KLEINE DRAMEN Es schwebt ein Alabasterwolkenkranz Zuhöclist, mit grauen Schatten, goldumrandet: So malen Meister von den frühen Tagen Die Wolken, welche die Madonna tragen. Am Abhang liegen blaue Wolkenschatten, Der Bergesschatten füllt das weite Tal Und dämpft zu grauem Grün den Glanz der Matten; Der Gipfel glänzt im vollen letzten Strahl. Wie nah sind meiner Sehnsucht die gerückt, Die dort auf weiten Halden einsam wohnen Und denen Güter, mit der Hand gepflückt, Die gute Mattigkeit der Glieder lohnen. Der wundervolle wilde Morgenwind, Der nackten Fußes läuft im Heidenduft, Der weckt sie auf; die wilden Bienen sind Um sie und Gottes helle, heiße Luft. Es gab Natur sich ihnen zum Geschäfte, In allen ihren Wünschen quillt Natur, Im Wechselspiel der frisch und müden Kräfte Wird ihnen jedes warmen Glückes Spur. Jetzt rückt der goldne Ball, und er versinkt In fernster Meere grünlichem Kristall ; Das letzte Licht durch ferne Bäume blinkt, Jetzt atmet roter Rauch, ein Glutenwall Den Strand erfüllend, wo die Städte liegen, Die mit Najadenarmen, flutenttaucht, In hohen Schiffen ihre Kinder wiegen, Ein Volk, verwegen, listig und erlaucht. Sie gleiten über ferne, wunderschwere, Verschwiegne Flut, die nie ein Kiel geteilt, Es regt die Brust der Zorn der wilden Meere, Da wird sie jedem Wahn und Weh geheilt. So seh ich Sinn und Segen fern gebreitet DER TOR UND DER TOD «Und starre voller Sehnsucht stets hinüber, Doch wie mein Blick dem Nahen näher gleitet, Wird alles öd, verletzender und trüber; Es scheint mein ganzes so versäumtes Leben, Verlorne Lust und nie geweinte Tränen, Um diese Gassen, dieses Haus zu weben Und ewig sinnlos Suchen, wirres Sehnen.J Am Fenster stehend Jetzt zünden sie die Lichter an und haben In engen Wänden eine dumpfe Welt Mit allen Rausch- und Tränengaben Und was noch sonst ein Herz gefangenhält. Sie sind einander herzlich nah Und härmen sich um einen, der entfernt; Und wenn wohl einem Leid geschah, So trösten sie . . . ich habe Trösten nie gelernt. Sie können sich mit einfachen Worten, Was nötig zum Weinen und Lachen, sagen. Müssen nicht an sieben vernagelte Pforten Mit blutigen Fingern schlagen. fWas weiß denn ich vom Menschenleben? Bin freilich scheinbar drin gestanden, Aber ich hab es höchstens verstanden, Konnte mich nie darein verweben. Hab mich niemals daran verloren. Wo andre nehmen, andre geben, Blieb ich beiseit, im Innern stummgeboren. Ich hab von allen lieben Lippen Den wahren Trank des Lebens nie gesogen, Bin nie, von wahrem Schmerz durchschüttert, Die Straße einsam, schluchzend, nie! gezogen. Wenn ich von guten Gaben der Natur 200 201 Iii ■ Ii - B w Ii KLEINE DRAMEN Je eine Regung, einen Hauch erfuhr, So nannte ihn mein überwacher Sinn, Unfähig des Vergessens, grell beim Namen. Und wie dann tausende Vergleiche kamen, War das Vertrauen, war das Glück dahin. Und auch das Leid! zerfasert und zerfressen Vom Denken, abgeblaßt und ausgelaugt! Wie wollte ich an meine Brust es pressen, Wie hätt ich Wonne aus dem Schmerz gesaugt: Sein Flügel streifte mich, ich wurde matt, Und Unbehagen kam an Schmerzes Statt . . . 1 A ufsch reckend Es dunkelt schon. Ich fall in Grübelei. Ja, ja: die Zeit hat Kinder mancherlei. Doch ich bin müd und soll wohl schlafen gehen. Der Diener bringt eine Lampe, geht dann wieder. Jetzt läßt der Lampe Glanz mich wieder sehen Die Rumpelkammer voller totem Tand, Wodurch ich doch mich einzuschleichen wähnte, Wenn ich den graden Weg auch nimmer fand In jenes Leben, das ich so ersehnte. Vor dem Kruzifix Zu deinen wunden, elfenbeinern' Füßen, Du Herr am Kreuz, sind etliche gelegen, Die Flammen niederbetend, jene süßen, Ins eigne Herz, die wundervoll bewegen, Und wenn statt Gluten öde Kälte kam, Vergingen sie in Reue, Angst und Scham. Vor einem alten Bild Gioconda, du, aus wundervollem Grund Herleuchtend mit dem Glanz durchseelter Glieder, DER TOR UND DER TOD Dem rätselhaften, süßen, herben Mund, Dem Prunk der träumeschweren Augenlider: Gerad so viel verrietest du mir Leben, Als fragend ich vermocht dir einzuweben! Sich abwendend, vor einer Truhe Ihr Becher, ihr, an deren kühlem Rand Wohl etlich Lippen selig hingen, Ihr alten Lauten, ihr, bei deren Klingen Sich manches Herz die tiefste Rührung fand, Was gab ich, könnt mich euer Bann erfassen, Wie wollt ich mich gefangen finden lassen! Ihr hölzern, ehern Schilderwerk, Verwirrend, formenquellend Bilderwerk, Ihr Kröten, Engel, Greife, Faunen, Phantastsche Vögal, goldnes Fruchtgeschlinge, Berauschende und ängstigende Dinge, Ihr wart doch all einmal gefühlt, Gezeugt von zuckenden, lebendgen Launen, Vom großen Meer emporgespült, Und wie den Fisch das Netz, hat euch die Form gefangen! I Urmonst bin ich, umsonst euch nachgegangen, -J Von eurem Reize allzusehr gebunden: Und wie ich eurer eigensinngen Seelen Jedwede, wie die Masken, durchempfunden, War mir verschleiert Leben, Herz und Welt, Ihr hieltet mich, ein Flatterschwarm, umstellt, Abweidend, unerbittliche Harpyen, An frischen Quellen jedes frische Blühen . . . Ich hab mich so an Künstliches verloren, Daß ich die Sonne sah aus toten Augen Und nicht mehr hörte als durch tote OhremJ Stets schleppte ich den rätselhaften Fluch, 202 205 KLEINE DRAMEN DER TOR UND DER TOD Rücklebend so verzaubert seinen Lauf: Denn alle süßen Flammen, Loh an Loh Das Starre schmelzend, schlagen jetzt herauf! Des allzu alten, allzu wirren Wissens.-Auf diesen Nacken vielgehäufte Last Vergeht, von diesem Laut des Urgewissens, Den kindisch-tiefen Tönen angefaßt. Weither mit großem Glockenläuten Ankündigt sich ein kaum geahntes Leben, In Formen, die unendlich viel bedeuten, Gewaltig-schlicht im Nehmen und im Geben. Die Musik verstummt fast plötzlich. Da, da verstummt, was mich so tief gerührt, Worin ich Göttlich-Menschliches gespürt! Der diese Wunderwelt unwissend hergesandt, Er hebt wohl jetzt nach Kupfergeld die Kappe, Ein abendlicher Bettelmusikant. Am Fenster rechts Hier unten steht er nicht. Wie sonderbar! Wo denn? Ich will durchs andre Fenster schaun Wieernachder Türe rechts geht, wirdder Vorhang leise j, zurückgeschlagen, und in der Tür steht der Tod, äejf Fiedelbogen in der Hand, die Geige am Gürtel hängend Fr sieht Claudio, der entsetzt zurückfährt, ruhig am Wie packt mich sinnlos namenloses Grauen! Wenn deiner Fiedel Klang so lieblich war, Was bringt es solchen Krampf, dich anzuschauen? Und schnürt die Kehle so und sträubt das Haar? Geh weg! Du bist der Tod. Was willst du hier? Ich fürchte mich. Geh weg! Ich kann nicht schreii Sinkend 208 Der Halt, die Luft des Lebens schwindet mir! [Geh weg! Wer rief dich? Geh! Wer ließ dich ein? DER TOD |Steh auf! Wirf dies ererbte Graun von dir! Ich bin nicht schauerlich, bin kein Gerippe! «Aus des Dionysos, der Venus Sippe, Bin großer Gott der Seele steht vor dir. Wenn in der lauen Sommerabendfeier |Durch goldne Luft ein Blatt herabgeschwebt, fHat dich mein Wehen angeschauert, ; Das traumhaft um die reifen Dinge webt; tWenn Überschwellen der Gefühle ; Mit warmer Flut die Seele zitternd füllte, |Wenn sich im plötzlichen Durchzucken IDas Ungeheure als verwandt enthüllte, lÜnd du; hingebend dich im großen Reigen, fDie Welt empfingest als dein eigen: lln jeder wahrhaft großen Stunde, IDie schauern deine Erdenform gemacht, trlab ich dich angerührt im Seelengrunde ivlit heiliger, geheimnisvoller Macht. CLAUDIO [Genug. Ich grüße dich, wenngleich beklommen. Kleine Pause >Doch wozu bist du eigentlich gekommen? DER TOD lein Kommen, Freund, hat stets nur einen Sinn! CLAUDIO Jei mir hats eine Weile noch dahin! lerk: eh das Blatt zu Boden schwebt, 209 KLEINE DRAMEN DER TOR UND DER TOD ■ Hat es zur Neige seinen Saft gesogen! Dazu fehlt viel: Ich habe nicht gelebt! DER TOD Bist doch, wie alle, deinen Weg gezogen! CLAUDIO Wie abgerißne Wiesenblumen Ein dunkles Wasser mit sich reißt, So glitten mir die jungen Tage, Und ich hab nie gewußt, daß das schon Leben heißt. Dann . . . stand ich an den Lebensgittern, Der Wunder bang, von Sehnsucht süß bedrängt, Daß sie in majestätischen Gewittern Auffliegen sollten, wundervoll gesprengt. Es kam nicht so . . . und einmal stand ich drinnen, Der Weihe bar, und konnte mich auf mich Und alle tiefsten Wünsche nicht besinnen, Von einem Bann befangen, der nicht wich. Von Dämmerung verwirrt und wie verschüttet, Verdrießlich und im Innersten zerrüttet, Mit halbem Herzen, unterbundnen Sinnen In jedem Ganzen rätselhaft gehemmt, Fühlt ich mich niemals recht durchglutet innen, Von großen Wellen nie so recht geschwemmt, Bin nie auf meinem Weg dem Gott begegnet, Mit dem man ringt, bis daß er einen segnet. DER TOD Was allen, ward auch dir gegeben, Ein Erdenleben, irdisch es zu leben. Im Innern quillt euch allen treu ein Geist, Der diesem Chaos toter Sachen Beziehung einzuhauchen heißt^j Und euren Garten draus zu machen I Für Wirksamkeit, Beglückung und Verdruß. Weh dir, wenn ich dir das erst sagen muß! Man bindet und man wird gebunden, Entfaltung wirken schwül und wilde Stunden; In Schlaf geweint und müd geplagt, Noch wollend, schwer von Sehnsucht, halbverzagt, Tiefatmend und vom Drang des Lebens warm . . . Doch alle reif, fallt ihr in meinen Arm. __. CLAUDIO i Ich bin aber nicht reif, drum laß mich hier. Ich will nicht länger töricht jammern, Ich will mich an die Erdenscholle klammern, Die tiefste Lebenssehnsucht schreit in mir. Die höchste Angst zerreißt den alten Bann; Jetzt fühl ich - laß mich - daß ich leben kann! Ich fühls an diesem grenzenlosen Drängen: Ich kann mein Herz an Erdendinge hängen. Oh, du sollst sehn, nicht mehr wie stumme Tiere, Nicht Puppen werden mir die andern sein! Zum Herzen reden soll mir all das Ihre, Ich dränge mich in jede Lust und Pein. Ich will die Treue lernen, die der Halt Von allem Leben ist . . . Ich füg mich so, Daß Gut und Böse über mich Gewalt Soll haben und mich machen wild und froh. Dann werden sich die Schemen mir beleben! Ich werde Menschen auf dem Wege finden, Nicht länger stumm im Nehmen und im Geben, Gebunden werden - ja! - und kräftig binden. Da er die ungerührte Miene des Todes wahrnimmt, mit steigender Angst 210 211 KLEINE DRAMEN Denn schau, glaub mir, das war nicht so bisher: Du meinst, ich hätte doch geliebt, gehaßt . . . Nein, nie hab ich den Kern davon erfaßt, Es war ein Tausch von Schein und Worten leer! Da schau, ich kann dir zeigen: Briefe, sieh, Er reißt eine Lade auf und entnimmt ihr Pakete geordneter alter Briefe Mit Schwüren voll und Liebeswort und Klagen; Meinst du, ich hätte je gespürt, was die-Gespürt, was ich als Antwort schien zu sagen?! jj Er wirft ihm die Pakete vor die Füße, daß die einzelnen Briefe herausfliegen Da hast du dieses ganze Liebesleben, Daraus nur ich und ich nur widertönte, Wie ich, der Stimmung Auf- und Niederbeben Mitbebend, jeden heiigen Halt verhöhnte! Da! da! und alles andre ist wie das: Olm Sinn, ohn Glück, ohn Schmerz, ohn Lieb, ohn j Haß! DER TOD Du Tor! Du schlimmer Tor, ich will dich lehren, Das Leben, eh dus endest, einmal ehren. Stell dich dorthin und schweig und sieh hierher Und lern, daß alle andern diesen Schollen Mit lieberfülltem Erdensinn entquollen, Und nur du selber schellenlaut und leer. _j Der Tod tut ein paar Geigenstriche, gleichsam rufend. Er steht an der Schlafzimmertüre, im Vordergrund^ rechts, Claudio an der Wand links, im Halbdunkel. Aus der Tür rechts tritt die Mutter. Sie ist nicht sehr alt. Sie trägt ein langes schwarzes Samtkleid, eine 212 DER TOR UND DER TOD schwarze Samthaube mit einer weißen Rüsche, die das Gesicht umrahmt. In den feinen blassen Fingern ein weißes Spitzentaschentuch. Sie tritt leise aus der Tür und geht lautlos im Zimmer umher. DIE MUTTER Wie viele süße Schmerzen saug ich ein Mit dieser Luft. Wie von Lavendelkraut Ein feiner toter Atem weht die Hälfte Von meinem Erdendasein hier umher: Ein Mutterleben, nun, ein Dritteil Schmerzen, Eins Plage, Sorge eins. Was weiß ein Mann Davon? An der Truhe Die Kante da noch immer scharf? Da schlug er sich einmal die Schläfe blutig; Freilich, er war auch klein und heftig, wild Im Laufen, nicht zu halten. Da, das Fenster! Da stand ich oft und horchte in die Nacht Hinaus auf seinen Schritt mit solcher Gier, IIWenn mich die Angst im Bett nicht länger litt, Wenn er nicht kam, und schlug doch zwei, und schlug IDann drei und fing schon blaß zu dämmern an . . . Wie oft . . . Doch hat er nie etwas gewußt -Ich war ja auch bei Tag hübsch viel allein. Ibie Hand, die gießt die Blumen, klopft den Staub Vom Kissen, reibt die Messingklinken blank, f So läuft der Tag: allein der Kopf hat nichts IZu tun: da geht im Kreis ein dumpfes Rad Mit Ahnungen und traumbeklommenem, Geheimnisvollem Schmerzgefühle, das Wohl mit der Mutterschaft unfaßlichem ".Geheimem Heiligtum zusammenhängt 215 "1 KLEINE DRAMEN Du sahst es auch, es reizte dich! . . . „Ja, weil Ich selber ähnlich bin zu mancher Zeit, So reizte mich des Mädchens müde Art Und herbe Hoheit, so enttäuschten Sinns Bei solcher Jugend." Hast du mirs denn nicht Dann später so erzählt? Es reizte dich! Mir war es mehr als dieses Blut und Hirn! Und sattgespielt warfst du die Puppe mir, Mir zu, ihr ganzes Bild vom Überdruß In dir entstellt, so fürchterlich verzerrt, Des wundervollen Zaubers so entblößt, Die Züge sinnlos, das lebendge Haar Tot hängend, warfst mir eine Larve zu, In schnödes Nichts mit widerlicher Kunst Zersetzend rätselhaften süßen Reiz. Für dieses haßte endlich ich dich so, Wie dich mein dunkles Ahnen stets gehaßt, Und wich dir aus. Dann trieb mich mein Geschick, Das endlich mich Zerbrochnen segnete Mit einem Ziel und Willen in der Brust -Die nicht in deiner giftgen Nähe ganz Für alle Triebe abgestorben war -Ja, für ein Hohes trieb mich mein Geschick Tn dieser Mörderklinge herben Tod, Der mich in einen Straßengraben warf, Darin ich liegend langsam moderte Um Dinge, die du nicht begreifen kannst, Und dreimal selig dennoch gegen dich, Der keinem etwas war und keiner ihm. Er geht ab. DER TOR UND DER TOD CLAUDIO Wohl keinem etwas, keiner etwas mir. Sich langsam aufrichtend Wie auf der Buhn ein schlechter Komödiant -Aufs Stichwort kommt er, redt sein Teil und geht, Gleichgültig gegen alles andre, stumpf, Vom Klang der eignen Stimme ungerührt Phobien Tones andre rührend nicht: ber diese Lebensbühne hin Ii Bin ich gegangen ohne Kraft und Wert. Warum geschah mir das? Warum, du Tod, Mußt du mich lehren erst das Leben sehen, Nicht wie durch einen Schleier, wach und ganz, Da etwas weckend, so vorübergehen? Warum bemächtigt sich des Kindersinns I So hohe Ahnung von den Lebensdingen, Daß dann die Dinge, wenn sie wirklich sind, I Nur schale Schauer des Erinnerns bringen? Warum erklingt uns nicht dein Geigenspiel, Aufwühlend die verborgne Geisterwelt, Die unser Busen heimlich hält, Verschüttet, dem Bewußtsein so verschwiegen, Wie Blumen im Geröll verschüttet liegen? Könnt ich mit dir sein, wo man dich nur hört, Nicht von verworrner Kleinlichkeit verstört! I Ich kanns! Gewälire, was du mir gedroht: Da tot mein Leben war, sei du mein Leben, Tod! I Was zwingt mich, der ich beides nicht erkenne, I Daß ich dich Tod und jenes Leben nenne? ff In eine Stunde kannst du Leben pressen, Mehr als das ganze Leben konnte halten, Das schattenhafte will ich ganz vergessen 218 219 J KLEINE DRAMEN Und weih mich deinen Wundern und Gewalten. Er besinnt sich einen Augenblick Kann sein, dies ist nur sterbendes Besinnen, Heraufgespült vom tödlich wachen Blut, Doch hab ich nie mit allen Lebenssinnen So viel ergriffen, und so nenn ichs gut! • Wenn ich jetzt ausgelöscht hinsterben soll, Mein Hirn von dieser Stunde also voll, Dann schwinde alles blasse Leben hin: Erst, da ich sterbe, spür ich, daß ich bin. Wenn einer träumt, so kann ein Übermaß Geträumten Fühlens ihn erwachen machen, So wach ich jetzt, im Fühlensübermaß, Vom Lebenstraum wohl auf im Todeswachen. Er sinkt tot zu den Füßen des Todes nieder. DER TOD indem er kopfschüttelnd langsam abgeht Wie wundervoll sind diese Wesen, Die, was nicht deutbar, dennoch deuten, Was nie geschrieben wurde, lesen, Verworrenes beherrschend binden Und Wege noch im Ewig-Dunkeln finden. Er verschwindet in der Mitteltür, seine Worte ver-\ klingen. Im Zimmer bleibt es still. Draußen sieht man durchs Fenster den Tod geigenspielend vorübergehen, hinter: ihm die Mutter, auch das Mädchen, dicht bei ihnen eine Claudio gleichende Gestalt. 220 DER WEISSE FÄCHER EIN ZWISCHENSPIEL PERSONEN DER PROLOG FORTUNIO SEINE GROSSMUTTER LIVIO MIRANDA DIE MULATTIN ' CATALINA DER EPILOG ihre Dienerinnen DER PROLOG Merkt auf, Ihr guten Herrn und schönen Damen: Nun kommt ein Spiel, das hat nicht größre Kraft Als wie ein Federball. Sein ganzer Geist ist dies: Daß Jugend gern mit großen Worten ficht Und doch zu schwach ist, nur dem kleinen Finger Der Wirklichkeit zu trotzen. Und wie ein Federball, das Kinderspielzeug, Den Vogel nachahmt, also ahmt dies Spiel Dem Leben nach, meint nicht, ihm gleich zu sein, , Vielmehr für unerfahrne Augen nur \ Erborgts ein Etwas sich von seinem Schein. Vor dem Eingang eines Friedhofes, nahe der Haupt-stadt einer westindischen Insel. Kostüm der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. - Die linke Seite und den Hintergrund bildet die lebendige, mit Blüten bedeckte Hecke, die den Friedhof umsäumt. Sie hat an : mehreren Stellen Eingänge. Dahinter sind kleine Hügel 221 Mit einem Essay von Günter Härtung „Ich denke häufig: wie, wenn man das Leben noch einmal beginnen könnte, und 2war bei voller Erkenntnis? Wie, wenn das eine Leben, das man schon durchlebt hat, sozusagen ein erster Entwurf war, zu dem das zweite die Reinschrift bilden wird! Ein jeder von uns würde dann, so meine ich, bemüht sein, vor allem sich nicht selber zu wiederholen, zumindest würde er für sich selbst eine andere Lebensweise schaffen, er würde für sich eine solche Wohnung mit Blumen nehmen, mit einer Menge Licht... Ich habe eine Frau und zwei Mädchen, und meine Frau ist oft krank, und es gibt so viele Dinge, so vieles... je nun, wenn ich mein Leben von neuem beginnen sollte, so würde ich nicht heiraten ... Nein, nein." Werschinin in „Drei Schwestern" von Anton Tschechow ÚSTREDNÍ KNIHOVNA FILOSOFICKÉ FAKULTY UNIVERSITY J. E. PURKYNÍ BRNO 'U-iuH 1. Auflage Lizenzausgabe des Verlages Volk und Welt, Berlin 1970, für die Deutsche Demokratische Republik mit Genehmigung des Suhrkamp Verlages, Frankfurt am Main © Copyright Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1967 Alle Rechte vorbehalten Printed in the German Democratic Republic L. N. 302, 410/74/70 Der Vertrieb in Westdeutschland, Westberlin und im Ausland ist nicht gestattet Einbandeutwurf: Lothar Reher Satz, Druck und Einband: Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/30 Preis 3.40 Ia ť 0°\ ^a L Personen Erster Teil Kürmann Antoinette Registratur Frau Hubalek Der alte Rektor Rotz, ein Zehnjähriger Ein Korporal Die Mutter Arzt Schwester Agnes Helen, eine Mulattin Der Vater Die Braut Die Schwiegereltern Ein evangelischer Pfarrer Ein Hochzeitskind Thomas, der Sohn Ein Flüchtling Professor Krolevsky Ein Ballettlehrer Ballettschülerinnen Ein Kellner Einer vom Verfassungsschutz Henrik, Werbefachmann Seine Frau Egon Stahel Seine Frau Schneider Hornacher, der neue Rektor Pina, eine Kalabresin Rotzler, Handelsattache Marlis Wenn der Vorhang aufgeht: Arbeitslicht, man sieht die ganze Bühne, in der Mitte stehen die Möbel, die bei Spiellicht ein modernes Wohnzimmer darstellen: ein Schreibtisch rechts, links Soja und Fauteuil und Stehlampe, eine Bücherwand hängt frei im Raum, sonst keine Wände. Eine junge Dame im Abendkleid sitzt im Fauteuil und wartet, sie trägt eine Hornbrille. Stille. Dann hört man ein schlechtes Klavier nebenan: Takte, die abbrechen, Wiederholung, wie wenn geprobt wird, dann wieder Stille; die junge Dame wartet weiter. Endlich kommt ein Herr mit einem Dossier und geht zu einem Pult im Vordergrund links, das nicht zum Zimmer gehört; er legt das Dossier auf das Pult und knipst ein Neonlicht an. Registratur Also: - er hat gesagt: Wenn er noch einmal anfangen könnte, dann wüßte er genau, was er anders machen würde in seinem Leben. Die junge Dame lächelt. Sie haben nichts dagegen, daß wir ihn noch einmal wählen lassen? Die junge Dame nickt. Zum Beispiel möchte er noch einmal die erste Begegnung mit Ihnen. Er blättert im Dossier, dann liest er: „26. Mai i960. Ich hatte Gäste. Es wurde spät. Als die Gäste endlich gegangen waren, saß sie einfach da. Was macht man mit einer Unbekannten, die nicht geht, die einfach 7 Antoinette Kürmann Antoinette Kürmann Antoinette Kürmann Antoinette Kürmann Antoinette Kürmann Antoinette Kürmann Antoinette sitzen bleibt und schweigt um zwei Uhr nachts? Es mußte nicht sein." Er knipst das Neonlicht aus. Bitte. Spiellicht. Stimmen draußen, Gelächter, schließlich Stille, kurz darauf erscheint Kürmann, der vor sich hin pfeift, bis er die junge Dame sieht. Ich gehe auch bald. Schweigen, er steht ratlos, dann beginnt er, Flaschen und Gläser abzuräumen, Aschenbecher abzuräumen, dann steht er wieder ratlos. Ist Ihnen nicht wohl? Im Gegenteil. Sie nimmt sich eine Zigarette. Nur noch eine Zigarette. Sie wartet vergeblich auf Feuer. Wenn ich nicht störe. Sie zündet an und raucht. Ich habe es sehr genossen. Einige waren sehr nett, fand ich, sehr anregend . .. Schweigen. Haben Sie noch etwas zu trinken? Kürmann geht zu einer kleinen Hausbar und gießt Whisky ein, er hantiert umständlich, um sein Schweigen zu unterstreichen, höflich wie ein Gastgeber, dem nichts andres übrigbleibt. Eis? Kürmann überreicht den Whisky. Und Sie? Ich habe morgen zu arbeiten. Was arbeiten Sie? Stundenschlag: zwei Uhr. Es ist zwei Uhr. Sie erwarten noch jemand? Tm Gegenteil. Sie sind müde. Zum Umfallen. Warum setzen Sie sich nicht? Kürmann bleibt stehen und schweigt. Ich kann nicht schneller trinken. Pause. Eigentlich wollte ich nur noch einmal Ihre alte Spieluhr hören. Spieluhren faszinieren mich: Figuren, die immer die gleichen Gesten machen, sobald es klimpert, und immer ist es dieselbe Walze, trotzdem ist man gespannt jedesmal. Sie nicht? Sie leert langsam ihr Glas. Kürmann Noch einen Whisky? Sie löscht ihre Zigarette. Antoinette Ich werde jetzt gehen. Kürmann Haben Sie einen Wagen? Antoinette Nein. Kürmann Darf ich Sie fahren? Antoinette Ich denke, Sie sind müde? Kürmann Überhaupt nicht. Antoinette Ich auch nicht. Sie nimmt sich wieder eine Zigarette. Warum sehen Sie mich so an? Haben Sie noch Feuer? Warum sehen Sie mich so an? Kürmann gibt Feuer, dann geht er zur Hausbar und gießt sich einen Whisky ein, er steht mit dem Rücken gegen sie, das Glas in der Hand, ohne zu trinken. Kürmann Haben Sie etwas gesagt? Antoinette Nein. Kürmann Ich auch nicht. Schweigen, sie raucht gelassen vor sich hin. Kürmann blickt sie an, dann setzt er sich in einen Sessel, verschränkt die Beine und zeigt, daß er wartet. Schweigen. Was halten Sie von Wittgenstein? Antoinette Kürmann Antoinette Kürmann Antoinette Kürmann Antoinette Kürmann Antoinette Kürmann Wie kommen Sie auf Wittgenstein? Zum Beispiel. Er trinkt. Wir können ja nicht einfach schweigen, bis draußen der Morgen graut und die Vögel zwitschern. Er trinkt. Was sagen Sie zum Fall Krolevsky? Wer ist Krolevsky? Professor Krolevsky, der heute abend hiergewesen ist, Professor Wladimir Krolevsky. Was halten Sie von Marxismus-Leninismus? Ich könnte auch fragen: Wie alt sind Sie? Neunundzwanzig. Was arbeiten Sie, wo leben Sie? Zur Zeit in Paris. Dabei habe ich kein Bedürfnis, es zu wissen, offen gestanden, nicht das mindeste Bedürfnis. Ich frage bloß, um nicht zu schweigen, um nicht unhöflich zu sein. Um zwei Uhr nachts. Sie nötigen mich zu einer Neugierde, die nicht besteht. Offen gestanden. Und auch das, sehen Sie, sage ich bloß, damit in diesem Zimmer gesprochen wird um zwei Uhr nachts. Er trinkt. Ich kenne das. Was? Je schweigsamer die Dame, um so überzeugter ist der Mann, daß er für die Langweile verantwortlich sei. Und je mehr ich dabei trinke, um so weniger fällt mir ein, und je weniger mir einfällt, um so offenherziger werde ich reden, um so persönlicher, bloß weil man unter vier Augen ist. Um zwei Uhr nachts. Er trinkt. Ich kenne das! Er trinkt. - Dabei hören Sie überhaupt nicht zu, glauben Sie mir, überhaupt nicht. Sie rauchen bloß vor sich hin und schweigen und warten bloß, bis mir nichts andres mehr einfällt als die sozusagen nackte Tatsache, daß wir Mann und Frau sind - Antoinette Kürmann Antoinette Kürmann Antoinette Kürmann Antoinette Kürmann Antoinette Kürmann Sie löscht ihre Zigarette. Warum bestellen Sie mir kein Taxi? Sobald Sie darum bitten. Pause. Ich höre Ihnen wirklich zu. Kür mann erhebt sich. Spielen Sie Schach? Nein. Dann lernen Sie's heute nacht. Warum? Kürmann geht hinaus. Warum bestellen Sie kein Taxi? Kürmann kommt mit einem Schach. Hier: die Bauern. Die können nicht zurück. Das ist ein Springer. Ferner gibt es Türme. Hier: das sind Läufer. Einer auf Weiß, einer auf Schwarz. Das ist die Dame. Die darf alles. Der König. Pause, bis er sämtliche Figuren aufgestellt hat. Idi bin nicht müde, aber wir werden nicht sprechen, bis der Morgen graut und draußen die Vögel zwitschern, kein Wort. Sie nimmt ihre Handtasche und erhebt sich. Sie können hier schlafen, aber es wäre besser, wenn Sie es nicht täten, offen gesprochen, es wäre mir lieber. Sie setzt sich auf ein Sofa, um ihre Lippen zu malen, Kürmann sitzt vor dem Schach und stopft sich eine Pfeife, Blick auf das Schach. Sie sind am Zug. Auch ich habe morgen zu arbeiten. Sie haben Weiß, weil Sie der Gast sind. Er zündet die Pfeife an. Ich bin nicht betrunken, und Sie sind es auch nicht, wir wissen beide, was wir nicht wollen. Er braucht ein zweites Streichholz. Ich bin nicht verliebt. Er braucht ein drittes 10 Ii Streichbolz. Sie sehen, ich rede schon sehr vertraulich, und das ist genau, was ich nicht wollte, und dabei kenne ich nicht einmal Ihren Namen. Antoinette Antoinette. Kürmann Wir sehen einander heute zum erstenmal: Sie gestatten, daß ich Sie nicht beim Vornamen nenne. Antoinette Stein. Kürmann Fräulein Stein - Sie schraubt den Lippenstift zu. Antoinette Ich spiele nicht Schach. Sie nimmt die Puderdose. Kürmann Ich erkläre Ihnen Zug für Zug. Sie eröffnen mit dem Königsbauern. Gut. Ich sichere: ebenfalls mit dem Königsbauern. Jetzt kommen Sie mit dem Springer heraus. Sie pudert sich. Fräulein Stein, ich schätze Sie. Antoinette Wieso? Kürmann Das weiß ich nicht, aber wenn wir jetzt nicht Schach spielen, so weiß ich, wie es weitergeht: Ich werde Sie verehren, daß die Welt sich wundert, ich werde Sie verwöhnen. Ich kann das. Ich werde Sie auf Händen tragen, Sie eignen sich dazu. Ich werde glauben, daß ich ohne Antoinette Stein nicht leben kann. Ich werde ein Schicksal draus machen. Sieben Jahre lang. Ich werde Sie auf Händen tragen, bis wir zwei Rechtsanwälte brauchen. Sie klappt ihre Puderdose zu. Spielen wir Schach. Sie erhebt sich. Was suchen Sie? Antoinette Meine Jacke. Kürmann erhebt sich und gibt ihr die Jacke. Kürmann Wir werden einander dankbar sein, Antoinette, sieben Jahre lang, wenn Sie jetzt gestatten, daß ich ein Taxi bestelle. Antoinette Kürmann Antoinette Kürmann Antoinette Kürmann Antoinette Beide Antoinette Kürmann Antoinette Kürmann Antoinette Ich bitte darum. Kürmann geht ans Telefon und bestellt ein Taxi. Er kommt sofort. Danke. Ich danke Ihnen. Pause, sie blicken einander an. Wie zwei Katzen. Miau. Sie müssen fauchen. Zsdi! Sonst fauche ich. Zsch! Sie steht und nimmt sich eine Zigarette. Miau, miau, miau. Sie zündet die Zigarette an. Sie machen es ausgezeidinet: die Augen, wenn Sie rauchen und dabei die Augen beinahe schließen, diese Schlitzaugen jetzt: ganz ausgezeichnet. Zsch! Miau. Miau. Miau-au-auau-au. Sie lachen. Spaß beiseite. Spaß beiseite. Kürmann nimmt ihr die Jacke ab. Was machen Sie? Es klingelt. Mein Taxi ist da. Spaß beiseite. Kürmann nimmt ihr die Hornbrille ab. Löschen Sie wenigstens das Licht. Kürmann Können wir nochmals anfangen? Neonlicht. Registratur Wo wollen Sie nochmals anfangen? Kürmann Stundenschlag zwei Uhr. 12 Registrator Wie Ihnen beliebt. Kür mann gibt die Hornbrille zurück. Kürmaiin Entschuldigung. Antoinette Bitte. Sie setzt sieb in den Fauteuil. Neonlicht aus. Registrator Bitte. Stundenscblag: zwei Uhr. Antoinette „Eigentlich wollte ich nur noch einmal Ihre alte Spieluhr hören. Spieluhren faszinieren mich: die Figuren, die immer ihre gleichen Gesten machen, und immer ist es dieselbe Walze, man weiß es, trotzdem ist man gespannt jedesmal." Kürmann Ich weiß. Antoinette „Sie nicht?" Kürmann geht zur Spieluhr und kurbelt, man hört ein heiteres Geklimper, er kurbelt, bis die Walze zu Ende ist. Kürmann Womit kann ich sonst noch dienen? Kürmann geht zur Hausbar. Leider ist kein Whisky mehr da. Antoinette Das macht nichts. Sie nimmt sich eine Zigarette. Was halten Sie von Wittgenstein? Kürmann gießt sich Whisky ein. Kürmann „Ich habe morgen zu arbeiten." Antoinette „Was arbeiten Sie?" Kürmann trinkt. Registrator Warum sagen Sie's nicht? Antoinette „Was arbeiten Sie?" Kürmann Verhaltensforschung. Kürmann trinkt. Registrator Weiter! Kürmann Um acht Uhr kommt Frau Hubalek. Antoinette Wer ist Frau Hubalek? Kürmann Meine Haushälterin. Registrator Stop! Neonlicht. Registrator Das können Sie nicht sagen, Herr Kürmann. Kaum sehen Sie eine junge Dame in Ihrer Wohnung um zwei Uhr nachts, schon denken Sie dran, daß um acht Uhr morgens Ihre Haushälterin kommt. Kürmann Fangen wir nochmals an. Registrator Und dann melden Sie, es sei kein Whisky mehr da, und kaum haben Sie gelogen, nehmen Sie eine andere Flasche, gießen sich selbst einen Whisky ein. Antoinette Das habe ich nicht einmal bemerkt. Kürmann Fangen wir nochmals an! Registrator Von Anfang an? Kürmann Bitte. Registrator Wie Ihnen beliebt. Kürmann Wieso trägt sie plötzlich keine Brille? Registrator Das kann die Dame halten, wie sie will. Das haben Sie nicht zu bestimmen, Herr Kürmann. Was Sie wählen können, ist Ihr eigenes Verhalten. Bleiben Sie ganz unbefangen, Hornbrille hin oder her. Und denken Sie nicht immer: Ich kenne das. Sie kommen herein, pfeifen vor sich hin, ein Mann auf der Höhe seiner Laufbahn: Sie sind Professor geworden - ; Kürmann Ich weiß. Registrator Man hat Sie gefeiert, Surprise-party, Sie sehen Ihre Frau zum erstenmal - ganz unbefangen. Kürmann Das ist leicht gesagt. Registrator Ganz unbefangen, ganz locker. Kürmann geht hinaus. Antoinette Von Anfang an? Registrator Wenn ich bitten darf. Neonlicht aus. Antoinette Soll ich nun die Hornbrille tragen oder nicht? 14 >5 Stimmen draußen, Gelächter, dann Sülle, kurz darauf kommt Kür mann ins Zimmer und pfeift vor sich hin, bis er die junge Dame im Fauteuil sieht. Antoinette „Ich gehe auch bald." Kürmann „Ist Ihnen nicht wohl?" Antoinette „Im Gegenteil." Sie nimmt sich eine Zigarette. „Nur noch eine Zigarette." Sie wartet vergeblich auf Feuer und zündet selber an. „Wenn ich nicht störe." Sie raucht vor sich hin. „Ich habe es sehr genossen. Einige waren sehr nett, fand ich, sehr anregend..." Kürmann schweigt. Registrator Weiter! Kürmann geht und gießt Whisky ein. Denken Sie jetzt nicht an Frau Hubalek. Kürmann überreicht den Whisky. Antoinette „Und Sie?" Kürmann „Ich habe morgen zu arbeiten." Antoinette „Was arbeiten Sie?" Pause. Registrator Jetzt schweigen Sie schon wieder. Sie setzt ihre Hornbrille auf. Antoinette „Warum sehen Sie mich so an?" Registrator Je länger Sie schweigen, um so zweideutiger wird die Stille. Spüren Sie das nicht? Um so intimer müssen Sie nachher reden. Antoinette „Warum sehen Sie mich so an?" Stundenschlag: zwei Uhr. Kürmann „Es ist zwei Uhr." Antoinette „Ich werde gehen." Kürmann „Haben Sie einen Wagen?" Antoinette Ja. Sie raucht gelassen vor sich hin. Kürmann Vorher hat sie nein gesagt, sie habe keinen Wagen, jetzt sagt sie ja: damit ich kein Taxi be- stellen kann. Ich bringe sie nicht aus dieser Wohnung! Der Registrator tritt in die Szene. Registrator Darf ich Ihnen sagen, was für einen Fehler Sie machen, und zwar von Anfang an. Kaum sehen Sie eine junge Frau in diesem Zimmer, eine Unbekannte, denken Sie an eine Geschichte, die Sie schon erfahren haben. Stimmt's? Drum sind Sie erschrocken, wissen nicht, was reden -Kürmann Ich will, daß sie geht. Registrator Damit sie nicht Ihre Frau wird. Kürmann Ja. Registrator Sehen Sie: Sie verhalten sich nicht zur Gegenwart, sondern zu einer Erinnerung. Das ist es. Sie meinen, die Zukunft schon zu kennen durch Ihre Erfahrung. Drum wird es jedesmal dieselbe Geschichte. Kürmann Warum geht sie nicht? Registrator Sie kann nicht. Kürmann Wieso nicht? Registrator Wenn sie jetzt ihre Handtasche nimmt und sich erhebt, hat sie erraten, woran Sie denken, und es ist peinlich für Sie. Warum sprechen Sie nicht von Verhaltensforschung? Allgemeinverständlich. Wieso nehmen Sie an, daß die junge Dame will, was Sie nicht wollen? Das Zweideutige kommt von Ihnen. Kürmann Hm. Registrator Sie halten sich für einen Frauenkenner, weil Sie jeder Frau gegenüber jedesmal denselben Fehler machen. Kürmann Weiter! Registrator Es liegt an Ihnen, wenn sie nicht geht. Der Registrator tritt an sein Pult zurück. Also: -Stundenschlag: zwei Uhr. Lange Pause, Antoinette steht reglos. Ja... Es kann noch Monate dauern, und Sie kommen jeden Tag, jetzt schon zweimal am Tag. Auch Sie können ihn nicht retten, Frau Kürmann, das wissen Sie . .. In zehn Jahren vielleicht, wer weiß, oder schon in einem Jahr gibt es ein Heilmittel, aber jetzt ist es noch Schicksal. . . Antoinette will gehen. Frau Kürmann. Antoinette Ja. Registratur Bereuen Sie die sieben Jahre mit ihm? Antoinette starrt den Registratur an. Wenn ich Ihnen sage: Auch Sie haben die Wahl, auch Sie können noch einmal anfangen - wüßten Sie, was Sie anders machen würden in Ihrem Leben? Antoinette Ja. Registratur Ja? Antoinette Ja. Registrator Dann bitte . . . Der Registrator führt Antoinette hinaus. Auch Sie haben noch einmal die Wahl. Arbeitslicht. Das Zimmer wird wiederhergestellt. Spiellicht. Antoinette kommt im Abendkleid und setzt sich auf den Fauteuil und wartet, sie trägt die Hornbrille. Wie zu Anfang des Spiels: Stimmen draußen, Gelächter, schließlich Stille, "* kurz darauf erscheint Kür mann, der vor sich hin pfeift, bis er die junge Dame sieht. Antoinette „Ich gehe auch bald." Schweigen, er steht ratlos, dann beginnt er, Flaschen und Gläser abzuräumen, Aschenbecher abzuräumen, dann steht er wieder ratlos. Kürmann „Ist Ihnen nicht wohl?" Antoinette „Im Gegenteil." Sie nimmt sich eine Zigarette. „Nur noch eine Zigarette." Sie wartet vergeblich auf Feuer. „Wenn ich nicht störe." Sie zündet an und raucht. „Ich habe es sehr genossen. Einige waren sehr nett, fand ich, sehr anregend ..." Schweigen. „Haben Sie noch etwas zu trinken?" Kürmann geht und gießt Whisky ein. Kürmann „Eis?" Kürmann überreicht den Whisky. Antoinette „Und Sie?" Kürmann „Ich habe morgen zu arbeiten." Antoinette „Was arbeiten Sie?" Stundenschlag: zwei Uhr. Kürmann „Es ist zwei Uhr." Antoinette „Sie erwarten noch jemand?" Kürmann „Im Gegenteil." Antoinette „Sie sind müde." Kürmann „Zum Umfallen." Antoinette „Warum setzen Sie sich nicht?" Kürmann bleibt stehen und schweigt. „Ich kann nicht schneller trinken." Pause. „Eigentlich wollte ich nur noch einmal Ihre alte Spieluhr hören. Spieluhren faszinieren mich: Figuren, die immer die gleichen Gesten machen, sobald es klimpert, und immer ist es dieselbe Walze, trotzdem ist man gespannt jedesmal." Sie leert langsam ihr Glas. „Sie nicht?" Kürmann geht zur Spieluhr und kurbelt, man hört ein heiteres Geklimper, er kurbelt, bis die Walze zu Ende ist. 114 Kürmann „Womit kann ich sonst noch dienen?" Antoinette löscht ihre Zigarette. Antoinette „Ich werde jetzt gehen." Kürmann „Haben Sie einen Wagen?" Antoinette Ja. Antoinette steht auf und nimmt ihre Abendkleid-jacke. „Warum sehen Sie mich so an?" Sie zieht ihre Abendkleidjacke an. „Warum sehen Sie mich so an?" Antoinette nimmt ihre Handtasche, Kürmann steht und blickt sie an, als glaube er nicht, daß sie gehen will. „Auch ich habe morgen zu arbeiten." Kürmann begleitet sie zum Lift hinaus, das Zim-'*' mer bleibt eine Weile leer, dann kommt Kürmann zurück. Kürmann Und jetzt? Registrator Jetzt ist sie weg. Kürmann Und jetzt? Registrator Jetzt sind Sie frei. Kürmann Frei . .. Der Registrator schlägt das Dossier auf. Registrator „26. Mai i960. Ich hatte Gäste. Es wurde spät. Als die Gäste endlich gegangen waren, saß sie einfach da. Was tut man mit einer Unbekannten, die nicht geht, die einfach sitzen bleibt und schweigt um zwei Uhr nachts? Es mußte nicht sein." Er blättert eine Seite um: . . . morgen um elf haben Sie eine Sitzung . . . Er legt das Dossier offen auf den Schreibtisch und tritt zurück. Bitte. Kürmann steht reglos. Sie sind frei - noch sieben Jahre . . . Vorhang Anmerkungen Das Stück spielt auf der Bühne. Der Zuschauer sollte nicht darüber getäuscht werden, daß er eine örtlichkeit sieht, die mit sich selbst identisch ist: die Bühne. Es wird gespielt, was ja nur im Spiel überhaupt möglich ist: wie es anders hätte verlaufen können in einem Leben. Also nicht die Biografie des Herrn Kürmann, die banal ist, sondern sein Verhältnis zu der Tatsache, daß man mit der Zeit unweigerlich eine Biografie hat, ist das Thema des Stücks, das die Vorkommnisse nicht illusionistisch als Gegenwärtigkeit vorgibt, sondern das sie reflektiert - etwa wie beim Schachspiel, wenn wir die entscheidenden Züge einer verlorenen Partie rekonstruieren, neugierig, ob und wo und wie die Partie wohl anders zu führen gewesen wäre. Das Stück will nichts beweisen. Der Registrator, der das Spiel leitet, vertritt keine metaphysische Instanz. Er spricht aus, was Kürmann selber weiß oder wissen könnte. Kein Conferencier; er wendet sich nie ans Publikum, sondern assistiert Kürmann, indem er ihn objektiviert. Wenn der Registrator (übrigens wird er nie mit diesem Titel oder mit einem andern angesprochen) eine Instanz vertritt, so ist es die Instanz des Theaters, das gestattet, was die Wirklichkeit nicht gestattet: zu wiederholen, zu probieren, zu ändern. Er hat somit eine gewisse Güte. Das Dossier, das er benutzt, ist nicht ein Tagebuch, das Kürmann einmal geschrieben hat, auch nicht ein Dossier, wie eine Behörde es anlegt; dieses Dossier gibt es, ob geschrieben oder nicht, im Bewußtsein von Kürmann: die Summe dessen, was Geschichte geworden ist, seine Geschichte, die er nicht als die einzig mögliche anerkennt. Der Wechsel von Spiellicht und Arbeitslicht be- 117 deutet nicht Wechsel von Illusion und Realität; sondern das Spiellicht zeigt an, daß jetzt eine Variante probiert wird, eine Variante zur Realität, die nie auf der Bühne erscheint. Insofern bleibt das Stück immer Probe. Wenn Kürmann aus seiner Szene tritt, so nicht als Schauspieler, sondern als Kürmann, und es kann sogar sein, daß er dann glaubhafter erscheint; keine Szene nämlich paßt ihm so, daß sie nicht auch anders sein könnte. Nur er kann nicht anders sein. Ich habe es als Komödie gemeint. 1 Literatur für Realisten Zum Werk von Max Frisch Nach sechsjähriger Pause ist Max Frisch 1967 mit „Biografie" wieder zum Drama und Theater zurückgekehrt. Das starke Echo, das dieses „Spiel" bei Kritikern und Schriftstellern gefunden hat, läßt sich aber nicht allein aus der langen Wartezeit erklären; die Kritik entzündete sich an unerwarteten politischen Tendenzen - ihretwegen war es noch vor der Uraufführung zu einem Skandal mit dem Westberliner Gastregisseur gekommen - sowie an den Problemen von Freiheit und Notwendigkeit, Schicksal und Selbstbestimmung, die hier mittels einer neuartigen dramatischen Technik zur Diskussion gestellt werden. Seine Technik rückt das Stück in die vorderste Reihe der zeitgenössischen Bühnenexperimente. Um ein volles Verständnis dieser Momente zu erschließen, wird eine Analyse des Dramas allein nicht ausreichen. Die Eigenart von Frischs CEuvre, das langsam, aber stetig zu einer Bedeutung aufgestiegen ist, die heute über die Schweiz und die soziale Schicht des Autors weit hinausreicht, verlangt vielmehr eine ungefähre Anschauung des Zusammenhanges zwischen „Biografie" und den vorhergehenden Versuchen und darüber hinaus einen Blick auf die Fragen, die diese Versuche immer wieder und immer wieder neu vor den Augen des Publikums aufwerfen. Was Frischs Werk aufbewahrt, ist eine individuelle Chronik des bürgerlich kritischen Bewußtseins; erst als Stufen eines Prozesses erhalten die einzelnen Arbeiten volles Licht. Denn von den ersten Versuchen, den Romanen „Jürg Reinhart" (1934) und „Antwort aus der Stille" (1937), über die vorläufigen, roman- oder tagebuchhaften Bilanzen aus der Kriegszeit hin bis zu den Dramen, 119