Innerstaatliche Vernetzung von Grenzregionen Prof. Dr. Tobias Chilla, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Inhaltsverzeichnis 1. Hintergrund der Untersuchung 1.1. Projektziel 1.2. Methodisches Vorgehen 1.3. Begriff der Grenzregionen 1.4. Governance und Vernetzung von Grenzregionen 1.5. Die Rolle der nationalen Ebene in den Border Studies 2. Überblick 3. Länderprofile 3.1. Dänemark 3.2. Polen 3.3. Tschechien 3.4. Österreich 3.5. Schweiz 3.6. Frankreich 3.7. Luxemburg 3.8. Belgien 3.9. Niederlande 3.10. Ungarn 3.11. Italien 3.12. Schweden 4. Reflexionen im Hinblick auf die deutsche Situation 4.1. Hintergrund: die europäische Ebene 4.2. Ausgangssituation in Deutschland 4.3. Bedeutung der Erfahrungen aus den anderen Ländern für Deutschland 4.4. Ausblick 7 7 7 8 10 11 13 15 15 16 17 18 20 22 24 27 28 30 31 33 36 36 37 40 44 Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Die INTERREG-Programmräume zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit 9 Abbildung 2: Der Untersuchungsfokus: innerstaatliche Governance in Grenzräumen 11 Abbildung 3: Ergebnisse im Überblick - vereinfachte Positionierung der untersuchten Staaten 13 Abbildung 4: Dänemark und ausgewählte grenzüberschreitende Kooperationsformen 15 Abbildung 5: Ausgewählte Kooperationsformen entlang der polnischen Grenzen 16 Abbildung 6: Grenzräume Tschechiens und ausgewählte Kooperationsformate 18 Abbildung 7: Grenzräume Österreichs und ausgewählte Kooperationsformate 19 Abbildung 8: Ausgewählte Kooperationsformen der Schweizer Grenzräume 21 Abbildung 9: Grenzregionen Frankreichs und ausgewählte Kooperationsformate 23 Abbildung 10: Ausgewählte Kooperationsformen an den Grenzen Luxemburgs 25 Abbildung 11: Grenzräume Belgiens und ausgewählte Kooperationsformen 27 Abbildung 12: Grenzregionen der Niederlande und ausgewählte Kooperationsformate 29 Abbildung 13: Ungarische Grenzregionen und die aktiven EVTZ 30 Abbildung 14: Italienische Grenzregionen und ausgewählte Kooperationsformen 32 Abbildung 15: Grenzregionen im Sinne der sog. Grenz-Komitees in Schweden 34 Abbildung 16: Die Relevanz der betrachteten Formate für Deutschland im vereinfachten Überblick 41 Abkürzungsverzeichnis AdR Ausschuss der Regionen AGEG Arbeitsgemeinschaft Europäischer Grenzregionen BBSR Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung BMI Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat CESCI Central European Service for Cross-border Initiatives EFRE Europäischer Fonds für regionale Entwicklung EMK Konferenz der Europaminister EU Europäische Union EUSAIR EU-Strategie für die Region Adriatisch-Ionisches Meer EUSALP EU-Strategie für die Alpine Region EVTZ Europäischer Verbund für territoriale Zusammenarbeit GIS-GR Geografisches Informationssystem der Großregion INTERREG A Programm der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit im Rahmen der europäischen Territorialen Zusammenarbeit IKM Initiativkreis Europäische Metropolregionen in Deutschland IMeG Initiativkreis der Metropolitanen Grenzregionen IPA Instrument for Pre-accession Assistance MKRO Ministerkonferenz für Raumordnung MORO Modellvorhaben der Raumordnung MOT Mission Opérationelle Transfrontalière ÖROK Österreichische Raumordnungskonferenz 7 // Hintergrund der Untersuchung 1. Hintergrund der Untersuchung 1.1. Projektziel Die Grenzräume mit Beteiligung Deutschlands haben auf der Bundesebene in jüngerer Zeit zunehmend größere Aufmerksamkeit bekommen. Davon zeugt die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ mit ihren Bezügen zu Grenzräumen1 und die beiden MORO2 -Projekte zur Raumbeobachtung in Grenzräumen (s. Kap. 4). Das Bemühen um den territorialen Zusammenhalt, der gerade auch in der aktuellen EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands eine große Rolle spielt, ist hiermit eng verbunden. Die Entwicklung von Grenzräumen ist ein wichtiger Baustein für die Entwicklung und Sicherung gleichwertiger Le- bensverhältnisse. In Deutschland sind die meisten Fragen der grenzüberschreitenden (Raum-) Entwicklung auf der Länderebene angesiedelt, wo sie den jeweiligen Kontexten entsprechend bearbeitet werden. Diese regionalen Kontexte sind sehr spezifisch, zumal Deutschland mit neun Nachbarstaaten recht unterschiedliche Grenzräume hat. Dies gilt in sozio-ökonomischer, sprachlicher, historischer und naturräumlicher Hinsicht3 . In der Entwicklung der Grenzräume kommt der nationalen Ebene eine begleitende Rolle 1 ausf. s. www.bmi.bund.de/DE/themen/heimat-integration/ gleichwertige-lebensverhaeltnisse/gleichwertige- lebensverhaeltnisse-node.html 2 Mit dem Aktionsprogramm „Modellvorhaben der Raumordnung“ (MORO) unterstützt das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) die praktische Erprobung und Umsetzung innovativer, raumordnerischer Handlungsansätze und Instrumente in Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis, d.h. mit Akteuren in den Regionen vor Ort. Mit der Durchführung der MORO beauftragt ist das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR). 3 s. BMVI 2018, www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/ veroeffentlichungen/ministerien/moro-praxis/2017/moro- praxis-11-17.html zu4 . Dennoch stellt sich die Frage, ob hier noch unge- nutztePotenzialederAbstimmung,derSynergienund in Lernprozessen bestehen. Bei der Beantwortung dieser Frage liegt es nahe, zunächst einen Blick auf das Funktionieren in anderen Staaten zu werfen. Dies unternimmt die vorliegende Studie und zielt auf die Analyse der innerstaatlichen Vernetzung der Grenzregionen in allen neun Nachbarstaaten Deutschlands und in drei weiteren europäischer Staaten, namentlich Ungarn, Italien und Schweden. 1.2. Methodisches Vorgehen Die vorliegende Projektskizze geht von dem Verständnis aus, dass die Vernetzung von Grenzregionen sowohl durch formalisierte, institutionalisierte Vernetzungsformen sowie durch informelle Kommunikationswege und Austauschformate getragen wird. Im Bereich der institutionalisierten Vernetzungsformate spielen Fragen des Staatsaufbaus und der Verwaltungskultur eine erhebliche Rolle. Von besonderem Interesse sind der Formalisierungsgrad, die beteiligten Akteure, die Ressourcenausstattung und der Entstehungshintergrund. Die Studie behandelt eine recht spezialisierte Thematik, zu der wenig publiziertes Wissen vorliegt. Insofern ist zwar die Informationsgewinnung zunächst auf dem Wege der Desktoprecherche erfolgt, die fachwissenschaftliche Publikationen und ‚graue Literatur‘ im Sinne von Studien, Gutachten usw. mit eingeschränktem Publikationsgrad ausgewertet hat. Von zentraler Bedeutung aber waren die Informationen, die von Experten und Expertinnen vor Ort 4 s.a. Bundesministerium des Innern / EURO-Institut KehlStrasbourg (2014): Grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit deutscher Beteiligung. Ein Erfahrungsaustausch. Dokumentation der Veranstaltungen 2012 und 2013 in der Vertretung des Landes Baden-Württemberg, Berlin Redaktion J. Beck. www. euroinstitut.org/fileadmin/user_upload/07_Dokumentation/ Publikationen/Download/Grenzuberschreitende_Zsarbeit_dt_ Beteiligung.pdf 8 // Hintergrund der Untersuchung in den jeweiligen Ländern gegeben wurden – meist auf telefonischem Wege, gelegentlich auch auf dem Wege der Videokonferenz und ergänzend auf dem Email-Wege. Im September und Oktober 2020 sind ca. 40 Interviews geführt worden, die alle Länder abdecken. Diesen Ansprechpartnern gilt ein herzlicher Dank für die Unterstützung. Die Aufbereitung und Zusammenführung der Informationsquellen erfolgt im Wesentlichen in zwei Schritten: a) Länderprofile: In Form von kompakten Länderprofilen werden die wesentlichen Erkenntnisse zusammengeführt, die einen Eindruck über das jeweilige innerstaatliche Funktionieren vermitteln (Kap. 3). Diese enthalten jeweils eine Überblicksskizze über die relevanten Kooperationsformen5 . Einen synoptischen Überblick der Gesamtsituation bietet vorab Kap. 2. b) Potenzialanalyse der Instrumente: Im Anschluss an die Analysen der jeweiligen Staaten erfolgt eine Reflexion, inwieweit die identifizierten Vernetzungs- und Koordinierungsweisen als Inspiration oder Potenzial für den deutschen Kontext gewertet werden können. Diese Reflexion ist nicht als Handlungsempfehlung oder gar als ministerielle Wertung anzusehen. Vielmehr handelt es sich um einen wissenschaftlichen Interpretationsschritt. Die vorliegende Studie ist als eine explorative Untersuchung zu sehen, die einen Überblick verschafft, aber im Detail keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. 5 Grundlagen der kartographischen Darstellungen sind neben den Expertenauskünften die AGEG-Mitgliedskarte www.aebr. eu, die MOT-Grenzraumprofile www.espaces-transfrontaliers. org/en/bdd-borders sowie Wassenberg, B., B. Reitel, J. Peyrony (2015): Die territoriale Zusammenarbeit in Europa. Eine historische Perspektive ec.europa.eu/regional_policy/sources/ information/pdf/brochures/interreg_25years_de.pdf 1.3. Begriff der Grenzregionen Der Begriff der Grenzregion erscheint in der Alltagssprache zunächst sehr eindeutig; aber sowohl in der politischen Praxis als auch im wissenschaftlichen Diskurs6 verbergen sich hierunter sehr unterschiedliche Verständnisse. Dies gilt zunächst in räumlicher Hinsicht, indem Grenzräume eher klein- oder großräumig abgegrenzt werden. Von hoher Relevanz ist dabei die Abgrenzung der grenzüberschreitenden EU-Kooperationsprogramme (im Folgenden als INTERREG A bezeichnet)7 . Abb. 1 zeigt die Förderkulissen für die Förderperiode 2014-20 (die Modifikationen für die anstehende Förderperiode sind noch nicht beschlossen8 ). Offensichtlich ist auf den ersten Blick, dass hier sehr unterschiedliche Raumzuschnitte zugrunde liegen. Während in Skandinavien oder in Osteuropa nahezu ganze Staaten als Grenzregion erscheinen, ist in Deutschland das Verständnis deutlich enger, indem der Fokus auf den Landkreisen entlang der Grenzen liegt. Zwar ist diese Form der Institutionalisierung von Grenzräumendurchauswichtig,aberbeiWeitemnicht die einzige und nicht immer die relevanteste Sichtweise. Deutlich großräumigere Zuschnitte – wie die sog. Großregion um Luxemburg und deutlich kleinere Zuschnitte – wie bei einigen ungarischen Kooperationsformaten – überlagern sich vielfältig9 . Vor diesem 6 Für viele: Paasi, A. (2012): Border studies reanimated: going beyond the territorial/relational divide. Environment and Planning A 44 (10), 2303-2309; Zumbusch, K., R. Scherer (2019): Cross-border cooperation in political science. In: Beck, J. (Hg.): Transdisciplinary discourses on cross-border cooperation in Europe. Peter Lang Frankfurt, S. 29-57 7 Madeiros, E. (2018): European Territorial Cooperation. Theoretical and Empirical Approaches to the Process and Impacts of Cross-Border and Transnational Cooperation in Europe. Sprin- ger. 8 https://ec.europa.eu/regional_policy/de/policy/cooperation/ european-territorial/cross-border/#4 9 Knippschild, R. (2018): Kooperation, grenzüberschreitende. Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.): Handwörterbuch der Stadt- und Raumentwicklung. Hannover, S. 1203-1210 // Hintergrund der Untersuchung 0 500 Km 0 250 Km 0 500 Km 0 450 Km REGIOgis Abb. 1: Die INTERREG-Programmräume zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit (Quelle: EU KOM8 ) 9 10 // Hintergrund der Untersuchung Hintergrund werden für die Länderprofile kartographische Skizzen eingefügt, die die aktuelle Situation charakterisieren. Auch aus Gründen der Übersichtlichkeit werden die INTERREG-A-Programmperimeter nicht dargestellt; ebenso bleiben die historisch bedeutsamen Städtepartnerschaften außen vor. Im Fokus dieser Studie stehen vielmehr Kooperationsformate, die einen eigenen Institutionalisierungsprozess vor Ort voraussetzen. Besonders prominent sind hierbei die Euregios (oder Euroregionen), die sich seit den 1970er Jahren europaweit als sehr wichtige Kooperationsform etabliert haben, wobei sich deren Rechtsform stark unterscheidet10 . Im zurückliegenden Jahrzehnt ist zudem die Form des Europäischen Verbundes für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ) zunehmend häufig installiert worden11 . Diese EVTZ beruhen auf EU-Verordnungen von 2006 bzw. 2013 und ermöglichen eine eigene Rechtsform in Grenzräumen, also eine vergleichsweise starke Form der Institutionalisierung12 . Darüber hinaus besteht eine Vielzahl von regional spezifischen Formaten jenseits von Euregios, EVTZ usw., die mit einbezogen werden können. Großräumigere, transnationale Kooperationsformen werden zwar angesprochen, stehen aber nicht im Fokus dieser Studie. 10 Guillermo Ramírez, M. (2018): Institutionalisation of cross-border cooperation: The role of the Association of European Border Regions. In: Havlícek, T., M. Jerábek, J. Dokoupil (eds.): Borders in Central Europe after the Schengen Agreement. Springer, Cham, S. 93-101 11 Evrard E., Engl A. (2018) Taking Stock of the European Grouping of Territorial Cooperation (EGTC): From Policy Formulation to Policy Implementation. In: Medeiros E. (eds.) European Territorial Cooperation. The Urban Book Series. Springer, Cham. https://doi.org/10.1007/978-3-319-74887- 0_11 12 Beck, J. (2017): Cross-Border Cooperation and the Challenge of Transnational Institution-Building – the Example of the European Grouping of Territorial Cooperation (EGTC). RECERC Revue électronique du Consortium d’Études Catalanes. 1.4. Governance und Vernetzung von Grenzregionen Trotz aller Dynamik des europäischen Integrationsprozesses bleiben Fragen der Entwicklung von Grenzräumen weitgehend ein Gegenstand der nationalstaatlich verankerten politischen Mandate, wobei der regionalen und kommunalen Ebene in den jeweiligen Mehrebenensystemen entsprechende Kompetenzen zukommen13 . Dies führt dazu, dass an nationalstaatlichen Grenzen oft sehr unterschiedliche Politik- und Verwaltungssysteme miteinander kooperieren. Dies geht mit unterschiedlichen Herausforderungen einher, wofür letztlich kaum ‚Standardlösungen‘ vorliegen. Vielmehr müssen je nach Institutionen- und Akteurs-Setting geeignet Formate gesucht werden. Auch deshalb kommt in den Border Studies (also der Forschung zu Grenzräumen) dem Konzept der Governance große Bedeutung zu: Governance wird hierbei als Steuerungsform des Politikgeschehens neben der Hierarchie gesehen, die vor allem Netzwerke in den Fokus stellt. Dieser Netzwerk-Begriff meint zum einen ein offenes Akteurs-Setting, das neben den ‚eigentlich zuständigen‘ eine Reihe weiterer Institutionen und Vertreter einbeziehen kann. Dies umfasst andere sektorale Politikbereiche, aber auch Vertreter aus verschiedenen Stakeholder-Bereichen14 . Die Vielfalt der Strukturen und die limitierte Steuerungskapazität ‚über die Grenze hinweg‘ bedeutet, dass Akteure aus sehr unterschiedlichen Kontexten im Fokus der vorliegenden Studie sind, die vor vielfältigen Herausforderungen stehen. Insofern ist von vornherein kein einfaches Rezept zu erwarten, sondern eher einige Komplexität. Die Studie stellt sich letztlich einer klassischen Herausforderung der Bor- 13 Plangger, M. (2019): Exploring the role of territorial actors in cross-border regions. Territory, Politics, Governance 7 (2): 156- 176. https://doi.org/10.1080/21622671.2017.1336938 14 Nienaber, B., C. Wille (2020, eds.): Theme Issue: Cross-border cooperation in Europe: Networks, Governance, Territorialisation. 28 (1), www.tandfonline.com/toc/ceps20/28/1?nav=tocList 11 // Hintergrund der Untersuchung grenzüberschreitende Governanceinnerstaatliche Governance in Grenzräumen Kommunale Ebene (Landkreise, Gemeinden) Sub-Region (z.B. Regierungsbezirke) Region (z.B. Bundesland) Nationalstaat Europäische Union Staatsgrenze Abb. 2: Der Untersuchungsfokus: innerstaatliche Governance in Grenzräumen der Studies, nämlich: „Finding the right level […]: How to find the right degree of institutionalization and the appropriate legal form for different cross-border tasks by developing a good balance between open network and classical organizational approaches whenever structuring the cross-border working context; how to avoid both institutional sclerosis and informal/individual arbitrariness?“15 Dabei hat in der Forschung der vergangenen Jahre eine intensive Debatte um grenzüberschreitende Governance stattgefunden, wobei der Fokus klar auf der grenzüberschreitenden Perspektive gelegen hat (Abb. 2). Indem die vorliegende Studie aber die innerstaat- 15 Beck, J. (2019): Cross-border cooperation in Europe as an object in transdisciplinary research, in: Beck, J. (Ed.): Transdisciplinary discourses on cross-border cooperation in Europe. Peter Lang Frankfurt, S.18 liche Governance von Grenzraumfragen in den Blick nimmt, wird eine veränderte Perspektive eingenommen, die in der bisherigen Debatte, jedenfalls explizit, allenfalls eine geringe Rolle spielt. 1.5. Die Rolle der nationalen Ebene in den Border Studies Doch auch wenn die Fragestellung der vorliegenden Studie in dieser Form bislang kaum thematisiert worden ist, finden sich in den Border Studies vielfältige Aussagen zur Rolle der nationalen Ebene. Diese lassen sich vereinfachend in drei Strängen zusammen- fassen. 12 // Hintergrund der Untersuchung a) Der Fokus auf ‚nationale Peripherien‘ Schon seit den frühen Arbeiten werden „Grenzen zumeist als Barrieren und Grenzräume überwiegend aus nationalstaatlicher Perspektive als benachteiligte und periphere Gebiete betrachtet, in denen durch die Trennwirkung der Grenze wirtschaftliche Nachteile überwiegen“16 . Der Nationalstaat hat diese am ‚Rande‘ gelegenen Räume zu unterstützen – sowohl im Sinne der Regionalentwicklung als auch im Sinne einer Festigung des nationalstaatlichen Gestaltungsraums. Zwar hat sich der Blick vom Trennenden auf das Verbindende und die Verflechtungen erweitert. Aber gerade in der politischen Praxis haben die Bemühungen um Kohäsion und Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse nicht an Relevanz eingebüßt. b) Die Perspektive der ‚Mehrebenen-Governance‘ Mit der deutlichen Stärkung der europäischen Regionalpolitik seit den 1990er Jahren kam die Debatte um die Mehrebenen-Governance auf. Grenzräume werden nun weniger als ‚Ränder‘ der Nationalstaaten gesehen, sondern als eigene Räume, die sich entlang der Grenze kristallisieren und auf sozio-kulturellen oder ökonomischen Gemeinsamkeiten aufbauen können: „The boundary creates its own distinctive region, making an element of division also the vehicle for regional definition“17 . In dieser Debatte wird die nationale Ebene gelegentlich in der Defensive gesehen, indem sich sowohl auf der europäischen, transnationalen Ebene als auch auf der regionalen Ebene neue Gestaltungsmöglichkeiten ergeben, an denen die nationale Ebene nur bedingt partizipieren kann. c) Die Perspektive der ‚sekundären Außenpolitik‘ Die Debatte um die ‚sekundäre Außenpolitik‘ betont, 16 Scherhag, D. (2008): Europäische Grenzraumforschung. ARL E-Paper 2. https://shop.arl-net.de/europaischegrenzraumforschung.html, S. 2 17 Minghi, J., D. Rumley (1991): The Geography of Border Landscapes. Routledge, S. 15 dass bei aller Berechtigung der Diskussion um Mehrebenen-Governance der Nationalstaat nicht zwangsläufig in die Defensive gerät, sondern auch in der Politik der Grenzräume eigene Interessen vertreten und umsetzen kann18 . Die Etablierung von Kooperationsformaten in den Grenzräumen von Nationalstaaten kann in verschiedenen Zeiten mit sehr konkreten Interessen in Verbindung gebracht werden: So war nach dem 2. Weltkrieg – insbesondere an der Westgrenze Deutschlands – die Frage von Friedenssicherung und Versöhnung von wesentlicher Bedeutung. Nach der Öffnung des ‚Eisernen Vorhangs‘ spielte die Stabilisierung des neuen geopolitischen Settings – v.a. an den (neuen) Ostgrenzen Deutschlands – eine wichtige Rolle. Aus Sicht der osteuropäischen Länder standen Kohäsionsprozesse und die Etablierung in der europäischen Politikgestaltung auf der Agenda. In jüngerer Zeit haben die Krisen um die Migrationsströme von 2015 und der Pandemie seit 2020 gezeigt, dass sich Fragen der nationalen Sicherheit gerade auch an europäischen Binnengrenzen manifestieren. Dabei ist die sekundäre Außenpolitik nicht auf die nationale Ebene beschränkt; auch die regionale Ebene kann die Grenzraumpolitik vor allem im Hinblick auf Minderheiten-Fragen und Bestrebungen um eine stärkere autonome Stellung nutzen. Die aufgezeigten Debatten bieten für die vorliegende Studie punktuelle Referenzpunkte. Die innerstaatliche Vernetzung von Grenzregionen ist potenziell eine relevante Facette dieser Debatten, ohne dass allerdings vorgegeben wäre, wie eine zielführende Vernetzung auszusehen hat. 18 Klatt, M., B. Wassenberg (2017) Secondary foreign policy: Can local and regional cross-border cooperation function as a tool for peace-building and reconciliation? Regional & Federal Studies, 27 (3): 205-218, DOI: 10.1080/13597566.2017.1350652 Stokłosa, K.; G. Besier (2014): European Border Regions in Comparison: Overcoming Nationalistic Aspects or Re-Nationalization? Routledge. 13 // Überblick 2. Überblick Bevor die Informationen nach Ländern differenziert und detaillierter erläutert werden, stellt Abb. 3 die Erkenntnisse in stark verdichteter und graphischer Art dar. Die starke Vereinfachung einer solchen Darstellung ist naturgemäß angreifbar, zumal eine systematische Quantifizierung der Erkenntnisse nicht möglich ist. Dennoch gibt es solide Argumente, die eine ungefähre Positionierung der jeweiligen Länder in dieser Graphik plausibel machen können, und die in den nachfolgenden Kapiteln dargelegt werden. Vernetzungs- Ebene zentral förderal / dezentral Die Graphik enthält zunächst drei Arten von Informa- tion: • Die Größe der Quadrate nimmt Bezug auf die Einwohnerzahlen der Länder, die hier in drei Klassen zusammengefasst ist. Mit zunehmender Größe der Länder geht tendenziell eine höhere räumliche Entfernung zwischen den Grenzraumakteuren auch innerhalb eines Landes einher und eine höhere Anzahl an Gebietskörperschaften, Akteuren usw. Dies ist für Fragen der Vernetzung und Koordinierung potenziell von Bedeutung. • Die x-Achse zeigt die Intensität der innerstaatlichen Vernetzung. Diese kann im Einzelfall sehr unterschiedliche Gestalt annehmen und beinhaltet z.B. die Häufigkeit von Treffen und Anzahl von Gremien, Vernetzungs- Intensität hochgering < 1 Mio. Einw. 1-30 Mio. Einw. > 30 Mio. Einw. FRHU SE CZ NL AT PL CHDE IT DK BE LU Abb. 3: Die innerstaatliche Vernetzung von Grenzregionen im Überblick - vereinfachte Positionierung der untersuchten Staaten 14 // Überblick die strategische Orientierung, die Ressourcenausstattung usw. • Die y-Achse illustriert die Ebene, auf der die Vernetzung primär verankert ist und unterscheidet hierbei die eher zentrale bzw. dezentrale Verankerung. Hier wird näherungsweise erfasst, in welchem Verhältnis die eher national-koordinierenden zu den eher regionalen, bottom-up-Vernetzungen stehen. Die Graphik impliziert auf den ersten Blick folgende Aspekte: • Es deutet sich ein gewisser Zusammenhang zwischen der Intensität der Vernetzungen und der Verankerung auf der zentralen Ebene an: Je stärker die nationale Koordinierung, desto höher die Intensität der Vernetzung. Dies ist aber nicht zwangsläufig der Fall. Beispielsweise ist in der Schweiz und eingeschränkt auch in Österreich die Vernetzung intensiver als in etlichen nicht-föderalen Staaten. Wie später zu sehen sein wird, liegt dies primär an einer formalen Verzahnung der Institutionen des Mehrebenensystems. Einschränkend muss bedacht werden, dass die informellen Vernetzungen im Rahmen dieser Studie nur punktuell erfasst werden konnten. • Ein Zusammenhang zwischen der Größe des Landes und der Vernetzungsintensität ist nicht erkennbar. Auch wenn es grundsätzlich plausibel erscheint, dass die größeren Entfernungen zwischen den Beteiligten und deren insgesamt größere Zahl typischerweise zu spezifischen Vernetzungsformen führen, so ist dies nach dieser Darstellung nicht zu erkennen: Andere Erklärungsfaktoren spielen offenbar eine stärkere Rolle. • Ost-West-Unterschiede sind kaum erkennbar. Auch wenn in den drei betrachteten Staaten Polen, Tschechien und Ungarn Elemente zentraler Organisationsformen zu finden sind, sind die Unterschiede so groß, dass eine Kategorisierung nach Ost und West nicht zulässig erscheint. Die Ergebnisse zeigen also, dass es a) eine große Vielfalt an Ausgestaltungen der innernationalen Vernetzungen gibt und dass dabei b) keine einfachen Muster oder Erklärungsansätze vorliegen. Es kommt in hohem Maße auf die jeweiligen Ausgestaltungen vor Ort an, die insofern Ausdruck der europäischen Vielfalt sind. Die nachfolgenden Länderprofile erläutern und konkretisieren dies. // Länderprofile DÄNEMARK NOR Göteborg Öresund/ SWE Greater Copenhagen Region Kopenhagen Malmö FehmarnbeltSønderjylland - Schleswig PL Hamburg Entwurf: T. Chilla 2020100 km DEU Kartographie: S. Adler 3. Länderprofile 3.1. Dänemark Ausgangssituation Dänemark hat eine 68 km lange Landgrenze zu Deutschland und eine große räumliche Nähe über die Seegrenze hinweg zu Schweden (Brücken-Tunnel-Verbindung im Öresund und eine ca. 5 km lange Fährverbindung Helsingør / Helsingborg). Die Entfernung zu Norwegen über die Seegrenze ist erheblich größer (ca. 100 km) und wird hier nicht betrachtet. Grundsätzlich gilt, dass in diesem Raum eine große kulturelle (und auch sprachliche) Nähe auch über Grenzen hinweg besteht. Zugleich besteht über die Minderheiten-Thematik im Raum Süddänemark / Schleswig eine nicht unkomplizierte Ausgangssitua- tion19 . Auch aufgrund des naturräumlichen Kontextes spielen Infrastruktur-Fragen in diesem Raum eine erhebliche Rolle: Während die Öresund-Querung als Erfolgsgeschichte der grenzüberschreitenden Anbindung gilt, so ist die Umsetzung des Fehmarnbelts durch rechtliche Klärungen vor allem auf deutscher Seite ein recht langatmiger Prozess, der jüngst aber einen wichtigen Schritt gemacht hat20 . 19 Graw-Teebken, A. (2020): 1920-2020 Das deutsch-dänische Grenzgebiet - von der Grenzziehung bis zur Zusammenarbeit. Ein historischer Rückblick. www.region.de/region/de/ueber_ uns/publikationen/Publikationen_Zusammenarbeit.php Klatt, M. (2017): The Danish-German Border Region: Caught between Systemic Differences and Re-bordering. Eurasia Border Review 8(1): 15-30. http://src-h.slav.hokudai.ac.jp/publictn/ index4.html 20 Aktuell: www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/ Fehmarnbelttunnel-darf-nach-Leipziger-Urteil-gebautwerden,fehmarnbelt436.html; zum Hintergrund Guasco, C. N. (2015): Cross-border cooperation in the Fehmarn Belt Region: A political integration perspective. Roskilde Universitet. https:// rucforsk.ruc.dk/ws/files/56392881/Ph.d._afhandling_clement_ guasco_3.0.pdf Abb. 4: Dänemark und ausgewählte grenzüberschreitende Kooperationsformen Vernetzungsformen Die drei maßgeblichen Kooperationsformate zeichnen sich durch sehr unterschiedliche Konstellationen und Ausgestaltungen aus: • Die Euregio Sønderjylland-Schleswig ist erst 1997 gegründet worden und ist damit eine recht junge Kooperationsform; zugleich besteht hiermit die einzige Euregio mit dänischer Beteiligung. • Die Region Fehmarnbelt beruht auf einer recht lockeren Organisation. Zwar existiert ein gemeinsames INTERREG-Sekretariat in Eutin, aber keine weiteren Kooperationsstrukturen. • Die Grenzregion Öresund ist von einiger Dynamik geprägt: Für etliche Jahre war die Kooperation in diesem Raum recht stark institutionalisiert und sichtbar in Form des Öresund-Komitees. Dies ist in jüngerer Zeit zum Greater Copenhagen Committee restrukturiert worden. In Dänemark besteht keine formale Struktur zur Vernetzung der drei Grenzregionen. Aufgrund der ‚übersichtlichen‘ Situation bestehen aber eine Reihe von informellen Kontakten und persönlichen Netzwerken. Dabei ist es charakteristisch für informel- 15 // Länderprofile Euroregion Bug POLEN LVA Euroregion Baltic le Vernetzungsformen, dass die Qualität maßgeblich vom jeweili- SWE Euroregion Šešup˙ gen persönlichen Engagement ab- Kopenhagen Vilnus hängt und personelle Fluktuation Malmö Euroregion Lyna-Lawa LTU RUS Minskdie Aktivitäten erschweren kann. Danzig BLR Parallel erfolgen auf dem Wege Euroregion Nemunasder Vorbereitung und Durchfüh- Euroregion rung der INTERREG-Programme Stettin Pomerania Euroregion Puszcza Białowieska eine Reihe von de-facto-VernetEuroregion PRO Warschau zungen, die in Dänemark über das DEU EUROPA VIADRINA Berlin Wirtschaftsministerium durchge- Euroregion EuroregionSpree-Neisse-Bober Bug führt werden. Euroregion Euroregion Zwar ist Dänemark Mitglied Neisse- Prad˜d -Pradziad Nisa-Nysa Euroregion Silesia Lwiw im Nordischen Rat, wo Grenzfra- UKREuroregion Krakau Carpathian Glacensis gen eine zentrale Rolle spielen Prag Euroregion Euroregion T˜šínské (ausführlicher beim Länderpro- CZE Slezsko - °l˛sk Cieszy˝ski Euroregion Euroregion Beskidy - SVK Tatry fil Schweden, Kap. 3.12). Da aber Beskydy DEU AUT nur die Öresund-Region mit der Wien Bratislava HUN Entwurf: T. Chilla 2020 100 km Kartographie: S. Adler Grenze zwischen Dänemark und Schweden vom Vertragsgebiet Abb. 5: Ausgewählte Kooperationsformen entlang der polnischen Grenzen des Nordischen Rats erfasst ist, spielt dies für innerstaatliche Netzwerke keine Rol- le21 . 3.2. Polen Ausgangssituation Polen hat mit sieben sehr unterschiedlichen Ländern eine Landgrenze und mit Schweden über die Ostsee hinweg einen weiteren nahen Nachbarn (s. Abb. 5). Im Gefolge der Öffnung Richtung Westen wurde in den 1990er Jahren eine Selbstverwaltungsreform in Polen durchgeführt, als deren Ergebnis insgesamt 16 Regionen (Woiwodschaften) als politische Mittelebene zwischen Nationalstaat und kommunaler Ebene etabliert wurden. Die Woiwodschaften werden durch die Regionalparlamente und des aus ihren Reihen 21 https://nordregio.org/maps/nordic-cross-border-co- operation-committees-2018 gewählten Marshalls politisch gesteuert, wobei jeder Woiwodschaft von der Zentralregierung in Warschau ein Woiwode zugeteilt ist, der vom Premierminister ernannt ist und – den sog. Präfekten in anderen europäischen Staaten nicht unähnlich – eine recht prominente Funktion einnimmt22 . Der EU-Beitritt 2004 und der Schengen-Beitritt 2007 führten zu einer Intensivierung der Verflechtungen in den Grenzräumen. Heute gibt es 16 Euroregionen, welche sich entlang aller polnischen Außengrenzen erstrecken. Es existieren bilaterale Euroregionen, aber auch großräumige Kooperationen mit bis zu fünf unterschiedlichen nationalen Beteiligungen im Falle der Euroregion Baltic. 22 Opiłowska, E. (2019): Regionalisation in Poland: background, features and public perception. A first appraisal, Belgeo https:// journals.openedition.org/belgeo/34254 16 17 // Länderprofile Vernetzungsformen Einerseits sind im traditionell zentral geprägten Nationalstaat Polen Fragen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit eng mit der nationalen Außenpolitik verbunden. Dies ist angesichts der geopolitischen Implikationen, die sich aus den Beziehungen insbesondere auch zu den östlichen Nachbarn ergeben, naheliegend. Aber auch bei der Erarbeitung des gemeinsamen „Zukunftskonzept 2030 für den deutsch-polnischen Verflechtungsraum“23 war die nationale Ebene von tragender Bedeutung. Die aktive Rolle der nationalen Ebene in grenzüberschreitenden Fragen darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auf regionaler Ebene eine starke Vernetzung mit ‚bottom-up‘-Dynamik besteht: Auf der operativen Ebene sind die Euroregionen und Woiwodschaften die zentrale Anlaufstelle, bei denen eine hohe Anzahl an praktischen Problemen aufläuft. Um hier auch gegenüber den zentralen Stellen eine starke Stimme zu haben und um voneinander zu profitieren, ist in den vergangenen Jahren die innerstaatliche Vernetzung erheblich verstärkt worden. Seit 1995 besteht auf dieser Ebene das sog. Forum der Euroregionen, das ursprünglich vor allem auf einem jährlich stattfindenden, eher informellen Treffen beruhte, in dessen Rahmen Grenzraumproblematiken diskutiert und Abstimmungsprozesse angestoßen wurden24 . Aus diesem informellen Austausch heraus ist 2012 eine Föderation mit eigener Rechtspersönlichkeit gegründet worden. Die Intention war hierbei bestimmte Anliegen zu bündeln und geschlossen gegenüber der Nationalregierung aufzutreten. Neben der formalen Vernetzung spielen auch informelle Kontakte in Polen eine starke Rolle. Eine parlamentarische Vernetzung in verstetigter Form ist 23 www.kooperation-ohne-grenzen.de 24 s. http://federacjaeuroregionow.eu/powstanie jedoch nicht bekannt25 . Als weitere Vernetzungsformen lassen sich die INTERREG-Programmräume sowie informelle Abstimmungen auf Projektebene oder in Programmierungsprozessen nennen. Hier ist zu betonen, dass die Marshalls der Woiwodschaften auch Mitglieder in den Ausschüssen der Programmräume sind und so eine Vernetzung über den eigenen Grenzraum hinweg – aber meist nur entlang der Grenze zu dem jeweiligen Nachbarstaat – stattfindet. 3.3. Tschechien Ausgangssituation Die Überblickskarte zeigt die recht hohe Zahl an Kooperationsstrukturen in Tschechien, die vor allem im Euregio-Format bestehen (Abb. 6). Diese Euregios bzw. Euroregionen sind zumeist in Form von bi- oder multilateralen Vereinen verfasst, wobei diese Vereine jeweils Mitglied beim Pendant auf der anderen Seite der Grenze sein können. Es handelt sich hierbei also um eine vergleichsweise wenig institutionalisierte Form der Grenzregion. In der räumlichen Charakteristik sind Tschechiens Grenzräume größtenteils sehr ländlich und auch von Mittelgebirgen als naturräumlichen Barrieren geprägt. Ausnahmen sind hier die Korridore Brünn-Wien und Ostrava-Katowice. Die grenzüberschreitenden Verflechtungen mit Deutschland sind – gemessen an der Zahl der Grenzpendler – vor allem entlang der bayerisch-böhmischen Grenze recht hoch. Dort haben sich die Verflechtungsachsen Marktredwitz-Cheb (Eger) und Cham-Klatovy (Klattau) entwickelt. Mit der Autobahn 25 Weiterführend Opiłowska, E. , Kurcz, Z. & J. Roose (Hrsg.) (2017): Advances in European Borderlands Studies, Baden-Baden. Opiłowska, E. (2017): Reconciliation through Europeanization: Secondary foreign policy in the German–Polish borderlands. Regional & Federal Studies, 27:3, 283-304, https:// doi.org/10.1080/13597566.2017.1343719 // Länderprofile BerlinTSCHECHIEN Euroregion Neisse- PL DEU Nisa-Nysa Euroregion EuroregionEuroregionElbe/Labe Prad˜d - PradziadEuroregion Glacensis Erzgebirge Euroregion Silesia Krušnoho˙í Krakau Prag Euroregion T˜šínskéEuregio EuroregionSlezsko - °l˛sk Cieszy˝skiEgrensis Beskidy - DEU Wien München Euregio Silva Nortica Euregio Bayer. Wald – Böhmer Wald – AUT 100 km Unterer Inn Beskydy Euroregión BíléBiele Karpaty SVK Bratislava Euregio Weinviertel – Südmähren – HUNWestslowakei Entwurf: T. Chilla 2020 Kartographie: S. Adler Nürnberg-Prag (A6) ist zumindest eine hochrangige, durchgängige Verbindung ge- schaffen26 . Vernetzungsformen Eine Assoziation der Euroregionen der Tschechischen Republik wurde 2002 gegründet und sollte die Euregios im tschechisch-deutschen und tschechisch-österreichischen Grenzraum verbinden. Über einige Jahre hinweg gab es regelmäßige Treffen von Vertretern der Euregios zu verschiedenen Themen und zur Koordinierung der grenzüberschreitenden ZusamAbb. 6: Grenzräume Tschechiens und ausgewählte Kooperationsmenarbeit. Seit etwa 2010 ist diese Platt- formate form allerdings nicht mehr aktiv. Insofern gibt es heute keine formale Vernetzung oder horizontale Koordinierung von Euregios auf der gesamttschechischen Ebene. In der Praxis dominieren daher zwei Vernetzungsformen, die vor allem einen technischen Hintergrund haben27 : • Innerhalb der Programmräume und den damit verbundenen Vergabeausschüssen und gemeinsamen Sekretariaten treffen die Vertreter der beteiligten Euregios und Grenzräume zusammen und stimmen sich ab. 26 Chilla, T. ; L. Fráně, F. Sielker, J. Weber (2018): Grenzüberschreitende Regionalentwicklung an der bayerisch-tschechischen Grenze – die Suche nach den ‚richtigen‘ Kooperationsformen, in: Chilla, T. & F. Sielker (Hg.): Grenzüberschreitende Raumentwicklung Bayerns. Dynamik in der Kooperation – Potenziale der Verflechtung. Hannover. https://shop.arl-net.de/grenzueberschreitende- raumentwicklung-bayerns.html 27 Jeřábek, M., T. Havlíček, J. Dokoupil (2018): Euroregions as a Platform for Cross-Border Cooperation. In: Havlíček T., Jeřábek M., Dokoupil J. (eds) Borders in Central Europe After the Schengen Agreement. Springer, Cham. https://doi. org/10.1007/978-3-319-63016-8_5 Pászto, V., K. Macků, J. Burian, J. Pánek , P. Tuček (2019): Capturing cross-border continuity: The case of the Czech-Polish borderland. Moravian Geographical Reports 27 (2): 122-138. https://doi.org/10.2478/mgr-2019-0010 • Mit dem zuständigen Ministerium für Regionalentwicklung in Prag werden alle wichtigen Fragen für die Ausgestaltung und Umsetzung des Programmes entwickelt. Diese Abstimmungen erfolgen anlassbezogen und folgen keinem festen Rhythmus. 3.4. Österreich Ausgangssituation Der Staatsaufbau Österreichs ist stark föderal geprägt, wobei die neun Bundesländer durchweg – mit der Ausnahme des Bundeslandes Wien – an Staatsgrenzen stoßen28 . Fast das gesamte Staatsgebiet liegt innerhalb der INTERREG-A-Förderkulisse. Österreich hat mit immerhin acht direkten Nachbarstaaten (Abb. 7) eine recht komplexe Ausgangssituation, zumal sich die Institutionalisierungen der grenzüberschreitenden Kooperation je nach Nachbarstaat unterscheiden. Während der Grenzraum zu Deutschland durch recht klein zugeschnittene Euregios adressiert wird, ist die 28 Heintel, M.; R. Musil; N. Weixlbaumer (2017, Hg.): Grenzen: Theoretische, konzeptionelle und praxisbezogene Fragestellungen zu Grenzen und deren Überschreitungen. [darin mehrere Beiträge zur österreichischen Situation] 18 // Länderprofile FrankfurtInstitutionalisierung Richtung Un- ÖSTERREICH Europaregion Donau-Moldau Euregio Euregio garn jenseits der EU-Programm-Be- Prag Silva NorticaEuregio Bayer. Wald- WeinviertelBöhmerwald - Unterer Inn CZE Südmähren-teiligten derzeit gering ausgeprägt, EUREGIO auch weil die Einschätzungen zum via salina Int. EVTZ-Format zwischen beiden Län- Bodensee- konferenz dern variiert. Euregio Bodensee Österreich ist zugleich Teil einer hohen institutionellen KooperationsCHEdichte im Alpenraum, die bereits seit den 1970er Jahren auf verschiedenen Europaregion ITA ARGE KarntenTirol - Südtirol/ Slowenien Ebenen entstanden ist. Nicht abge- Trentino (EVTZ) EVTZ Euregio SVNSenza Confini Entwurf: T. Chilla 2020 bildet, aber erwähnenswert, sind 100 km Venedig Kartographie: S. Adler die großräumiger zugeschnittenen Abb. 7: Grenzräume Österreichs und ausgewählte Kooperationsformate Formate der Arge Alp, der Arbeitsgemeinschaft der Alpenländer oder der Arbeitsgemeinschaft Alpen-Adria29 . Vernetzungsformen Eine gewisse Form der Koordinierung und Vernetzung von Grenzregionen innerhalb des stark föderalen österreichischen Systems erfolgt auf Ebene der Österreichische Raumordnungskonferenz (ÖROK). Diese Konferenz existiert seit den 1970er Jahren und versammelt politische Vertreter des Bundes, der Länder und der kommunalen Ebene. Sie übernimmt sowohl politische Funktionen (und erinnert darin an die deutsche Ministerkonferenz für Raumordnung, MKRO) als auch inhaltliche Funktionen (und erinnert z.B. mit ihren zahlreichen Publikationen an das deutsche BBSR). Zentrales Dokument ist das Österreichische Raumentwicklungskonzept, das alle 10 Jahre neu erarbeitet wird und das Parallelen zu den bundesdeutschen Leitbildern aufweist. Die ÖROK hat seit 2011 die ständige Arbeitsgruppe Cross-border cooperation (AG CBC) in der 29 ESPON (2018): Alps2050 Atlas. Annex to the Final Report of Alps 2050 – Common Spatial Perspectives for the Alpine Area. Towards a Common Vision. Online: www.espon.eu/alps2050, dort insbes. Kap. 11 zur Governance EuRegio Salzburg - Westslowakei Berchtesgadener Land - Traunstein SVK DEUEuregio Wien Bratislava ZWK München Inn-Salzach- Euregio HUNEuregio Graz Steiermark-Euregio SlowenienInntal ÖROK-Geschäftsstelle eingerichtet. Mitwirkende in dieser Arbeitsgruppe sind insbesondere die Vertreter der verschiedenen Programmräume. In regelmäßigen Treffen stehen hier insbesondere die Themen des INTERREG-A-Programmes auf der Agenda (Programminhalte, Evaluierung, Schnittstellen mit anderen Programmen)30 . Im engeren Sinne ist diese Institution die einzige Vernetzungs- und Abstimmungsform innerhalb Österreichs. Dabei darf diese Arbeitsgruppe im Hinblick auf den innerstaatlichen Austausch nicht überschätzt werden, da der Fokus stark auf der Programmumsetzung liegt und eher verwaltungstechnische Fragen im Blick hat. Die Umsetzung der Kooperationen ist eine Länderkompetenz, die von den Bundesländern durchaus unterschiedlich ausgefüllt wird31 . Diese Arbeitsgruppe ist im Zusammenhang zu 30 www.oerok.gv.at/region/eu-fonds-2014-2020/efre/ziel-etz- grenzueberschreitend 31 Pucher, J., H. Tödtling-Schönhofer, M. Gruber, A. Resch, J. Weiss (2017): ETZ in Österreich - eine Bestandsaufnahme. Grenzüberschreitende Kooperationen – Evaluierung und Perspektiven 2020+. I.A. des Bundeskanzleramtes, Abteilung Koordination Raumordnung und Regionalpolitik. Wien. Online: http://metis-vienna.eu/wp-content/uploads/2017/05/ Metis_ETZ_Bestandsaufnahme_2017_05_04.pdf; BauerWolf, S. (2005): Europaregionen – Herausforderungen, Ziele, Kooperationsformen. ÖROK-Schriftenreihe 169, Wien. 19 20 // Länderprofile sehen mit dem parallel existierenden sog. Nationalen Komitee, das als ÖROK-Ausschuss österreichische Interessen in den transnationalen und interregionalen Programmen vertritt. Unterhalb dieser Programmebene sind im operativen Geschehen die lokal verankerten Kooperationsformen wie Euregios von praktisch großer Bedeutung, die in Österreich in aller Regel auf Ebene der Regionalmanagements verortet sind und in denen auch die Aktivitäten des LEADER-Programms maßgeblich verortet sind32 . Diese Regionalmanagements sind in den Bundesländern unterschiedlich aufgestellt und können auf Bundesland- und Bezirksebene angesiedelt sein. Insoweit bundesweite Treffen der Regionalmanagements stattfinden, können auch Vernetzung und Austausch von Grenzraumakteuren über alle Ebenen hinweg erfolgen. In einigen Fällen – z.B. in Oberösterreich – ist das Regionalmanagement (hier als INTERREG-Verwaltungsbehörde) zugleich auf Ebene der ÖROK mit eingebunden. In anderen Fällen sind die Regionalmanagements institutionell weiter unterhalb angesiedelt und nicht in der AG CBC beteiligt. Eine explizite Vernetzung dieser Grenzraumakteure erfolgt auf dieser Ebene insofern nicht. Zumindest erwähnt werden sollte noch die Vernetzung auf regionaler Ebene: Insofern mehrere Kooperationsformate innerhalb eines Programmraums verortet sind – was beispielsweise im österreichisch-deutschen Raum der Fall ist – so erfolgen Treffen und Koordinierungen innerhalb der Programmräume und zugehörigen Vergabeausschüsse. Ein Beispiel dafür sind die quartalsweise stattfindenden Treffen der Euregio-Geschäftsführer im Raum Bayern-Österreich. 32 Gruber, M., A. Kanonier, S. Pohn-Weidinger, A. Schindelegger (2018): Raumordnung in Österreich und Bezüge zur Raumentwicklung und Regionalpolitik. ÖROK Schriftenreihe Nr. 202, www.oerok.gv.at/fileadmin/user_upload/publikationen/ Schriftenreihe/202/OEROK-SR_202_DE.pdf 3.5. Schweiz Ausgangssituation Die Schweiz ist im Rahmen dieser Untersuchung zumindest aufgrund von drei Argumenten ein besonderes Beispiel: • Die absoluten und relativen Statistiken der Einpendler über die nationalen Grenzen hinweg sind sehr hoch, insbesondere in den Räumen Genf, Basel, aber auch im Tessin und im Raum Zürich. Die Verflechtungsgebiete umfassen insofern sowohl metropolitane Gebiete sowie auch ländlichere Räume. • Die Schweiz ist neben Luxemburg das Land, dessen Arbeitsmarkt besonders stark durch Einpendler über die Grenze geprägt ist33 . • Obwohl die Schweiz kein Mitglied der EU ist, nimmt sie teil an wesentlichen EU-Formaten der grenzüberschreitenden Entwicklung – insbesondere an den Regularien des Schengenraums und der INTERREG-Pro- gramme34 . • Im Schweizer Bundesstaat haben die 26 Kantone eine nicht unerhebliche innere Autonomie, wobei die Kantone im Vergleich zu anderen föderalen Staaten recht klein sind, indem sie außer im Fall von Zürich und Bern weit weniger als eine Mio. Einwohner ha- ben35 . Vernetzungsformen Die Vernetzung der an Grenzfragen beteiligten Akteure innerhalb der Schweiz geschieht in formaler Hin- 33 Chilla, T. & A. Heugel (2019): Cross-border Commuting Dynamics: Patterns and Driving Forces in the Alpine macroregion. Journal of Borderlands Studies. https://doi.org/10.1080 /08865655.2019.1700822 34 Leimgruber W. (2018): Boundaries and Transborder Relations: The Case of Switzerland. In: Havlíček T., Jeřábek M., Dokoupil J. (Hg.): Borders in Central Europe after the Schengen Agreement. Springer, Cham. https://doi.org/10.1007/978-3- 319-63016-8_7 35 Pfisterer, T. (2014): Die Kantone mit dem Bund in der EU-Zusammenarbeit. Publikation Schriften zur Grenzüberschreitenden Zusammenarbeit (DIKE-Verlag), Bd. 9. Zürich/St. Gallen 2014 // Länderprofile SCHWEIZ Paris Stuttgart DEU FRA Oberrheinkonferenz Trinationaler Eurodistric Basel Int. Bodensee- Konferenz Hochrhein- kommission Euregio München Arc Jurassien Bodensee AUT Conseil du Léman / Comité regional franco-genevois Bern Regio Sempione Espace Mont-Blanc Regio Insubrica Venedig Conseil ValaisVallee d’Aoste ITA Entwurf: T. Chilla 2020100 km Kartographie: S. Adler Abb. 8: Ausgewählte Kooperationsformen der Schweizer Grenzräume sicht auf zwei Wegen – zum einen auf dem Wege der (‚kleinen‘) Außenpolitik und zum zweiten im Bereich der Raumentwicklung. Ausgangspunkt für ersteren Weg ist Artikel 56 der Schweizer Verfassung, der die sog. ‚kleine Außenpolitik‘ der Schweiz begründet. Dies beinhaltet das Recht der Kantone, Abkommen auch grenzüberschreitender Art weitgehend eigenständig abzuschließen; gegenüber der Bundesebene gilt hier lediglich eine Informationspflicht. Dies erstreckt sich beispielsweise auf das Recht einen EVTZ abzuschließen. Jeder Kanon verfügt über zumindest eine/n Außenbeziehungs-Beauftragte/n, bei dem/der dieses Thema zusammenläuft. Zwei Mal im Jahr trifft sich das sog. Netzwerk der kantonalen Außenbeziehungs- und Europa-Delegierten, wobei auch die Bundesebene zwei Vertreter schickt. Diese Treffen erfolgen auf weitgehend informeller Ebene; sie sind also eher eine Form der Vernetzung als eine Form der Koordinierung. Wichtig ist, dass bei diesen Zusammenkünften auch die Geschäftsführer oder weiteren Vertreter der grenzüberschreitenden Kooperation selbst als Gäste geladen werden können. Im Bereich der Raumentwicklung ist die sog. Neue Regionalpolitik (NRP) die Ausgangsbasis, die seit 2008 umgesetzt wird36 : Diese zielt explizit auf die Grenzregionen, in Ergänzung zu den ebenfalls adressierten Berggebieten und dem ländlichen Raum. Der Umsetzungsprozess der NRP basiert auch auf den regelmäßigen Treffen der einschlägigen Fachkonferenz, namentlich der Konferenz der kantonalen NRP- und Interreg-Fachstellen. Die Treffen umfassen die Jahresversammlung, den repräsentativen Ausschuss sowie thematische Workshops und bringen Vertreter des Bundes und der kantonalen NRP- und Interreg-Fachstellen sowie staatliche Trägerschaften zusammen, die mit dem Bund eine NRP-Programmvereinbarung unterzeichnet haben. Auf beiden Wegen stehen Vertreter von Bund und Kantonen in kontinuierlichem Austausch. Diese Form der föderalen Vernetzung ist – jedenfalls im Vergleich mit anderen europäischen Staaten – recht formal und intensiv. Darüber hinaus lassen sich zwei Vernetzungsformen innerhalb der Schweiz nennen, die in der Praxis eine ebenfalls wichtige Rolle spielen. Auf politischer Ebene kommt der Konferenz der Kantonsregierungen eine gewisse Bedeutung zu: Aufgrund der Tatsache, dass 14 der 26 Schweizer Kantone Grenzkantone sind, kommen hier Themen der Grenzräume regelmäßig zu Sprache. Explizite Ar- 36 Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO)(2017): Die Neue Regionalpolitik des Bundes – Regionen fördern. Schweiz stärken. Online: http://regiosuisse.ch/sites/default/files/2017-09/seco- nrp-de.pdf 21 22 // Länderprofile beitsgruppen zu Grenzfragen bestehen derzeit aber nicht. Die politische Ebene der Kantonsregierungen ist zudem in sechs regionale Kantonkonferenzen ge- gliedert37 , die ebenfalls Grenzfragen thematisieren (können). Ein bemerkenswertes Beispiel regionaler Koordinierung findet sich in der Nord-West-Schweiz: hier erbringt die Interkantonale Koordinationsstelle bei der Regio Basiliensis (IKRB) im Auftrag der Kantone Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Aargau, Solothurn und Jura Leistungen zugunsten der Kantone als gemeinsame Außenstelle für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit am Oberrhein. Die Regio Basiliensis, formal ein privater Verein, unterstützt die Förderprogramme im Hinblick auf die Oberrheinkonferenz, den Trinationalen Eurodistrict Basel, Infobest Palmrain sowie die angesprochene Neue Regionalpolitik (NRP) des Bundes und Interreg. Wie in anderen Ländern auch bestehen darüber hinaus rein informelle Vernetzungsformen. Verwiesen sei hier beispielsweise auf die regelmäßigen Absprachen der Kantone Basel, Genf und Tessin zu Fragen der grenzüberschreitenden Entwicklung. 3.6. Frankreich Ausgangssituation Die Ausgangssituation in Frankreich ist zunächst durch zwei Besonderheiten gekennzeichnet. Erstens hat Frankreich entlang seiner recht weitläufigen Landgrenzen eine Reihe starker Verflechtungsräume, die zumeist einen (aus französischer Perspektive) negativen Pendlersaldo aufweisen. Dies gilt zum einen für metropolitane Grenzräume um Lille, Luxemburg, Basel, Genf und Monaco, aber auch für eine Reihe von ländlichen Grenzräumen, etwa im Jurabogen zur 37 https://kdk.ch/de/kooperation/regionale- regierungskonferenzen Schweiz (Abb. 9)38 . Frankreich stellt insgesamt den größten Teil der Grenzpendler Europas39 . Zweitens hat Frankreich einen traditionell stark zentral geprägten Staatsaufbau, der zugleich seit längerer Zeit durch eine Reihe von Maßnahmen der Dezentralisierung reformiert wird. Unterschiedliche Ansätze der ‚territorialen Reform‘ und der Modifizierungen im Koordinierungsablauf prägen das politische Geschehen40 . Dies betrifft auch Grenzräume in hohem Maße. Ein Beispiel ist die Zusammenlegung mehrerer Regionen zum neuen Gebiet Grand Est, das die vorherigen Regionen Lothringen, Elsass und Champagne-Ardenne umfasst, die durchweg starke grenzüberschreitende Bezüge haben, allerdings in gänzlich anderen funktionalen Zuordnungen. Auch die französische Metropolenpolitik hat durch die verschiedenen Reformierungen Implikationen für die Grenzräume41 . Die Bedeutung der Grenzräume für die nationale Ebene zeigt sich auch im Abschluss des Aachener Vertrags von 2019, unterzeichnet von französischem Präsidenten und deutscher Kanzlerin, wo auch die Belange der Grenzregionen explizit adressiert werden42 . 38 Pigeron-Piroth, I.; R. Belkacem (2020): Socioeconomic profiles of cross-border commuters at the French borders: common features and territorial specificities. Borders in Perspective. https://doi.org/10.25353/ubtr-xxxx-d64d- 92a8; ESPON METROBORDER (2010): Metroboder – metropolitan polycentric cross-border regions. www.espon.eu/ metroborder 39 aktuelle Statistiken von Eurostat unter https://ec.europa.eu/ eurostat/cache/digpub/eumove/bloc-2c.html?lang=en 40 Perrin, T. (2012): « Régions et coopération interrégionale: dynamiques institutionnelles, de la France à l’Europe », Territoire en mouvement Revue de géographie et aménagement 16, http://journals.openedition.org/tem/1877; DOI: https://doi. org/10.4000/tem.1877 41 Beyer, A. (2017): Die Metropolisierung und ihre historisch-politische Interpretation in den gegenwärtigen Gebietsreformen Frankreichs. Europa Regional, 23.2015(4), 30- 43. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-53588-8 42 www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/ deutschland-und-frankreich-schliessen-vertrag-von- aachen-1566838 // Länderprofile FRANKREICH Amsterdam GBR NLD London Rotterdam DEUPlymouth Eurometropole Lille- Brüssel Köln Kortijk-Tournai Lille BEL Frankfurt Euregio Saar-Lor-Lux + LUX Quattro-Pole EurodistrictGipfel der Saar MoselleParis Großregion Eurodistrict EVTZ Alzette- PAMINA Belval Stuttgart Eurodistrict Strasbourg-Ortenau Straßburg Nantes Eurodistrict Region Freiburg/ OberrheinTour Centre et Sud Alsace konferenz Eurodistrict trinational de Bâle Euroregion Nouvelle Zürich Aquitaine-Euskadi-Navarre Bern Arc Jurassien CHE Conseil du Léman/ Comité regional franco-genevois EspaceLyon Mont-Blanc Conferences des MailandBordeaux Haute Vallées Conference des ITAAlps francoitaliennes Euroregion Alpes Bilbao Meditérranée Eurocite Basque Bayonne- Marseille San Sebastian ESP Barcelona Pirineos-Pyrenees Madrid Euroregion Pyrenees-Mediterranee Valencia Palma ITA Cagliari Entwurf: T. Chilla 2020100 km Kartographie: S. Adler Abb. 9: Grenzregionen Frankreichs und ausgewählte Kooperationsformate 23 24 // Länderprofile Vernetzungsformen Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Frankreich als besonders aktiv in der Entwicklung von Grenzregionen gilt, was durchaus auch auf deren innerstaatliche Vernetzung zutrifft. Zentrale Institution ist hierbei die Mission Opérationelle Transfrontalière (MOT), die inzwischen seit etwa einem Vierteljahrhundert umfassende Erfahrungen in der Politikgestaltung und -begleitung zu Grenzfragen hat. Diese Institution ist 1997 formal gegründet worden und umfasst als Mitglieder in erster Linie politische Vertreter der kommunalen und regionalen Ebene43 . Die Verankerung erfolgt nicht auf dieser subnationalen politischen Ebene, sondern auch auf der nationalen Ebene. In der Gründungsphase stand die interministerielle Positionierung der MOT stark im Vordergrund, und bis heute ist neben den Ministerien (insbes. Inneres, Außenministerium) auch die französische Caisse des Dépots für die Finanzierung der MOT wichtig. Insgesamt verfügt die MOT über staatliche Zuwendungen im Umfang von ca. 25 Personalstellen. Zur Zeit der Gründung war die MOT eng mit der DATAR verknüpft (Délégation à l‘aménagement du territoire et à l‘action régionale), die seit 2005 zur DIACT wurde (Délégation interministérielle à l‘aménagement et à la compétitivité des territoires). Seit 2009 ist nun das Commissariat général à l’égalité des territoires die einschlägige Institution. Trotz der Herausforderungen, die mit den anhaltenden Prozessen der institutionellen Reorientierung einhergehen, ist die Position der MOT in Frankreich weiterhin pro- minent. Deren Tätigkeiten umfassen vielfältige Formate der Unterstützung von Grenzräumen, und dies sowohl in der Verbesserung der Wissensbasis als auch 43 www.espaces-transfrontaliers.org/en/the-mot/mot- presentation/#c9939 in der Interessensvertretung44 . Gemeinsam mit dem ungarischen Central European Service for Cross-border Initiatives (CESCI) und der gesamteuropäischen Vernetzung der AGEG handelt es sich bei der MOT um eine der drei koordinierten Institutionen in Europa, die sich primär auf Grenzregionen fokussieren. Diese drei Institutionen sind untereinander eng verbunden, wie sich aktuell in der gemeinsamen Verabschiedung der sog. European Cross-border Citizens’ Alliance zeigt, die auch vom Ausschuss der Regionen mitgetragen wird45 . Bei aller Prominenz der Aktivitäten der MOT sind weitere de-facto-Vernetzungen durchaus relevant. Die reicht von den einschlägigen Prozessen, die mit der Durchführung der EU-Programme verbunden sind, bis zu einer Reihe von informellen Abstim- mungsprozessen. Auf regionaler sei die Villa Rehfus erwähnt, die zwar auf deutscher Seite des Verflechtungsraums Straßburg – Kehl liegt, aber hier eine Reihe wichtiger Institutionen der grenzüberschreitenden Dynamik entlang des Grenzraumes am Rhein beherbergt (Kompetenzzentrum, Sekretariat Oberrheinkonferenz, Infobest usw.). 3.7. Luxemburg Ausgangssituation Das Großherzogtum Luxemburg ist ein instruktives Beispiel der innerstaatlichen Vernetzung von Grenzregionen und -akteuren. Dies gilt zunächst für die 44 MOT (2018): Les territoires transfrontaliers: La fabrique de l‘Europe [EN : Cross-border territories], online: www. espaces-transfrontaliers.org/la-mot/la-mot-fete-ses-20-ans/les- territoires-transfrontaliers-la-fabrique-de-leurope Peyrony, J, & O. Denert (2012): Planning for CrossBorder Territories: The Role Played by Spatial Information. Raumforschung und und Raumordnung (2012) 70:229–240. https://doi.org/10.1007/s13147-012-0156-0 45 https://ec.europa.eu/eusurvey/runner/European-Cross- Border-Citizens-Alliance // Länderprofile LUXEMBURGAusgangssituation: Luxemburg ist Rotterdam ein Kleinstaat, der mit etwa 625.000 NLD Einwohnern und ca. 200.000 Ein- Gipfel der Kölnpendlern aus Frankreich, Belgien Brüssel Großregion und Deutschland (Rheinland-Pfalz, Euregio Saarland) eine bemerkenswerte Saar-Lor-Lux+ BEL Frankfurt EOM Verflechtung mit den Nachbarstaa- DEU EVTZten aufweist. Sowohl in absoluten FRA Tonicitiés Alzette-Belvalwie in relativen Zahlen stellt dies Paris Quattro- Stuttgart europa- und weltweit gesehen Ma- Pole ximalzahlen dar46 . Bemerkenswert ist auch, dass hier vier Nationalstaa- 100 km Entwurf: T. Chilla 2020 Kartographie: S. Adler ten aufeinandertreffen, was in kaum Abb. 10: Ausgewählte Kooperationsformen an den Grenzen Luxemburgs einer anderen Region der Fall ist. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Anzahl der grenzüberschreitenden Kooperationsformen und auch deren Bandbreite groß ist, was Abb. 10 illustriert. Bemerkenswert ist nicht nur die hohe Dichte an Kooperationsformen, sondern auch die große Bandbreite an Kooperationsformaten: • Luxemburg ist an etlichen EVTZ beteiligt, von denen hier der Gipfel der Großregion als großräumige Klammer und die bilaterale, lokale Kooperation Alzette-Belval gezeigt sind. • Mit der Euregio SaarLorLux+ findet sich die ‚klassische‘ Kooperationsform mit den engen Bezügen zum Interreg-A-Programm. • Zwei Städtenetze verknüpfen die Städte des zentralen Kooperationsraums – namentlich Quattropole mit Luxemburg, Metz, Saarbrücken und Trier sowie Tonicités mit Luxemburg, Esch-sur-Alzette, Longwy, Arlon, Metz und Thionville. • Die Umsetzung des Entwicklungskonzepts Oberes Moseltal (EOM) wird seit 2020 durch ein Regionalmanagement unterstützt, das durch die für Landesplanung zuständigen Ministerien aus Luxemburg, 46 www.iba-oie.eu/Home.50.0.html Rheinland-Pfalz und dem Saarland finanziert wird und eng mit den Lokalen LEADER-Aktionsgruppen Miselerland (Luxemburg) und Moselfranken (Rheinland-Pfalz) zusammenarbeitet47 . • Eine Reihe von weiteren, oft sektoral ausgerichteten Kooperationsformen ist in der Übersicht nicht abgebildet – erwähnenswert ist beispielsweise die Universität der Großregion, die sechs Universitäten aus den vier beteiligten Ländern zusammenbringt48 . Die Entwicklung der grenzüberschreitenden Kooperation in Luxemburg hat eine längere Vorge- schichte49 . Die Union BENELUX leistete bereits seit der Nachkriegszeit wichtige Vorarbeiten. Die Teilnahme an den INTERREG-Programmen seit den 1990er Jahren spielte auch in Luxemburg eine wichtige Rolle. Hinzu kam vor allem, dass in dieser Zeit mit der wachsenden Anzahl an Grenzpendlern das Thema 47 https://amenagement-territoire.public.lu/fr/ actualites/2020/09_2020/eom_start.html 48 s.a. Dörry, S.; A. Decoville (2016): Governance and transportation policy networks in the cross-border metropolitan region of Luxembourg: A social network analysis European Urban and Regional Studies. 23(1) 69–85. https://doi. org/10.1177%2F0969776413490528 49 s.a. www.grossregion.net/Die-Grossregion-kompakt/ Eckdaten 25 26 // Länderprofile eine zunehmende Bedeutung bekam. Bereits 1995 wurde der Gipfel der Großregion begründet. Insgesamt lässt sich für Luxemburg festhalten, dass Fragen der grenzüberschreitenden Verflechtung eben nicht Fragen der nationalen Ränder, sondern a priori von zentraler Bedeutung sind. Seit ca. 2010 wurde die grenzüberschreitende Raumentwicklung als wichtiges strategisches Ziel Luxemburgs auf die politische Ebene gehoben. Dieser Prozess stützt sich u.a. auf die Teilnahme am MORO-Projekt zu grenzüberschreitenden Metropolregionen und am ESPON-Projekt Metroborder sowie auf die Arbeiten am Raumentwicklungskonzept der Großregion (REKGR)50 . In diesem Zusammenhang ist auch die Entstehung des Geografischen Informationssystems der Großregion (GIS-GR) zu sehen, das der Unterstützung der grenzüberschreitenden Raumentwicklung dient51 . Es wurde 2010 geschaffen und beruht seit 2013 auf einer Eigenfinanzierung der Kooperations- partner. Vernetzungsformen Fragen des grenzüberschreitenden Funktionierens nehmen in Luxemburg eine deutlich höhere Priorität ein als in meisten anderen Staaten. Dabei ist die Thematik nicht weniger vielschichtig, denn die Komplexität der grenzüberschreitenden Kooperation des Kleinstaates Luxemburg mit seinen durchweg deutlich größeren Nachbarstaaten ist sehr hoch und zeigt sich in vielfältigen verwaltungstechnischen und politischen Unterschieden. 50 Vidal, M.-J.; P. Niedermeyer (2012): Le développement territorial et sa dimension transfrontalière. Expériences du Luxembourg et de la Grande Région. In : Chilla, T., C. Schulz (Hg.): Raumordnung in Luxemburg / Aménagement du Terroitoire au Luxembourg. Luxemburg, S. 396-316 Schelkmann, P. (2018): Die Metropolisierungsstrategie der Großregion im Entstehen. In: Pallagst, K.; A. Hartz, B. Caesar (Hrsg.): Border Futures – Zukunft Grenze – Avenir frontière: Zukunftsfähigkeit grenzüberschreitender Zusammenarbeit. Arbeitsberichte der ARL 20. Hannover, S. 115-129 51 www.sig-gr.eu/de.html Eine explizite Vernetzung auf nationaler Ebene ist zwar nicht institutionalisiert; dennoch ist sie in der Praxis vor allem aufgrund der folgenden Strukturen in erheblichem Maße gegeben: • Hervorzuheben ist zunächst das Haus der Großregion, in dem neun Formate der grenzüberschreitenden Kooperation beheimatet sind, darunter mehrere der oben genannten52 . Diese Struktur ist Ende der 1990er Jahre begründet worden und befindet sich seit 2015 nun in einem größeren Gebäude in Esch-sur-Alzette. Ein wichtiges Ziel ist es, durch Veranstaltungen die Vernetzung der Akteure in Grenzregionen voranbringen. Im Alltag erleichtert diese räumliche Konzentration informelle Abstimmungen zwischen verschiedenen Akteuren. Als zentrale Stelle für Erstkontakte kann hier schnell an die richtigen Ansprechpartner vermittelt werden. Die Ressourcen für dieses Haus der Großregion betreffen zwei Kategorien: Das Personal und die Verbrauchskosten werden aus den jeweiligen Kooperationsformaten heraus finanziert. Die Immobilie selbst wird vom Großherzogtum Luxemburg zur Verfügung gestellt und finanziert. Insofern liegt hier mit dem Haus der Großregion eine Infrastruktur vor, die zuvörderst der Vernetzung der Kooperationsformate insgesamt dient, dabei aber zumindest als Nebeneffekt die Vernetzung gerade auch der Luxemburger Akteure und Institutionen erleich- tert. • Von großer Bedeutung ist auch der sog. ‚Gipfel der Großregion‘, der als großräumige, intergouvernemental organisierte Klammer funktioniert und der für die strategische Steuerung die Ebene der Ministerpräsidenten oder Minister einbindet. Der räumlich große Fokus und die politisch hochrangige Organisation sorgen in der Praxis für vielfältige Abstimmungen quasi ‚im Schatten‘ des Gipfels der Großregion. Die informelle Abstimmung ist für das Geschehen 52 www.grossregion.net/Institutionen/Weitere-Akteure/Haus- der-Grossregion // Länderprofile BELGIEN Linieland vanGBR NLDWaas en Hulst London Rotterdam DEU Euregio Scheldemond Euregio Maas-Rhein Köln Brüssel Eurometropole Lille- Kortijk-Tournai Frankfurt Gipfel der LUX Euregio Großregion Saar-Lor-Lux+ FRA Paris Stuttgart Entwurf: T. Chilla 2020100 km Kartographie: S. Adler im Kleinstaat Luxemburg von traditionell großer Bedeutung. Die persönlichen Netzwerke sind in aller Regel gut ausgeprägt und erleichtern das Agieren im komplexen, multilateralen Mehrebenensystem erheblich. Wie in allen Ländern wird auch in Luxemburg die Konkretisierung und Verwaltung der INTERREG-Programme auf ministerieller Ebene durchgeführt, derzeit vom Ministerium für Energie und Raumentwicklung. Insgesamt sind in Luxemburg gleich mehrere Ministerien maßgeblich am grenzüberschreitenden Funktionieren beteiligt – das Familienministerium ist derzeit zugleich das Minis- Abb. 11: Grenzräume Belgiens und ausgewählte Kooperationsformenterium für die Großregion, das Ministerium für Raumentwicklung hat den stellvertretenden Vorsitz der EVTZ-Verwaltungsbehörde INTERREG VA Großregion inne. Das Außenministerium ist in der Praxis für etliche wesentliche Fragen zuständig (z.B. Besteuerung von Grenzpendlern). 3.8. Belgien Ausgangssituation Die Ausgangssituation in Belgien ist durch zwei Aspekte besonders gekennzeichnet: • Die Verflechtungen zu den Nachbarstaaten sind vielfältig und intensiv. Belgien liegt in dem ‚Korridor‘ Europas, in dem sich eine hohe Anzahl von metropolitanen Grenzregionen befindet. Es liegt gewissermaßen im Dreieck der großen Grenzpendler-Regionen Lille-Kortrijk, Lüttich-Maastricht-Aachen und der Großregion mit der Achse Luxemburg-Arlon53 . • Belgien ist charakterisiert durch eine recht komplexe Form des Föderalismus, in dem die drei Regionen Flamen, Wallonien und Brüssel sowie die französi- 53 ESPON METROBORDER (2010): Metroboder – metropolitan polycentric cross-border regions. www.espon.eu/metroborder sche, flämische und deutsche Sprachgemeinschaften miteinander verzahnt sind54 . Die regionale Ebene ist dabei mit erheblichen Kompetenzen ausgestattet, die sich auch auf die (regionale) Außenpolitik erstrecken. Mit dem Blick auf die Karte (Abb. 11) fällt zunächst auf, dass trotz der vergleichsweise intensiven Verflechtungen über die Grenzen hinweg die Zahl der Kooperationsformen moderat ist. Vernetzungsformen Auf der nationalen Ebene werden die Belange der Grenzregionen vor allem auf zweierlei Ebenen behandelt, was in beiden Fällen die formale Abstimmung zwischen Bundes- und Regionalebene betrifft: • Der belgische Konzertierungsausschuss tagt monatlich, und hier stimmt der Premier sich u.a. mit den belgischen Ministerpräsidenten ab. Hierbei können auch grenzüberschreitende Fragen auf der Agenda stehen, wie dies beispielsweise der Fall war beim grenzüberschreitenden Hochspannungsnetz zwischen Deutschland und Belgien. 54 Für Details s. www.lachambre.be/kvvcr/pdf_sections/pri/ fiche/de_28_00.pdf 27 28 // Länderprofile • Die interministerielle Ebene ist deutlich operativer aufgestellt, indem hier auch die Arbeitsebene aus den Ministerien beteiligt wird und zudem Gäste geladen werden können. Auch hier können konkrete Anliegen der Grenzregionen thematisiert werden. Abgesehen von diesen formalen Möglichkeiten der Abstimmung im (komplexen) föderalen System Belgiens sind keine kontinuierlichen Vernetzungsformate bekannt. In der Praxis ist aber darauf hinzuweisen, dass viele Fäden der grenzüberschreitenden Thematik beim prominenten Vertreter der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens zusammenlaufen, der in wechselnden, prominenten politischen Positionen die grenzüberschreitende Thematik kontinuierlich adressiert hat: Karl-Heinz Lambertz hat über Jahrzehnte hinweg (und bis heute) das Thema nicht nur auf europäischer Ebene vorangebracht, sondern auch in Belgien eine zentrale Rolle für den Themenbereich gespielt (u.a. als Vorsitzender des Europäischen Ausschusses der Regionen)55 . Die Programmierung der INTERREG-Programme erfolgt recht ähnlich wie in Deutschland, indem die regionale Ebene das entscheidende Wort in der Ausgestaltung hat, sich in den verschiedenen Phasen aber eng mit der nationalen Ebene abstimmt. 3.9. Niederlande Ausgangssituation Die Niederlande haben eine Landgrenze mit Deutschland und Belgien. Mit Ausnahme des Dreiländerecks Aachen-Maastricht-Lüttich ist der Grenzraum ländlich geprägt (Abb. 12). Während zum flämischen Sprachraum keine Sprachgrenze besteht, ist diese zum deutschsprachigen Raum gering ausgeprägt. An 55 Lambertz, K.-H. (2010): Die Grenzregionen als Labor und Motor kontinentaler Entwicklungen in Europa. Berichte und Dokumente des Europarats sowie Reden zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Europa. Nomos. der deutsch-niederländischen Grenze wurde 1958 die erste Euregio überhaupt gegründet, deren Sitz in Gronau ist. Eben hier wurde 1971 auch die Arbeitsgemeinschaft der Europäischen Grenzregionen (AGEG) angesiedelt56 . Der Staatsaufbau der Niederlande ist als eher zentral einzuordnen. Zwar haben die Provinzen einige Selbstverwaltungsrechte, deutlich größeres Gewicht liegt aber letztlich bei den Institutionen in Den Haag. Die Grenzraumentwicklung ist an allen niederländischen Grenzen durch intensive kommunale Zusammenarbeit geprägt, wobei die Provinzen oftmals als wichtige Partner in der Förderung von grenzüberschreitenden Projekten auftreten. Erwähnenswert sind die sog. Deutschlandbeauftragten der Provinzen, die die Zusammenarbeit und Vernetzung strukturell ausbauen wollen. So sind beispielsweise die Vertreter der Grenzprovinzen zu Nordrhein-Westfalen beim Generalkonsulat der Niederlande auf der deutschen Seite in Düsseldorf verortet57 . Vernetzungsformen In der Praxis sind die Grenzräume der Niederlande in drei Bereiche gegliedert – in den Norden (Groningen/ Drenthe/Friesland/Overijssel an der Grenze zu Niedersachsen), den Süden (Limburg/Gelderland/Overijssel an der Grenze zu Nordrhein-Westfalen) und den Grenzraum zu Belgien. 56 Für weitere Hintergründe s. Van der Giessen, M.D. (2014): Coping with complexity. Cross-border cooperation between The Netherlands and Germany. Dissertation. https://repository. ubn.ru.nl/handle/2066/125128 sowie Varró, K. (2014): Spatial Imaginaries of the Dutch - German - Belgian Borderlands: A Multidimensional Analysis of Cross-Border Regional Governance. International Journal of Urban and Regional Research 36 (6): 2235–55. DOI:10.1111/1468-2427.12202; Van Houtum, H. & M. Eker (2015): BorderScapes: redesigning the borderland. Territorio, 72: 101-107. https://hdl.handle. net/2066/149382 57 www.nederlandwereldwijd.nl/landen/duitsland/ over-ons/consulaat-generaal-dusseldorf-wie-zijn-wij/ vertegenwoordigers-provincies, s.a. www.welt.de/regionales/ nrw/article196888531/Wirtschaftskooperation-Niederlande- und-NRW-gemeinsam-zum-Erfolg.html // Länderprofile NIEDERLANDE Hamburg Ems-Dollart- Region GBR Amsterdam Linieland van Waas en Hulst London Rotterdam EUREGIO Euregio Scheldemond Euroregio Rhein-Waal Euregio Maas-Rhein-Nord Brüssel Lille Köln DEUBEL Euregio FrankfurtMaas-Rhein FRA LUX Entwurf: T. Chilla 2020100 km Kartographie: S. Adler Im eher zentral organisierten Staatsaufbau der Niederlande spielt prinzipiell das Innenministerium eine koordinierende Rolle, indem es die Grenzregionen mit den zuständigen Fachressorts verbindet und somit versucht praktische und juristische Hindernisse in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit an allen niederländischen Grenzen zu verringern. Die innerstaatliche Vernetzung der Akteure spielt sich in der Praxis auf mehreren Ebenen ab: a) Auf der nationalstaatlichen EbeAbb. 12: Grenzregionen der Niederlande und ausgewählte Kooperatine bestehen ‚Drehpunktstellen‘, die onsformate durch das Innenministerium und die Provinzen finanziert werden. Diese kümmern sich um die Belange des jeweiligen Grenzraums und um die Vernetzung der beteiligten Provinzen mit dem Innenministerium. Hier steht bei monatlichen Besprechungen der Austausch über verschiedene Problematiken im Mittelpunkt. b) Auf Ebene der jeweiligen Grenzräume sind zunächst die zwei Mal pro Jahr stattfindenden Vernetzungstreffen der Bürgermeister aus den nördlichen Grenzgemeinden bemerkenswert. Diese kommen aus den Provinzen Groningen, Drenthe und Friesland und werden von den der Provinzen zu Treffen eingeladen, bei denen auch Vertreter des Innenministeriums zu Gast sind. Hierbei stehen der Austausch und die Beratung zu aktuellen Themen der Grenzräume im Vordergrund, welche auf einer gemeinsamen Kooperationsagenda zwischen den Niederlanden und Niedersachsen basieren. Im südlichen Grenzraum der Provinzen Limburg, Gelderland und Overijssel findet die Vernetzung innerhalb der Provinzen stark über eine Governance-Struktur zwischen den Niederlanden und Nordrhein-Westfalen statt. Diese ist für alle Ebenen in den Niederlanden bindend und dient als Leitfaden für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit. ZusätzlichvernetzensichdieGrenzregionenander niederländisch-deutschen und niederländisch-belgischen Grenzen in einem Projekt, welches unter anderem vom niederländischen Sozialministerium getragen wird, den sogenannten Grenzinfopunkten58 . Hier arbeiten verschiedene Akteure der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit an einer einheitlichen Strategie für Grenzgänger. Die Grenzinfopunkte sind Beratungsstellen für Grenzgänger und helfen ihnen bei ganz praktischen Fragen. Informelle Vernetzung hat, wie in vielen europäischen Grenzräumen, auch in den Niederlanden einen hohen Stellenwert. Darüber hinaus fungiert das Wirtschaftsministerium als Ansprechpartner für alle INTERREG-Programme und Programmräume, bei denen die Niederlande beteiligt sind. 58 https://grenzinfo.eu 29 // Länderprofile rag UNGARN Brünn UKRVia Carpatia EVTZ Tisza EVTZ CZE Slaná-Rimava European SVK EVTZ borderRába-Danube cities EVTZ Pontibus EVTZ Bratislava Wien Ister Granum EVTZ Gate toArrabona EVTZ Europe EVTZ Pons DanubiiAUT EVTC European Common Graz Future Building EVTZ ROU Muraba EVTC Karlsburg Banat-Triplex Mura EVTC Confinium EVTZ Zagreb SRB SVN Panon EVTZ Novi Sad HRV 100 km Entwurf: T. Chilla 2020 Kartographie: S. Adler 3.10. Ungarn Ausgangssituation Die Situation Ungarns ist zunächst von einer hohen Anzahl an Nachbarländern geprägt, die mit einer großen Vielfalt an Grenzregionen einhergehen: Mit sieben Ländern hat Ungarn eine recht hohe Zahl an Nachbarstaaten (Abb. 13). Mit diesen Regionen wird zugleich eine recht große Bandbreite an politischen, aber auch sozio-ökonomischen Konstellationen abgedeckt – Abb. 13: Ungarische Grenzregionen und die aktiven EVTZ schließlich sind von Österreich bis zur Ukraine sehr unterschiedliche Staaten benach- Vernetzungsformen bart. Bereits die Tatsache, dass die Entwicklung von Grenzräumen primär auf EVTZ beruht, ist aussagekräftig: Dies geht zurück auf eine Entscheidung der ungarischen Regierung im Jahr 2010, wonach diese Rechtsform als bevorzugte Form der Institutionalisierung zu entwickeln ist. Dies ist vor dem Hintergrund der großen Heterogenität und Komplexität der Grenzräume zu sehen, für deren Adressierung eine einheitliche Rechtsform als Erleichterung gesehen wird. Hinzu kommt die Besonderheit der EVTZ, dass sie durch die eigene Rechtspersönlichkeit und durch die Einbindung der nationalen Ebene schon zur Zeit der EVTZ-Gründung als vergleichsweise stark angesehen werden können. Dies ist vor allem dann von Vorteil, wenn es um Unterschiede in den Rechtssystemen dies- und jenseits der Grenze geht60 . Ungarn gehört zu den Ländern, deren Staatsaufbau stark von zentralen Elementen geprägt ist und wo die regionale Ebene nur von limitierter Bedeutung ist. Im Hinblick auf die Grenzregionen ist besonders interessant, dass Ungarn zu den Pionieren der Gründung von EVTZ gehört und bis heute stark auf diese Rechtsform setzt. Aus dem Kartenbild ist unmittelbar ersichtlich, dass in einigen Grenzregionen deutlich mehr EVTZ installiert sind als in anderen: dies ist nicht zuletzt dadurch zu erklären, dass das Instrument der EVTZ in den jeweiligen Nachbarstaaten unterschiedlich eingeschätzt wird59 . 59 Chilla, T. F. Sielker, F. Othengrafen (2017): Governance diffusion in Europe – The EGTC tool and its spatial implementation patterns Working Paper No. 2. Online: http:// blogs.fau.de/regionalentwicklung/wp2-governance-diffusion Hesz, R., N. Jankai, M. Jaschitz, G. Ocskay, S. Svensson SVENSSON (2016): Overview of the EGTCs around Hungary. Edited by Sara Svensson (Central European University, Budapest) and Gyula Ocskay (CESCI Budapest Observatory of Borders). Budapest. http://cesci-net.eu/tiny_mce/uploaded/ EGTC_Overview_CESCI_.pdf Auf gesamtungarischer Ebene steht die Vernetzung der Grenzregionen im Mittelpunkt des sog. EVTZ Forums, das von 2010 bis 2014 beim Justizmi- 60 S. z.B. Balogh, P. & P. Márton (2018) Bridging the Gap: Crossborder Integration in the Slovak–Hungarian Borderland around Štúrovo–Esztergom, Journal of Borderlands Studies 33:4, 605- 622, https://doi.org/10.1080/08865655.2017.1294495 30 31 // Länderprofile nisterium und seitdem beim Außenministerium angesiedelt ist. Bei diesem konferenzartigen Austausch stehen Lernprozesse der Akteure aus den Grenzräumen im Vordergrund, wobei auch nicht-ungarische Akteure und Vertreter aus verschiedenen Ministerien, der Wissenschaft usw. eingeladen sind. Diese Treffen finden ein- bis viermal jährlich statt und stoßen auf recht große Nachfrage. Das Akteurssetting ist hier deutlich größer als bei den üblichen formalen Abstimmungs- und Programmierungs-Prozessen im Kontext der EU-Programme wie INTERREG. Als Initiator dieses EVTZ-Forums, aber auch weit darüber hinaus spielt der Central European Service for Cross-border Initiatives (CESCI) eine zentrale Rolle. CESCI wurde 2009 nach Vorbild der französischen Mission Opérationnelle Transfrontalière (MOT) gegründet. In der gemeinnützigen Gesellschaft sind vor allem Vertreter der ungarischen EVTZ sowie einige ungarische Grenzstädte bzw. -regionen Mitglied, und zusätzlich die französische MOT61 . Obwohl CESCI keine staatliche Institution ist, ist die Verbindung dennoch eng, zumal ein erheblicher Teil der Personalkosten derzeit vom ungarischen Außenministerium getragen wird. CESCI hat zunächst die Rolle, durch Studien, Veranstaltungsdurchführungen usw. zu Fragen der grenzüberschreitenden Thematik zuzuarbeiten. Wichtig ist aber auch die Rolle im grenzüberschreitenden Mehrebenensystem: Als ein ‚niederschwelliger‘ Akteur kann CESCI Netzwerke aufbauen und Themen ausleuchten, ohne dass dies unmittelbar zu Gremienarbeit und bi- oder multilateralen Verhandlungen führen muss, wie dies bei ministeriellen Aktivitäten meist der Fall ist. Die Arbeit des Netzwerkes wird als durchaus funktional eingeschätzt. Allerdings ist festzustellen, dass die Grenzregionen ohne installierten EVTZ von diesem Setting nicht erfasst werden. 61 https://cesci-net.eu/tiny_mce/uploaded/CESCI_ members_2015_en.jpg Die Verbindung zur französischen MOT ist traditionell eng, was sich auch bei den aktuellen Bemühungen um die Einrichtung einer European Border Citizens‘ Alli- ance62 mit der MOT, der AGEG und dem Ausschuss der Regionen zeigt. 3.11. Italien Ausgangssituation Die Ausgangslage in Italien ist durch zwei Besonderheiten gekennzeichnet: Zum einen ist unmittelbar ersichtlich, dass der Norden Italiens eine Reihe von unterschiedlichen Landgrenzen umfasst (Abb. 14). Die weiteren, südlicher gelegenen Grenzen sind hingegen Seegrenzen, die sehr unterschiedlichen Charakter haben (vom Raum Sardinien – Korsika bis zur Meerenge zwischen Italien und Tunesien). Im Folgenden wird der Fokus aber vor allem auf die Landgrenzen gelegt. Zum anderen ist der italienische Staatsaufbau geprägt von einer spezifischen Mischung aus einer eher zentralistischen Struktur und dem stark föderalen Element der autonomen Regionen: Letzteres ist für Fragen der grenzüberschreitenden Entwicklung von einiger Bedeutung, da gerade die autonomen Regionen einen großen Teil der Landgrenze abdecken. Auf den institutionellen Mittelebenen Italiens finden sich 20 Regionen und 88 Provinzen sowie 14 sog. Metropolitanstädte. Obwohl politisch immer wieder in Frage gestellt, ist auch die Provinzebene weiterhin relevant. Trient und Bozen sind als autonome Provinzen mit einem Sonderstatut ausgestattet. Mit Autonomiestatus ausgestattet sind neben Sardinien und Sizilien (die in diesem Zusammenhang weniger relevant sind): das Aostatal, das eine franko-provenzalische Minderheit beheimatet, die Region Trentino-Südtirol mit seiner deutschsprachigen 62 www.cesci-net.eu/202006-alliance-en // Länderprofile ITALIEN DEU München Budapest FRA Bern CHE Regio Sempione AUT Graz Europaregion TirolSüdtirol-Trentino (EVTZ) HUN ROU Espace Mont-Blanc Conferences des Haute Vallées Regio Insubrica Conseil ValaisVallee d’Aoste Venedig SVN Zagreb HRV Genua EVTZ Euregio Senza Confini BIH SRB Euroregion Alpes Meditérranée Florenz Sarajevo Marseille Corse - Toscana MNE Conference des Alps francoitaliennes Puglia - Ionian Islands FRA Epyros - Albania Rom Tirana Corse - Sardegna Neapel ALB Cagliari Palermo Catania Sicilia - Malta Tunis DZA TUN Valletta Entwurf: T. Chilla 2020100 km Kartographie: S. Adler Abb. 14: Italienische Grenzregionen und ausgewählte Kooperationsformen Minderheit sowie die Region Friaul-Julisch Venetien mit seiner slowenischen Minderheit63 . Vernetzungsformen Generell ist die Koordinierung von regionalen und nationalen Fragen in Italien, auch in Ermangelung einer formalen Regionenkammer, nicht stark institutionalisiert. Dennoch ist auf zwei wichtige politische Plattformen zu verweisen, auf denen Vernetzung und 63 Zwilling, C., J. Woelk, G. Klotz, A. Engl (2016): Cross-Border Cooperation and its Potential for Minorities in Selected Border Regions of OSCE Member States. Online: https://bia.unibz. it/bitstream/handle/10863/6107/2016EDAP_02_FINAL. pdf?sequence=2 eine gewisse Koordinierung stattfindet: Erstens spielen in der italienischen Staat-Regionen-Konferenz Themen der grenzüberschreitenden Entwicklung immer wieder eine Rolle. Relevant sind hierbei auch die diesbezüglichen Absprachen der autonomen Regionen, die häufig gemeinsame Interessen haben. Zum Zweiten gibt es im nationalen Parlament (Senat) eine (dann aber formal verfasste) Autonomiegruppe, die ebenfalls gemeinsam Fragen der Grenzräume vertreten können. Die Charakteristika des italienischen Staatsaufbaus spiegeln sich auch in der Ausgestaltung und Verwaltung der INTERREG-Programme wieder. 32 33 // Länderprofile Im für die Territorialen Kooperationsprogramme zuständigen Ministerium ist ein Koordinierungsgremium installiert, das nach Bedarf die an INTERREG-A-Programmen beteiligten Akteure zusammenruft und in Abstimmungsprozesse einbindet. Diese eher technische Koordinierungsform erfolgt in unterschiedlicher Intensität, vor allem in Abhängigkeit von Programmfragen – z.B. verlangt die Organisation innerstaatlicher Budgetverteilungen andere Prozesse als die Umsetzungsphase. In der Frühphase der Programmperioden kommt der Abstimmung aufgrund der notwendigen nationalstaatlichen Kofinanzierung besondere Bedeutung zu. In der Umsetzung der Programme spielen die Programmräume mit ihren regional verankerten Verwaltungsbehörden und Sekretariaten sodann eine recht starke Rolle. Eine interessante Entwicklung hat sich in den vergangenen Jahren ergeben: Italien ist derzeit an zwei makroregionalen Strategien beteiligt (EUSALP im Alpenraum und EUSAIR im Adriatisch-Ionischen Raum). Die makroregionalen Strategien sind selbst mit keinerlei Budget ausgestattet, so dass dem sog. ‚Embedding‘ in andere Programme zentrale Bedeutung zukommt64 . Dies meint die Verbindung zu existierenden Programmen auf der regionalen und nationalen Ebene, aber auch zu EFRE- und Mainstream-Programmen. Vor diesem Hintergrund sind von nationaler Ebene für beide makroregionale Strategien Abstimmungsplattformen eingerichtet worden, die auch die jeweils beteiligten Programmräume einschließlich des IPA-Strangs einbeziehen (EUSALP: FR, CH, AT; EUSAIR SI, HR, AL, MT, GR). Eine Abstimmung der Akteure aus Grenzräumen mit INTERREG-A-Bezügen zu den Räumen mit den Westbalkan- oder Nordafrika-Grenzräumen über die See hinweg ist nicht bekannt. 64 s.a. Klotz, G., M. Trettel (2016): Grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Alpenraum: Wechselwirkung zwischen EUSALP und EVTZ. https://bia.unibz.it/bitstream/ handle/10863/6107/2016EDAP_02_FINAL.pdf?sequence=2 Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass die Vernetzung der Grenzräume jedenfalls in Norditalien vor allem über die politische Ebene der autonomen Regionen erfolgt. Auf der nationalen Ebene gibt es eine moderat ausgeprägte, eher technisch ausgerichtete Koordinierung im Zusammenhang mit den INTERREG-Pro- grammen. 3.12. Schweden Ausgangssituation Schwedenistdurchweitläufigeundgrößtenteilsländliche, dünn besiedelte Grenzräume gekennzeichnet (s. Abb. 1565 ). Der Verflechtungsraum über den Öresund ist hier eine Ausnahme, wo über die Seegrenze hinweg der starke verflochtene Metropolraum durch die Tunnel-Brücken-Konstruktion infrastrukturell auf beeindruckende Weise unterstützt wird66 . Neben der Brücke ist im gleichen Raum auch der stark grenzüberschreitend organisierte Flughafen von Kopenhagen ein starkes infrastrukturelles Element der Verflechtung. Die Grenzräume im Ausstrahlungsbereich von Oslo und über den See-Korridor von Stockholm Richtung Turku / Helsinki sind damit nicht vergleich- bar67 . Insofern hat die schwedische Perspektive mit großen Entfernungen und einer großen Bandbreite an raumstrukturellen Ausprägungen zu tun. 65 https://nordregio.org/maps/nordic-cross-border-co- operation-committees-2018 66 Nauwelaers, C., K. Maguire, G.A. Marsan (2013): The case of Oresund (Denmark-Sweden)–Regions and Innovation: Collaborating Across Borders. https://doi. org/10.1787/5K3XV0LK8KNN-EN 67 Möller, C. , E. Alfredsson-Olsson, B. Ericsson & K. Overvåg The border as an engine for mobility and spatial integration: A study of commuting in a Swedish–Norwegian context. Norwegian Journal of Geography 72 (4): 217-233 https://doi.org/10.1080/ 00291951.2018.1497698 // Länderprofile Kvarkenrådet SCHWEDEN Europäisches Nordmeer Tornedalsrådet Nordkalottrådet MittSkandia RUS Oulu Bothnian Arc Mittnorden FIN Kvarkenrådet TampereNOR St. Petersburg Turku Helsinki Bergen ARKO HedmarkVärmland-Estfod Dalarna Tallin Oslo Stockholm RUS EST Stavanger Skärgårdssamarbetet Göteborg LVASvinesundskommittén Riga Aalborg Klaip˜da LTUDNK Kopenhagen Öresund/ Greater Copenhagen Vilnus Malmö BLR RUS Danzig Entwurf: T. Chilla 2020100 km DEU Kartographie: S. Adler Abb. 15: Grenzregionen im Sinne der sog. Grenz-Komitees in Schweden (nach Nordregio 201865 ) 34 35 // Länderprofile Vernetzungsformen Zwei Aspekte sind für das Fallbeispiel Schweden besonders hervorzuheben: Erstens sind die Grenzräume Schwedens als ‚Grenzkomitees‘ institutionalisiert; weder findet sich hier die sonst häufige Vielfalt an Kooperationsformaten noch hat sich hier das Euregio-Format durchgesetzt. Die zweite Besonderheit klingt bereits im Namen der Grenzkomitees an, die im schwedischen benannt sind als Nordiska gränskommittéer: deren Besonderheit ist, dass sie gefördert werden durch den Nordischen Rat. Dieser ist eine seit den 1970er Jahren bestehende intergouvernementale Kooperation von Dänemark, Island, Norwegen, Schweden, Finnland und weiteren assoziierten Mitgliedern. Die finanzielle Förderung der Grenzregionen ist nicht unerheblich68 . Neben den finanziellen Fragen spielen die inhaltlich-politischen Fragen hier eine zentrale Rolle: Fragen des grenzüberschreitenden Funktionierens sind ein wichtiges Querschnittsthema und werden seit 2009 im ‚Gränshinderrådet‘ fortlaufend adressiert (die offizielle englische Übersetzung lautet ‚Freedom of Movement Council‘69 ). In der Vorbereitung dieser regelmäßigen Treffen finden auf nationaler Ebene, also mit dem einschlägigen Ministerium, Abstimmungen statt. Dennoch haben die Grenzregionen hier eine recht starke Handlungsfreiheit, die in der Praxis auch nicht umstritten ist. Die nationale Ebene übernimmt darüber hinaus nicht nur die üblichen Aufgaben im INTERREG-A-Prozess, sondern hat auch im sog. Regionalrat eine wich- 68 Ausführlich s. Hörnström, L., A. Tepecik Diş (2013): Crossing Borders. Linkages between EU policy for territorial cooperation and Nordic cross-border cooperation. Nordregio Working Paper 2013:2. Online http://norden.diva-portal.org/smash/record. jsf?pid=diva2%3A700297&dswid=-2651 Hörnström, L., Smed Olsen, L. and Van Well, L. (2012): Added Value of Cross-Border and Transnational Cooperation in Nordic Regions, Nordregio Working Paper 2012:14, www.diva-portal. org/smash/get/diva2:700328/FULLTEXT01.pdf 69 www.norden.org/en/organisation/freedom-movement- council tige Rolle: Koordiniert vom Wirtschaftsministerium kommen hier regionale Vertreter zu regelmäßigen Abstimmungen zusammen, wobei auch Grenzfragen eine Bedeutung haben. Im Ergebnis aber bleibt festzuhalten, dass die Vernetzung der Grenzregionen in Schweden stark durch den Nordischen Rat mobilisiert wird, der auf ‚übernationaler‘ Ebene angesiedelt ist, was in der synoptischen Darstellung eine besondere Position Schwedens begründet (s. Kap. 2). Bevor die Ausführungen aus den einzelnen Ländern nun im Hinblick auf die deutsche Situation reflektiert werden, sei zunächst kurz auf die europäische und innerdeutsche Ausgangssituation eingegangen. 36 // Reflexionen im Hinblick auf die deutsche Situation 4. Reflexionen im Hinblick auf die deutsche Situation 4.1. Hintergrund: die europäische Ebene Netzwerke auf europäischer Ebene Für diese Studie zur Vernetzung von Grenzregionen innerhalb der nationalen Staaten spielt die europäische Ebene – vor allem mit dem grenzüberschreitenden Interreg-Programm – eine wichtige Rolle. Zugleich darf man dies nicht überschätzen: Nicht nur in vielen EU-Mitgliedsstaaten, sondern auch auf europäischer Ebene sind Fragen der Grenzräume in zwei Themenbereiche geteilt, deren Zusammenführung in der Praxis nicht selbstverständlich ist. Auf der einen Seite sind dies die eher formalen Fragen der EU-Förderprogramme als Teilbereich der Kohäsionspolitik; auf der anderen Seite die eher inhaltlichen Fragen der Grenzraumentwicklung, die rechtliche Hindernisse (‚obstacles‘) und Raumentwicklung umfasst. Hinzu kommen die angrenzenden sektoralen Ressorts, also Generaldirektionen auf EU-Ebene und Ministerien auf den weiteren Ebenen. Aus europäischer Warte ist eine gebündelte Kommunikation nur eingeschränkt möglich. Dies stellt nicht die formalen Kommunikationswege mit den jeweils zuständigen Stellen in Frage, wirft aber den Blick darauf, dass diese in der regionalen und sektoralen Vielfalt so zahlreich sein können, dass eine systematische Einbeziehung in Abstimmungsprozesse begrenzt ist. Ansprechpartner mit einer Bündelungsfunktion sind da von offensichtlicher Relevanz – namentlich zu nennen sind dabei: • Auf Ebene der Mitgliedsstaaten sind Frankreich und Ungarn mit ihren spezifischen Institutionen recht effizient einzubinden (MOT, CESCI). Zwar ist deren Funktion kein ‚one-stop-shop‘ im politischen Prozess, aber die Bündelung von Kommunikation auf niederschwelliger Ebene ist nicht zu unterschätzen. • Die beiden genannten Institutionen arbeiten in der Praxis häufig zusammen mit der Arbeitsgemeinschaft der europäischen Grenzregionen (AGEG), die bereits häufiger erwähnt wurde70 . • Auch der Ausschuss der Region (AdR) spielt eine Rolle im Hinblick auf Interessensvertretung und Vernetzung von Grenzregionen, die recht hoch auf der Agenda steht und über lange Jahre mit dem Vorsitzenden K.-H. Lambertz verknüpft war. Besonders hervorzuheben ist dabei die sog. EVTZ-Plattform: Der AdR war früh ein prominenter Unterstützer des EVTZ-Formats und bietet mit der Internet-Plattform ein europaweites Vernetzungsformat für Repräsentanten und Stakeholder71 . • Zumindest erwähnt werden sollte das INTERACT-Programm, das mit punktueller Einbindung auch Vernetzungen von Grenzregionen unterstützt (z.B. Workshops mit der DG-Regio). Eine Illustration des Settings ist die bereits erwähnte Initiative der European Cross-border Citizens‘ Alliance72 . Unter anderem vor dem Hintergrund der abrupten Grenzschließungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie werden hier neue Impulse für die Grenzraum-Politik gefordert. Hier zeigt sich, dass national vernetzte, abgestimmte Kommunikation eine eigene Sichtbarkeit auf europäischer Ebene haben kann. 70 Guillermo Ramírez, M. (2018): Institutionalisation of cross-border cooperation: The role of the Association of European Border Regions. In: Havlícek, T., M. Jerábek, J. Dokoupil (Ed..): Borders in Central Europe after the Schengen Agreement. Springer, Cham, S. 93-101 71 https://portal.cor.europa.eu/egtc/about/Pages/platform. aspx 72 www.espaces-transfrontaliers.org/en/news/news/ news/show/alliance-europeenne-pour-les-citoyens- transfrontaliers 37 // Reflexionen im Hinblick auf die deutsche Situation Cross-border-coordination points? In den vergangenen Jahren sind seitens der Europäischen Kommission mit dem sog. ‚cross-border review‘-Prozess recht grundlegende Überlegungen zur Zukunft der Grenzräume angestellt worden73 . In diesem Zusammenhang ist die Idee von sog. cross-border coordination points in den EU-Staaten entstanden, die derzeit noch in der politischen Abstimmung ist74 . Auch deshalb soll der Prozess an dieser Stelle nicht im Detail nachgezeichnet oder kommentiert werden. Von besonderer Relevanz ist hier aber der Grundgedanke, der in diesem Vorschlag enthalten ist: Der Idee nach sind Ansprechpartner auf einer Ebene zwischen den einzelnen Grenzregionen und der europäischen Ebene angesiedelt, die im Sinne einer gebündelten Kommunikation Prozesse vereinfachen könnten. Wenn also die Vernetzung von Grenzregionen innerhalb von Staaten reflektiert wird, so sollte auch die Kommissions-Initiative zumindest mitgedacht werden. 4.2. Ausgangssituation in Deutschland Auch wenn die Situation in Deutschland nicht im Fokus dieser Studie steht, so sei doch die Ausgangslage 73 Verschelde, N. (2019): When border regions have wind in their sails – a short history of the European Commission’s communication ‘Boosting growth and cohesion in EU Border Region’. In: Beck, J. (Hg.): Transdisciplinary discourses on cross-border cooperation in Europe. Peter Lang Frankfurt, S. 395-401; Sielker, F. (2018): The European Commission’s proposal for a cross-border mechanism (ECBM): Potential implications and perspectives Article. Journal of Property Planning and Environmental Law 10 (3): 219-239. https://doi.org/10.1108/ JPPEL-08-2018-0024, Engl, A., E. Evrard (2019): Agenda-setting dynamics in the post-2020 cohesion policy reform: the pathway towards the European cross-border mechanism as possible policy change. Journal of European Integration 42 (7): 917-935. https://doi.org /10.1080/07036337.2019.1689969 74 COM (2018) 373 Proposal for Regulation on a mechanism to resolve legal and administrative obstacles in cross-border context. Zum Verfolgen des politischen Prozesses: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/ HIS/?uri=COM:2018:373:FIN kurz beleuchtet, bevor die Relevanz der Analyse in den weiteren europäischen Staaten für Deutschland reflektiert wird. Im internationalen Vergleich fällt zunächst auf: • Deutschland hat mit neun Nachbarstaaten recht zahlreiche und auch recht unterschiedliche Nachbarn. Die funktionalen Verflechtungen mit den Nachbarstaaten sind unterschiedlich ausgeprägt. So ist der Pendlersaldo Richtung Luxemburg oder Schweiz deutlich negativ, hingegen zu Tschechien positiv; in den Fällen Belgien und Österreich finden sich eher ausgeglichene Saldi. • Der föderale Staatsaufbau Deutschlands ist stark ausgeprägt. Dies erstreckt sich unter anderem auf die klaren Länderkompetenzen im Bereich der räumlichen Landesplanung und der Programmierung der europäischen Grenzraumprogramme (INTERREG A). • Deutschland ist recht früh in der Entwicklung grenzüberschreitender Kooperation aktiv geworden, insbesondere an seinen Westgrenzen. Dies ist eng verbunden mit den Prozessen der Versöhnung und Friedenssicherung im Anschluss an den 2. Weltkrieg. Eine umfassende Koordinierung oder auch systematische Vernetzung der Grenzregionen findet in Deutschland auf Bundesebene bislang nicht statt. Dennoch gibt es facettenreiche Ansätze und Aktivitäten, die bereits in diese Richtung gehen und die z.T. Entwicklungspotenziale haben. Diese seien im Folgenden skizziert. Föderale Abstimmung Das föderale System Deutschlands enthält zahlreiche Strukturen, die das Austarieren und den Interessensausgleich zwischen vielfältigen Vertretern und Anspruchsgruppen sichern. Im Hinblick auf Grenzregionen ist dies aktuell zumindest ansatzweise der Fall. Besonders auf zwei Ebenen ist diesbezüglich zu verweisen: 38 // Reflexionen im Hinblick auf die deutsche Situation Zum einen ist die Ministerkonferenz für Raumordnung (MKRO)75 ein einschlägiges und prinzipiell auch für die Abstimmung von Fragen der Grenzräume geeignetes Format, da hier die zuständigen Fachminister und auch Vertreter des Bundes regelmäßig im Austausch sind. Einschränkend ist aber zu vermerken, dass vor einigen Jahren der sog. Europa-Ausschuss abgeschafft wurde, so dass jetzt Fragen der Grenzräume im Raumentwicklungsausschuss bzw. im Hauptausschuss bearbeitet werden können, was in der Praxis aber keine prominente Rolle spielt. Generell gilt, dass die MKRO ein recht formales und hochrangiges Gremium ist, das bei Fragen von Vernetzungen dann an Grenzen stößt, wenn es um eher lokale Kontexte geht. Zum zweiten ist auf die Konferenz der Europaminister (EMK) zu verweisen: Diese ist als Fachministerkonferenz prinzipiell ein ebenfalls geeignetes Gremium für die Diskussion von Grenzfragen. In der Tat wurden hier bereits etliche einschlägige Beschlüsse verabschiedet (z.B. zur Europäischen Territorialen Zusammenarbeit im September 2018 oder zur rechtlichen Flexibilisierung in Grenzräumen vom Mai 201776 ). Auch hier gilt die Einschränkung, dass die Arbeit auf hochrangiger politischer Ebene erfolgt, die nur bedingte Einbindungen der lokal-regionalen Akteure sichern kann. In diesem Fall ist zudem darauf zu verweisen, dass die Bundesebene nicht Mitglied ist. Netzwerke Arbeitsgemeinschaft Europäischer Grenzregionen (AGEG) Innerhalb Deutschlands besteht zweifellos eine hohe Anzahl von Netzwerken zwischen den Akteuren aus verschiedenen Grenzregionen. Diese Netzwerke sind 75 www.bmi.bund.de/DE/themen/heimat-integration/ raumordnung-raumentwicklung/grundlagen/ ministerkonferenz-raumordnung/mkro-node.html 76 https://europa.rlp.de/de/europaministerkonferenz/ beschluesse oft informeller Natur, aber einige sind mehr oder weniger institutionalisiert. Besondere Bedeutung hat hierbei die Arbeitsgemeinschaft der Europäischen Grenzregionen (AGEG), die in Form einer informellen Untergruppe die deutschen Grenzregionen vernetzt. Die AGEG existiert bereits seit 1971 und versteht sich als Interessensvertretung der Grenzregionen auf europäischer, aber auch auf nationaler und regionaler Ebene77 . Auch wenn die AGEG eine Vielzahl an Dienstleistungen bietet, versteht sie sich weniger als umfassender Dienstleister als vielmehr als Plattform für Initiativen und Aktivitäten. Zwar sind die meisten Grenzregionen Deutschlands in der AGEG als Mitglieder organi- siert78 , aber dies gilt nicht für alle, und nicht alle sind aktiv in der Gruppe der deutschen Grenzregionen. Insofern bietet dieses Netz einen guten Kristallisationskern zur innerdeutschen Vernetzung, ohne dies bislang umfassend abdecken zu können. In der Praxis finden insbesondere Treffen der jeweils engagierten Vertreter der deutschen Grenzregionen im Vorfeld oder am Rande von Veranstaltungen statt, wo ohnehin viele Mitglieder anwesend sind (beispielsweise bei Veranstaltungen der AGEG, der Kommission oder auch der Berliner Ministerien). Initiativkreis Metropolitane Grenzregionen IMeG Ein regional aufgestelltes Netzwerk von Grenzregionen ist der Initiativkreis der Metropolitanen Grenzregionen (IMeg), der aus einem MORO-Projekt heraus entstanden ist. Dieses Netzwerk umfasst die vier Grenzregionen Maas-Rhein, Großregion, Oberrhein und Bodensee, also erhebliche Teile der (Süd-) West-Grenze Deutschlands, die zu einem stark urba- 77 www.aebr.eu/vision-and-mission, Ramírez M.G. (2018) Institutionalisation of Cross-Border Cooperation: The Role of the Association of European Border Regions. In: Havlíček T., Jeřábek M., Dokoupil J. (eds): Borders in Central Europe After the Schengen Agreement. Springer, Cham. https://doi. org/10.1007/978-3-319-63016-8_6 78 www.aebr.eu/members-aebr/our-members 39 // Reflexionen im Hinblick auf die deutsche Situation nisierten Grenz- und Verflechtungsraum auch aus europäischer Perspektive zählt79 . Die Partnerschaft ist bereits seit 2011 institutionalisiert und geht zurück auf das Modellvorhaben der Raumordnung zu grenzüberschreitenden Verflechtungsräumen – kurz MORO güV (2008-2011)80 . Die Weiterentwicklung erfolgte im Rahmen eines Weiteren MORO-Projektes, das den Namen des Initiativkreises trägt. Der IMeG ist zu sehen als Ergänzung zum Initiativkreis Europäische Metropolregionen in Deutschland (IKM), der die innerstaatlichen Metropolregionen vernetzt und vertritt81 . Der Abschlussbericht betont, „dass metropolitane Grenzregionen zu Recht eine auf Wachstum und Innovation ausgerichtete Raumentwicklung unterstützen“82 . Die Verstetigung erfolgt aus Eigenmitteln, indem die Partner einen Beitrag einzahlen. Die Konzeption des IMeG sieht die Möglichkeit des Beitritts weiterer Mitglieder vor, was sich bislang allerdings nicht realisiert hat. Aus analytischer Hinsicht ist aufgrund der metropolitanen Charakteristik insbesondere an die Räume um Stettin und Salzburg zu denken. ‚Grenznetz‘ Beim Grenznetz handelt es sich um eine 2009 gegründete Kooperation von inzwischen sechs Grenzregionen entlang der westdeutschen Grenze mit den jeweiligen Partnern aus Dänemark, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Frankreich und der Schweiz. Neben vier Euregios sind mit der Großregion und dem Oberrhein auch zwei großräumigere Zuschnitte involviert83 . Das Ziel der Kooperation ist 79 www.espon.eu/metroborder 80 Ausführlich s. metropolitane-grenzregionen.eu/ initiativkreis/hintergrund-2 und metropolitane-grenzregionen. eu/wp-content/uploads/2018/02/imeg_Endbericht_de_web.pdf 81 www.deutsche-metropolregionen.org/ueber-ikm 82 metropolitane-grenzregionen.eu/wp-content/ uploads/2018/02/imeg_Endbericht_de_web.pdf, S. 3 83 S. den Rückblick zum 10-jährigen Bestehen unter www.tf- grenzgaenger.eu/index.php?id=170 der Wissensaustausch und die gemeinsame Interessensvertretung. Auch wenn hier keine dezidiert innerdeutsche Vernetzung stattfindet, erfolgt dies zumindest als Nebeneffekt auf regionaler Ebene. Sektorale Netzwerke Neben den thematisch breit und querschnittsorientiert aufgestellten Kooperationsformen existieren eine Reihe weiterer Netzwerke, die sich auf einzelne Politikbereiche konzentrieren. Beispielhaft genannt seien die Eures-Beratungsstellen im Bereich der Arbeitsmarktfragen, die es in allen EU-Staaten gibt und die sich insbesondere auch an Grenzpendler richten84 . Ein weiteres Beispiel sind nationalen Kontaktstellen für grenzüberschreitende Gesundheitsfragen85 . Es ist nicht im Fokus der vorliegenden Studie, dies systematisch aufzubereiten, aber für Vernetzungs-Aktivitäten sollten diese Kooperationsansätze mit bedacht werden. Projekte, Programme, Institutionen Modellvorhaben der Raumordnung Es ist bereits angeklungen, dass die Modellvorhaben der Raumordnung eine wichtige Funktion im Sinne einer Initiierung von Prozessen und auch Strukturen spielen können. Dies trifft für den Initiativkreis der metropolitanen Grenzregionen zu (MORO güV und MORO IMeG, s.o.); ein weiteres Beispiel auf teilregionaler Ebene ist das MORO zur „Umsetzung des Gemeinsamen Zukunftskonzeptes für den deutsch-polnischen Verflechtungsraum“ (2016-19)86 . Aktuell erfolgen Arbeiten zur Etablierung einer grenzüberschreitenden Raumbeobachtung, wie sie in §25 Abs. 1 ROG vorgesehen ist. Im Zeitraum 2015-18 84 www.eures-deutschland.de 85 www.eu-patienten.de/de/faq/haeufige_fragen.jsp 86 www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/forschung/programme/moro/ initiativen/2017/umsetzung-gzk/01-start.html, www.bbsr. bund.de/BBSR/DE/veroeffentlichungen/ministerien/moro- praxis/2017/moro-praxis-11-17.html?nn=2540226 40 // Reflexionen im Hinblick auf die deutsche Situation wurde das Projekt „Raumbeobachtung Deutschland und angrenzende Regionen“ durchgeführt87 , das eine Bestandaufnahme aus raumanalytischer Sicht vorgenommen hat. Das Folgeprojekt leuchtet die Möglichkeiten einer dauerhaften Raumbeobachtung von Grenzräumen aus („Etablierung eines Raumbeobachtungssystems für angrenzende Regionen“, Laufzeit 2019-21)88 . Programme Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die vielfältigen Abstimmungsprozesse in der Vorbereitung, Durchführung und Abstimmung von EU-Programmen zu erläutern. Dieser Bericht hat für zahlreiche europäische Länder gezeigt, dass diese Kommunikationsprozesse zumindest eine wichtige Hintergrundfolie für die Vernetzung von Grenzregionen spielen. Das trifft auch für Deutschland zu. Die Besonderheit ist hier, dass die Bundesländer umfassende Befugnisse haben. Es liegen vor allem zwei Schnittstellen vor. Zum einen stimmt sich der Bund mit den Ländern ab, zum anderen die Bundesländer mit den Programmvertretern und den lokalen Grenzraum-Akteuren. Dies ist im föderalen System die zweifellos richtige Ausgestaltung, führt allerdings kaum zu Vernetzungs-Prozessen zwischen Grenzraumakteuren oberhalb der Programm-Ebene. Institutionen Eine Institution, die sich primär Grenzfragen widmet, existiert in Deutschland nicht; jedenfalls nicht in einer Weise, die vergleichbar wäre mit der französischen MOT oder dem ungarischen CESCI. Allerdings ist nicht zu unterschätzen, dass in jüngerer Zeit die 87 www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/forschung/programme/moro/ studien/2015/angrenzende-regionen/01_Start.html 88 www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/forschung/ programme/moro/studien/2019/ raumbeobachtungssystem/01-start. html?docId=2408936¬First=true Aktivitäten zur Fragen der Grenzräume aus bestehenden Institutionen heraus deutlich zugenommen haben, was durchaus auch in den Nachbarländern gesehen wird. Dies betrifft zum einen den Initiator der vorliegenden Studie, das BMI, das mit mehreren Referaten und entsprechenden Aktivitäten sichtbar geworden ist. Beispielhaft erwähnt sei die Konferenz zum Potenzial der grenzüberschreitenden regionalen Zusammenarbeit für gleichwertige Lebensverhältnisse, die hochrangig besetzt und recht groß angelegt war89 . Wichtig ist hierbei ebenso das BBSR, das sowohl bei den MOROs als auch in der deutschen und europäischen Raumordnung vor allem in der Umsetzung der entscheidende Akteur ist. Auch wenn Fragen der Grenzräume hier nur eine Thematik neben vielen anderen sind, so ist doch die Größe und Ressourcenausstattung dieser Institution bemerkenswert. 4.3. Bedeutung der Erfahrungen aus andere Ländern für Deutsch- land Synopse Die aktuelle Situation in Deutschland bietet offensichtliche und durchaus konkrete Ansatzpunkte für eine mögliche weitere Vernetzung von Grenzregionen innerhalb Deutschlands. Vor diesem Hintergrund sollen die Erkenntnisse aus den Nachbarstaaten und den weiteren angesprochenen Ländern dahingehend betrachtet werden, welche Schlüsse für die deutsche Entwicklungsoptionen gezogen werden können. Diese Überlegungen sind lediglich explorativer Natur und nicht im Sinne von Handlungsempfehlungen misszuverstehen, was einer deutlich größeren Projektbasis bedürfen würde. 89 www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/ veroeffentlichungen/2020/guerz-dokumentation-2019.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 41 // Reflexionen im Hinblick auf die deutsche Situation Abb. 16 fasst dies in sehr kompakter Weise zusammen. Die Tabelle kategorisiert die in den jeweiligen Ländern eingesetzten Vernetzungsformate und -instrumente, wobei in der zweiten Spalte ein Beispiel oder mehrere genannt werden. Die rechte Spalte deutet mit einer Symbolik an, welche Relevanz dies für Deutschland haben könnte. Die hellblau unterlegten Zeilen sind so angeordnet, dass der Formalisierungsrad von oben nach unten tendenziell zunimmt. Die unteren Zeilen in dunklerem Blau entziehen sich dieser Logik. An dieser Stelle können die Hintergrund-Informationen zu den einzelnen Aspekten nicht wieder im Detail aufgegriffen werden, der Schwerpunkt liegt vielmehr in der Erörterung der Relevanz für Deutsch- land. Informelles Netzwerk Es ist müßig, die generell hohe Bedeutung von informellen Netzwerken im Zusammenhang mit Grenzräumen hervorzuheben. Dies ergibt sich insbesondere aus der hohen Bedeutung von Governance-Konstellationen, die weniger auf formalisierten und hierarchisch verankerten Regularien beruht, sondern auf persönlichem Vertrauen und auf interkulturellem Verständnis. Auch für die innerstaatliche Vernetzung stellen informelle Netzwerke eine wichtige Basis dar. Die innerhalb der AGEG recht informell organisierte Format Beispiele aus anderen Ländern Relevanz für Deutschland Formalisierungsgrad informelles Netzwerk AGEG deutsche Regionen (DE) + Begegnungsformat (regelm. Veranstaltungen) EVTZ Forum (HU), ÖROK cross-border AG (AT), Bürgermeistertreffen (NL) + institutionalisiertes Netzwerk Föderation der Euroregionen Polens (PL) + Föderale Abstimmungen CH, ÖROK (AT), BE + Cross-border coordination point CBM (Vorschlag DG Regio) ? Physischer Begegnungsort Haus der Großregion (LU); regional Villa Rehfuss (FR-DE) Institution im umfassenden Sinne MOT (FR), CESCI (HU) Projektbasis div. + Programmierungsprozesse div. + Übernationale Abstimmung Nordischer Rat (SE) Abb. 16: Die Relevanz der betrachteten Formate für Deutschland im vereinfachten Überblick 42 // Reflexionen im Hinblick auf die deutsche Situation Vernetzung der deutschen Akteure ist zweifellos ein zentraler Kristallisationskern für weitere Vernetzungsbemühungen. Diese Form der innerstaatlichen Vernetzung ist in den weiteren untersuchten Ländern nicht anzutreffen. Institutionalisierte Begegnungsformate In etlichen Ländern sind regelmäßig stattfindende Austauschforme etabliert, die verschiedene Funktionen erfüllen können. Neben den konkreten inhaltlichen Themen, bei denen Informationsaustausch und Meinungsbildung erfolgt, sind auch die Funktionen der Netzwerk-Bildung und persönlichen Netzwerke nicht zu unterschätzen. Abgesehen von der horizontalen Vernetzung zwischen den Akteuren der Grenzregion ist auch vertikale Vernetzung gut möglich (z.B. Experten von europäischer oder nationaler Ebene). Die vom BMI organisierte Konferenz im September 2019 könnte hierzu als Auftakt gesehen werden90 , aber ebenso sind vielfältige andere Formate vorstellbar. Dies illustrieren die in dieser Studie benannten Beispiele aus den Nachbarstaaten: Die Adressaten können politische Repräsentanten aus Grenzräumen, institutionelle Akteure des Interreg-Programms oder EVTZ-Vertreter sein; die Treffen können recht offen sein mit einer Vielzahl von Stakeholdern oder stark fokussiert auf einen engen Kern an Zuständigen; vorstellbar sind rotierende Vorsitze oder Bundeskoordination; der Ort kann fix sein oder sich ändern; um nur einige Variablen anzusprechen. Institutionalisiertes Netzwerk Das institutionalisierte Netzwerk geht einen Schritt weiter, indem es neben der informellen Absprache oder etablierten Austauschformaten das Netzwerk selbst verstetigt. Im Fall Polens war nach etlichen Jahren informeller Vernetzung der Schritt in die Rechtspersönlichkeit gewollt. Generell gilt, dass sich der Aufwand einer formalen Institutionalisierung dann lohnt, wenn ein konkreter Zweck damit (besser) verfolgt werden kann. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Zugriff auf Ressourcen geregelt werden soll (s. das Beispiel IMeG) oder wenn eine klare Rolle in Abstimmungsprozessen etabliert werden soll. Zweifellos besteht hier in Deutschland im Prinzip noch viel Potenzial. Allerdings wäre hier ein ergebnisoffener, partizipativer Abstimmungsprozess mit den potenziell Beteiligten zu organisieren, wie und zu welchem Zweck dies auszugestalten wäre. Föderale Abstimmungen Die Verankerung der Belange von Grenzräumen im föderalen Staatsaufbau Deutschlands ist wenig explizit, jedenfalls im Vergleich mit der Schweiz und letztlich auch mit Österreich. Allerdings sind mit der MKRO und der EMK hochrangige und bewährte Institutionen installiert. Wenn die Relevanz der Grenzräume in diesem Kontext aufgewertet werden soll, so bieten sich prinzipiell zwei Wege an: Zum einen kann die Aufwertung der Grenzthemen innerhalb von MKRO (Ausschuss o.ä.) und EMK überlegt werden. Alternativ kann über neue, institutionalisierte Formate nachgedacht werden. Die beiden Beispiele Österreich und Schweiz zeigen hier die Bandbreite: Eine einschlägige und eher technisch ausgestattete Geschäftsstelle der ÖROK ist eine Illustration für eine weichere Variante; die Verzahnung von kantonalen Außenbeziehungs-Delegierten im Mehrebenensystem ist eine deutlich stärker institutionalisierte Variante. Inwiefern letzteres übertragbar auf den deutschen Kontext wäre, muss an dieser Stelle offenbleiben, zumal ja auch die deutschen Bundesländer das Thema der Grenzräume sehr unterschiedlich verankern. 90 www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/ veroeffentlichungen/2020/guerz-dokumentation-2019.pdf?__ blob=publicationFile&v=2 43 // Reflexionen im Hinblick auf die deutsche Situation Cross-border coordination point Es ist zum aktuellen Zeitpunkt unklar, ob sich der Kommissions-Vorschlag im Hinblick auf den cross-border mechanism und den damit verbundenen cross-border coordination points in der Zukunft realisieren wird. Dies kann hier auch dahinstehen, zumal unklar ist, wie dieser auszugestalten wäre. Im Zusammenhang mit dieser Studie ist jedoch der Grundgedanke wichtig, indem eine solche Koordinationsstelle Verfahrens- und Kommunikationsprozesse zu Problemstellungen in Grenzregionen bündeln kann. Es ist kein Zufall, dass diese Idee auf europäischer Ebene entwickelt wurde, aus deren Perspektive die jeweiligen Zuständigkeiten in den Ländern nicht immer leicht zu erkennen sind. Physischer Begegnungsort Die Schaffung eines festen baulichen Begegnungsortes hat neben den praktischen Funktionen vor allem symbolische Bedeutung: Das Haus der Großregion für die Großregion oder die Villa Rehfus an der deutsch-französischen Grenze sind unmittelbar erfassbare Bekenntnisse zur Bedeutung von Grenzräumen. Auf die gesamtstaatliche Ebene Deutschlands ist diese Idee allerdings nicht unmittelbar übertragbar – angesichts der Größe des Landes und seiner Entfernungen, aber auch aufgrund der bewährten föderalen Struktur fällt es schwer, sich eine konkrete und akzeptierte Umsetzung vorzustellen. Eine Analogie von Botschaftsstrukturen, wie sie insbesondere in Brüssel, aber auch in Berlin auch von nicht-klassischen Raumeinheiten vorgenommen wird, ist zweifellos möglich, müsste aber als bottom-up-Initiative entstehen und wäre aufgrund der Ressourcenfragen zumindest als ambitioniert anzusehen. Institution im umfassenden Sinne Die Studie zeigt, dass die Vernetzung von Grenzregionen dort besonders intensiv ist, wo eine übergeordnete Institution etabliert ist, die umfassende Funktionen übernimmt. Im Falle von Frankreich (MOT, Kap. 3.6) und Ungarn (CESCI, Kap. 3.10) ist dies gegeben. Dort wird in der jeweiligen Hauptstadt die vertikale und horizontale Vernetzung kontinuierlich unterstützt und zudem eine ganze Reihe an Dienstleistungen wie Veranstaltungen, Studien, Prozessbegleitungen usw. angeboten. Es erscheint fraglich, ob diese Ausgestaltung auf den Kontext in Deutschland unmittelbar übertragbar ist. Dagegen spricht zunächst der ausgeprägte Föderalismus in Deutschland, der einer umfassenden Zentralisierung eines Themenbereichs entgegensteht. Hinzu kommt, dass mit dem BBSR bereits eine Institution mit erheblichen Ressourcen besteht, die auch jetzt wichtige Funktionen für den Themenbereich übernimmt (MORO zur Raumbeobachtung, Kap. 4.2). Eine auch in erheblichen Teilen dezentrale Organisation der Thematik erscheint für den deutschen Kontext deutlich näherliegend. Projektbasis Im Rahmen dieses Projektes konnte nicht systematisch ausgeleuchtet werden, welche Projektformate jeweils zur Verfügung stehen, die zumindest auch die Vernetzung der jeweiligen Grenzräume unterstützen. Es kann davon ausgegangen werden, dass dies letztlich in allen Ländern möglich ist. In Deutschland ist insbesondere mit den Modellvorhaben der Raumordnung - wie mehrfach angesprochen - ein recht effizientes Instrument für die Initiierung von Prozessen in den deutschen Grenzräumen etabliert. Deren Wert wird allenthalben anerkannt, so dass deren Fortführung und ggf. Intensivierung zweifellos sinnvoll ist. Es steht die Frage im Raum, inwieweit eigene Fördermöglichkeiten für Vernetzungen sinnvoll sein können, sei es auf Projekt- oder Programmbasis. Dies kann im Format MORO oder ‚Region gestalten‘ erfolgen oder gänzlich neue Formen annehmen. Die bei Projektformaten klar vorhandene bottom-up-Kom- 44 // Reflexionen im Hinblick auf die deutsche Situation ponente hat gerade beim Thema der Vernetzung offensichtliches Potenzial. Programmierungsprozesse Die Programmierungsprozesse insbesondere im Kontext des INTERREG-A-Stranges sind eine zweifellos sehr wichtige Basis für die Vernetzung von Akteuren aus den Grenzräumen. Es steht nicht im Fokus dieser Studie, die Abstimmungsprozesse als solche zu analysieren. Allenfalls ist darauf hinzuweisen, dass hier vernetzende Kristallisationskerne wie die ÖROK Geschäftsstelle der cross-border Arbeitsgemeinschaft ‚mitgedacht‘ werden können. Übernationale Abstimmung Die Option der übernationalen Abstimmung ist für Deutschland wenig einschlägig, und dies aus mehreren Gründen: Deutschland ist vor allem von der Bevölkerungszahl als Staat deutlich größer als die weiteren betrachteten Staaten und insbesondere auch als die Mitgliedsstaaten des Nordischen Rats, das in Bezug auf die übernationale Abstimmung der Beispielgeber ist (Kap. 3.1 und 3.12). Hinzu kommt, dass Deutschland eher auf der Schnittstelle verschiedener Funktional- und Programmräume liegt (West-/Osteuropa etc.) und nicht, wie im skandinavischen Beispiel, gewissermaßen eine übersichtliche Zahl besonders naheliegender Partner hat. Zwar ist zweifellos ein Engagement auf makroregionaler und transnationaler Ebene wichtig; für die innerstaatliche Vernetzung von Grenzregionen ist dies jedoch weniger relevant. Kombinationsmöglichkeiten und Konkreti- sierung Auf Basis der vorliegenden Untersuchung lässt sich nicht ableiten, dass es ein ganz bestimmtes Vernetzungsformat in anderen Ländern gäbe, dessen Anwendung sich in Deutschland unmittelbar und zwingend aufdrängt. Zwar ist offensichtlich, dass die Vernetzung in Deutschland nicht stark ausgeprägt und wenig erprobt ist. Diesbezügliche Intensivierungen müssen aber den spezifischen Voraussetzungen angepasst werden und die vorhandenen Institutionen und Akteure mit einbezogen werden. Dabei ist zweifellos eine Kombination der aufgezeigten Ansätze und Instrumente angeraten. Die Etablierung eines kontinuierlichen Austausch- und Begegnungsformats lässt sich gut kombinieren mit stärker strukturierten Netzwerk-Arbeiten und spezifischen Fördermöglichkeiten. Parallel hierzu können Reflexionen und Gespräche zur Verortung der Grenzregionen in den föderalen Gremien durchgeführt werden. Insgesamt sind hierbei vielfältige Abstimmungs- und Konkretisierungs-Prozesse erforderlich. Hierbei wäre es ggf. sinnvoll, einen griffigen Namen für den Gesamtprozess zu finden (z.B. ‚Forum Deutsche Grenzregionen‘ o.ä.). 4.4. Ausblick Die vorliegende Studie skizziert ein Bild der innerstaatlichen Vernetzung von Grenzregionen in den Nachbarstaaten Deutschlands und drei weiteren Ländern. Die daraus abgeleiteten Implikationen für die weitere Entwicklung in Deutschland sind explorativer Natur. Für die weiteren Überlegungen zu diesem Themenbereich sind die nachfolgenden Aspekte besonders hervorzuheben. Erstens ist deutlich geworden, dass die Vernetzung auf nationaler Ebene in Deutschland vergleichsweise gering ausgeprägt ist. Die Konstellationen aus den untersuchten Staaten haben zugleich gezeigt, dass weitere Vernetzungen durchaus Potenzial haben. Dieses Potenzial besteht in Lernprozessen untereinander, einer stärker strategisch ausgerichteten Entwicklung von Grenzräumen und einer stärkeren Stimme nicht zuletzt in Brüssel und auf internationaler Ebene. 45 // Reflexionen im Hinblick auf die deutsche Situation Zweitens ist deutlich geworden, dass – wenn stärkere Vernetzung gewollt ist – hier keinem Rollenvorbild oder gar Patentrezept zu folgen ist. Die Konstellationen in den Nachbarländern unterscheiden sich in vielfältiger Hinsicht, und eine Übertragbarkeit ist nur eingeschränkt gegeben. Eine zielführende Weiterentwicklung sollte verschiedene Ansätze und Instrumente kombinieren und anpassen. Drittens ist zu betonen, dass es sich hier um einen politischen Prozess handelt. Vernetzungen im föderalen Mehrebenen-System sind prinzipiell sensible Fragen, die einen angemessenen Rahmen für den Prozess benötigen, insbesondere genügend Zeit, die richtigen Partizipationsprozesse und angemessene Ressourcen. Zu vermeiden sind ineffiziente (Doppel-)Strukturen und Kompetenzdebatten. Eine Vernetzung ist langfristig dann sinnvoll, wenn sie neben Impulsen von der nationalen Ebene maßgeblich von bottom-up-Aktivitäten getragen wird. Letztlich ist offensichtlich: Wenn die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland verbessert werden soll, so spielen Grenzräume eine herausragende Rolle. Um das bislang brachliegende Potenzial zu nutzen, sollten alle vielversprechenden Instrumente genutzt werden. Eine verstärkte, bundesweite Vernetzung gehört dazu. Impressum Herausgeber Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, 10557 Berlin Internet: www.bmi.bund.de Stand Dezember 2020 Druck SAFNER Druck und Verlags GmbH, 96170 Priesendorf Gestaltung Prof. Dr. Tobias Chilla, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (Autor). Inhalt, Datenverarbeitung, Graphik, Gestaltung und Redaktion: Tobias Chilla, Markus Lambracht, Dominik Bertram, Anna Heugel, Stephan Adler. Bildnachweis Europäische Kommission / GD Regio / S. 9 Prof. Dr. Tobias Chilla / Institut für Geographie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg / S. 11, 13, 15, 16, 18, 19, 21, 23, 25, 27, 29, 30, 32, 34, 41 Weitere Publikationen der Bundesregierung zum Herunterladen und zum Bestellen finden Sie unter: www.bundesregierung.de/publikationen Diese Publikation wird von der Bundesregierung im Rahmen ihrer Öffentlichkeitsarbeit herausgegeben. Die Publikation wird kostenlos abgegeben und ist nicht zum Verkauf bestimmt. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlwerbern oder Wahlhelfern während eines Wahlkampfes zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden. Dies gilt für Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlen sowie für Wahlen zum Europäischen Parlament.