der unbequem werdenden Öffentlichen Meinung Herr zu werden. 1788 stellte Necker fest, daß die Öffentliche Meinung der Herr der Staaten und der Throne sei, ein Wort, das sich kaum ein Jahr später verwirklicht hat. An der Bildung der Öffentlichen Meinung ist der Journalismus maßgeblich beteiligt, durch permanente Artikulation von Argumenten für die öffentliche Meinung in den politischen und literarischen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts wird das Festsetzen des Begriffes in breiten Bevölkerungsschichten erreicht. Zwar existiert Öffentliche Meinung nur soweit in der Gesellschaft, als sie diese zu Forderungen, bestenfalls zu Normen, zu formulieren weiß. Aber diese Vorstellungen werden als vorherrschend, wesentlich und realisierbar empfunden; um sie durchzusetzen oder um sie zu verteidigen, erhebt sich die soziale Kraft, die Öffentliche Meinung heißt. Die Ausbildung eines esprit publique, eines Zeitgeistes, ist Merkmal und Folge einer durch publizistische Medien organisierten Gesellschaft. So aber läßt sich Öffentliche Meinung in der Ära der Französischen Revolution als revolutionärer und nationaler (patriotischer) Elan enthusiasmierter Massen begreifen. In Deutschland führt Georg Forster13) den Begriff ein: Ende 1793 schreibt er in den „Parisischen Umständen" erstmals von Öffentlicher Meinung, meint aber: .....diese Wörter sind uns so neu, so fremd .. ." Der Begriffsinhalt ist noch leer. Erst Christoph Martin WielandM) versucht sich in einer Definition, die bereits wesentliche Bestandteile enthält. In dem neunten seiner „Gespräche unter vier Augen" heißt es: „ .. . ich . . . verstehe darunter eine Meinung, die bei einem Volke hauptsächlich unter jenen Klassen, die, wenn sie in Massen wirken, das Übergewicht machen, nach und nach Wurzel gefaßt und dergestalt überhandgenommen hat, daß man ihr allenthalben begegnet, eine Meinung, die sich unvermerkt der meisten Köpfe bemächtigt und auch in Fällen, wo sie noch nicht laut zu werden wagt, doch gleich einem Bienenstock, der in kurzem schwärmen wird, sich durch ein dumpfes, immer stärker werdendes Gemurmel ankündigt; da sie dann durch einen kleinen Zufall Luft bekommen darf, um mit Gewalt hervorzubrechen, in kurzer Zeit die größten Reiche umzukehren und ganzen Weltteilen eine neue Gestalt zu geben . . ." Man kann Habermas,5) recht gegeben, wenn er feststellt, 8 Kurí Paupré Was versteht man unter dem Begriff „öffentliche Meinung;"? 9 daß in Wielands Reflexionen deutlich Rousseausche Elemente erkennbar sind, und zwar „ .. . solche, an die später, während der Freiheitskriege, die politische Romantik anknüpft, um die öffentliche Meinung mit dem stummen Volksgeist zu identifizieren. Jedoch dominiert bei Wieland selbst ein Begriff der öffentlichen Meinung, der, in der etwas pedantischen Tradition der deutschen Aufklärung, vor allem Priestertrug und Kabinettsgeheimnis vor das Forum des öffentlichen Räsonnemcnts zitieren möchte . . Zu Beginn des 19. Jahrhunderts interpretierte in England Jeremy Bentham den Begriff der „Öffentlichen Meinung" in einem bemerkenswert klassisch-liberalen Sinne, ganz orientiert an den Prinzipien des „Laissez-faire". Er faßt Öffentliche Meinung als „ein Rechtssystem, das unmittelbar vom Volke ausgeht", auf. „Er projizierte in den Begriff der Öffentlichen Meinung als normatives Element die Wcrtvorstellungen des Mittelstandes hinein", sagt Ulla Otto 17), „[er] identifizierte dann das Meinen des Mittelstandes mit der Öffentlichen Meinung und proklamierte diese Öffentliche Meinung als das einzig geeignete Organ, die Glückseligkeit des ganzen Menschengeschlechts zu garantieren und zu fördern ..." Seine begriffliche Bestimmung fand viele Anhänger. Im 19. Jahrhundert vollzieht sich eine merkwürdige Entwicklung: mit zunehmender Möglichkeit aller gesellschaftlichen Gruppen, an der politischen Macht zu partizipieren, schwindet die Möglichkeit, öffentliche Meinung in einem einheitlichen Sinne zu definieren. Je mehr sidi Pressefreiheit im 19. Jahrhundert manifestierte und durch sie öffentliche Meinung praktiziert wurde, umso mehr und umso stärker wuchsen die Zweifel an Wert und Gültigkeit dieses Begriffes. Mit Recht spricht Hegel18) von der Öffentlichen Meinung als von der „ ... unorganische^] Weise, wie sich das, was ein Volk will und meint, zu erkennen gibt. . ." Er empfahl „als Bedingung alles Vernünftigen in der Welt" Unabhängigkeit von der Öffentlichen Meinung zu bewahren: .....die öffentliche Meinung verdient... ebenso geachtet wie verachtet zu werden, dieses nach ihrem konkreten Bewußtsein und Äußerung, jenes nach ihrer wesentlichen Grundlage, die, mehr oder weniger getrübt, in jenes Konkrete nur scheint. Da sie in ihr [selbst] nicht den Maßstab der Unterscheidung noch die Fähigkeit hat, die substantielle Seite zum bestimmten Wissen in sich heraufzuheben, so ist die Unabhängigkeit die erste formelle Bedingung zu etwas Großem und Vernünftigem in der Wirklichkeit wie in der Wissenschaft.. ." Zwar ist man sich darüber im klaren, daß Öffentliche Meinung von der bürgerlichen Mittelschicht repräsentiert wird, so ist sie doch nicht wissenschaftlich exakt zu fassen, denn sie ist die „formlose Reaktion der Masse"18). Doch kann nicht übersehen werden, daß in den letzten Jahrzehnten des sich vollendenden 19. Jahrhunderts von verschiedenen Zweigen der Wissenschaft her Versuche unternommen werden, endlich den Begriff zu fassen. Wieder ist Wilhelm Bauer zu nennen: er hat sich kritisch mit der damaligen Situation auseinandergesetzt: .....[zwar] stieß die soziologische Forschung mit jedem Schritt auf Erscheinungen, die ihre Aufmerksamkeit der öffentlichen Meinung zuwenden mußten ... [so hat doch] keiner der Soziologen es der Mühe wert gehalten, die öffentliche Meinung als Problem für sich zu behandeln .. ." 20) Doch war es nicht die sich etablierende Soziologie, sondern die Sozialpsychologie, die sich vielbeachtet mit der Öffentlichen Meinung befaßte. Die Öffentliche Meinung, bisher bevorzugter Gegenstand der Staatstheorie, der Historie oder der bürgerlich-liberalen Ideologie, wurde als „Phänomen der Massenpsychologie zu einem Sondergebiet der naturalistischen Psychologie"21). So umstritten die Publikation Gustave Le Bons auch heute sein mag, seine Untersuchungen lösten jedenfalls die „Öffentliche Meinung" aus dem ausschließlichen Funktionszusammenhang mit den politischen Institutionen. Das Phänomen wurde zu einem Produkt eines zugegebenermaßen noch nicht erfaßten und strukturierten Kommunikationsprozesses innerhalb der „Massen". Dieser Kommunikationsprozeß wurde nicht (mehr) an die Prinzipien öffentlicher Diskussion gebunden, und er stand nur noch in sehr loser Verbindung zur politischen Herrschaft. Von nun ab wird die sozialpsychologische Analyse mit solcher Konsequenz betrieben, daß sich alle Interpretationsversuche der Öffentlichen Meinung, die nicht zur Gänze auf das staatstheoretische Moment verzichten wollten, dem Vorwurf mangelnder (empirischer) Zuverlässigkeit aussetzten. Zu Recht oder zu Unrecht, kann leider nicht Gegenstand dieser Ausführungen sein. In der Folgezeit, den ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts, stellten die meisten Autoren, die sich mit dem Begriff Öffentliche Meinung befaßten, in ihren Untersuchungen sozialpsychologische bzw. soziologische Aspekte in bevorzugten Zusammenhang mit ihren fachwissenschaftlichen Erkenntnissen. Wilhelm Bauer z. B. in „Die öffentliche Meinung und ihre geschichtlichen Grundlagen", Tübingen 1914, und ebenso „Die öffentliche Meinung in der Weltgeschichte", Wildpark-Potsdam 1930. Bauer war es, der der publizistischen Manipulation der Öffentlichen Meinung und ihren Folgeerscheinungen in der Gesellschaft besondere Aufmerksamkeit widmete. Mit der Publikation des Soziologen Ferdinand Tönnies, „Kritik der öffentlichen Meinung", Berlin 1922 22), wird eine Aussage vorgenommen, die an Hand der politischen Erfahrung verschiedener Nationen den nicht rationalen Charakter der Öffentlichen Meinung aufzuzeigen suchte. Tönnies leitet aus der empirischen Beobachtung seinen, an die physikalischen Aggregatzustände knüpfenden Begriff der Öffentlichen Meinung ab. Den Begriff „Öffentliche Meinung" unterscheidet Tönnies in drei Arten 23): 1. als eine Mannigfaltigkeit der öffentlich ausgesprochenen Meinungen, die vergleichbar ist mit einer Versammlung im Zustand der Beratung (: Öffentliche Meinung); 2. als eine Einheit, für die die Übereinstimmung vieler Menschen, die in irgendeinem Sinne zusammengehören, wesentliches Merkmal ist, sie ist vergleichbar mit einer Versammlung im Zustand des Beschlusses (: die Öffentliche Meinung); 3. als einen diffusen, nicht erfaßbaren Zusammenhang von gemeinsamen Meinungen, wie sie in einer Stadt, einer Gemeinde oder einem Gebiet herrschen bzw. bei einem Stand, einer Klasse oder Berufsschicht vielfach, überall vertreten werden (: eine öffentliche Meinung). Tönnies unterscheidet demnach 1. die unartikulierte Meinung vieler, d.i. die äußere Gesamtheit widersprechender mannigfacher Meinungen, die öffentlich laut werden; 2. die Öffentliche Meinung, d.i. die durch die Gesamtheit vertretene Meinung, die zuvor als vorherrschend ermittelt und anerkannt wurde; sie ist 10 Kurt Paupié Was versieht man unter dem Begriff „öffentliche Meinung"? Tönnies eine einheitlich wirkende Macht und Kraft, sie ist das gemeinsame Urteil; und schließlich 3. eine öffentliche Meinung, deren Existenz man ahnt, die aber nicht lohnt, erfaßt und eingesetzt zu werden, d. h. die also ohne gesellschaftliche Dynamik ist, Tönnies hat mit seinen Einteilungen den Versuch unternommen, ein typologisches Begriffssystem zu entwickeln. Aber er führte leider nur zu analytisch nicht mehr brauchbaren Systemordnungsversuchen (Taxonomien). Unverkennbar ist dennoch die Vernachlässigung des Bezugspunkts der Forschung: dem Publikum, dem sozialen Aggregat in meßbarer Form, im Bereich der Öffentlichen Meinung seinen Platz anzuweisen. Das Wesentliche gelang nicht: den Begriff operationalisierbar zu machen. Mit dem Aufkommen neuer Medien, mit den Versuchen der Wirtschaft, durch Einsatz der Soziologen Märkte und Meinungen zu analysieren, um der großen Depression zu entgehen, brachte man zwar keinerlei Heilsrezepte, doch wird die amerikanische Kommunikationsforschung begründet. Dadurch werden der Forschung um die Öffentliche Meinung neue Impulse gegeben. Das Bürgertum als Träger der Öffentlichen Meinung wird zurückgesetzt: „Public Opinion refers to peoples attitudes on an issue when they are members of the same social group." 2/l) „Die Definition verrät deutlich, was eine jahrzehntelange Entwicklung theoretischen und vor allem empirisch-methodischen Fortschritts aus dem historischen Begriff der Öffentlichen Meinung positivistisch ausscheiden mußte .. ."25) Zunächst wurde .public', als Subjekt der Öffentlichen Meinung, mit ,mass', dann mit ,group', als dem sozialpsychologischen Substrat eines Kommunikations- und Interaktionsprozesses von zwei oder mehr Individuen gleichgesetzt. ,Gruppe' wird abstrahiert von der Fülle sozialer und historischer Voraussetzungen, auch von den institutionellen Mitteln und erst recht vom Geflecht gesellschaftlicher Funktionen. Ebenso wandelt sich der Begriff Meinung. Wird er anfangs noch mit .Äußerung über ein strittiges Problem' gleichgesetzt, geschieht dies etwas später mit der .Äußerung einer Verhaltensweise' und schließlich ,mit der Verhaltensweise selbst', die nicht einmal mehr der Verbalisierung fähig zu sein braucht. Das Attribut der .Öffentlichkeit' erwirbt eine solche Meinung nur noch durch ihren Zusammenhang mit Gruppenprozessen. „Als .öffentlich' gilt eine Gruppenmeinung, wenn sie sich subjektiv als die herrschende durchgesetzt hat." 2Q) Paul Lazarsfeld, Soziologe aus der Wiener Schule, Mitbegründer der Kommunikationsforschung, macht in seiner Broschüre „Am Puls der Gesellschaft — zur Methodik der empirischen Soziologie", Wien-Frankfurt-Zürich 1968, klar27), „warum öffentliche Meinung so schwer zu definieren" ist. Seine (nicht sehr zufriedenstellende) Antwort: durch den Aufstieg des Bürgertums, die verbesserte Bildung und die Verbreitung der demokratischen Institutionen sowie durch die Zunahme der Massenmedien sei eigentlich die öffentliche Meinung erst bedingt worden. Aber „Öffentliche Meinung ist nur scheinbar ein Begriff, bezeichnet jedoch ein kompliziertes Konglomerat von Beobachtungen, praktischen Problemen und normativen Belangen". Lazarsfeld hat ferner darauf hingewiesen, daß der sozialpsychologische Begriff Öffentliche Meinung um den Preis der Eliminierung aller wesentlichen soziologischen und politologischen Momente zu teuer erkauft sei. Er hat sich aus dieser Einsicht heraus bemüht, Abhilfe zu schaffen. Daher konfrontierte Lazars- klage auf den ^ne uf sinem "> WM P '« find« jy «studier * 9 é a is den feld 2a) den sozialpsychologischen Begriff mit dem ohne allerdings seine eigene Forderung nach einr aufhin verwirklichen zu können. Am ehester Synthese des klassischen mit dem empirisc' Gerhard Schmidtchens 2a): „ . .. alle jene kerungsgruppen zu bezeichnen, die geeigr der Herrschaft zu modifizieren .. . oder . ist die Voraussetzung zum Entstehen der c .....durch Handlungen, etwa das gesprochene c obachtungsfeld menschlicher Gruppen, das unmittelu Übertragungsmedien mittelbar hergestellt wird . .." 30) Vermochten die Sozialwissenschaften zwar keinen brauchbar Begriff zu prägen, so ist ihnen doch zu danken, daß „Öffentliche Me. reichen meßbar, in ihrer temporären Erscheinungsform erkannt werden dings hat die Meinungsforschung als Taschenplebiszit eine bemerkenswerte , strittene Bedeutung in den Urteils- und Entscheidungsvorgängen mancher politi Persönlichkeiten erhalten. Zusammenfassend muß daher gesagt werden, eine generell«. Begriffsformulicrung ist nicht möglich. Die Ursachen hiefür sind in den sich wan delnden Herrschafts- und Gesellschaftsverhältnissen zu suchen, sie liegen aber auch in engen zeit- und raumabhängigen Gegebenheiten. Jeder Forscher wird daher für seine zu untersuchende Öffentliche Meinung eine Arbeitsformel zu prägen haben, die stets in absoluter Abhängigkeit zum sozialkulturellen Umraum des Zeitabschnittes stehen muß. ANMERKUNGEN 1) Noelle-Neumann Elisabeth: „öffentliche Meinung", in: Naelle-Neumann E. cV Schulz W. (Hg.), Publizistik, ,Das Fischer Lexikon', Bd. 9, Frankfurt/Main 1971, S. 210. 2) Bauer Wilhelm: Die Öffentliche Meinung in der Weltgeschichte, Wildpark—Potsdam 1930, S. 18. 3) žit. in Bauer Wilhelm: Die öffentliche Meinung und ihre geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1914, S. 52, Anm. 1. s) Bauer, 1914, a.a.O., S. 1. 5) Bauer, 1914, a.a.O., S. 2. 6) Bauer, 1914, a.a.O., S. 2. ') Bauer, 1914, a.a.O., S. 3. B) Bauer, 1914, a.a.O., S. 3. °) Bauer, 1914, a.a.O., S. 4/5-, l0) Bauer, 1914, a.a.O., S. 7. ") Otto Ulla: Die Problematik des Begriffs der Öffentlichen Meinung, in: PUBLIZISTIK, H. 2, Konstanz 1966, (S. 99—130) S. 105. — Bauer, 1914, a.a.O., S. 15. 12) Bauer, 1930, a.a.O., S. 223; und Bauer, 1914, a.a.O., S. 17/18, 121. 13) Schneider Franz: Politik und Kommunikation, Mainz 1967, S. 47. — Habermas Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 5. A., Neuwied—Berlin 1971, S. 125. ") Bauer, 1914, a.a.O., S. 25. 15) Habermas, a.a.O., S. 126. 16) Fraenkel Ernst, öffentliche Meinung und internationale Politik, Tübingen 1962, S 21, — Otto, a.a.O., S. 107. ") Otta, a.a.O., S. 107. la) Hennis Wilhelm: Meinungsforschung und repräsentative Demokratie, Tübingen 1957, S. 28. ls) Otto, a.a.O., S. 110. 10 Kurt Paupie Was versteht man itnter dem Begriff „öffentliche Meinung"? 11 Tönnies eine einheitlich wirkende Macht und Kraft, sie ist das gemeinsame Urteil; □nd schließlich 3. eine öffentliche Meinung, deren Existenz man ahnt, die aber nicht lohnt, erfaßt und eingesetzt zu werden, d. h. die also ohne gesellschaftliche Dynamik ist. Tönnies hat mit seinen Einteilungen den Versuch unternommen, ein typologisches Begriffssystem zu entwickeln. Aber er führte leider nur zu analytisch nicht mehr brauchbaren Systemordnungsversuchen (Taxonomien). Unverkennbar ist dennoch die Vernachlässigung des Bezugspunkts der Forschung: dem Publikum, dem sozialen Aggregat in meßbarer Form, im Bereich der Öffentlichen Meinung seinen Platz anzuweisen. Das Wesentliche gelang nicht: den Begriff operationalisierbar zu machen. Mit dem Aufkommen neuer Medien, mit den Versuchen der Wirtschaft, durch Einsatz der Soziologen Märkte und Meinungen zu analysieren, um der großen Depression zu entgehen, brachte man zwar keinerlei Heilsrezepte, doch wird die amerikanische Kommunikationsforschung begründet. Dadurch werden der Forschung um die Öffentliche Meinung neue Impulse gegeben. Das Bürgertum als Träger der Öffentlichen Meinung wird zurückgesetzt: „Public Opinion refers to peoples attitudes on an issue when they are members of the same social group." 2'A) ,,Die Definition verrät deutlich, was eine jahrzehntelange Entwicklung theoretischen und vor allem empirisch-methodischen Fortschritts aus dem historischen Begriff der Öffentlichen Meinung positivistisch ausscheiden mußte. .."25) Zunächst wurde .public', als Subjekt der Öffentlichen Meinung, mit ,mass', dann mit ,group', als dem sozialpsychologischen Substrat eines Kommunikations- und Interaktionsprozesses von zwei oder mehr Individuen gleichgesetzt. .Gruppe' wird abstrahiert von der Fülle sozialer und historischer Voraussetzungen, auch von den institutionellen Mitteln und erst recht vom Geflecht gesellschaftlicher Funktionen. Ebenso wandelt sich der Begriff Meinung. Wird er anfangs noch mit .Äußerung über ein strittiges Problem' gleichgesetzt, geschieht dies etwas später mit der .Äußerung einer Verhaltensweise' und schließlich ,mit der Verhaltensweise selbst', die nicht einmal mehr der Verbalisierung fähig zu sein braucht. Das Attribut der Öffentlichkeit' erwirbt eine solche Meinung nur noch durch ihren Zusammenhang mit Gruppenprozessen. „Als ,öffentlich' gilt eine Gruppenmeinung, wenn sie sich subjektiv als die herrschende durchgesetzt hat."26) Paul Lazarsfeld, Soziologe aus der Wiener Schule, Mitbegründer der Kommunikationsforschung, macht in seiner Broschüre „Am Puls der Gesellschaft — zur Methodik der empirischen Soziologie", Wien-Frankfurt-Zürich 1968, klar27), „warum öffentliche Meinung so schwer zu definieren" ist. Seine (nicht sehr zufriedenstellende) Antwort: durch den Aufstieg des Bürgertums, die verbesserte Bildung und die Verbreitung der demokratischen Institutionen sowie durch die Zunahme der Massenmedien sei eigentlich die öffentliche Meinung erst bedingt worden. Aber „Öffentliche Meinung ist nur scheinbar ein Begriff, bezeichnet jedoch ein kompliziertes Konglomerat von Beobachtungen, praktischen Problemen und normativen Belangen". Lazarsfeld hat ferner darauf hingewiesen, daß der sozialpsychologische Begriff Öffentliche Meinung um den Preis der Eliminierung aller wesentlichen soziologischen und politologischen Momente zu teuer erkauft sei. Er hat sich aus dieser Einsicht heraus bemüht, Abhilfe zu schaffen. Daher konfrontierte Lazars- feld 2a) den sozialpsychologischen Begriff mit dem der staatstheoretischen Tradition, ohne allerdings seine eigene Forderung nach einer .classical-empirical-synthesis' daraufhin verwirklichen zu können. Am ehesten erfüllt diese Forderung nach einer Synthese des klassischen mit dem empirischen Begriffsinhalt noch die Definition Gerhard Schmidtcbens 2