Psycholinguistische Fragestellungen
In dieser Einheit findet sich ein kurzer Exkurs in das Feld der Psycholinguistik.
Die Psycholinguistik ist heute ein reich entwickeltes Forschungsfeld mit spezifischen Methoden und Theorien. Eine Einführung in die Psycholinguistik kann diese Einheit daher nicht bieten, dafür wäre ein ganzer Studiengang erforderlich. Wir konzentrieren uns daher nur auf einige wenige Aspekte.
Unterscheidung von Repräsentation und Verarbeitung
- Repräsentation:
= die dauerhafte Speicherung des sprachlichen Wissens im Gedächtnis des Sprechers. Über das Format der Speicherung besteht keine Einigkeit. Manche nehmen eine Speicherung in Form von symbolischen Repräsentationen aus Einheiten und Regeln an (Levelt; Pinker), andere in Form von Netzwerken (z.B. Caramazza).
- Verarbeitung
= die Prozesse, durch die bei sprachlichen Aktivitäten auf dieses Wissens zugegriffen wird.
Beides sollte man nicht verwechseln. So können Schwierigkeiten beim Sprechen entweder auf fehlendes sprachliches Wissen zurückgeht (Repräsentation) oder aber mit Problemen beim Zugriff auf das durchaus vorhandene Wissen zusammenhängen (Verarbeitung).
Typische Fragen der Forschung im Bereich "Bilingualismus":
- Ist das Wissen beim bilingualen Sprecher für jede Sprache getrennt gespeichert? Oder sind die Sprachen bzw. Teilbereiche zusammen (gemischt) gespeichert?
- Gibt es im Bewusstsein von bilingualen Sprechern einen Umschaltmechanismus? Oder sind beide Sprachen ständig zugänglich?
- Werden die Sprachen nach sprachspezifischen Strategien verarbeitet? Oder wendet der bilinguale Sprecher die Verarbeitungsstrategien von einer Sprache auch auf die andere Sprache an?
- Können verschiedene Sprachen sauber getrennt werden? Oder droht bei bilingualen Sprechern ständig eine Mischung der Sprachen?
Methoden der psycholinguistischen Forschung
Die meisten psycholinguistischen Methoden bauen auf einer mechanistischen Vorstellung des Bewusstseins auf. Die Sprachproduktion erfolgt wie bei einer Maschine. Zugriff auf bestimmte Informationen erfordert Zeit, die sich messen lässt. Die Signale durchlaufen verschiedene Module. Gegenseitige Beeinflussung von Informationen setzt Verarbeitung im selben Modul voraus. Impulse können sich addieren oder umgekehrt gegenseitig behindern.
Einige Beispiele:
- Lexikalische Entscheidungstests (z.B. Grosjean 1995): Die Versuchsperson muss alle erfundenen Kunstwörter in einem Text identifizieren. (Sollte bei Bilingualen länger dauern, sofern die Wörter in zwei verschiedenen Lexika gespeichert sind, weil der Bilinguale beide Lexika durchsuchen muss.)
- Reaktionszeiten bei Bildbenennung und Übersetzung von Wörtern (z.B. Kroll 1993): (Sollte das Übersetzen schneller gehen, würde das auf eine direkte Verbindung der Wörter im Bewusstsein hindeuten, ohne doppelte Verbindung zum Konzept, vgl. auch unten Weinreich 1953).
- Stroop-Tests (z.B. Preston und Lambert 1969): Der Bilinguale soll die Farbe von Wörtern sagen, die gleichzeitig Farbbezeichnungen in seiner anderen Sprache sind, z.B. grün - "červená". (Wenn er sich dabei von der Bedeutung des Wortes beeinflussen lässt, ist das ein Hinweis darauf, dass die jeweils andere Sprache nicht abgeschaltet ist bzw. kein psychischer Umschalter zwischen den Sprachen existiert).
- Priming-Tests (z.B. Guttentag, Haith, Goodman und Hauch 1984): Vor dem Testwort, auf das die Versuchsperson reagieren muss, wird ein "Störwort" (Primer) in der jeweils anderen Sprache präsentiert. (Wenn sich das "Störwort" auf die Reaktion auswirkt, liegt wieder ein Hinweis vor, dass beide Sprachen der Versuchsperson aktiv sind.)
Modell der bilingualen Sprachrepräsentation nach Weinreich (1953)
Eine modernisierte Version im Rahmen der Theorie der korrespondierenden Netzwerke (Caramazza) liegt den Untersuchungen von Bordag (2003) zugrunde. Bordag untersucht, ob bei deutsch-tschechischen Bilingualen (dominant bilingual im Deutschen) die Benennung von Gegenständen, deren Bezeichnungen im Deutschen und Tschechischen ein unterschiedliches Genus haben (z.B. DACH: das Dach x ta střecha) länger dauert als bei Gegenständen, deren Bezeichnungen in beiden Sprachen dasselbe Genus haben (MOND: der Mond = ten měsíc). Längere Reaktionszeiten würden darauf hindeuten, dass sich die Genusinformationen gegenseitig blockieren. Das ist aber nur dann möglich, wenn die deutschen Wörter im Gedächtnis der Versuchspersonen auf dieselben Grammatik-Repräsentationen wie die tschechischen Wörter zugreifen: Für beide Sprachen gäbe es nur eine gemeinsame Grammatik-Repräsentation. Umgekehrt würden gleiche Reaktionszeiten in beiden Fällen auf eine getrennte Repräsentation der Genus-Information für das Deutsche und für das Tschechische schließen lassen. Den Artikel von Bordag finden Sie hier:
Sehen Sie sich v.a. Abbildung 2 auf S. 110 an. Hier ist schematisch dargestellt, wie sich Psycholinguisten die Repräsentation des sprachlichen Wissens im Bewusstsein der Sprecher vorstellen. Die Lexeme (Wörter) sind durch Konnektionen (auf der Graphik durch Linien symbolisiert) mit konzeptuellen, phonetischen und grammatischen Repräsentationen verbunden. Wenn ein Lexem (Wort) aktiviert wird (= gesprochen werden soll), verbreitet sich entlang der Linien ein Aktivierungspotential, das die Information an den jeweiligen Endpunkten aufruft. Wenn gleichzeitig zwei unterschiedliche Genusknoten aktiviert werden, blockieren sie sich gegenseitig. Das Überwinden der Blockade braucht Zeit, was sich bei der Versuchsperson in längeren Reaktionszeiten niederschlägt.
Sprachverarbeitung: Das Aktivierungskontinuum nach Grosjean (1995)
Überlegen Sie, ob das Modell der Aktivierung Konsequenzen für den Fremdsprachenunterricht hätte.